Die italienische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Un giorno verrà bei Bompiani editore in Mailand.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Dieses Buch konnte dank einer Förderung des italienischen Außenministeriums übersetzt werden.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2019 Giunti Editore S. p. A. / Bompiani, Firenze – Milano
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© 2020 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin www.wagenbach.de
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ISBN: 9783803142832

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3325 0

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Prolog

Sie nannten ihn den Krumenbub, weil er der Sohn des Bäckers und weil er schwach war, er hatte keine Kruste, an der Luft gelassen, hätte er Schimmel angesetzt, nicht einmal für die Brotsuppe hätte er getaugt, nicht einmal als Hühnerfutter.

Er stand aufrecht mitten in dem Wald, der die Mauern des Ortes umgab, ein dunkler Wald, wo Cane sich versteckte, wenn der Regen Blitz und Donner mit sich führte, ein kleiner Wald, klein wie sie, die sie Nadeln im Heuhaufen waren.

Die Bäume reckten ihre Blätter in den Wind, glutheiße Luft stieg von den Feldern auf, das Ende des Sommers klebte einem am Leib. Nicola, das war sein Name, zitterte und schwitzte, Angst troff ihm von der Stirn.

Hier zählten die Menschen nicht, hier herrschte die Erde, denn die Erde blieb, während die Menschen fortgingen, und einer wie er, geboren inmitten der Felder mit weichen, zarten und blassen Armen, war zu überhaupt nichts nutze.

Sicher fühlte Nicola sich nur in dem Schatten, den die Dinge hinter sich warfen, leicht fiel ihm nur, sich in abgelegene Winkel zu verziehen, unters Bett zu kriechen, sich in hohlen Baumstämmen zu verstecken.

Als Nicola das Gewehr auf seinen Bruder Lupo richtete, dachte er, er müsse ein Versprechen einlösen.

Lupo und sein Rabenblick, reglos wie eine Gewissheit, waren eine Herausforderung für seinen Willen. Niemals würde er nachgeben und sich rühren.

Nicola schaute den großen Bruder an und sah alles, was Lupo gewesen war und was er nicht mehr sein würde, er sah sein Leben fortlaufen, ein Rinnsal Süßwasser, er sah den Jungen mit dem Tiernamen, den Gotteslästerer, den Rebellen.

Bevor Nicola schoss und damit die Vögel im Unterholz des Waldes aufscheuchte, sagte er: Entschuldige.

Mach nicht so ein Gesicht, das ist nichts anderes, als ein Kaninchen zu töten, entgegnete Lupo.

Der Große Krieg war auch bis hierher in diese Hügel gekommen, über die Schlossmauern, vorbei an den Wachtürmen, durch die Tore, an den Rebstöcken und den Olivenbäumen entlang, hatte Getreide und Seidenraupen eingesackt, hatte die Jungen in Uniformen gesteckt, die Frauen zum Arbeiten geschickt, nur Kinder, Gebrechliche, Priester und Nonnen waren noch da, um Serra de’ Conti zu bewachen, die Wasser des Misa, die Schotterstraße, die zum Friedhof führte, seine Felder, die seit den Zeiten des Kirchenstaats keiner von ihnen je besessen hatte.

Ein Ort der Habenichtse, der Halbpächter, der Schuster und Tagelöhner und all derer, die mittlerweile in den Krieg gezogen waren.

Nicola hatte noch nie ein Kaninchen getötet, trotzdem schoss er.

Mach die Augen zu

Luigi Ceresa war einer der Bäcker des Orts, und seine Familie war vom Unglück verfolgt, es hieß, die Raben äßen mit ihnen am Tisch. Eins nach dem anderen starben ihm die Kinder, Söhne und Töchter, weg wie Schmetterlinge am Abend. Er versuchte sie alle zusammenzuhalten in seinem Haus mit den wenigen Zimmern über dem Laden, der auf die Piazza des Ortes mit dem Gasthaus und der öffentlichen Waage ging und in dem sich früher die vielen Feldarbeiter und die wenigen Einwohner des Orts mit Brotlaiben und Gebäck versorgt hatten.

Diese Bäckerei hatte früher seinem Onkel Raffaele gehört und noch früher seinem Großvater Carlo, wohingegen sein Vater Giuseppe sich fern davon gehalten hatte, keiner hatte je herausgefunden, wieso er hinkte, aber alle wussten, dass die Polizei ständig nach ihm suchte, und es hieß, dass ihm Kohlen lieber wären als Brot.

Luigi hatte die Bäckerei geerbt ohne allzu große Begeisterung, das alltägliche Geplauder oder der morgendliche Gruß lagen ihm nicht, vielmehr war er berühmt für seine gekräuselten buschigen Brauen, seinen von Luft und Wein geblähten Bauch und sein Mardergesicht. Er hatte jedoch die richtigen Hände, um den Teig zu kneten, große Handflächen und fester Griff, er wendete den Teig, als wäre er aus Wolken, und vor dem Schlafengehen hustete er Mehl, er hatte es im Leib.

Seit Onkel Raffaele nicht mehr da war, half ihm nur sein Sohn Antonio im Laden, und die Bäckerei schien von Tag zu Tag näher am Ruin, es fehlte an Arbeit, und die Leute wurden immer rabiater.

Luigi war grob und rau wie die Kruste seines Brotes, hart wie Roggen, unverdaulich für viele, für die vielen, die er nicht liebte.

An erster Stelle diejenige, die am wenigsten Liebe abbekam, Violante, seine Frau, die gelernt hatte, in der Dunkelheit und für Geburten zu leben wie eine Zuchtstute, die man allein auf einem Feld angebunden hält; seit sie fast nichts mehr sah, war Kochen für sie eine Angelegenheit von Geruch und Geschmack geworden.

Sie schnitt sich in die Finger, stieß gegen Kanten, vergaß, die Fenster zu öffnen, ließ Gefäße, Hocker, Töpfe fallen, schürte schon erloschene Feuer, aber es fiel ihr schwer, die Kinder um Hilfe zu bitten, auch weil sie, seitdem die Älteste fortgegangen und Adelaide ebenfalls krank geworden war, angefangen hatte, sie alle zu hassen.

Am lästigsten war ihr Nicola, ein stilles, fast durchsichtiges Kind, nie hörte sie ihn kommen, sie merkte nicht, wenn er im Raum war, wie ein Gespenst konnte er erscheinen und verschwinden.

