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Für Snowy
In liebevoller Erinnerung an eine gute Freundin
Doreen Wells
Januar 1937 – Juli 2017
Aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger
© 2017 by Joy Ellis
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Fourth Friend«, Joffe Books, UK 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Sabine Thiele
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Rekha Garton/Arcangel Images; FinePic®, München
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Carter McLean starrte durch das winzige Flugzeugfenster auf die gewaltigen Gewitterwolken hinaus. Der Pilot hatte ihnen versichert, dass sie es durch den Sturm schaffen würden, und Carter vertraute ihm. Er war schon früher mit ihm geflogen.
Das Flugzeug verlor abrupt an Höhe, und sein Magen machte einen Satz. Im nächsten Moment sah er nur noch Grau, und Regen peitschte ans Fenster. Sie waren mittendrin.
Carter liebte es, wenn das Adrenalin durch seine Adern jagte. Sein Leben lang hatte er nie den einfacheren Weg eingeschlagen, und mittlerweile war er dank seines Jobs im Drogendezernat immer dort, wo es ihm am besten gefiel – an vorderster Front. Mit einem grimmigen Lächeln zog er daher den Sicherheitsgurt fest und stellte sich auf einen holprigen Weiterflug ein.
Rückblickend hätte er nicht so lässig reagiert, hätte er zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass das Flugzeug etwa dreißig Sekunden später abstürzen würde.
Die Motorengeräusche veränderten sich mit einem Mal. Das beständige Brummen verstummte und setzte dann stotternd wieder ein. Carter starrte mit zusammengekniffenen Augen durch das regennasse Cockpitfenster und runzelte die Stirn. Waren das etwa Bäume? Das Flugzeug kippte wie ein Betrunkener zur Seite, und ein Kreischen erklang. Carter presste sich die Hände auf die Ohren. Sein Mund war staubtrocken. Er sah zu seinen vier besten Freunden. Gerade noch hatten sie sich über Rays Hochzeit und den Junggesellenabschied unterhalten, den sie dieses Wochenende feiern wollten. Nun spiegelten sich Entsetzen und Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern wider. Sie wussten, was auf sie zukam.
Carter hatte keine Angst, sondern fühlte sich vielmehr betrogen. Er war sechsunddreißig, fit und gesund. Er hatte noch alle Zähne und dichtes Haar. Es war zu früh.
Alles in der Kabine wirkte dumpf und wie in Zeitlupe, und der Aufprall erfolgte nicht unmittelbar. Die sechssitzige Piper Seneca schoss zunächst ruckelnd und schwankend über den unebenen Boden, dann ertönte ein weiteres metallisches Kreischen. Ein Flügel brach, und kurz darauf bohrte sich die Nase des Flugzeugs in die Erde. Das Heck wurde nach oben katapultiert und die Insassen nach vorne in Richtung Cockpit geschleudert.
Carter konnte sich nicht bewegen. Er hatte keine Ahnung, warum, und auch keine Lust, es herauszufinden. Eine Zeit lang schien er in einer gespenstischen Stille zu schweben. Sie war kalt, verstörend und wurde nur von dem Klingeln in seinen Ohren durchschnitten.
Er war wie gelähmt. Stunden schienen zu vergehen, vielleicht sogar Tage. Doch dann sprühte plötzlich ein herunterhängendes Kabel im zerstörten Cockpit Funken, und er wusste, dass er etwas unternehmen musste.
Er stöhnte und versuchte, sich zu bewegen, aber er wurde von etwas gegen den Sitz des Piloten gedrückt. Erst nach einer Weile erkannte er, dass es Jacks lebloser Körper war, der ihm die Luft aus den Lungen presste.
Er versuchte, darunter hervorzukriechen, und schrie auf, als Schmerz seine Brust durchfuhr. Der Sicherheitsgurt war zwar gerissen, aber davor hatte er ihm wohl noch ein paar Rippen gebrochen. Er dachte an das zischende Kabel und wusste, dass sie so schnell wie möglich aus dem Flugzeug rausmussten.
Er zwängte sich ächzend unter Jack hervor.
»Leute …?« War das seine Stimme? Er klang wie ein Achtjähriger. »Hey, Leute? Alles klar bei euch?« Er wartete.
»Scheiße!« Toms Stimme hallte durch die dunkle Kabine. »Carter? Bist du das?«
Erleichtert schloss er die Augen. Tom war sein bester Freund. Hochgewachsen, dunkel und alles andere als gut aussehend, aber mit einem großen Herzen. »Ja, ich bin’s. Bist du verletzt, Kumpel?«
»Keine Ahnung, aber mein Kopf tut verdammt weh.« Er hielt inne. »O mein Gott! Wo sind die anderen?«
Carter sah zu Jacks leblosem Körper hinüber. Er hatte schon viele Leichen gesehen. Das gehörte zum Job. Doch auch wenn diese Toten oft schrecklich zugerichtet gewesen waren, waren es Fremde gewesen. Das hier war einer seiner engsten Freunde.
Jacks Kehle war aufgeschlitzt. Sein Hemd glänzte dunkelrot. Etwas hatte seine Luftröhre zerfetzt, und durch das schaumige Blut waren die weißen Knochen seiner Wirbelsäule zu erkennen. Carter unterdrückte ein Schluchzen und sah sich nach den anderen um. Auch für den Piloten gab es keine Hoffnung mehr. Er hing zur Hälfte aus dem aufgebrochenen Cockpit, und sein Genick war offensichtlich gebrochen.
Wenigstens Matt atmete noch. Gott sei Dank! Carter hörte das unregelmäßige Keuchen und sah, wie sich die Brust seines Freundes hektisch hob und senkte. Einer der Sitze war aus der Verankerung gerissen worden und klemmte Matts Beine unter sich ein.
Aber wo war Ray? »Ich kann Ray nirgendwo entdecken«, rief Carter.
