Ally Condie | Brendan Reichs
Darkdeep
Stimme der Finsternis
Band 2
Aus dem Englischen von Leo H. Strohm
FISCHER E-Books
Ally Condie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Salt Lake City, USA. Nach dem Studium unterrichtete sie mehrere Jahre lang Englische Literatur in New York, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Die Serie »Cassia & Ky« wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und war ein überwältigender internationaler Erfolg.
Brendan Reichs ist New-York-Times-Bestsellerautor und lebt in Charlotte, North Carolina, mit seiner Frau, seinen Kindern und einer Herde von Tieren.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Band 3 der Darkdeep-Serie erscheint im Frühjahr 2021.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Das englischsprachige Original erschien 2019 unter dem Titel »The Beast. A Darkdeep Novel« bei Bloomsbury Children's Books
© 2019 by Allyson Braithwaite Condie and Brendan C. Reichs
Published by Arrangement with SONNET LLC and FIRE LAKE PRODUCTIONS, LLC
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutsche Ausgabe: © 2020, Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstrasse 114, D - 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: MT-Vreden nach dem Umschlag der Originalausgabe von Bloomsbury Children’s Books
Coverabbildung: Antonio Javier Caparo, 2019
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5219-7
Für Cindy, die sich auf eine verrückte Idee eingelassen und uns sogar ein Whiteboard besorgt hat.
Nur noch wenige Augenblicke, dann würde Nico Holland gefressen werden.
Vielleicht zerkaut, vielleicht auch nur angenagt … es gab jedenfalls eine Menge unangenehmer Möglichkeiten. Nur das Eine war sonnenklar: Die wutschnaubende Kreatur, die ihm gegenüberstand, würde zubeißen.
Nico warf sich nach links. Im selben Moment schnappten die rasiermesserscharfen Zähne zu und zwar genau an der Stelle, wo eben noch sein Kopf gewesen war. Nico schrie laut auf, kam auf die Füße und stieß seinen Fackelträger-Dolch nach vorne, doch das Phantom wich mit einem schnellen Sprung zurück. Es bewegte sich unglaublich flink, und Nico hatte den Fehler begangen, aus dem schützenden Gebüsch hervorzuspringen und sich dem heranstürmenden Monster in den Weg zu stellen.
Wie dumm kann man sein?
Aber er hatte keine andere Wahl gehabt, als diesem fauchenden, roten Echsending den Fluchtweg abzuschneiden. Sie durften es nicht entkommen lassen.
Das Phantom war wie aus dem Nichts aufgetaucht und lässig zu dem pechschwarzen Teich geschlendert, um daraus zu trinken. Sie hatten mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen zum Fenster des Hausboots hinausgestarrt und gesehen, wie die Kreatur sich auf den Weg über den Bergrücken gemacht hatte, hinter dem der verborgene Tunnel lag, der von ihrer geheimen Insel aufs Festland führte.
Nico und seine Freunde hatten fluchtartig ihr schwimmendes Clubhaus verlassen und waren dem Ungeheuer durch den unter der Stummen Bucht verlaufenden Tunnel gefolgt, um dann den Trampelpfad hinaufzustürmen, der zur Spitze der steilen Klippen führte, die die nebelverhangene Bucht umgaben. Oben angekommen hatte Nico entsetzt mit angesehen, wie der Feuerschweif des Phantoms in einem dichten Wäldchen im Norden der Stadt verschwunden war. Zum Glück herrschte an diesem Nachmittag scheußliches Wetter – dichter Dauerregen und eisige Windböen, die einem bis unter die Haut krochen –, so dass die Bewohner von Timbers sich kaum nach draußen wagen würden. Dadurch bestand immer noch die Chance, dass Nico und die anderen die Katastrophe verhindern konnten.
»Nico, zurück!«, rief Opal Walsh. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über eine Schulter fiel. Gerade befand sie sich hinter dem Ungeheuer, wodurch es sie nicht sehen konnte, und steuerte eine Lichtung an. Tyler Watson und Emma Fairington hatten sich zu ihrer Rechten ins Gebüsch verkrochen und hielten mucksmäuschenstill. Und dort war ja auch Logan Nantes, der sich von der anderen Seite an das Monster heranpirschte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatten sie es umzingelt.
Na, toll. Und dann?
Das Ungeheuer sah sich um und entdeckte Opal. Sein Feuerschwanz flammte auf wie ein Schweißgerät. Auf der Lichtung wurde es mit einem Mal unerträglich heiß. Dampfwolken stiegen aus dem Gras empor.
»Also, das ist eindeutig ein Glutexo«, sagte Tyler und fummelte am Kragen seines Kapuzenshirts herum. »Vielleicht lassen wir es dieses Mal einfach entkommen, was meint ihr?«
Das Phantom drehte sich mit leuchtend blauen Augen zu ihm um und blinzelte. Die dunkelroten Schuppen glänzten, als die Kreatur ihre Reißzähne bleckte.
»Und tschüs!« Tylers Kopf verschwand zwischen raschelnden Blättern, genau wie Emmas auf und abwippende, blonde Locken. »Ihr kriegt das zu dritt hin, oder?«, ertönte ihre Stimme irgendwo aus dem Gebüsch.
»Wir können den Dinosaurier doch nicht einfach laufenlassen«, knurrte Nico und fuhr sich mit der Hand durch die regennassen, braunen Haare. »Wir wissen ja nicht einmal, wo er hergekommen ist.«
»Das ist ein Glutexo«, verbesserte ihn Tyler aus seinem Versteck.
Das Phantom drehte sich wieder zu Nico um und spreizte die Krallen. Seine blauen Augen wurden schmal.
Nico wich noch einen Schritt zurück, bevor er mit zitternder Stimme rief: »Ist etwa wieder mal jemand ins Finstertief gesprungen?«
»Nein«, antwortete Opal wie aus der Pistole geschossen.
»Selbstverständlich nicht!«, erwiderte Logan verärgert, und auch Emma und Tyler verneinten gemeinsam aus dem Gebüsch.
»Aber wie ist das Vieh dann hierhergekommen?«, murmelte Nico, während sich seine Nackenhärchen aufstellten.
Die Phantome entstammten dem Finstertief – einem düsteren, strudelnden Bassin im Untergeschoss des verlassenen Hausboots, das sie vor kurzem entdeckt hatten. Wer in das tintenschwarze Wasser sprang, wurde anschließend in dem Teich, auf dem das Hausboot schwamm, ausgespuckt. Und die Bilder, die der- oder demjenigen während der Zeit im Finstertief durch den Kopf gegangen waren, erwachten anschließend auf der Insel zum Leben – zumindest für eine kleine Weile. Zuerst war das alles nur ein großer Spaß gewesen, aber Nico und seine Freunde hatten schnell erfahren, wie gefährlich diese Wesen werden konnten. Und sie hatten die Aufgabe übernommen, die Kreaturen in ihre Schranken zu weisen.