Hätte sie ihn sehen können, hätte Violante vielleicht verstanden, hätte sie diese feinen blonden Haare von der Farbe einer trockenen Ähre argwöhnisch betrachtet, diese grauen Augen wie der Boden einer Metallwanne und diese sehr weiße, glänzende Haut, hätte verstanden, dass hier nichts passte, fehl am Platz war wie Blumen in einem Stall.

Doch seit Nicola da war, sah sie fast oder gar nichts, und man hatte ihr diesen Schatten als den ihres Kindes gezeigt, eines von den vielen, die bei der Geburt durch Krankheiten oder sonstiges Unglück gestorben waren, doch bei diesem hatte man ihr gesagt, es sei gesund, und seit dem Tag war er ihr recht.

Auch wenn er ihr nicht wirklich gesund vorkam und unfähig war zu den einfachsten Verrichtungen, unnütz im Haus, unnütz im Laden, hatte man entdeckt, dass er komische Dinge lernte wie Buchstaben oder Worte.

Nicola erschrak vor allem, vom Pferdegetrappel bis zu den Knallfröschen im Karneval, von den Absätzen der wohlhabenden Damen bis zu den Händen des Vaters, bei der geringsten Kleinigkeit ergriff er die Flucht.

Für Luigi war es ein Kreuz, einen unnützen Sohn zu haben, mit einem Monat war er ihm so glatt und sauber, so perfekt erschienen, auf die Welt gekommen, um wunderschön und verehrungswürdig zu sein, der kleine König der einfachen Leute, aber mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass er linkisch und lächerlich war, ständig schlapp von der Hitze, immerzu auf der Suche nach Schatten, und nur mit Papier, den Heften und Büchern aus der Schule spielte, die Don Agostino ihm lieh.

Wegen dieser Neigungen waren Violante und Luigi zu der Überzeugung gelangt, dass es das Beste für ihn wäre, wenn er selbst Priester würde.

Violante, die Fromme der Familie, sah für Nicola die Möglichkeit vor sich, behütet und gebildet, der Heilige von Serra zu werden, der schönste Heilige, den man in den Marken je gesehen hatte, einer von denen, die als Erwachsene Wunder tun würden.

Luigi, der aus Familientradition nie ein besonderer Freund der Geistlichen gewesen war, sah darin einen Weg, ihn – nach dem Fehler, ihn überhaupt behalten zu haben – wieder loszuwerden, ihm den Umgang mit seinesgleichen zu ermöglichen, mit denen, die keine Hosen anzogen, um zur Arbeit zu gehen, sondern Soutanen, um zu beten und im Verborgenen zu bleiben.

Don Agostino, der dem Jungen anscheinend helfen wollte, da er ihn für einen Unverstandenen hielt, hatte sich bereit erklärt, ihn im Lauf der Jahre zum Glauben zu führen.

Ich würde ihn gern in meine Herde aufnehmen, hatte er eines Tages im Haus der Ceresa gesagt, während Violante ihm mit unsicherer Hand Wasser in ein Glas zu gießen versuchte und es dabei auf dem Küchentisch verschüttete. Es lief auf den Boden und auf die Sandalen des Priesters.

Ich mache das selbst, Signora Ceresa, keine Sorge, sagte Don Agostino und hielt ihre Hand fest.

Einige Zeit später, an einem Sonntagmorgen, wachte der Pfarrer mit dem Hahnenschrei um fünf auf, schob das Laken beiseite und erhob sich vom Bett, wusch sich das Gesicht, zog die Soutane an, schlüpfte in die Sandalen, immer dieselben, das ganze Jahr hindurch, kämmte mit den Fingern die vor allem an den Schläfen noch blonden Haare, betrachtete sich kurz im Glas eines Bildes, das die Jungfrau Maria darstellte, und ging aus dem Zimmer, um ein Stück Brot zu essen und eine Tasse Kaffee zu trinken.

Don Agostino war dickköpfig, aus jeder Kleinigkeit machte er eine große Angelegenheit, eine fixe Idee. Was in diesen Tagen die Stunden seines Schlafes auf drei verkürzt hatte, war die Sache mit dem Weihrauch.

Der Priester öffnete den Opferstock, ein paar wenige Münzen lagen dort auf dem Boden.

An wessen Großzügigkeit würde er heute appellieren, an die der Schuhmacher, die im Paradies die Schuhe des Herrn besohlen würden, an die der Wirte, die mit dem gesparten Wein goldene Tropfen vom Himmelszelt regnen lassen würden, oder an die der Kuhhirten, die mit ihrer Mistgabel alle Teufel vertreiben würden? Geld war immer weniger da, vom Weihrauch brauchte man immer mehr.

Don Agostino hatte blaue Augen und war großgewachsen, sein Schatten war lang wie der einer Pappel, und seine Finger waren sauber, das allein genügte, um ihn von ihnen zu unterscheiden: diese Hände der feinen Leute.

Der Priester hatte sich langsam bekreuzigt und Vergib ihr gesagt, als Signora Tabarrini, die Frau eines der vielen Schuster im Ort, am Sonntag zuvor am Ende der Messe die Stimme erhoben hatte.

Hier duftet es mehr als im Palast eines Königs, hatte sie auf der Schwelle gerufen. Dies ist eine Kirche.

Mit dem Zeigefinger hatte sie auf Christus gedeutet, in diesem derben Dialekt, den verstehen zu müssen er hasste.

Wie hätte Don Agostino ihr erklären sollen, dass der Gestank der Stuten von Anacleto, seit er zu den ersten zwei noch drei weitere hinzugenommen hatte, bis in die Kirche drang, bis zur Heiligkeit des Kreuzes, sodass die Luft, während sie Amen sagten, nach Kot und Tod roch und er nie und nimmer den Herrn hätte lobpreisen können, wenn es wirkte, als ob sie alle inmitten von Würmern und blanken Knochen hinabfahren würden?

Er verstand diese Menschen nicht, auch nicht nach all den Jahren, seitdem er mit seinem Sack voller Soutanen und Kreuze aus Como gekommen war, um ihnen zu verkünden, er wolle sie von den Schmerzen der Erde erlösen und zu den Freuden des Himmels erheben.

Während er sich über die geringen finanziellen Mittel grämte und ihn der Gedanke an den Weihrauch nicht losließ, trat er durch den Hintereingang in die Kirche, um alles für die Messe vorzubereiten.