»Er ist hier. Hängt in seinem Sitz fest«, antwortete Tom. »Er ist ohnmächtig, und sein Arm ist hinüber, aber ich spüre einen Puls.«
Das Kabel sprühte erneut knisternde Funken. Carter versuchte, die aufsteigende Panik zurückzudrängen. »Wir müssen hier raus. Tom, ich glaube, die Tür ist hier irgendwo. Wenn ich sie öffnen kann, können wir die anderen hinausziehen.«
»Der Pilot ist tot, oder?«, flüsterte Tom. »Und was ist mit Jack und Matt?« Seine Stimme zitterte.
»Matt lebt, aber wir haben keine Zeit, uns um die Verletzungen zu kümmern. Wir müssen die beiden aus dem Flugzeug schaffen und so schnell wie möglich verschwinden. Hier kann jeden Moment alles in die Luft fliegen.«
Carter kroch auf die Tür zu und machte sich am Griff zu schaffen.
»Ah! Verdammt!« Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Nacken, den Arm und die Schulter. Die Tür rührte sich nicht. »Tom, du musst mir helfen! Das verfluchte Ding ist verbogen. Ich bekomme es nicht allein auf.« Er stöhnte erneut. »Ich habe mir ein paar Rippen gebrochen. Und den Arm auch, schätze ich. Ich habe zu wenig Kraft!«
Gedämpftes Fluchen erklang, und dann kroch Tom in den engen Spalt zwischen Jack, Wrackteilen und der Tür.
»Jack! O nein!« Er warf einen Blick auf seinen Freund und bekreuzigte sich.
»Die Tür!«, keuchte Carter. »Konzentrier dich auf die Tür! Wir müssen die beiden anderen hier rausschaffen!«
Tom atmete tief durch und kniete sich neben ihn. »Okay, schon gut. Du versuchst, den Griff zu öffnen, und stemmst dich mit dem Oberkörper dagegen. Ich probiere, sie mit den Beinen nach außen zu drücken. Bereit?« Er setzte sich und hob die Füße an die Tür.
Carter nickte und drückte den Griff nach unten. Ein gellender Schrei entfuhr ihm, die Tür flog auf, und er wurde wie ein menschliches Projektil aus dem Flugzeug geschleudert.
Er schlug schmerzhaft auf dem feuchten Boden auf. Die Piper steckte im spitzen Winkel im Boden. Ein Flügel war abgebrochen, und der Flugzeugrumpf ragte in die Höhe. Entsetzt stellte er fest, dass sich die offen stehende Tür etwa drei Meter über ihm befand. Er schrie gegen den Wind an. »Tom, ich kann nicht wieder rein! Schieb die anderen einfach durch die Öffnung, und ich versuche, sie fortzuziehen!«
Tom erschien in der Öffnung. »Ich hole zuerst Ray und Matt. Vielleicht haben sie noch eine Chance.«
Sein Gesicht verschwand, dann tauchte es wieder auf. »Ich habe Ray«, keuchte Tom. »Er ist noch immer ohnmächtig. Bist du so weit?«
»Schieb ihn einfach raus!«, röchelte Carter und starrte zu dem dunklen Loch hinauf.
Ein plötzlicher Regenschauer und ein gewaltiger Windstoß trafen das Wrack, und die Tür schlug zu.
Carter erstarrte.
»Tom?«
Carter sah die dunkle Silhouette seines Freundes, der sich verzweifelt gegen die Tür warf. Er rappelte sich schwankend auf und starrte fassungslos nach oben. Im hellen Gegenlicht, das aus der Kabine drang, konnte er Tom gut erkennen. Er machte einen Schritt zurück, und seine Augen weiteten sich. Das war kein Licht, sondern Flammen. Toms freundliches Gesicht war mittlerweile schmerzverzerrt.
Carter stieß einen Schrei aus und rannte auf das Wrack zu. Er versuchte, zu der geschlossenen Tür hochzuklettern, und vergaß in seiner Verzweiflung jeglichen Schmerz.
Im nächsten Augenblick explodierte das Flugzeug.
Am nächsten Morgen wachte Carter McLean im Morgengrauen auf und versuchte, sich in dem unbequemen Krankenhausbett hochzustemmen. Bei jeder Bewegung raubte ihm der Schmerz den Atem. Er holte keuchend Luft, und als die Schmerzen verebbt waren, sah er Tom am Fußende des Bettes sitzen. Sein Freund betrachtete schweigend seine mit Brandblasen überzogenen Hände.
Aber Tom war nicht allein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers lehnten Matt, Ray und Jack an der Wand und diskutierten laut darüber, ob Manchester United die Europa League gewinnen oder nur unter den ersten vier landen würde.
Carter wandte den Blick ab. Hier stimmte etwas nicht. Warum hatte man ihn sofort behandelt, während sich niemand um seine Freunde gekümmert hatte? Er sah genauer hin. Man hatte nicht einmal Jacks Hals gereinigt, und sein Kopf wackelte seltsam, wenn er redete. Wenn die Ärzte nicht bald etwas unternahmen, würde er noch abfallen.
Und der arme Matt! Seine Beine waren wie rohes Fleisch. Er würde sich noch eine Infektion holen. Carter klingelte besorgt nach der Schwester.
»Bemüh dich nicht, Kumpel«, meinte Tom leise. »Ruh dich lieber aus und vergiss uns für eine Weile.«
»Aber ich verstehe das nicht«, flüsterte Carter.
»Natürlich, das weiß ich doch. Versuch zu schlafen, okay?«
Carter starrte seinen besten Freund an, und Tränen liefen über seine Wangen. Er erkannte Tom lediglich an der Stimme. Die Hälfte seines Gesichts war verschwunden, und die Knochen blitzten hervor. Er roch grauenhaft. Der scharfe Geruch legte sich wie eine zweite Haut über Carter.