Aber wenn niemand in den Strudel gesprungen ist, wo kommt dann dieses Phantom so plötzlich her? Aus dem Nichts etwa?
»Was genau ist eigentlich ein Glutexo?«, wollte Opal jetzt wissen, während das Monster stampfend und fauchend auf der Lichtung stand. Es schien sich zu überlegen, wie es Nico am besten den Kopf abreißen könnte.
»Das gibt’s doch nicht! Seit Jahren versuche ich, euch für Pokémon zu begeistern.« Tyler tauchte hinter einer Fichte gut zehn Meter weiter hinten wieder auf. Schweißperlen glitzerten auf seiner dunklen Haut. »Und jetzt bin ich der Einzige, der uns weiterhelfen kann!«
»Das ist ein bösartiges Feuer-Pokémon, ungefähr auf dem Dreißiger-Level«, sagte Logan, ohne eine Miene zu verziehen. »Kein voll entwickeltes Glurak oder so was, also haben wir Glück gehabt. Aber nehmt euch vor seinen Krallen in Acht. Die sind ziemlich lang, und die Gattung gilt allgemein als sehr streitsüchtig. Außerdem ist die Flamme an seinem Schwanz nicht zu verachten.«
Tyler starrte Logan an. »Wieso haben wir früher eigentlich nie was zusammen gemacht?«
Logan zuckte mit den Schultern. Es war ihm anzusehen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Sein Vater war der reichste Mann in der Stadt, und gegenüber Nico und seinen Freunden hatte er sich eigentlich immer gehässig und fies benommen. Erst vor kurzem hatte sich das geändert – und ursprünglich nur, um Opal zu beeindrucken. Nico war ihm viele Jahre lang aus dem Weg gegangen – ihre Väter waren alles andere als gute Freunde! –, aber der Kampf um das Finstertief hatte die fünf zusammengeschweißt. Und jetzt bildeten sie gemeinsam den Orden der Fackelträger.
»Konzentration, bitte!« Opal packte ihren Dolch fest mit beiden Händen. »So wie beim letzten Mal?«
Nico schüttelte den Kopf. »Das Vieh hier ist ja viel größer als das wild gewordene Lebkuchenmännchen. Wir müssen uns eine neue Taktik überlegen.«
Das Glutexo verlagerte sein Gewicht, sah sich mit funkelndem Blick um und spannte die Muskeln, als wollte es jeden Moment angreifen. Es war bereits das dritte Phantom, das sie zur Strecke bringen mussten, seitdem sie vor Wochen das Finstertief versiegelt hatten, und mit Abstand das gefährlichste. Nico zermarterte sich das Gehirn, wie er seinen Dolch am besten einsetzen konnte, ohne dabei eine Hand zu verlieren. Wenn Phantome in die Enge getrieben wurden, reagierten sie immer ziemlich gereizt, und man konnte von Glück sagen, wenn es dabei blieb. Aber dieses da schien sehr viel mehr als nur gereizt zu sein.
»Ich … ich hab eine Idee«, stammelte Nico und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Logan, kannst du es dazu bringen, dass es dich anschaut?«
»Ja, schon, aber … äh … ich will nicht.«
Schon im nächsten Augenblick hatte sich Nicos halb fertiger Plan in Luft aufgelöst. Mit flammendem Schwanz stieß sich das Glutexo ab, segelte über Nico hinweg und versuchte, ihm im Sprung die Augen auszukratzen. Kaum war es hinter Nico gelandet, wollte es weiter in den Wald stürmen.
Das war der Augenblick, als Emma zwischen den Bäumen hervortrat und ihm mit der ausgestreckten Hand den Weg versperrte. Das Phantom erstarrte und ließ ein kehliges Knurren hören, legte den Kopf schief und schnüffelte. Die Flamme an seinem Schwanz fiel schlagartig in sich zusammen, als hätte jemand den Gasbrenner abgestellt. Das Ungeheuer hüpfte auf Emma zu und schnupperte an ihren Fingern.
»Emma, was soll denn das?«, zischte Tyler ihr zu, während er aus dem Gebüsch hervorhuschte. Für einen Moment blieb Nicos Herz stehen, als er sah, wie das Phantom Emma etwas aus der Hand riss und es unter erfreutem Quieken in die Luft reckte.
Es war eine Packung M&Ms.
»Süßigkeiten«, keuchte Logan. »Damit zieht man sie groß.«
»Er darf das auf keinen Fall fressen!« Tyler fuchtelte aufgeregt mit den Händen und stürmte, trotz seiner Angst, mitten auf die Lichtung. »Seine Weiterentwicklung wollen wir ganz bestimmt nicht miterleben.«
Doch Opal hatte sich bereits hinter das Phantom geschlichen, das Tyler jetzt wütend anstarrte. Sie berührte mit der Spitze ihres Fackelträger-Dolchs seine roten Schuppen. »Tut mir leid, mein Freund. Aber du gehörst hier nicht hin.«
Das Glutexo ließ ein enttäuschtes Seufzen hören und löste sich auf. Die M&Ms landeten im Gras.
»Gut gemacht, ihr zwei.« Nico rappelte sich ganz langsam wieder auf, wischte sich den Staub vom Sweatshirt und stieß einen langen Atemzug aus. »Das hat ja prima geklappt. Aber vielleicht sagt ihr nächstes Mal eurem Kumpel Nico Bescheid, was ihr vorhabt, okay?«
Tyler blickte Emma mit zusammengekniffenen Augen an. »Woher hast du gewusst, dass man ihm Süßigkeiten geben muss? Du wolltest doch nie mit mir Pokémon-Karten spielen.«
Emma verdrehte die Augen. »Ich habe eben ein sehr wählerisches Gedächtnis, du Flachpfeife. Du hast mir doch jeden Tag nach der Schule deine Sammlung gezeigt, ganz egal, wie laut ich protestiert habe. Spaß hat es mir jedenfalls nie gemacht.«
»Nun ja, gern geschehen jedenfalls«, erwiderte Tyler ein wenig selbstgefällig und wischte sich die Fingernägel an seinem Sweatshirt ab. »Ich habe dir das Leben gerettet, weiter nichts. Aber vielleicht hörst du in Zukunft ein bisschen öfter auf mich.«
Emma schnaubte verächtlich.
Opal steckte ihren Dolch wieder ein, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf das niedergetrampelte Gras. Nico sah sie mit einem dankbaren Nicken an, und sie nickte zurück. Tiefe Sorgenfalten gruben sich in ihre Stirn. Einem voll entwickelten Phantom, das direkten Einfluss auf seine unmittelbare Umgebung nehmen konnte, so nahe zu kommen, war immer riskant, auch wenn sie inzwischen ziemlich viel Übung darin hatten.