Er wankte, denn sofort überfiel ihn der Gestank nach Mist, aber diesmal war er durchdringend, aggressiv, er stach in die Nase wie frisch verzehrter Peperoncino, dann das Geräusch von Kauen, Beißen und Lecken und das Klappern von Holzschuhen im Kirchenschiff, dann deutlich das Gemecker einer Gruppe Schafe vor dem Altar.

Der Priester bekreuzigte sich, küsste die imaginären Lippen Christi, bat ihn um Verzeihung für diese Sünde, denn gewiss war dies nichts anderes als die Sünde eines Sünders, und lehnte sich an die Steinmauern, dieselben Mauern, die ihn die Jahre hindurch in ihren Armen gehalten hatten wie eine Mutter ihren Säugling, wie Kinder ihre alten Eltern.

Die Kirche war voller Schafe, die ihre Notdurft zwischen den Bänken verrichtet, Vorhänge und Gemälde besudelt, die kleinen Bibeln angeknabbert hatten, die Don Agostino sorgsam auf den Bänken auslegte.

Wer den Priester auf der Suche nach Hilfe durch die Gassen von Serra eilen sah, erblickte einen fiebrigen Menschen, einen verwundeten Hirsch, mit dem flackernden Blick eines Verrückten, der schreiend eine Katastrophe verkündet.

Die Schafe aus der Kirche zu treiben war mühsam, es verlangte den Einsatz von drei Männern, die ihr Gelächter mit Worten des Bedauerns unterdrückten.

Die Messe begann mit Verspätung, Weihrauch wurde keiner verbrannt, der Boden wurde oberflächlich gereinigt, die Frauen des Orts saßen mit dem Taschentuch vor dem Mund in ihren Bänken.

Don Agostino las die Messe, er hielt die Luft an und verfluchte den Schuldigen zwischen zusammengepressten Lippen, denn es konnte nur er gewesen sein, der Priester hatte sofort begriffen, dass ihm noch jemand zugehört hatte, als er Nicola eine Zukunft prophezeite.

Und doch machte er sich nicht auf die Suche nach dem Urheber der Untat.

Niemand wird Ninì dem Priester geben, sagte Lupo, als er sich am Abend an den Tisch setzte, ein boshaftes Lächeln im Gesicht.

Violante und Luigi blieben stumm, der Junge brachte sie in Verlegenheit, er ließ sie im Erdboden versinken, er war zu allem fähig.

Nicola rührte in der Suppe herum und starrte den Bruder an, als ob er zum ersten Mal eine Sternschnuppe sähe.

* * *

Lupo glaubte an Märchen, aber nur an die der Leute, nie an die der Priester, nie an die von Gott. Er musste sie mit seinen eigenen Augen sehen, die Märchen, sie aufspüren, auf die Jagd nach ihnen gehen, Schritt für Schritt. Deshalb waren Himmelsdinge nichts für ihn, weil er Gott nie ins Gesicht schauen und ihm sagen konnte: Da bist du.

Auf dem Grunde dessen, was die Leute sich erzählten, lag die Wahrheit, da war er sich sicher, sein Großvater Giuseppe sagte es immer wieder: vielleicht nur so groß wie eine Nuss, eine winzige, nutzlose Wahrheit. Zu der allerdings musste man vordringen, um das Märchen zu verstehen.

An dem Tag, als die Wolken über Serra kreisten, machte sich Lupo, das eigenwillige Kind mit der dunklen Haut und den dunklen Augen, auf und stieg zwischen Pappeln und Brombeersträuchern gegen den Flusslauf des Misa hinauf in Richtung Apennin.

Er ging am Ufer entlang, überwand Strudel, kämpfte sich durch das dichte Schilf, rastete unter Weiden, betrachtete die knochigen Hüften des Flusses, seine stillen Gumpen, seine Stromschnellen, seine dunkelsten Ecken, in denen man einen Schatz hätte verbergen können.

Wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er alle Flussläufe der Marken in entgegengesetzter Richtung abgegangen, aber Lupo hatte keine Zeit, er musste arbeiten, solche wie er taugten nicht für die Schule, es blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als im Laden zu stehen, Arbeiten zu suchen, für die man kleine Hände und Füße brauchte, bei denen man auf Bäume kletterte, in Gräben hinunterstieg, einfache Aufgaben, wie Tiere hüten, melken, Säcke schleppen, Brotlaibe in der Bäckerei aufreihen.

Und er musste Geld verdienen, um Nicola in die Schule schicken zu können.

Diese wenige Zeit wollte Lupo dem Misa widmen, seinem Fluss, der ihm im Sommer Wasser spendete, wenn der Himmel das vergaß.

Wenn er einen Schatz gefunden hätte, hätte sich ihr Leben für immer verändert.

Denn so hieß es in den Märchen: Die Seeräuber, die Türken, diejenigen, die jenseits des Meeres hausten, hinter Senigallia, hinter dem Hafen, an einem unbekannten, aber nahen Ort der Welt, so nah, dass sie einen überfallen konnten, die waren, als sie in die Marken kamen, die Flussläufe hinaufgezogen, Flüsse wie den Misa, die wie die Zinken eines Kamms vom Apennin her zum Meer hinabströmten. Die Seeräuber, Freibeuter, Banditen, Missetäter nahmen diese Flüsse in Angriff, gegen den Strom und die Strudel rudernd, um die richtige Flussbiegung zu finden, wo sie ihre kostbaren Schätze verstecken und vergraben konnten, die sie sich eines Tages wiederholen würden.

Mit den Jahren hatten sie sie vergessen, hatte Antonio zu ihm gesagt, der große Bruder, der bald fortgehen würde, denn bei den Ceresa schien nie einer Kind genug, um dazubleiben, er hatte ihm erklärt, dass die Flüsse jetzt bei der Hitze austrockneten, und wenn das geschah, kamen die Schätze aus der Erde zum Vorschein und kehrten zurück zu den Menschen.

All die Golddukaten, der Schmuck und die Edelsteine der Königinnen, die die Seeräuber höchstwahrscheinlich den Adeligen an der Küste geraubt und dann hier vergessen hatten, konnten ihre werden, Eigentum der Leute von Serra, wenn sie nach einem Tag des Dreschens und des Garbenbindens von den Feldern an den Misa gingen, um sich das Gesicht zu waschen, und in ihren Händen plötzlich eine Perlenkette finden würden.