»Warum tut denn niemand etwas?«, wimmerte er. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder.
»Weil es zu spät ist. Also ruh dich aus. Wir müssen jetzt gehen, aber wir können uns später noch unterhalten. Jetzt werde erst mal gesund.« Tom erhob sich, winkte den anderen zu, und sie verließen gemeinsam das Zimmer.
Wahrscheinlich waren sie jetzt endlich mit der Behandlung an der Reihe. Carter hoffte es zumindest. Er biss sich auf die Lippe. Er wusste, dass das Gesundheitssystem in einem schlechten Zustand war, aber es war entsetzlich, wie hier mit seinen Freunden umgegangen wurde.
Seufzend drückte er auf den Knopf der Morphiumpumpe, rutschte wieder unter die Decke und wartete auf das Vergessen.
Achtzehn Monate später
DI Rowan Jackman reichte DS Marie Evans ein Memo. »Haben Sie das schon gesehen?«
Marie überflog es und gab es ihm zurück. »Carter McLean? Ja, er soll ab nächster Woche wieder voll dienstfähig sein.«
Jackman hob die Augenbrauen. »Sie klingen nicht gerade begeistert.«
Marie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich davon halten soll, Sir.«
»Er schiebt jetzt seit fast sechs Monaten Innendienst – und macht, nebenbei bemerkt, einen verdammt guten Job. Ich bin mir sicher, dass er so weit ist. Ich habe gehört, dass er die medizinische Beurteilung mit Bravour absolviert hat.« Jackman lächelte.
»Mhm.«
Sein Lächeln verblasste. »Was soll denn das heißen, Marie? Wo liegt das Problem?«
Marie setzte sich und seufzte. »Ich bin schon sehr lange mit Carter befreundet, Sir, und es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass der Amtsarzt und die entscheidungsberechtigten Stellen das Gesamtbild sehen.« Sie hielt kurz inne. »Ich glaube, Laura Archer hat auch Bedenken, aber gegen die anderen wird sie nicht ankommen.«
»Aber als psychologische Gutachterin hat ihre Stimme doch sicher am meisten Gewicht?«
Marie nickte. »Ich denke, sie will Carter nicht im Weg stehen. Wenn er glaubt, dass er so weit ist, wird sie dem Amtsarzt zustimmen. Zumindest auf Probe.«
»Man wird ihn sicher genau im Auge behalten«, meinte Jackman, doch Marie wirkte immer noch besorgt. Er stand auf, schloss die Tür und kehrte wieder an seinen Schreibtisch zurück. »Wenn Sie sich wirklich so große Sorgen machen, sollten wir vielleicht ausführlicher darüber reden.«
Marie seufzte. »Ja. Vor allem, weil er bei uns arbeiten wird und wir mitten in den Ermittlungen im Fall der verschwundenen Suzanne Holland stecken.«
Jackman nickte. »Ah, ich verstehe. Es geht dabei ausgerechnet um die Witwe eines seiner verstorbenen Freunde.«
»Carter sagt, dass er sie natürlich kannte – schließlich war sie die Frau seines ältesten Freundes. Aber er hatte nie viel Kontakt zu ihr. Doch auch so …« Marie schüttelte den Kopf.
»Mmm, aber der Fall stellt eine Verbindung zu seiner Vergangenheit her. Und das braucht Carter gerade ganz und gar nicht.«
»Genau«, erwiderte sie. »Ich glaube, er will beweisen, dass er allen Anforderungen gewachsen ist, und seien sie auch noch so schmerzhaft.«
»Schmerzhaft und gefährlich«, fügte Jackman hinzu. »Ich habe Polizisten und Soldaten mit Flashbacks erlebt, und es war nicht gerade angenehm.«
»Die oberen Etagen denken, solange er die Tests bestanden hat, ist alles gut. Es interessiert sie nicht im Geringsten, ob seine Welt zusammenbricht, wenn er abends nach Hause kommt und die Tür hinter sich schließt«, erklärte Marie wütend.
Jackman sah sie an. »Glauben Sie wirklich, dass das der Fall ist? Nach außen hin scheint er außerordentlich gut klarzukommen. Der Chief Constable meinte, seine Erfolge wären unglaublich, wenn man bedenkt, was er durchgemacht hat.«
»Mein Gott! Das klingt, als dürfte man sich nur nichts anmerken lassen, und schon geht es einem wieder gut. Man macht einfach stur weiter.« Marie wurde immer lauter.