Nico wusste, dass sie gar nicht richtig zustechen mussten, um so ein Phantom zu vertreiben, ja, sie brauchten die Dolche eigentlich nicht einmal zu benutzen. Sie dienten lediglich der Konzentration. Sie hatten gelernt, dass sie, wenn sie ihren Albträumen gegenüberstanden, ihre Ängste akzeptieren und sich dann gegen sie wehren mussten. Das reichte aus, um die Phantasiefiguren, die aus ihrem Geist entsprungen waren, wieder zu verbannen. Und genau darin bestand seit Urzeiten die Aufgabe der Fackelträger – das Finstertief zu bewachen und all das, was ihm entkommen konnte, wieder einzufangen. Diese Verantwortung hatten sie übernommen, und sie taten das mit vollem Einsatz. Aber aus welchem Geist ist dieses Vieh bloß entsprungen?
Opal musste genau dasselbe gedacht haben.
»Jetzt sind es insgesamt schon drei Phantome, für die wir keine Erklärung haben«, sagte sie. »Die können unmöglich alle noch von der Rettich-Festival-Katastrophe übrig geblieben sein. Und das bedeutet, dass neue dazugekommen sein müssen. Also muss irgendjemand sie erschaffen haben. Aber wer? Und wie?«
Nico stieß den Atem aus. Vor wenigen Wochen erst hatte ihre Heimatstadt Timbers zu Ehren des beliebtesten Gemüses der ganzen Umgebung ein großes Rettich-Festival veranstaltet. Doch am Abend davor hatte das Finstertief eine ganze Bande von Phantomen ausgespuckt, die dann über das schlafende Örtchen hergefallen war und alles kurz und klein geschlagen hatte. Nico und den anderen war es nur mit allerletzter Kraft gelungen, die entfesselten Kreaturen gerade noch rechtzeitig in die Flucht zu schlagen. Übrig geblieben waren zutiefst verunsicherte Einwohner und jede Menge verrückte Theorien über das, was sich da wohl abgespielt haben mochte.
Nico kratzte sich die Wange. »Ich habe erst vorgestern nach dem Finstertief gesehen. Da war alles ruhig, und es hat sich kein bisschen bewegt. Dieses Wesen, dem wir im Finstertief begegnet sind, ist nicht mehr da, Opal, da bin ich mir ganz sicher. Wir haben die Verbindung durchtrennt.«
Opal wandte sich mit kritischem Blick an die anderen. »Von euch hat doch niemand irgendwelche privaten Experimente durchgeführt, oder?«
Alle schüttelten den Kopf, aber Nico und Tyler warfen Emma einen verstohlenen Blick zu.
Es entging ihr nicht. »Unverschämtheit!«
Nico hob beschwichtigend die Hand. »Kein Mensch will dich beschuldigen, Emma, echt nicht, aber …«
»Ich habe dieses Bassin nicht mehr angerührt, seit es versucht hat, mich umzubringen«, erwiderte Emma aufgebracht. »Danach habe ich ganz schnell die Lust daran verloren, das könnt ihr mir glauben.«
»Vielleicht hat noch jemand anders das Finstertief entdeckt?«, meinte Logan und verzog gequält das Gesicht. »Ich habe damals ja auch allein einen Weg auf die Insel gefunden, also ist es durchaus denkbar, dass irgendein Fremder zum Hausboot gekommen ist, ohne dass wir es mitgekriegt haben.«
»Du hast die Insel entdeckt, weil du Opal hinterherspioniert hast«, fauchte Nico ihn an.
»Spielt das jetzt noch eine Rolle?«, entgegnete Logan in scharfem Ton. Er war größer als Nico, hatte glänzende schwarze Haare und dunkle Augen.
Nico zog eine Grimasse und fuhr sich anschließend mit der Hand übers Gesicht. Manchmal war es immer noch schwierig zwischen Logan und ihm. Sie waren einfach so verschieden. Nico verbrachte seine Zeit gerne draußen in der Natur und genoss die Ruhe, während Logan viel lieber mit seinem Quad durch die Gegend röhrte oder sich für lautstarke Sportarten begeisterte. Dazu kam, dass der Streit ihrer Väter zumindest unterschwellig immer noch präsent war. Nicos Dad arbeitete für die Nationalparkverwaltung und hatte einen Bericht über das vom Aussterben bedrohte Fleckenkäuzchen verfasst. Logans Dad hingegen war der Besitzer des Sägewerks, in dem die Hälfte der Einwohner der Stadt arbeiteten, und er hatte durch diesen Bericht empfindliche Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. Darum hatte Sylvain Nantes seine Kontakte spielen lassen, um eine Versetzung von Warren Holland zu erreichen, und es war offen, wie das Ganze enden würde. Logan und Nico hatten ihre Differenzen zwar beigelegt, aber manchmal kochte der ganze Ärger trotzdem wieder hoch.
Nico seufzte. »Du hast recht. Entschuldigung. Ich verstehe einfach nicht, wie immer wieder irgendwelche Phantome aus dem Finstertief entkommen können, obwohl es sich überhaupt nicht bewegt. Ich dachte, wir hätten das Problem endgültig gelöst.«
»Also, ich finde, allein die Tatsache, dass es die Fackelträger schon so lange gegeben hat, deutet darauf hin, dass das Problem sich nicht so einfach lösen lässt«, meinte Tyler leise. »Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass hin und wieder ein Phantom aus dem Finstertief entwischt.«
Sie schwiegen alle. Sie waren die neuen Fackelträger und hatten sogar ihre Namen in dem zerfledderten Logbuch verewigt, doch obwohl sie sich mit Feuereifer auf ihre Aufgabe gestürzt hatten, wussten sie eigentlich gar nicht, was sie genau zu tun hatten. Darum waren sie weitgehend auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen.
»Phantome müssen irgendwo ihren Ursprung haben«, beharrte Opal und zog die Regenjacke etwas fester um ihre Schultern. »Die tauchen nicht einfach aus heiterem Himmel irgendwo auf.«
»Wir sollten noch mal beim Finstertief nachsehen«, sagte Emma. »Vielleicht finden wir da unten beim Bassin doch noch einen Hinweis, wie das letzte entstanden sein könnte.«
Tyler schauderte. »Ich will da nicht hin. Jedes Mal habe ich das Gefühl, als würde es mich beobachten.«
Opal trat mit besorgtem Blick von einem Bein aufs andere. Dann griff sie nach ihrem Rucksack, der auf dem matschigen Erdboden lag, setzte ihn auf und klemmte die Daumen unter die Gurte.