Für Lupo musste man die Märchen wie alle Dinge zwischen die Zähne nehmen, denn nur wenn man hineinbeißt, spürt man den Geschmack einer Frucht, eines Stücks Fleisch, eines Erdklumpens, nur dann kann man herausfinden, ob sie süß sind wie Marmelade oder bitter wie Radicchio, ob man sie behält oder wegwirft.

Aber Schätze fand Lupo an diesem Tag keine. Für ihn führte der Misa Wasser des Nil, segnete Dörfer und Ortschaften, von der Hitze verschluckte Böden und nicht länger fruchtbare Felder, aber in Wirklichkeit war er nichts weiter als ein kleiner vertrocknender Wildbach mit nur einem einzigen Zufluss, der sich nach etwa dreißig Kilometern erschöpft ins Adriatische Meer ergoss. Er ging ihn hinauf mit seinem verantwortungslosen Dickschädel und mit der Geduld eines Schäfers, in Richtung San Donnino, und verlor dabei einen ganzen Arbeitstag.

Als er Füße und Gesicht zwischen die Aale ins Wasser tauchte, bereit, mit leeren Händen und mit dem Vorsatz nach Hause zu kommen, noch vor dem Abend zu Antonio zu gehen und sich mit ihm zu prügeln, auch wenn er dem Bruder nur bis zum Ellbogen reichte, da hörte er ein Geräusch von Scharren auf der Erde. Immer noch im Wasser ging er zu der kleinen Bucht, die er beim Vorübergehen vor Langeweile und Hitze nicht bemerkt hatte.

Schätze machen keine Geräusche, sagte er sich finster.

Er war wütend, wie nur Lügen ihn wütend machen konnten, er warf einen Stein in Richtung des Geräuschs und hörte ein Winseln.

Er blieb ein paar Sekunden still stehen, um sich über seine Gedanken klar zu werden, bevor er zu der Bucht lief. Denn er war neugierig, aber nicht leichtsinnig.

Da sah er, während der Misa weiter in Richtung Meer floss, ohne Schätze mit sich zu führen, einen grauen Wolf, ein Welpe noch, der sich an einer Pfote verletzt hatte und nun mit der Verzweiflung hungriger Hunde versuchte, die Böschung hinaufzuklettern.

Wölfe wie er, Bergwölfe, kamen nie ins Tal, weil die Bauern Angst vor ihnen hatten und Jagd auf sie machten, um ihr Vieh zu schützen. Die Wölfe waren ihre Hexen, ihre Seeräuber, ihre Quallen. Die Leute sagten, die Wölfe seien Unglücksbringer, Dornen in den Fingern.

Lupo, der Junge, stellte sich vor das Tier und sah es an, und eine Weile lang tat er nur das, er sah das Tier an, wie es fliehen wollte und nicht konnte.

Der kleine junge Wolf, graues Raubtier aus den Bergen, mit weißen Backen und von der Sonne rötlichen Haarbüscheln auf dem Rücken, knurrte, tief aus der Kehle, bis er sich an dieses Kind mit den schmutzigen Hosen und dem frechen Gesicht gewöhnt hatte, dann hörte er auf.

Sie musterten sich ein Weilchen, Lupo tat einen Schritt, der andere knurrte wieder. Lupo wartete, bis der andere aufhörte, dann hob ihr Tanz wieder an.

Schritt. Knurren. Pause.

Schritt. Knurren. Pause.

Schritt. Knurren. Pause.

Schritt. Knurren. Der Junge stürzte sich auf ihn.

Er betrachtete die Wunde, vielleicht ein Biss, vielleicht eine Falle, der Wolf hatte keine so großen Pfoten, als dass er ihm hätte wehtun können, und der Junge wusste, dass er ihm die Schnauze zuhalten konnte, wenn das Tier versuchen sollte, ihn zu beißen. Lupo fragte sich, wo seine Mutter war, ob er auch eine blinde Mutter hatte, die ihn nicht bei sich behalten konnte.

Hör auf, jetzt bring ich dich weg, sagte er zu ihm.

Das Tier verstand nicht, es fühlte, wie es hochgehoben und von diesem kleinen Menschen ohne Gewehr auf die Schulter genommen wurde.

Auf diese Weise, verletzt und über die Schulter gelegt, brachte Lupo den Feind nach Serra auf seinen Hügel, und so hatte er Cane kennengelernt.

* * *

Aus was bist du gemacht, hä? Aus Wasser und Salz?

Luigi packte Nicola am Handgelenk und hob ihn hoch wie einen Sack Sägemehl, wie einen im Keller hängenden Schinken, schüttelte ihn nach allen Seiten, die Beine des Jungen strampelten kraftlos im Leeren, baumelten, als wären sie falsch angeklebt.

Zu was taugst du, darf man das erfahren? Jedes Mal, wenn ich heimkomme, bist du hier, jedes Mal, wenn ich fortgehe, bist du hier, jedes Mal, wenn ich esse, bist du hier, jedes Mal, wenn ich scheiße, bist du hier …

Luigi schleuderte Nicola in den hintersten Winkel der Küche, zwischen die Stühle, während Adelaide, die kranke Schwester, im Schlafzimmer hustete und Violante, die Hände im Schoß, an die Wand gelehnt dasaß und brummte, ein Gebet auf den Lippen und den Kopf vom Trauerschleier bedeckt.

Sie hatten Antonio vor einer Woche beerdigt: Man hatte versehentlich auf ihn geschossen, als er vom Jahrmarkt heimkam, die Sonne war schon untergegangen, und er wollte nur einen Apfel von einem Baum stehlen, der Bauer hatte ihn niedergestreckt, wie man es mit verrückten Pferden macht.

Ich schufte den ganzen Tag, und du fängst schon an zu flennen, sobald du die Mühe nur auf dich zukommen siehst.

Luigi versetzte ihm mit der Fußspitze einen Tritt in die Rippen. Nicola machte seinen Körper klein wie eine Nuss. Ohne etwas zu sagen, nahm er den Tritt mit zusammengebissenen Zähnen hin.

Wir haben dir geholfen, dadurch bist du so geworden. Nur Königskinder sind so unnütz wie du, wenn die Leute arbeiten müssen, haben sie keine Zeit zum Angsthaben, sie müssen was tun, sonst verhungern sie. Du bist krank im Kopf, wie solche, die immerzu schlafen und weinen.

Und nachdem er ihm mit dem Finger fest gegen die Schläfe gedrückt hatte, fast als ob er ihm den Schädel öffnen wollte, packte Luigi Nicola an den Beinen und schleifte ihn in die Mitte des Raums, denn er war eine kraftlose, träge Masse, man konnte ihn in den Fluss oder eine Schlucht werfen.