Jackman betrachtete sie überrascht. Ein solcher Ausbruch passte gar nicht zu ihr. Dann lachte er. »Das habe ich doch gar nicht gemeint, und das wissen Sie auch. Carter McLean hat gerade einen sehr wichtigen Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben. Die Sache war komplex, aber er hat es geschafft. Und zwar, ohne das Büro zu verlassen.«
»Ja, genau. Sie sagen es ja selbst, Sir. Er war im Büro. Hier ist er sicher. Hier hat er die Kontrolle. Solange Gott nicht so grausam ist und direkt über uns ein Flugzeug zum Absturz bringt, ist die Chance gering, dass er sich im Ermittlungsraum seinen schlimmsten Ängsten stellen muss.« Marie runzelte die Stirn. »Richtig schlimm wird es erst, wenn er abends allein im Bett liegt.«
»Hat er noch immer Albträume?«
Marie nickte. »Carter McLean wird vermutlich noch sehr lange Zeit unter Albträumen leiden. Dazu kommen Schlafprobleme, Angst- und Panikattacken, eine klinische Depression und … ach ja, die Flashbacks, die Sie vorhin erwähnt haben.«
Jackman sah sie an. »Sie wissen gut Bescheid.«
»Ich weiß kaum etwas – abgesehen von dem, was mir Carter selbst erzählt hat. Wir haben viel geredet.« Sie lächelte traurig. »Er war der Partner meines Mannes, als die beiden noch auf Streife gingen, und sie standen sich sehr nahe. Carter war vor Bills Tod oft bei uns, und ich habe das Gefühl, dass ich es Bill schuldig bin, mich um seinen alten Freund zu kümmern.« Sie hielt kurz inne. »Jemand musste sich seiner annehmen. Nach diesem verdammten Absturz hatte er niemanden mehr.«
Jackman nickte bedächtig. »Ich verstehe natürlich, was Sie damit sagen wollen, aber er hat sich während der Arbeitszeit bemerkenswert gut unter Kontrolle.«
»Wie schon gesagt, das Büro ist ein sicherer Ort, und er hat ja sonst nichts. Er braucht die Stabilität eines Jobs, den er liebt. Die Schreibtischarbeit lag ihm schon immer, und wahrscheinlich ist er für diesen aktuellen Fall einfach sämtliche Akten noch einmal durchgegangen. Ich bin mir nur nicht sicher, wie er in der großen weiten Welt zurechtkommen wird.«
»Wir müssen es ihn versuchen lassen, Marie. Sie wissen ja: Die, die aufstehen, nachdem sie gefallen sind, sind um vieles stärker als die, die niemals fallen.«
»Du meine Güte, Sie klingen wie einer dieser entsetzlichen Life Coaches.«
»Ich sollte also lieber bei der Polizeiarbeit bleiben?«
»Das wäre eine sehr gute Idee, Sir«, erwiderte Marie grinsend.
»Okay, aber bevor wir uns der richtigen Arbeit widmen: Haben Sie die neue Weisung der Superintendentin gesehen?«
»Ja, aber ich lege keinen besonderen Wert darauf.« Sie verzog das Gesicht. »Und die anderen Officer auch nicht.«
»Ich persönlich habe kein Problem damit.« Jackman lehnte sich zurück. »Wir dürfen es natürlich nicht zu weit treiben, aber wir arbeiten in einem extrem herausfordernden Job und sind ein zusammengeschweißtes Team. Es wäre vielleicht gut, ein paar der ›Sirs‹ und ›Ma’ams‹ aufzuweichen. Ich bin jedenfalls einverstanden, dass meine Kollegen mich einfach nur Jackman nennen. Sie stehen mir näher als ein Großteil meiner Familie! Manchmal glaube ich sogar, sie sind meine Familie.« Er grinste. »Wir müssen nur sicherstellen, dass Max die Superintendentin nicht ›altes Haus‹ nennt.«
»Gott behüte!« Marie lachte. DC Max Cohen war einer der wenigen, die kein Problem mit den gelockerten Umgangsformen haben würden. Der junge Detective aus dem Londoner East End hatte seine saloppe Ausdrucksweise nie ganz abgelegt. »Trotzdem wird es den meisten nicht leichtfallen, und, ehrlich gesagt, finde ich, dass es Grenzen geben sollte. Einige der jüngeren Kollegen brauchen sie dringend.«
»Aber wir Höhergestellten sollten uns deren Respekt doch mit unserem Verhalten und unserer Arbeit verdienen, oder? Die meisten Reviere haben die Regeln vor Jahren gelockert. Wir in den Fens sind der Zeit eben hinterher.«
»Das ist ja nichts Neues.« Marie war immer noch nicht überzeugt. »Außerdem sind wir nicht wie ›die meisten anderen Reviere‹. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das hier bei uns funktioniert, Sir.«
»Gut, dann fragen Sie die anderen nach ihrer Meinung, und ich gebe anschließend der Superintendentin Bescheid.«
Marie nickte gedankenverloren. »Ist sie eigentlich einverstanden, dass Carter in unser Team kommt, obwohl wir den Holland-Fall bearbeiten?«
»Sie ist sehr wortkarg, was Carter betrifft. Die beiden waren noch nie beste Freunde.« Jackman hob eine Augenbraue. »Aus ihrer Sicht gibt es scheinbar keinen Interessenskonflikt. Sie sieht kein Problem darin, dass Carter Teil der Ermittlungen ist, es sei denn, er käme nicht damit klar. In diesem Fall muss sie ihn natürlich versetzen.«
»Dann lassen wir es also drauf ankommen?«
»Ja, wir warten erst mal ab.« Jackmans Gesicht wurde ernst. »Marie, Sie kennen Carter McLean am besten von uns. Behalten Sie ihn ganz genau im Auge, okay?«
Marie nickte ernst, auch wenn er ihr das nicht eigens hätte sagen müssen. Sie machte sich schreckliche Sorgen um Carter, und sie würde ihn auf keinen Fall aus den Augen lassen. Nicht eine Minute.
Jackman und Marie waren nicht die Einzigen, die sich über Carter McLean Gedanken machten. Laura Archer starrte missmutig auf ihren Computerbildschirm und fragte sich, ob die wissenschaftliche Abhandlung, an der sie gerade arbeitete, wohl jemals veröffentlicht werden würde.
Sie fluchte leise, stand auf und wanderte im Büro auf und ab. Wer hätte gedacht, dass ihre Studie zur Traumaforschung eine solche Herausforderung sein würde? Andererseits wusste sie genau, dass es nicht die Arbeit war, die ihr Sorgen bereitete.
Sie speicherte das Dokument und schloss widerstrebend das Programm.
Bei ihrer ersten Begegnung mit Carter McLean hatte ihr Herz einen Sprung gemacht. Allerdings nur, weil er das perfekte Fallbeispiel für ihre Arbeit war. Er war komplex und einer der interessantesten Klienten, mit denen sie es jemals zu tun gehabt hatte. Mittlerweile stellte sie den Entschluss, ihn zum Schwerpunkt ihrer Studien zu machen, allerdings infrage. Tatsächlich stand sie kurz davor, die ganze Sache abzublasen und noch einmal von vorne anzufangen. Sie seufzte und machte sich auf den Weg in die Küche. Zeit für einen weiteren Kaffee.