Nico konnte ihre Nervosität gut verstehen. Auch er bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn er an den düsteren Keller mit dem Finstertief dachte. »Bis jetzt haben wir Glück gehabt«, sagte er. »Wir haben jedenfalls alle erwischt.«
»Zumindest die, von denen wir wissen«, erwiderte Logan grimmig. »Aber wir haben die Insel ja auch nicht ständig im Blick. Wenn wir in der Schule sind, zum Beispiel, könnte sich ohne weiteres eine ganze Busladung mit schillernden Hühnchen-Monstern materialisieren, ohne dass wir was davon mitkriegen würden.«
»Oh, doch«, erwiderte Tyler und zuckte nur mit den Schultern, als er Logans hochgezogene Augenbrauen sah. »Wenn wir das Glutexo nicht erwischt hätten, wie es Teichwasser aufschlabbert, dann wäre es in die Hügel spaziert, und irgendwann hätte es jemand gesehen. Oder sein brennender Schwanz hätte den Wald abgefackelt. Und da Timbers immer noch heil ist, haben wir bis jetzt auch kein einziges Phantom übersehen.«
»Bis jetzt«, murmelte Logan leise.
»Wir müssen mehr wissen«, beharrte Opal. »Wir müssen endlich erfahren, wo diese Ungeheuer herkommen.«
Nico stieß den Atem aus. Es gab keine andere Möglichkeit.
»Wir müssen zum Finstertief. Wir müssen nachsehen, ob es wirklich noch schläft.«
Opal starrte in das tintenschwarze Wasserbecken.
»Es dreht sich überhaupt nicht.«
Ihre Worte hallten durch das düstere Untergeschoss des Hausboots, wo sie alle gemeinsam und mit großer Vorsicht das Finstertief in Augenschein nahmen. Die Wasseroberfläche lag regungslos vor ihnen und wirkte zart und hart zugleich, fast wie seidiges Glas.
»Ganz schön unheimlich«, sagte Logan und steckte die Hände in die Hosentaschen.
Die Freunde waren ohne Umwege vom Wald zum Hausboot und sofort nach unten gegangen, um sich ihrer Aufgabe zu stellen. Emma und Nico standen Schulter an Schulter mit Opal da, als hätten sie den Kampf, den sie erst vor kurzem hier geführt hatten, noch deutlich vor Augen.
Tyler war am Fuß der Wendeltreppe stehen geblieben. »Okay«, rief er den anderen zu. »Wir haben genug gesehen. Gehen wir wieder nach oben.«
Opal konnte ihm seine Angst nicht verübeln, auch wenn es, um ehrlich zu sein, eine ganze Menge gab, vor dem Tyler Angst hatte. Aber das Finstertief ließ auch ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Niemand bewegte sich.
»Leute?«, drängelte Tyler. »Was soll denn das? Wieso wollt ihr noch länger hier unten bleiben?«
Emma kniete sich vor das Bassin und starrte in die regungslose Flüssigkeit.
»Emma«, mahnte Nico. »Geh nicht so nah ran.«
»Es sieht aus wie Obsidian«, erwiderte sie. »Beinahe schon … fest. Aber es ist nicht fest. Ich glaube, dass das Wasser weiter unten immer noch in Bewegung ist. Kein übernatürliches Phänomen, meine ich, eher so, wie man es in einem seltsamen Loch, in einem Teich wie diesem, eben erwarten würde.«
Tyler machte ruckartige Armbewegungen. »Nicht an-fassen.«
»Schon klar.« Emmas Stimme klang verärgert. »Ich denke nicht mal dran.«
Opal blickte Emma verwundert an, weil sie nämlich – trotz allem – sehr wohl daran dachte.
Spürten die anderen das denn nicht? Diesen Drang, die Hand auszustrecken und über die Oberfläche zu streichen, nur um zu wissen, wie es sich anfühlte? Spürten sie nicht dieses unerklärliche, elektrische Kribbeln auf der Haut? Ich kann doch nicht die Einzige sein.
Sie faltete die Hände hinter dem Rücken. Das Bassin zu berühren würde nur zu neuen Schwierigkeiten führen.
»Tja, also, ich schätze mal, das sind gute Neuigkeiten«, sagte Nico zögerlich und kratzte sich dabei den Hinterkopf. »Zwar wissen wir immer noch nicht, wo dieses Glutexo hergekommen ist, aber das Finstertief scheint offensichtlich ruhig zu sein.«
»Oben«, drängte Tyler und stampfte mit dem Fuß auf die untere Treppenstufe. »Das können wir alles oben besprechen.«
Nico nickte, dann kletterten sie die rostige Eisentreppe hinauf.
»Vielleicht stößt das Finstertief ja irgendwelche alten Phantome aus«, meinte Tyler, während sie durch eine verborgene Schiebewand in den Ausstellungsraum des Hausboots traten. Nachdem ein paar Phantome die Wandvertäfelung demoliert hatten, hatte Logan sie erst letzte Woche mit einigen Brettern aus dem Materiallager seines Vaters repariert.
Der Ausstellungsraum war ein Sammelsurium an Vitrinen mit wunderlichen Dingen, Truhen voller uralter Bücher, eigentümlicher Kunstgegenstände und seltsamer Waffen. Sogar ein riesiges, nicht identifizierbares Tierskelett hing an Schnüren von den Dachbalken herab.
Draußen ertönte ein krachender Donnerschlag, und der Regen nahm hörbar zu. Opal war froh, dass sie im Trockenen saßen, auch wenn es auf der ganzen Welt keinen merkwürdigeren Ort gab als dieses Hausboot. Aber so unheimlich all das hier auf andere auch wirken mochte, es war ihr geheimes Clubhaus. Hier fühlten sie sich geborgen.
Tyler breitete die Arme aus. »Ich meine, vielleicht haben wir damals, als das Finstertief durchgedreht ist, noch mehr Phantome erschaffen, bloß, dass sie nicht sofort entkommen sind. Logan und ich haben früher beide mit Pokémon-Karten gespielt. Vielleicht hat es nur eine Weile gedauert, bis der Strudel das Glutexo ausgespuckt hat.«
»Vielleicht ist es ja ursprünglich als Glumanda aus dem Finstertief entkommen.« Logan fuhr sich aufgeregt mit der Hand übers Kinn. »Und dann musste es sich erst mal entwickeln. Es hat sich vielleicht auf der Insel versteckt, bis es das nächste Level erreicht hatte.«
»Ganz genau.« Tyler streckte Logan die geballte Faust entgegen. »Hast du deine Karten eigentlich noch?«
Logan verzog das Gesicht. »Nein. Alter, wir sind in der siebten Klasse. Das ist doch Kinderkram.« Aber als er glaubte, dass die anderen nicht hinsahen, stieß er seine Faust gegen Tylers.
Nico grinste Opal an. »Das haben die also gemacht, während wir mit unseren Fahrrädern durch die Gegend gebrettert sind?«
Sie grinste zurück. »Du meinst, während wir Motorrad gefahren sind? Oder Sternenkreuzer durchs Weltall gelenkt haben? Oder uns mit Delfinen aus dem Bermudadreieck unterhalten haben?«
Nico verzog das Gesicht. »Ist ja gut, ist ja gut. Wir waren auch kleine Nerds.«
Sie kamen an dem Podest mit dem großen Einmachglas vorbei. Darin schwebte ein grüner Klops mit dünnen Ärmchen in einer schimmernden Flüssigkeit. Er sah aus wie ein winziges, totes Alien. Sie hatten keine Ahnung, was das für eine Kreatur war, aber Emma hatte angefangen, es »das Ding« zu nennen, und dabei war es geblieben.