Steh jetzt auf, du verfluchter Junge. Wenn ich nicht gewesen wäre …

Der Bäcker packte ihn bei den blonden Haaren und zog ihn hoch wie eine Puppe, wie die alte Puppe von Nella, der verschwundenen Tochter, wie die Puppen, die Violante nähte, als sie noch sehen konnte, und mit denen sie ihm das Laufen beigebracht hatte.

Luigi war vor einer Stunde nach Haus gekommen, in der Nacht hatte eine Eule im Kamin des Backofens ihr Nest gebaut, der Laden hatte sich mit Rauch gefüllt, die Wohnung auch. Um ihn zu vertreiben, hatte der Mann die Brotschaufel, mit der er das Brot in den Ofen schob, zerbrochen, die Brotschaufel, die einst dem Onkel und dem Großvater gehört hatte. Violante hatte Zeter und Mordio geschrien, die Kunden waren davongelaufen, als sie die Schläge gegen die Kaminwände hörten, die wie Donner widerhallten, und der Bäcker hatte nach seinen Kindern gerufen, um sich von ihnen helfen zu lassen, aber keiner von ihnen hatte geantwortet.

Er hatte Antonio gerufen, aber Antonio war nicht gekommen.

Den einzigen tüchtigen Sohn, der ihm geblieben war, hatte man ihm umgebracht.

Wie eine Furie war er die Steintreppe zu seinem Haus hinaufgestürzt, er wusste, dass Lupo mit Cane auf den Feldern war, dieses vermaledeite Vieh, das von seinem Atem zu leben schien und ihn nie allein ließ, das Vieh, das Unglück brachte, ausgerechnet in seine Familie war es gekommen, wo es seit eh und je so viel Unheil gab, dass es für die gesamten Marken gereicht hätte.

Der Bäcker sah nur Nicola vor sich, der vor einem aufgeschlagenen Heft beim Fenster Schreiben übte und nicht einmal inmitten des pechschwarzen Qualms einen Finger gerührt hatte.

Raus hier jetzt, lauf nach Montecarotto und hol den Schmied, ich muss die Schaufel reparieren.

Luigi stieß Nicola zur Tür und dann die Treppe hinunter, das Kind rollte hinab und hielt sich an den Seiten fest, um sich nicht das Genick zu brechen.

Du musst rennen, schrie der Vater von oben, wenn du zu spät kommst, verbrenn ich all deinen Papierkram.

Nicola, dessen Körper schmerzte, dessen Kopf vor Panik benommen, dessen Mund trocken war, rannte los, angetrieben von der bloßen Angst.

Doch sein Fleisch war von Geburt an schwach, seine Gedanken waren feige herangewachsen, und jeder seiner Schritte war ein Sturz. Keiner wusste, warum, aber es lag nicht in Nicolas Natur, wie alle anderen in der Welt zu sein.

Dieser Lauf unterhalb des Klosters entlang, dann die Treppe zum Wald hinauf zur Straße nach Montecarotto erschöpfte ihn, raubte ihm alle Energie.

Zitternd und außer Atem lief er den Abhang an den Mauern hinunter.

Es war Mittag, die Stunde ohne Schatten und ohne sichere Verstecke.

Für die Leute auf den Feldern war dieser Moment heilig und durfte nicht entweiht werden, seit jeher zeigten sich da in der brütenden Hitze, die vom Getreide aufstieg, die Götter des Feldes, erhoben sich im Dunst der sengenden Sonne die Erntegeister, verwandelten sich Felsen in Elfen, Sträucher in Nymphen, und die Gebete um eine gute Ernte strömten in Scharen zu Tal.

Über der Erde, über Serra und Montecarotto, über dem Hügelauf und Hügelab stand im Zenit diese Sonne, die nach Nicola griff, kaum dass er das kleine Tal erreicht hatte.

Seine blasse Haut rötete sich, sein Schädel begann zu brummen, Bremsen, Bremsen, Bremsen, alles stach und tat weh, eine so kurze Strecke, die jeder andere ohne Weiteres zurücklegte wie einen kleinen Spaziergang, für Nicola war sie ein Kreuzweg.

Jede Nacht vor dem Einschlafen hoffte er, beim Aufwachen zu sein wie die anderen, verändert, geheilt durch irgendeinen Sternenzauber, hoffte, stundenlang im Licht ausharren zu können, reglos und erhaben wie eine Eiche, all die Wärme aufnehmen zu können, die von oben und unten kam, hoffte, kilometerweit laufen und fliehen zu können, ans Meer zu gelangen, Schiffe und Möwen zu sehen, die Menschen auf dem Sand und auf den Felsen.

Aber es gelang ihm nicht. Er konnte nicht arbeiten. Er taugte zu nichts.

Seine Schuhe schienen voller Kies, seine Kleider schwer, als ob er den Wintermantel anhätte, es würgte ihn in der Kehle wie an dem Tag, als man ihm gesagt hatte: Man hat deinen Bruder erschossen. Er hatte gemeint, es handle sich um Lupo, und hatte sich vor Qual in die Hose gemacht.

Die Stellen am Körper, auf die Luigi eingeschlagen hatte, begannen ihren Schmerz herauszuschreien, der weiße Weg hinauf nach Montecarotto war für ihn der Aufstieg auf den Gran Sasso, war dieses ganze unerreichbare Italien, das er nicht kannte, das er nie sehen würde, nur schreiben konnte: I T A L I E N, in Großbuchstaben, mit zu viel Abstand zwischen den Lettern.

Ich bin krank, mit mir stimmt etwas nicht.

Nicola machte noch ein paar Schritte, rang nach Luft, er spürte, wie er von der Sonne Fieber bekam, dann brach er zusammen.

Er dachte an das Wort Hundstagshitze, er hatte es Lupo erklärt, gleich nachdem er es gelernt hatte, so wie er es mit jedem Wort machte, das er las oder hörte.

Wenn die Sonne über das Sternbild des Hundssterns hinausgeht und man auf den Feldern Gott und der Hitze einen Hund zum Opfer bringt, damit die Felder nicht verdorren.

Was sind Sternbilder?, hatte Lupo da gefragt.

Die Bilder, die die Sterne nachts am Himmel zeichnen, hatte der Bruder geantwortet.