Sie löffelte das Pulver in die Kanne und dachte an die Besprechung mit Barry Richards, dem Amtsarzt. Sie war mit einem mulmigen Gefühl nach Hause gegangen, und seine Worte hallten in ihr nach. Vor sechs Monaten hatte ein medizinischer Fachausschuss beschlossen, dass Carter McLean körperlich fit genug war, um wieder in den Dienst zu treten. Nur Superintendentin Ruth Crooke war dagegen gewesen, die aber an der endgültigen Entscheidung nicht beteiligt gewesen war. Laura und Richards waren sich einig gewesen, dass Carter alle Kriterien erfüllte und wieder loslegen durfte. Er sollte zwar noch eine Weile hinterm Schreibtisch sitzen, aber wenn sich sein Zustand nicht verschlechterte, durfte er danach wieder zurück in den aktiven Dienst.
Mittlerweile hatte Laura ein ungutes Gefühl bei der Sache und keine Ahnung, warum. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass etwas nicht stimmte, und es hatte sich noch nie geirrt. Sie traf Carter noch immer einmal im Monat zu einer Therapiesitzung, und allem Anschein nach ging es ihm sehr gut. Zumindest im Job. Sie hatte die starke Befürchtung, dass es abseits des Büros vollkommen anders aussah. Denn Carter McLean war ein talentierter Schauspieler. Manchmal führte er sogar sie hinters Licht, und sie war immerhin seine Psychologin. Mit seinen Arbeitskollegen hatte er also leichtes Spiel.
Sie holte einen Becher aus dem Schrank, gab zwei Stück Zucker hinein und wartete, bis der Kaffee fertig war. Das letzte Gespräch mit Richards ließ ihr keine Ruhe.
»Es ist absolut unglaublich, wie gut er damit zurechtkommt. Wenn Sie ihn in seinem Arbeitsumfeld gesehen hätten, wären Sie sicher genauso erstaunt wie ich, Laura. Er ist ein echter Held, dass er sich wieder so gut erholt hat. Die Chefetage ist sehr beeindruckt. Es ist sogar davon die Rede, ihn zu befördern, falls er so weitermacht«, meinte Richards.
Laura atmete tief durch und hob die Augenbrauen. »Also das würde ich im Moment auf keinen Fall empfehlen. Tatsächlich wäre ich strikt dagegen, wenn Sie mich fragen. Wenn er erst einmal seine Komfortzone verlassen hat, wird Carter McLean sich nicht mehr so verhalten, wie es seine Arbeitgeber erwarten.«
»Sobald seine Vorgesetzten ihn als dienstfähig erachten, ist er auch dienstfähig – und zwar mit allem, was dazugehört, einschließlich etwaiger Beförderungen. Aber ich respektiere Ihre Einschätzung natürlich und werde sie in die Entscheidung einfließen lassen. Im Moment ist noch nichts beschlossen, aber ich stehe ungern der Beförderung eines Kollegen im Weg.«
»Und ich bin ungern dafür verantwortlich, wenn jemand die Kontrolle verliert.«
Der Amtsarzt zuckte mit den Schultern. »Gut, Sie haben gewonnen. Wir stellen ihn eine Zeit lang unter Beobachtung. Das wird auch Superintendentin Crooke zufriedenstellen. Sie war die einzige Gegenstimme.«
»Das war wohl nicht anders zu erwarten. Carter hat mir erzählt, dass Crooke ihn noch nie leiden konnte, und es ist allgemein bekannt, dass er beim letzten Mal nur deshalb befördert wurde, weil sie mit der Jagd nach dem Golfplatz-Mörder beschäftigt war.«
»Ich wusste gar nicht, dass die alte Fehde immer noch besteht. Hey, haben Sie schon gehört, dass Carter beim Marathon mitläuft?«
Sie grinste. »Ja. Er ließ nicht locker, bis ich meinen Namen und einen stolzen Betrag auf die Liste seiner Sponsoren gesetzt habe. Er läuft anstelle von Matthew Blake.«
»Ah, einer seiner verstorbenen Freunde.«
»Mhm. Ein netter Kerl, was man so hört. Er war Zimmermann. Carter will seinem Freund ein ›bedeutungsvolles Andenken‹ schaffen.«
»Weil er ein schlechtes Gewissen hat?«
»Da bin ich mir fast sicher. Er gibt sich selbst die Schuld an der ganzen Katastrophe. Seiner Meinung nach ist er jedem Freund etwas schuldig.«
»Aber er war doch nicht dafür verantwortlich, dass der Pilot versucht hat, ein Sturmtief zu durchfliegen, und dieses plötzlich die Richtung geändert hat. Ich habe den Unfallbericht gelesen. Er hätte den Sturm umfliegen sollen, hat sich aber offenbar dagegen entschieden – und dafür mit dem Leben bezahlt.«
»Mit seinem eigenen und dem von vier jungen Männern. Trotzdem glaubt Carter, dass es seine Schuld ist. Er hat den Junggesellenabschied in Amsterdam organisiert. Er hat das Flugzeug gechartert. Wäre es nach den anderen Männern gegangen, hätten sie sich in einem Pub betrunken, Ray die Hose vom Leib gerissen und ihn an einen Laternenpfahl gefesselt, bevor sie alle nach Hause gegangen und am nächsten Morgen mit einem Mordskater aufgewacht wären. Ende der Geschichte.«
»Aber stattdessen sind sie alle gestorben. Alle außer Carter.«
»Genau. Alle außer Carter.«
»Wie schafft er es, im Job so gut zu funktionieren?«
»Wie schon gesagt, es ist ein Umfeld, das er kennt. Er hat die Kontrolle darüber, was passiert. Glücklicherweise waren seine toten Freunde keine Polizisten, also gibt es keine Verbindung. Er wird nicht jedes Mal an einen von ihnen erinnert, wenn er eine Uniform sieht.«
»Wie kam es, dass sie eine derart zusammengeschweißte Gruppe waren? Was ich in der Zeitung gelesen habe, waren sie völlig unterschiedlich.«
»Carter kannte Tom Holland aus der Schulzeit. Die anderen lernten sie bei Freiwilligenarbeit für behinderte oder benachteiligte Kinder kennen. Ich glaube, es war ein Ferienprojekt. Die Chemie stimmte von Anfang an. Irgendwann stießen sie auf ein altes Rettungsboot, das in einer kleinen Werft an der Flussmündung verrottete. Sie verbrachten die letzten fünf Jahre damit, es zu restaurieren. Carter stellte das Geld zur Verfügung, und sie nutzten das Wissen jedes Einzelnen und arbeiteten hart. Soweit ich weiß, war es beinahe fertig.«
»Oft helfen die besten Pläne nichts. Hoffen wir, dass er das verdammte Boot so schnell wie möglich loswird. Er wird nie wieder einen Fuß an Bord setzen können, ohne an seine Freunde zu denken.«
Laura lächelte. »Ich glaube, Carter sieht das anders. Es ist sehr wertvoll für ihn, und er will keine übereilten Entscheidungen treffen.«
»Gut, um die Sache abzuschließen: Ich bin sehr zufrieden mit seinen Fortschritten. Und da wir noch zwei weitere Fälle besprechen müssen, sollten wir jetzt besser weitermachen.«
Laura drückte den Knopf der Stempelkanne nach unten.