Opal hielt inne. Irgendetwas störte sie, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was es war. Hatte das Ding sich verändert, seit sie es das letzte Mal gesehen hatte?
Nein. Sieht genau gleich aus. Sie seufzte. Noch mehr Verwirrung in ihren Gehirnwindungen.
Vor etlichen Wochen hatte Opal kurzfristig unter Realitätsverlust gelitten und geglaubt, dass das Ding in Gedanken zu ihr gesprochen hatte. Wenn sie daran dachte, lief ihr immer noch eine Gänsehaut über den Rücken.
Komm, Opal.
Komm und sieh, was ich für dich habe.
Opal verzog das Gesicht. Das hatte sie sich natürlich nur eingebildet. Leblose grüne Klopse konnten keine telepathischen Gespräche führen. Opal war schon immer so gewesen, hatte sich stets irgendwelche Geschichten ausgedacht, schon damals, als sie zusammen mit Nico auf ihren Kinderfahrrädern durch Timbers geradelt war. Und das machte sie bis heute, wenn sie ihre privaten Tagebücher aus der geheimen Schreibtischschublade holte und wirre Ideen hineinschrieb. Mehr war auch das nicht gewesen – eine Szene aus einer ihrer Phantasien, die sich im Halbschlaf in ihre Gedanken geschlichen hatte. Das ist alles.
»Ihr könnt euch ja an Halloween als Glupandas verkleiden«, sagte Emma mit leuchtenden Augen. »Ich glaube nämlich, ich gehe als Rey. Obwohl, Captain Marvel wäre auch noch eine Möglichkeit.«
»Glumandas«, verbesserte Tyler und warf ihr einen herablassenden Blick zu. »Emma, wir sind jetzt in der siebten Klasse. Du weißt schon, dass wir nicht mehr an Haustüren klingeln und um Süßigkeiten betteln, oder?«
Emmas Augen wurden groß. »Das machen wir nicht mehr?«
»Auf keinen Fall«, schaltete Logan sich ein. »Dafür gibt es ungefähr fünf coole Partys, auf die wir gehen könnten, und außerdem fällt Halloween dieses Jahr auf einen Samstag. Das heißt, dass wir länger wegbleiben dürfen.«
Emma blickte Nico an, der schuldbewusst mit den Schultern zuckte. »Ich finde auch, dass wir inzwischen ein bisschen zu alt dafür sind.«
»Nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört habe«, sagte Emma und legte die Faust an die Stirn. »Wir ziehen also an diesem Wochenende nicht los, um uns jede Menge Gratis-Süßigkeiten in die Taschen zu stopfen? Und zwar absolut freiwillig?«
»Genau«, erwiderten Logan und Tyler gleichzeitig.
Emma wirbelte herum und fixierte Opal mit hektischem Blick.
»Ich komme mit, wenn du willst«, sagte diese. »Für ein Weilchen.«
Emma schlug die Hände vors Gesicht, trottete dann zu einer Truhe in der hinteren Ecke des Raums und hob den Deckel hoch. »Wer möchte was haben?«, knurrte sie und holte eine Schachtel mit Cupcakes heraus. »Ein bisschen Zucker muss sein. Wo wir jetzt scheinbar zu cool sind für Halloween.«
»Ach, jetzt sei doch nicht so«, erwiderte Tyler. »Wir amüsieren uns bestimmt trotzdem prächtig.«
Emma stampfte mit dem Fuß auf. »Gratis! Süßigkeiten!«
»Lass uns später noch mal darüber reden«, sagte Nico. »Aber jetzt sollten wir nachsehen, ob wir in den Aufzeichnungen der Fackelträger irgendwas über verzögerte Phantom-Erscheinungen finden.« Er fing den in Plastik verpackten Cupcake auf, der auf seinen Kopf zugeflogen kam. »Äh, danke, Emma.«
»Alle wischen sich gründlich die Hände ab, bevor sie die Bücher anfassen«, sagte Tyler mit strenger Stimme. »Denkt an die Vorschriften.«
Er war fasziniert von den alten Büchern auf dem Hausboot und verbrachte einen Großteil seiner Freizeit damit, sie durchzublättern und darin nach Informationen über das Finstertief oder seine andere fixe Idee – die Bestie, das legendäre Seeungeheuer, das angeblich im trügerischen Gewässer der Stummen Bucht lebte – zu suchen.
»Ich habe ganz saubere Hände, siehst du?« Nico stopfte sich den Cupcake mit einem Happs in den Mund.
Tyler verschränkte die Arme vor der Brust. »Du Barbar.«
Opal wischte gerade ein wenig feuchten Schmutz von ihrem Rucksack, doch dann hielt sie inne. Sie spürte ein seltsames Ziehen, aber nicht körperlich, sondern geistig, als würde jemand an ihren Gedanken zupfen, an ihrer … Phantasie? Sie warf dem Ding in seinem flüssigen Gefängnis einen schnellen Blick zu, doch die kleine, grüne Kreatur sah genauso leblos aus wie zuvor.
Erneut spürte sie dieses seltsame Zucken am Rand ihres Bewusstseins. Sie versuchte, es zu ignorieren, aber es war wie ein Jucken, dem sie nicht beikam. Ein unscharfes Bild hüpfte ihr durch den Kopf, ohne dass sie es zu fassen bekam. Sehr frustrierend.
Opal wurde immer nervöser, kniff die Augen fest zusammen und atmete zehnmal ein und aus. Allmählich verebbte das Gefühl. Als sie die Augen wieder öffnete, starrte sie die hintere Wand an. Dort, neben einem Stapel staubiger Notizbücher, stand ein mit Spinnweben überzogenes Regal, in dem eine verbeulte, metallene Brotdose lag.
Opal runzelte die Stirn, stand auf und ging darauf zu. Warum sie das tat, wusste sie selbst nicht genau. Warum fiel ihr dieser unscheinbare Gegenstand ausgerechnet jetzt ins Auge?
Die Brotdose hatte einen rundlichen Deckel und sah so stabil und widerstandsfähig aus, als hätte sie einem wettergegerbten alten Fischer gehört. Sie war ihr bis jetzt noch nie aufgefallen. Auf dem Hausboot gab es buchstäblich Hunderte höchst sehenswerter Dinge zu bestaunen, aber diese Brotdose gehörte nicht wirklich dazu.
»Ich habe was Interessantes entdeckt«, tönte Tyler durch den Raum. »Hier steht was über Kettenreaktionen!«
Opal nickte ihm aufmunternd zu, richtete ihre Konzentration jedoch schnell wieder auf das Regal. Mit einem Achselzucken nahm sie die Dose in die Hand und klappte den Deckel auf. Darin lag eine rot-weiß karierte Serviette. Sie war enttäuscht. Also doch nichts weiter als eine alte Brotdose. Womöglich lag in der Serviette sogar noch ein uraltes, verschimmeltes Sandwich. Sie rümpfte die Nase und wollte den Deckel gerade wieder zuklappen, da hielt sie etwas zurück.