Und während seine Augen sich schlossen und er sich dem Gedanken überließ, nicht zu wissen, ob und wie er sich von dort je wieder erheben würde, sah er sie kommen. Drei schwarz gekleidete Männer mit schwarzen Schleifen um den Hals, die in der Mittagshitze auf ihn zukamen. Die drei Männer hoben ihn auf und legten ihn in den Schatten eines Olivenbaums.

Ob er sie nur geträumt hatte wegen der Mittagshitze, die einen Dinge sehen lässt, die nicht da sind, aber den Schlüssel zum Übergang ins Reich der Toten und der Ungeborenen besitzt, das sollte Nicola nie erfahren.

Als er viele Jahre später seinen Fuß jenseits des Ozeans an Land setzte, sollte er wieder an diesen Moment denken, an die Hundstagshitze und an damals, als er das Meer noch nicht kannte und meinte, alles sei unmöglich.

* * *

Mir ist heiß, sagt Lupo.

Ich hab gesagt, mir ist heiß, Ninì, wiederholt Lupo.

Ich bleibe hier, antwortet Nicola.

Geh in dein Bett, sagt Lupo.

Es ist weit weg, antwortet Nicola.

Es ist dort drüben, zwei Schritt entfernt, sagt Lupo.

Es ist weit weg, wiederholt Nicola.

Und wie soll ich so schlafen?, fragt Lupo.

Mach die Augen zu, antwortet Nicola.

Du klebst an mir dran, sagt Lupo.

Mach die Augen zu, wiederholt Nicola.

Da schließt Lupo die Augen.

* * *

Es war das Jahr 1897: Lupo wurde an der Schwelle zum neuen Jahrhundert geboren, in jenem Jahr, in dem Errico Malatesta in Ancona von der Polizei gejagt wurde, während er für L’Agitazione schrieb, jenem Jahr, in dem die Bauern in Latium das Land besetzten und die Reisarbeiterinnen rebellierten, um einen höheren Lohn zu bekommen, und in Rom sogar die Kaufleute gegen die Regierung auf die Straße gingen, aber das konnte Lupo nicht wissen und sollte es lange Zeit auch nicht wissen. Ihm, der wie alle anderen zum Arbeiten geboren war, war es nicht gegeben, zu erkennen, wie die große Geschichte sich bewegte, wie die Völker und Menschen herumgewirbelt wurden, wie die Ideale in sich zusammenfielen und wohin die Hoffnungen sich verzupften, er sollte seine Augen auf sein eigenes Unheil gerichtet halten und die Macht der Entscheidungen anderen überlassen.

Als er auf die Welt kam, war Lupo ein weiteres weinendes, nacktes und schmutziges Kind, und als Stalin in Ancona in einem Hotel arbeitete, war Lupo zehn Jahre alt und sah mit seinen schwarzen Augen den Vater an, dem er alle erdenklichen Schmerzen wünschte.

Lupo wäre gern in die Schule gegangen, auch wenn er die Priester und ihre Regeln hasste, auch die wohlmeinenden und sanften, und er antwortete mit üblen Streichen.

Das hatte er gleich von Anfang an gelernt, ein Gesetz, das er immer im Herzen tragen würde: Auf das, was du nicht als richtig empfindest, auf das, was die anderen dir antun, sollst du nicht mit Worten reagieren, daher hatte es Lupo allen immer mit Taten heimgezahlt, Luigi eingeschlossen.

Deshalb warf Lupo mit zehn alles, was er im Haus fand, auf den Boden, während Luigi ihm nachlief und versuchte ihn einzufangen, aber das Kind glitt ihm aus den Fingern wie Seide, und Cane knurrte.

Luigi bewegte sich in einer Hölle aus zerbrochenen Tellern, abgerissenen Gardinen, umgeworfenen Betten – unter den brunnentiefen Augen des Jungen, der den Teufel im Leib zu haben schien, der biss, spuckte und die Zähne fletschte, scheinbar alles verschlingen konnte, vom Obst bis zu Rinderhälften.

Fass bloß Nicola nicht an, schrie Lupo. Die Bücher bezahle ich, die gehören dir nicht.

Denn das war die Abmachung zwischen ihnen: Nicola würde die Schule bis zur fünften Klasse besuchen können, wenn Lupo es bezahlte, und so hatte er das Nötige beiseitegelegt, Soldo für Soldo, hatte sich jeden Gedanken an die kleinste Vergnügung versagt, um das Geld dem Bruder zu geben.

Als Nicola ihm zum ersten Mal ein auf ein Blatt geschriebenes A zeigte, hatte er begriffen, dass jede Sache, die sie lernten, für Luigi ein Schlag ins Gesicht war, dass jedes Wort, das Lupo dazulernte, ein Hieb gegen seine Knie war, dass jeder geschriebene Satz ihm neue Sätze und immer weitere Sätze erschloss und dass ihr Dorf und ihre Felder, ihr Dialekt demgegenüber zu einem Taubenschiss wurden.

Nicola musste für alle beide lernen und jede Nacht zu ihm kommen und ihm sagen, was er gelernt hatte, es mit ihm üben, ihn wiederholen lassen und ihm erklären, zwar würden die Hände und die Tatsachen für Lupo immer mehr zählen, aber um richtig handeln zu können, musste man die Dinge richtig verstehen.

Seit Lupo auf der Welt war, hatte Luigi ihn nicht bremsen können, er überrumpelte und beherrschte ihn wie der schlimmste Schrecken; seit er laufen konnte, war ihm nicht beizukommen, er verbrachte ganze Tage im Wald, er gehörte einem Menschenschlag an, dem der Bäcker nichts entgegenzusetzen hatte. Ohnmächtig wie gegenüber einer Naturkatastrophe sah Luigi zu, wie er das Haus verwüstete.

Während Lupo eine Wanne umwarf und schrie, dass ihre Kinder eins nach dem anderen sterben und nur er und Nicola ihnen bleiben würden, dazu bestimmt, wie eine einzige Person zu überleben, betete Violante, dass das nächste Erdbeben sie alle miteinander verschlingen möge, mitsamt ihrem Haus und dem Ort, um dieses Leben, das sie nicht zu führen verstanden, auszulöschen.

Von den Prophezeiungen des Jungen an der Gurgel gepackt, warf Luigi sich unters Bett und holte das Gewehr hervor.

Unterdessen lag Adelaide da und hustete, ihre schmale Mädchenbrust hob sich in unregelmäßigem Rhythmus, jeder Atemzug war das Geräusch der Krankheit. Wenn sie Luft bekam, rief sie nach Antonio, aber Antonio war nicht mehr da.