Das war’s also. Carter ging es gut. Ende der Geschichte. Jetzt konnten alle weitermachen.
Sie schenkte den Kaffee in den Becher, rührte um und verschüttete ein paar Tropfen. Carter McLean ging es ganz und gar nicht gut. Das war klar. Vielleicht stand sie ihm näher als die meisten – aber das sollte sie auch, denn das war immerhin ihr Job. Sie wollte nicht, dass er durch die Ignoranz der Entscheidungsträger unter Druck geriet. Er brauchte Stabilität und Ordnung in seinem Leben und nicht den Stress, den eine neue berufliche Situation mit sich brachte – die Verantwortung, den Papierkram und die endlosen Teamsitzungen, die nun mal dazugehörten. Der einzige Punkt, in dem die Vorgesetzten auf sie gehört hatten, war sein Ausscheiden aus dem Drogendezernat gewesen, wo er ständig an Razzien im Morgengrauen hätte teilnehmen müssen. Sie lachte leise auf. Andererseits war das Dezernat wie so viele andere Spezialeinheiten aufgelöst worden, was bedeutete, dass es auch ohne ihren Einspruch dazu gekommen wäre.
Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, Carter McLean beschützen zu müssen. Sie war nicht dumm. Sie wusste, wie katastrophal es enden konnte, wenn sich Therapeuten auf persönlicher Ebene mit ihren Klienten einließen. Aber sie mochte Carter. Mehr nicht. Manche Menschen mochte man einfach, und Carter war einer von ihnen.
Sie nahm den Kaffee mit ins Büro und öffnete das Dokument noch einmal. Leider war genau das das Problem. Carter McLean war ein essenzieller Teil ihrer Arbeit. Ein unvorhersehbarer, schlimmer Unfall, wie er ihn erlebt hatte, war ein einschneidendes Ereignis im Leben eines Menschen und eine große Gefahr für die geistige Gesundheit. Und genau damit befasste sich ihre Abhandlung – mit traumatischen Lebensereignissen, ihren Auswirkungen und den entsprechenden Bewältigungsmechanismen.
Sie las das zuletzt Geschriebene zum fünften Mal durch und fragte sich, ob es nicht besser wäre, es eine Weile ruhen zu lassen. Jedes Mal, wenn sie zu schreiben begann, schlich sich die Sorge um Carter wieder zurück in ihre Gedanken, und ihre Konzentration war dahin. Vielleicht sollte sie die Arbeit verschieben, bis Carter McLean ihre Gedanken nicht mehr in diesem Ausmaß in Beschlag nahm.
Laura seufzte, schloss das Dokument und warf einen Blick in ihren Kalender. Dann ging sie ihre Liste mit den Computerspielen durch, wählte Mah-Jongg aus und legte los.
Carter stolperte über die Ziellinie, drückte den Knopf an seiner Stoppuhr und brach auf dem Asphalt zusammen. Seine Lungen brannten, und seine Beine waren wie Gummi.
Die Atmosphäre und der Kameradschaftsgeist, der beim Laufen mit Tausenden anderen Sportlern entstand, hatten ihn unbeeindruckt gelassen. Er hatte die ganze Strecke allein mit seinem Schmerz hinter sich gebracht.
Ein Ordner legte ihm eine Thermodecke über die Schultern. Als er dem Mann danken wollte, versagte seine Stimme, und Tränen liefen über seine Wangen.
Er hatte es geschafft! Er hatte es tatsächlich geschafft! Nicht für sich selbst. Nein, er hatte es für Matt getan. Oder genauer gesagt: für Matts Dad.
Nach dem Tod seines Vaters hatte Matt sich vorgenommen, ihm eine besondere Ehre zu erweisen. Tom hatte einen Marathon vorgeschlagen, und Matt war einverstanden gewesen, doch egal, wie hart er trainiert hatte, er hatte die nötige Fitness für den langen, zehrenden Lauf nicht aufbauen können. Nun hatte Carter es für ihn erledigt. Das war das Mindeste, was er tun konnte.
Auf dem Rücken trug er zusammen mit der Startnummer ein Bild von Matt Blake senior und die Aufschrift »Ich laufe für Matt und unterstütze den Macmillan Fund«.