Sie griff nach der verblichenen Serviette, spürte ein Gewicht in der Mitte.
Opal warf einen Blick über die Schulter zu den anderen und fing dann an, den Stoff beiseitezuklappen. Schicht um Schicht faltete sie die Serviette auseinander, bis ihr eine matte Bronzemedaille in die Finger fiel, ein Orden, wie man ihn hin und wieder an den Uniformjacken von Soldaten sehen konnte. Er war schwer, besaß in der Mitte ein blau-weißes Band mit einem roten Streifen und wurde von einem massiven Metallbügel gekrönt. Das Motiv bestand aus einem einfachen Relief und erinnerte an einen Flugzeugpropeller.
Während sie die Medaille noch betrachtete, kehrte das seltsame Gefühl zurück, und das stärker als zuvor. Mit einem Mal war sie sich sicher, dass dieses Schmuckstück wichtig war. Dass es eine … Bedeutung hatte.
»Vergessen wir’s«, knurrte Tyler und klappte das Buch mit einem lauten Knall zu, der Opal zusammenzucken ließ. »Das hilft uns nicht weiter. Aber zu eurer Information: Gemeinsam zum Finstertief runterzugehen war alles andere als klug.«
Opal steckte den Orden in ihre Tasche. Als sie dann die Brotdose wieder ins Regal stellte, streifte sie mit den Fingern die daneben aufgestapelten Notizbücher. Sie bildeten eine bunte Mischung aus unterschiedlichen Größen und Bindungen. Eines der Bücher besaß einen runzligen Ledereinband und sah älter aus als alle anderen auf dem Stapel.
Opal liebte coole Notizbücher. Sie zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und steckte das ledergebundene Exemplar zu dem Notfallpäckchen, das sie inzwischen immer dabeihatte – Verbandszeug, Taschenlampe, Wasserflasche, Müsliriegel, ein Zippo-Feuerzeug, das sie in der Tunnelkammer der Fackelträger gefunden hatten, und ein Set Ersatzkleidung. Sie würde nie wieder unvorbereitet sein.
Kaum hatte sie sich den Rucksack auf den Rücken geschwungen, hörte sie hinter sich eine Bewegung und drehte sich um.
»Oh, wow!« Nico hatte sich den Kragen seines Sweatshirts über die Nase gezogen. »Logan. Das kann doch nicht dein Ernst sein, Alter. Nächstes Mal gehst du raus.«
»Das war ich nicht!« Logan stieß ein unterdrücktes Lachen aus und versetzte Nico einen gutmütigen Schubs, bevor er sich selbst die Nase zuhielt. »Wer den Furz zuerst gerochen, dem ist er aus dem Arsch gekrochen, das weiß doch jeder. Also lass mich da aus dem Spiel.«
»Bu-äääh«, ächzte Emma und vergrub das Gesicht im Ellbogen. »Ich kann ihn sogar schmecken. Jungs sind wirklich unfassbar widerlich.«
Tyler fuchtelte wie wild vor seinem Gesicht herum und hielt den Atem an. »Das soll aufhören! Macht das es aufhört!«
Jetzt war die Duftwolke auch bei Opal angelangt, und sie rang nach Luft. »O Gott, o Gott, o Gott.«
Es stank im ganzen Raum nach dem schlimmsten Furz der Menschheitsgeschichte, kombiniert mit Kuhfladen und etwas anderem – etwas Ölig-Erdigem, das sich sofort auf Opals Haut legte und in ihre Poren kroch.
»Raus hier!«, jaulte Nico. »Zur Tür! Los!«
Sie rannten durch den Samtvorhang des Ausstellungsraums ins Foyer. Opal stieß die Eingangstür des Hausboots auf, und sie taumelten auf die Veranda, verkeilten sich ineinander wie bei einem Auffahrunfall, ohne dass der Gestank nachließ. Ausgerechnet jetzt legte der peitschende Regen eine kurze Pause ein, als sei er der Komplize dieser grauenhaften Attacke auf ihren Geruchssinn.
»Hier draußen ist es ja noch schlimmer!«, brüllte Emma. »Zurück, zurück, zurück!«
Opal blieb regungslos stehen und starrte auf den Teich. Das Wasser sah genauso unendlich schwarz und düster aus wie immer, abgesehen von einem großen Kreis rings um das Hausboot, der eine widerlich-bräunliche Färbung angenommen hatte. Lachsorange, dachte sie automatisch. Einer der Wachsmalstifte aus ihrer Kindheit.
Der rötlich braune Kreis zischte und ließ dicke Blasen an die Oberfläche steigen, die faulig neongelbe Ringe hinterließen. Das Wasser schäumte noch eine ganze Weile, dann beruhigte es sich wieder. Der Gestank war so grauenhaft, dass Opal ihr Mittagessen nur mit Mühe bei sich behalten konnte.
Verfaulte Eier. War das etwa Schwefelgeruch? Opal war sich nicht ganz sicher.
Was immer es war, der Gestank blieb jedenfalls auch, nachdem die Farbe sich langsam zurückgezogen hatte, in der Luft hängen. Dann tauchte Nico neben ihr auf, mit tränennassen Augen, die Nase immer noch im Kragen seines Sweatshirts verborgen. Er zeigte auf den nun wieder ruhigen Teich. »Was war denn das?«
Opal schüttelte den Kopf, während ihre Haut am ganzen Körper zu kribbeln begann.
Obwohl das Finstertief sich ruhig verhielt, war klar, dass im Teich irgendetwas sehr Beunruhigendes vor sich ging.
Dazu kam dieses Gefühl von vorhin. Dieses Ziehen in ihrem Hinterkopf.
Sie kannte dieses Ziehen, denn sie hatte es schon einmal gespürt. Damals hatte sie tatsächlich geglaubt, dass ein in Flüssigkeit schwebendes grünes Wesen sie angelächelt und ihr zugezwinkert hatte. Jetzt heulten sämtliche Warnsirenen in ihrem Inneren auf, genau wie beim letzten Mal.
Es fühlte sich so an, als käme dieses Gefühl nicht von ihr.
Und es fühlte sich nicht menschlich an.
Die zähnefletschende Bestie segelte wie ein Adler zum Himmel.
Nico sah dem vorbeischwebenden Luftballon mit gerunzelter Stirn hinterher.
»Ach, vergiss es, der ist weg«, sagte Tyler, während der elegante schwarze Körper vom Wind die Main Street entlanggetrieben wurde, kleiner und kleiner wurde, bevor ihn am Ufer die steife Meeresbrise erfasste. Für einen kurzen Augenblick spiegelte sich einer der wenigen Sonnenstrahlen dieses kühlen, wolkenverhangenen Tages in der schimmernden Folie, dann war der Ballon aus ihrem Blickfeld verschwunden.