Der Bäcker sagte: Jetzt erschieß ich dich, und richtete das Gewehr auf den Jungen.

Der antwortete ihm: Dazu hast du nicht den Mut.

Luigi, der wie alle jemanden gewollt hätte, dem er seinen Beruf beibringen, sein Geschäft übergeben konnte, das er nicht mehr ertrug, jemanden, dem er seine Zukunft anvertrauen konnte, während diese wie Moos in der Sonne verschrumpelte, dachte an die grünen Augen Antonios und ließ wütend das Gewehr sinken.

Der Junge hatte recht, er hatte nicht den Mut.

Geschlagen blickte er auf seine Hände und schüttelte den Kopf, während Cane ihn aus seinen gelben Hyänenaugen ansah, bereit, ihn in die Kehle zu beißen, dort, wo die Halsschlagader das Blut in den Kopf leitet.

Ich gehe mit der Brigade von Gaspare nach Senigallia, sagte Lupo und betrachtete ihn dabei vom hinteren Ende dieses Horts ihrer Streitereien und Bosheiten aus. Und verließ das Haus.

Auf dem Land war es üblich, dass sich einige Kinder, gewöhnlich nur wenige, Brigaden anschlossen, das waren Gruppen, bestehend nur aus Männern, die mit Wein, Käse und ein paar Instrumenten in die Küstenstädte zogen und dort den Sonntag verbrachten.

Gaspare Garelli war erwachsen, er war siebzehn, aber Lupo hielt sich immer an die, die größer waren als er, und die verschmähten seine Gesellschaft nicht: In der Tat war er aufgeweckt, ein guter Arbeiter, zu jedem Spaß aufgelegt, aber auch schlagfertig, wenn er angegangen wurde, und er stand ihnen in nichts nach, wenn es galt, irgendwelchen Unsinn zu machen.

Bevor er ging, verabschiedete sich Lupo von Nicola, der mit seinem vom Gebrauch völlig zerfledderten Heft auf den Treppenstufen saß.

Er wird dich nicht mehr schlagen, keine Angst, sagte er und strich ihm über den Kopf. Ich treffe Gaspare und komme heute Abend zurück, setzte er hinzu.

Kann ich in deinem Bett schlafen?, fragte Nicola und hob das schmale Gesicht vom Heft.

Schlaf, wo du willst.

Lupo sah ihn an, dann setzte er den Hut auf und lief in Richtung der Straße zum Friedhof. Cane kam die Treppe herunter und folgte ihm.

Noch angeschlagen setzte Nicola sich mühsam auf den Stufen zurecht und fing wieder an zu lesen.

Singend und ein paar Tanzschritte vollführend verließ die Brigade der Männer das Dorf, alles Nötige zum Bocciaspielen unter dem Arm. Lupo ging neben Gaspare.

Was hat Ernesto?, fragte er ihn und zeigte auf den Mann, der ihnen finster in einem gewissen Abstand folgte, sogar Cane, gewöhnlich der Letzte in der Reihe, lief ihm voraus. Lupo wollte nicht wissen, was er an diesem Tag hatte, sondern was ihn im Allgemeinen bedrückte, denn jedes Mal, wenn er ihn vor sich gehabt hatte, war er noch verschlossener und stiller, noch schlechter gelaunt und hoffnungsloser gewesen.

Er hat sich nicht mehr erholt, seit Amisia ihn abgewiesen hat, scheinbar sollten sie sich verloben, aber Ernesto hat sich letztes Jahr beim Karneval unmöglich aufgeführt, er kam in einem alten Anzug, zerschlissen und nur notdürftig hergerichtet mit Ruß und Wasser, Amisia kam ganz in Weiß, und beim Tanzen hat er sie schmutzig gemacht, er hat das gute Kleid ruiniert, das sie eben gekauft hatte, ganz Serra hat sich über die beiden lustig gemacht, erklärte Gaspare amüsiert.

Und wenn ich ihr ein neues Kleid kaufe?, fragte Lupo und sah sich nach Ernesto um, der langsam und mühevoll voranschritt wie an einem steil ansteigenden Berghang.

Und woher nimmst du das Geld, hm? Jetzt gibt es nicht so viel Arbeit, bis September ist nichts in Sicht. Wir sind keine Leute, die sich zu jedem Festtag neue Kleider leisten können, geschweige denn für andere, sagte Gaspare.

Wer kann sie sich denn leisten?, fragte Lupo herausfordernd.

Die, die alles haben, diejenigen, die die Felder besitzen, die die Häuser besitzen, erklärte Gaspare.

Wer ist das?, drang Lupo weiter in ihn.

Die Padroni. Das Feld meines Vaters ist schließlich nicht seins, du weißt doch, wie das funktioniert, oder nicht?

Vielleicht, antwortete Lupo und sah sich nach dem Hut von Ernesto um, der mit jeder Bewegung seines leeren Kopfes hin und her schwankte.

Hier hat früher alles den Pfaffen gehört, bevor Italien kam, doch jetzt gehört es den Freunden der Pfaffen, jetzt ist da nur der König, der dir den Kopf abschneiden lässt, sobald du ihn erhebst. Das sind Leute, die sich, wenn sie wollen, auch deine Seele kaufen und sie weiterverkaufen, weil es nämlich eine reine Seele ist.

Lächelnd berührte Gaspare ihn an der Schulter.

Und wie bringt man den König um?, fragte Lupo und blieb mitten auf der staubigen Straße stehen.

Wie meinst du das? Gaspare sah ihn verwundert und verständnislos an, mit der Vermutung, dass er Fragen stellte, die er sich längst selbst beantworten konnte.

Wie wird man ihn deiner Meinung nach los?

Das endet dann wie beim Papst, wenn der eine geht, kommt ein anderer und dann noch ein anderer. Die gehen nie weg, sie wechseln nur das Aussehen. Es gibt keinen Ausweg.

Das ist nicht wahr! Sie haben schon einen König getötet, Umberto I. Das hat mir neulich Tomassini erzählt, in der Schänke, er hat gesagt, vor sieben Jahren hat ihn einer erschossen, der hieß Gaetano. Irgendwer kann das mit jedem König machen, der daherkommt, erklärte Lupo überzeugt.