Carter stemmte sich schwankend hoch und sah, wie zwei seiner Polizeikollegen über die Ziellinie liefen. Er hatte sie überholt, ohne es zu bemerken.
»Mann! Das nenne ich Kampfgeist!«, keuchte DC Max Cohen. »Ich war mir sicher, dass ich Sie mindestens um einen Kilometer abhänge.« Die beiden jungen Polizisten ließen sich neben ihm auf den Boden sinken.
»Ja, Sie waren total fokussiert, Sir. Wie in einer eigenen Welt.« Auch DC Charlie Button rang nach Luft.
Carter zwang sich zu einem schmerzverzerrten Lächeln. »Sonst hätte ich es nicht durchgestanden.«
Sechs Monate hatte er trainiert und war dabei nicht nur gelaufen, sondern hatte sich auch mit der Wissenschaft dahinter beschäftigt. Wie ein Profi hatte er sich einen Ernährungs- und Trainingsplan zusammengestellt, und es hatte funktioniert. Er hatte eine Menge Geld von seinen Sponsoren eingenommen und Matt versprochen, den Betrag aus eigener Tasche zu verdoppeln.
Carter ging langsam hinter seinen beiden Kollegen her, um seine Medaille abzuholen. Matts Medaille. Beinahe ehrfürchtig berührte er das glänzende Metall.
Es war vollbracht.
Einige Officer aus dem Revier holten die teilnehmenden Kollegen mit dem Auto ab und brachten sie nach Hause. Die meisten trafen sich nachher noch zum Feiern im Pub, doch Carter lehnte ab. Er wollte den Abend nicht mit einem lärmenden Haufen Polizisten verbringen, die sich volllaufen ließen. Außerdem erwartete er Gäste.
Er duschte und schlüpfte in eine bequeme Hose und einen Pullover, bevor er die breite offene Treppe hinunter ins Wohnzimmer ging. Er öffnete die Glastür auf die Terrasse, lehnte sich ans Geländer und ließ den Blick über die gepflegten Gärten bis zur Stadt und den Feldern dahinter schweifen. Er sollte dankbar sein. Die meisten Leute kannten eine Wohnung wie diese nur aus Zeitschriften, und er konnte sie mit dem Besten vom Besten einrichten, ohne ein einziges Mal auf seinen Kontostand achten zu müssen. Doch sein Reichtum bedeutete ihm nichts. Wie kam es, dass er sich so leer und unbeteiligt fühlte? So abgeschnitten vom Leben.
Er ging wieder hinein und schenkte sich einen Drink ein. Es hatte keinen Sinn, nach Antworten zu suchen, außerdem würden sie bald hier sein. Er warf einen Blick auf die Uhr, setzte sich auf die Couch und griff nach der Fernbedienung. Eine Weile zappte er durch die Kanäle, dann machte er das Gerät wieder aus. Er fragte sich, warum er den besten Fernseher hatte, den man für Geld kaufen konnte, wenn er sich ohnehin nicht konzentrieren konnte.
Carter warf die Fernbedienung auf die weiche Ledercouch und sah sich um. Wie immer war die Wohnung makellos aufgeräumt. Alles lag an seinem Platz, und nirgendwo herrschte Unordnung. Carter lächelte bitter. Seine Mutter wäre stolz auf ihn gewesen. Er erinnerte sich, was Laura zu dem Thema gesagt hatte: »Ihr ganzes Leben ist zusammengebrochen, Carter. Es ist im Chaos versunken. Es ist normal, dass Sie auf eine sorgfältig strukturierte Umgebung Wert legen. Sie haben die Kontrolle über Ihr Leben, solange alles an seinem Platz steht.«
Sie hatte natürlich recht. Laura Archer war eine verdammt gute Seelenklempnerin. Manchmal fragte er sich, warum sie bei der Polizei arbeitete. Mit ihren Fähigkeiten und der unerschöpflichen Geduld hätte sie als private Therapeutin ein Vermögen verdient. Außerdem sah sie gut aus.
Carter gähnte. Sein ganzer Körper schmerzte, als hätte er mit einem Bären gekämpft. Er schloss die Augen. Matts Wohltätigkeitsfonds würde einen stattlichen Scheck bekommen. Er hatte heute beinahe dreitausend Pfund erlaufen, und dazu kam noch sein eigener Anteil. Carter seufzte. Es war nur eine kleine Geste, aber mehr konnte er nicht tun. Er hoffte, dass es seinen Freund glücklich gemacht hatte.
Er hatte die Augen immer noch geschlossen, aber er wusste, dass sie da waren. Der ekelerregende Gestank nach verbranntem Fleisch breitete sich langsam im Zimmer aus. Tief in seinem Inneren wusste Carter, dass sein Gehirn ihm einen Streich spielte. Einen heimtückischen, gemeinen Trick. Er wusste, dass es keine Geister gab. Wie die meisten Polizisten war er ein standhafter Skeptiker – doch seine Freunde sah er trotzdem.
»Dann hast du es also tatsächlich geschafft?« Tom klang bewundernd. »Das ist großartig, Kumpel.«
»Ja, gut gemacht!«, stimmte Jack ihm zu. »Ich wette, es hat verdammt wehgetan. Wie viele Blasen hast du?«
»Genug, danke«, erwiderte Carter trocken.
»Respekt, Mann. Ich ziehe meinen Hut vor dir. Ich hätte das sicher nicht durchgehalten.« Ray war immer so freigiebig mit Lob.
Carter öffnete die Augen. »Wo ist Matt?«
»Ich soll dir seinen Dank ausrichten«, sagte Tom leise.