»Das ist doch Umweltverschmutzung«, murrte Opal kopfschüttelnd. »Auch wenn er erst kilometerweit entfernt wieder landet.«
Nico fand, dass sie recht hatte. Sie saßen auf einer Bank vor dem Fish & Game – so hieß der kleine Sportwarenladen von Emmas Eltern – und tranken heißen Apfelpunsch, den Mrs Fairington im Pausenraum für sie zubereitet hatte. Die Schule war gerade erst zu Ende, und ein langes Wochenende stand vor der Tür – Donnerstag und Freitag waren schulfrei, und dann wartete ja der verheißungsvolle Halloween-Samstag auf sie.
Nico war aufgeregt. Halloween war sein Lieblingsfeiertag, sogar noch vor Weihnachten. Vor allem an den mit künstlichen Spinnweben, ausgehöhlten Kürbissen, schwarzen Katzen, Hexen und Skeletten geschmückten Geschäften konnte er sich niemals sattsehen. Die Ladenbesitzer waren auch immer kostümiert und verteilten Süßigkeiten an die Kinder. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte es das ganze Jahr so sein können.
Abgesehen von dem Rummel um die Bestie. Darauf könnte ich gut verzichten.
Opal starrte mit gerunzelter Stirn auf den überfüllten Marktplatz. »Ich hab ja gar nichts gegen dieses … Zeug, aber ich finde, die Standbesitzer müssten ein bisschen vorsichtiger sein.«
Nico gab ihr erneut recht. Der ganze Ort dreht durch. Wieder mal.
Rund herum herrschte eine geschäftige Aktivität, immer noch höflich und rücksichtsvoll, aber zugleich auch sehr hektisch. Es war eine Atmosphäre, wie man sie an stürmischen Oktobernachmittagen in vielen Orten an der US-amerikanischen Pazifikküste erleben konnte. Und egal wohin Nico auch schaute, überall schienen irgendwelche Bestiensouvenirs verkauft zu werden. Nach den katastrophalen Verwüstungen am Vorabend des Rettich-Festivals – viele Einheimische sprachen mittlerweile nur noch von der »Nacht der Bestie« – war das Städtchen in eine Art Monsterfieber verfallen.
Bestienbecher. Bestienanstecknadeln. Aus Holz geschnitzte oder aus Plastik gegossene Bestien in verschiedenen Formen und Farben. Man war sich keineswegs einig, wie das geheimnisvolle Seeungeheuer eigentlich aussah. Da gab es Loch-Ness-Versionen, merkwürdig lächelnde E.T.-Mutationen und gelegentlich auch welche, die aus einem Alien-Film entsprungen zu sein schienen. Nur in einem Punkt waren sich die Ladenbesitzer von Timbers einig: Man konnte damit Geld verdienen, ganz besonders so kurz vor Halloween.
»Wer immer die Idee hatte, die Bestie für das Chaos auf dem Marktplatz verantwortlich zu machen, war ein Genie«, sagte Emma und blies auf ihre dampfende Tasse. »Seht euch doch bloß all diese Leute an.« Sie deutete auf eine Touristengruppe, die ganz aufgeregt von der Fähre kam, weil sie gleich den Ort besichtigen würden, der erst vor kurzem von einem leibhaftigen Seeungeheuer verwüstet worden war. Das zumindest hatten ihnen die Reiseveranstalter erzählt.
»Es ist eine Schande«, sagte Nico bitter. »Warum gibt es eigentlich so viele Leute, die diese Geschichte glauben?«
Emma versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter. »Weil es Spaß macht, du Dummie. Und dass die Bürgermeisterin bei jeder Gelegenheit betont, dass das alles Gerüchte sind, die keineswegs der Wahrheit entsprechen, sorgt bloß dafür, dass die Leute noch fester daran glauben.« Sie beugte sich etwas dichter zu ihm und raunte: »Außerdem ist an den Gerüchten ja durchaus was dran. Es waren schließlich wirklich Ungeheuer, die dafür gesorgt haben, dass das Rettich-Festival ausfällt, nur eben nicht die Bestie. Aber dafür können sich jetzt alle ein bisschen gruseln.«
»Und noch mehr als das.« Mit einer Kopfbewegung deutete Tyler auf das Plakat vor der Eisdiele auf der anderen Straßenseite. Dort wurden Bestien-(B)Eissbecher angeboten. »Die Leute scheffeln jede Menge Kohle. Mein Dad hat alle Hände voll zu tun, weil so viele Boote den Hafen anlaufen, und meine Mom sammelt bei den Touristen Spenden für den Förderverein zum Erhalt des alten Leuchtturms.« Er seufzte zufrieden. »Das Festival war ja als Wiederbelebungsmaßnahme für Timbers gedacht – und irgendwie hat es sogar geklappt. Die Gerüchte rund um die Bestie sind jedenfalls die reinste Goldmine.«
»Für unseren Laden hat es sich auch gelohnt«, sagte Emma. »Meine Eltern verkaufen massenhaft Ferngläser und Regenkleidung, ganz zu schweigen von dem Antibärenspray. Das geht kistenweise weg.«
Tyler riss den Kopf herum. »Antibärenspray? Gegen ein Seeungeheuer?«
Emma lachte. »Na ja, niemand kann beweisen, dass es nicht funktioniert, oder?«
Da hörten sie hinter sich ein lautes Klopfen und drehten sich um. Ein Haus weiter sahen sie Logan im Schaufenster von Buck’s Haushaltswarengeschäft stehen. Er grinste über das ganze Gesicht und drückte ein T-Shirt an die Scheibe.
Nico unterdrückte ein Stöhnen und zog zum Schutz vor dem kalten Wind die Jacke enger. »Das gibt’s doch nicht! Logan auch?«
Logan kam nach draußen und grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Wie findet ihr das?« Er hielt das kostbare Stück hoch, so dass alle es sehen konnten: ein schwarzes Tanktop mit einem dümmlich grinsenden Cartoon-Seeungeheuer auf der Brust. Darüber stand in großen Blockbuchstaben: TIMBERS: BESTIALISCH GUT.
»Super!«, quiekte Emma und klatschte in die Hände.
Opal zuckte mit den Schultern, und Nico schlug die Hände vors Gesicht.
Logan wollte auch Geschäftsmann werden, so wie sein Vater, Sylvain Nantes, der Besitzer der Nantes Timber Company und einem Dutzend anderer Geschäfte in der Stadt. Deshalb war er immer auf der Suche nach Möglichkeiten, um sich ein paar Dollar extra zu verdienen. Allem Anschein nach war auch er dem Lockruf des schnellen Bestiengeldes erlegen.