Gaspare schwieg, mit ein paar Trompetenstößen zog die Brigade dahin. Petri kletterte auf einen Baum, um eine Handvoll Kirschen zu holen, die er verschenkte, auch wenn es in Wahrheit nicht seine waren. Jemand erzählte vom Ruzzola, das sie beim letzten Ausflug gespielt hatten, als Paoletto mit seiner hölzernen Ruzzola-Scheibe beinah die Statue der Vorsehung getroffen hätte. Die anderen lachten.

In Moll, für meinen Gebrauch

Zaris Haar war mit Perlen übersät und ihre Kleider papageienbunt, sie lief in der zeriba herum, dem großen Garten hinter ihrem Haus, dem einzigen Steinhaus im Dorf, denn sie waren die Kinder des Dorfoberhaupts, und das Dorfoberhaupt konnte nicht auf Lehm und Stroh schlafen.

Während sie schrie wie ein dem Käfig entkommenes Vögelchen, kniff sie ihren Bruder in den Schenkel und warf ihn dann zu Boden, lachend hüpfte sie zwischen den noch unreifen Kürbissen herum. Das war ihr Lieblingsspiel: in den Garten laufen und sich hinter dem dicken Bauch ihrer Kuh mit den sehr langen Hörnern verstecken.

Ihr Bruder sagte, sie sei grausam, gemein, sie habe keine Liebe im Leib, aber er war zu klein, um die Worte zu verstehen, die er benutzte.

Zari hatte Hufgetrappel gehört und zu den Nuba-Bergen hinaufgeschaut, für immer würde sie sie so in Erinnerung behalten, kurz vor der Regenzeit, mit ihren Inseln von einem so grellen Grün, dass es in den Augen schmerzte, mit den kleinen, wasserlosen Lichtungen, mit den schmalen, holprigen Pfaden, die nicht einmal für das Vieh gut waren.

Das Hufgetrappel war nun näher, und es kam von unten, aus dem Teil der Welt, von dem sie nichts wissen wollten. Zari hatte ihrem Bruder zugerufen, er solle ihre Dienerin holen, doch die war nicht da, auch ihre Mutter war nicht da, sie hatte im Vorübergehen nur die kleine Flamme im Fenster hinterlassen.

Jeden Abend vor dem Einschlafen sagte die Mutter zu Zari, dass diese kleine Flamme sie beschützen würde, sie sei der Seele geweiht, die in allen Dingen lag, in all ihren Schritten, in jedem Ast und in jedem Rinnsal Wasser würden die Götter sie wiegen, sie dicht am Herzen tragen, fern von Schmerz.

Zari war acht Jahre alt, als sie die Männer mit den verhüllten Gesichtern von ihren Pferden steigen und auf sich zukommen sah, sie hatte zu der Flamme hinübergeblickt und gehofft, dass das Feuer sie mit sich forttragen möge, aber die Flamme war klein und still geblieben, sie glomm auf ihrem Votivaltar und sah den Männern zu, die Zaris Bruder auf ein Pferd hievten und dann auch sie, sie wurde an den Hüften gepackt und hochgehoben, federleicht war sie, ohne Gewicht und Willen.

Die Männer sprachen Arabisch mit ihren Pferden, spornten sie an, Zari hatte gedacht, ihr Vater werde kommen, niemand konnte Akil, dem Herrn der Nuba-Berge, die Kinder wegnehmen, er besaß wunderschöne Zuckerrohr- und Hirsefelder, auf die er seine Kinder führte, um ihnen zu sagen, dass dies hier eines Tages ihre Verantwortung, ihre Aufgabe sein werde.

Die Unbekannten waren bis zum unzugänglichsten Ort der Welt vorgedrungen, von dem alle meinten, hier für immer in Sicherheit zu sein, zwischen miteinander verwachsenen Bäumen auf trockenen Höhen, verehrt nur von den Nuba, unwirtlich für jeden anderen, in jenem Teil des Sudan, den sie unter den Schichten einer glanzvollen und vergangenen Zeit verschüttet glaubten.

Die Leute im Dorf hatten die Pferde wie eben abgeschossene Pfeile vorübergaloppieren sehen, die reglosen Körper der Kinder auf ihren Rücken, und sie waren hinterhergerannt, hatten verzweifelt schreiend Himmel und Erde angerufen.

Doch so flink die Nuba auch waren, so gut sie ihre Straßen und Stege auch kannten, so wenig hatten die Männer aus dem Dorf die Araber doch einholen können, einer von ihnen hatte einen bestimmten Weg eingeschlagen, der andere einen anderen, und Zari hatte nicht einmal bemerkt, dass sie ihren Bruder verloren hatte.

Am Abend war das Mädchen mit anderen geraubten Kindern in ein Zelt geworfen worden, dann waren sie am Weißen Nil entlang in Richtung libysche Wüste gezogen, man hatte ihr eine schwere schmutzige Kette ums Fußgelenk gelegt, ihr die Zöpfe mit einer Schere abgeschnitten, die einer der Araber immer in der Tasche trug, und ihre Kleider verbrannt in dem Feuer, das sich lodernd im Lager der Sklavenhändler erhob.

Die Nacht hindurch hatten sie geschrien, keiner von ihnen wollte sich ergeben, und mit Singstimme riefen sie um Hilfe, nur wenige von ihnen sprachen, fragten wer bist du, woher kommst du. Sie verstanden diese Leute nicht, diese Leute verstanden sie nicht, nur mit Schwierigkeiten verstanden die Sklaven sich untereinander, jeder kam aus einer anderen Gegend. Sie teilten nur das Staunen und die Angst.

In der Morgendämmerung einer Nacht, in der keiner von ihnen geschlafen hatte, wurde Zari in die ganga, das Joch, gespannt, zusammen mit einem größeren Sklaven, und auch wenn sie nicht wusste, dass sie eine Gefangene war, nicht wusste, wohin sie gehen würde und warum, ging sie los und folgte ihrer Reihe aus Gefangenen. Ihr und den anderen war jedoch klar, dass, wer versuchte zu fliehen, verprügelt oder mit einem Messerstich getötet werden würde.

Eines Abends, in einem nach Sonnenuntergang aufgeschlagenen Lager, hatte Zari die Tamarindenbäume betrachtet und gedacht, dass diese Männer ihr Schlimmeres antun würden als das, was ein Dolch ihr antun konnte, und da hatte sie, als sie abgelenkt waren, versucht zu fliehen, war unter einen dieser Bäume gekrochen, aber sie war müde und wusste nicht wohin, da war sie eingeschlafen.