»Aber die Bestie sieht doch überhaupt nicht so aus«, sagte Tyler pikiert. »Das wüsste ich.«
Logan blickte ihn missmutig an. »Das ist doch ein Cartoon, du Pfeife. Und woher willst du das eigentlich wissen? Du hast schließlich nicht gegen die echte Bestie gekämpft, sondern bloß gegen ein Phantom.«
»Es gibt keine echte Bestie«, murmelte Nico leise.
Gleichzeitig erwiderte Tyler hitzig: »Ach, nein?« Er blickte die anderen der Reihe nach an, und ein vertrautes Glitzern schimmerte in seinen Augenwinkeln. »Muss ich die Geschichte unbedingt noch mal erzählen?«
Alle stöhnten auf.
»Warum hast du das gesagt, Logan?«, jammerte Opal. »Jetzt hört er nie wieder auf.«
Logan zog eine Grimasse und hob die Hände. »Du hast ja recht. Tut mir leid, Tyler. Wir wissen alle, wie …«
»Da stand ich also«, dröhnte Tyler und breitete seine Arme so weit aus wie nur möglich. »Im Angesicht des sagenumwobenen schwarzen Seeungeheuers, der berühmt-berüchtigten und tödlichen Bestie von Timbers. Ich hatte nichts in der Hand bis auf meine grenzenlose Tapferkeit und vielleicht ein Messer. Aber meine Freunde waren in Gefahr und benötigten meine Hilfe. Und darum. Habe ich. Ihm die Stirn geboten!« Er hieb die geballte Faust in seine Handfläche, ohne sich um das Augenrollen der anderen zu kümmern. »Also habe ich dem gewaltigen, mit rasiermesserscharfen Zähnen bewaffneten Ungeheuer …«
»Phantom«, verbesserte ihn Logan.
»… direkt in die Augen geschaut und gesagt: ›Dieses Mal nicht, Bestie! Heute kommst du hier nicht vorbei!‹«
»Bitte, kann mir jemand den Gnadenstoß verpassen«, ächzte Nico.
Emma klatschte zum zweiten Mal in die Hände. »Noch mal! Noch mal!«
»Du sollst ihn nicht auch noch ermutigen!«, platzten Opal, Nico und Logan wie aus einem Mund hervor. Tyler setzte bereits zu einem noch wesentlich ausführlicheren Bericht über seine Heldentaten an, als Bewegung in die Menschenmenge beim Schiffsanleger kam.
Nico sagte: »Leute, seht mal. Da ist irgendwas los.«
»Von seinen Fängen tropfte das Gift«, fuhr Tyler fort, doch als die anderen alle zum Pier starrten, hielt er inne. »Also gut, von mir aus. Was ist denn da?«
Opal legte die Hand über die Augen und kniff sie zusammen. »Irgend so ein … komischer Transporter rollt gerade von der Fähre. Er kommt direkt auf uns zu.« Das Fahrzeug verließ den Anleger und fuhr die Main Street herauf, genau in ihre Richtung. Die Leute drehten sich um, als der Wagen an ihnen vorbeifuhr. Manche zeigten auch mit dem Finger darauf und fingen aufgeregt an zu plappern.
»Was soll das denn sein?«, flüsterte Nico.
Der Transporter war dunkelblau und wurde auf beiden Seiten von einem orangefarbenen Schriftzug geziert. Mehrere dicke, kurze Antennen ragten aus dem Dach hervor. Als er näher kam, hielt Emma den Atem an, und dann konnte Nico endlich die gezackten Buchstaben auf der Schiebetür des Fahrzeugs entziffern.
»Freakshow«, las Nico laut und kratzte sich am Hals. »Was, um alles in der Welt, soll das denn sein?«
Emma hüpfte wie ein Gummiball auf und ab. »O mein Gott, o mein Gott, o mein Gott!«
Die anderen sahen sie verdutzt an. Emma starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Transporter und hatte beide Hände vor den Mund geschlagen. »Leute!«, stieß sie mit schriller Stimme hervor und ließ die Hände sinken, so dass ihr breites Grinsen zu sehen war. »Das ist eine total berühmte Online-Show! Die Nummer eins unter den investigativen, paranormalen Nachrichtenkanälen auf YouTube!«
»Wie bitte?« Das war Nico.
Emma beachtete ihn nicht. »Die Freakshow ist der absolute Hammer!«
»Freakshow?« Tyler zog eine Grimasse. »Klingt aber nicht besonders freundlich.«
»Die gehen seltsamen und unerklärbaren Phänomenen auf den Grund«, erläuterte Emma in rasendem Tempo. »Absolut professionell und wissenschaftlich, und dazu produzieren sie einfach unglaubliche Spielszenen, in denen sie bestimmte Situationen nachstellen. Also, letztes Jahr zum Beispiel haben sie bewiesen, dass mindestens einmal im Monat ein Yeti einen ganz bestimmten Waschsalon in Spokane besucht. Sie haben dazu Aufnahmen mit einer Infrarotkamera und so weiter gemacht.«
»O Mann, die sind das?« Tyler spitzte die Lippen und sah die anderen kopfschüttelnd an. »Emma hat mich letztes Jahr mal gezwungen, mit ihr ein paar Folgen zu schauen. Das sind doch keine Nachrichten. Die wollen die Leute bloß schockieren und verarschen mit ihren miesen Spezialeffekten.«
»Stimmt doch gar nicht!« Emma schnaufte, als der Transporter vor dem White Pines, dem besten Bed and Breakfast der Stadt, anhielt. »Die machen ernsthafte, detektivische Arbeit, Tyler. Und damit weisen sie nach, dass an abgelegenen Orten durchaus paranormale Dinge passieren.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. »Die sind bestimmt gekommen, um der Sache mit der Bestie auf den Grund zu gehen.«
Nico spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Er sah zu Opal hinüber, die auf ihrer Unterlippe herumkaute.
»Wir können in Timbers keine Leute gebrauchen, die paranormale Phänomene untersuchen«, sagte Opal leise. »Das liegt doch auf der Hand.«
Logan ließ sein Bestienshirt auf die Bank fallen. »Wer ist denn das da?«
Ein kleiner, drahtiger Mann mit einem Yellowstone-T-Shirt, einer Jeans und Wanderstiefeln stieg aus dem Transporter. Er gähnte, zog seine Wollmütze vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare. Dabei betrachtete er sein Spiegelbild in einem Schaufenster. Der sieht aus wie aus einem Werbespot für Gleitschirmfliegen oder so was.
Nico sah, wie Emma und Opal einen Blick wechselten. »Ist das der Moderator?«, erkundigte er sich.
»Ja!«, antwortete Emma. Sie konnte ihre Begeisterung nur mühsam im Zaum halten. »Colton Bridger. Er hat ein Filmstudium an der University of Southern California absolviert und war früher professioneller Vogelbeobachter. Davor hat er Skivideos in besonders abgelegenen Gegenden gedreht. Er hat ein ganzes Jahr langFreakshow