Carter sah seine Freunde an. Sie besuchten ihn oft, doch heute fehlte zum ersten Mal einer von ihnen. »Geht es ihm gut? Stimmt etwas nicht?«
»Es ist alles okay«, antwortete Ray. »Es geht ihm gut. Sehr gut.«
Warum war er dann nicht da? Carter runzelte die Stirn. »Aber der Marathon. Ich … Ich wollte ihm sagen … Ich habe es für ihn getan. Und für seinen Dad.«
»Das ist nicht notwendig, Kumpel. Er weiß Bescheid.«
Carter schloss die Augen, und der Geruch verflüchtigte sich. Als er sie wieder öffnete, war er allein.
Marie saß auf ihrem Sofa, und ihr Untermieter lümmelte ihr gegenüber in einem bequemen Lehnstuhl.
PC Gary Pritchard war von der benachbarten Dienststelle in Harlan Marsh nach Saltern-le-Fen versetzt worden und wohnte derzeit in Maries Gästezimmer. Es war als Übergangslösung gedacht gewesen, bis Gary entschieden hatte, ob er jeden Tag kilometerweit durch die Fens pendeln oder sein Haus in Harlan Marsh verkaufen und nach Saltern ziehen wollte. Mittlerweile waren mehrere Monate vergangen, und keiner der beiden verspürte den Wunsch, etwas an der Situation zu ändern. Gary war ein ausgezeichneter Koch, und Marie hatte bereits zugenommen, was sie aber ignorierte. Sie selbst hasste Kochen. Sie war groß und athletisch gebaut, vor allem in ihrer Motorradkluft. Sie kam mit einigen zusätzlichen Kilos zurecht, wenn sie dafür mit Garys Energiefrühstück in den Tag starten konnte. Als Dank war sie die perfekte Vermieterin. Sie sorgte dafür, dass es immer sauber und geheizt war, und es gab keine Einschränkungen für ihren Mieter. Er musste lediglich die Katze füttern, wenn sie abwechselnd Schicht hatten. Zwei einsame Leute, die beide einen wichtigen Menschen verloren hatten, waren nicht mehr so allein. Beide profitierten von diesem Arrangement.
Marie sah Gary über das Weinglas hinweg an und grinste. »Ich habe gehört, dass Carter vor Max und Charlie im Ziel war.«
»Ich weiß.« Gary schüttelte den Kopf. »Ich habe für alle drei ein Vermögen an Sponsorengeldern ausgegeben.«
»Ich auch. Carter war sehr überzeugend, nicht wahr?«
»Er will alle Spenden verdoppeln.« Gary starrte in sein Glas. »Ich dachte, DI Jackman wäre gut dran, aber Carter spielt noch mal in einer anderen Liga. Er ist stinkreich, oder?«
Marie verzog das Gesicht. »Kann man so sagen. Aber sein Leben war schon vor dem Unfall nicht gerade leicht. Keine liebevolle Familie, keine Geschwister, nur ein kalter, distanzierter Vater, der nur gearbeitet hat. Seine Mutter starb, als er noch ziemlich klein war. Er war ein sehr trauriger kleiner Junge.« Sie sah Gary an. »Mein Bill war sein bester Freund, als die beiden noch Streife gingen. Noch ein Verlust, den er erleiden musste.«
»Sein Ruf eilt ihm voraus, oder? Es heißt, er scheut kein Risiko, und es gibt nicht viel, was er nicht tun würde, wenn er dadurch einen Kriminellen der Gerechtigkeit zuführt?« Gary zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Ich kenne ihn noch nicht lange, aber ich mag ihn.«
»Ich auch, und ich kenne ihn schon seit Jahren. Mir gefällt nur nicht, was gerade mit ihm passiert.«
»Ich glaube nicht, dass ich wieder arbeiten könnte, wenn mir so etwas zustoßen würde.« Gary erschauderte. »Aber er ist jünger als ich. Da kommt man vielleicht besser mit dem Schmerz klar. Es bleibt nur zu hoffen, dass er mit der Zeit einen Weg findet, um mit den schrecklichen Erinnerungen zu leben.«
Marie hätte Gary gerne zugestimmt. Aber wenn sie ehrlich war, sah Carters Zukunft düster aus.
Jackmans Blick wanderte über die flachen Felder hinweg bis hinaus zum Marschland und dem Mündungsbecken. Es war ein traumhafter Sommerabend, und die untergehende Sonne sorgte für ein spektakuläres Schauspiel. Der dunkel werdende Himmel wurde von feuerroten und orangefarbenen Streifen durchzogen, und violette Wolken ballten sich zu hohen Türmen. Jackman würde sich niemals daran sattsehen.
Er seufzte zufrieden, trat in die zu einem Wohnhaus umgebaute alte Mühle und schloss die Tür hinter sich. Heute wollte er früher ins Bett gehen, um endlich im Fall Suzanne Holland voranzukommen, und das klappte nur, wenn er ausgeruht war. Er dachte an das Blut in ihrem Haus. Man hatte keine Leiche gefunden, und niemand hatte etwas gesehen oder gehört.
Seine Zufriedenheit war wie weggeblasen.
Er setzte sich an den Küchentisch zu dem Stapel aus braunen Mappen. Ganz oben lagen der kriminaltechnische Bericht und eine detaillierte Analyse der gefundenen Blutspuren. Jackman war sich sicher, dass diese auf ein Fremdverschulden und nicht auf einen Unfall hindeuteten, wie am Anfang vermutet worden war. Suzanne Holland war seit achtzehn Monaten verschwunden, doch der Fall war nie aufgeklärt worden. Vor Kurzem hatte Superintendentin Ruth Crooke allerdings den Befehl des stellvertretenden Chief Constables erhalten, ihn endlich abzuschließen. Im Internet kursierten mittlerweile wilde Spekulationen. Natürlich war auch bekannt geworden, dass Suzanne die Ehefrau von Tom Holland war, der kurz nach ihrem Verschwinden beim Absturz eines Leichtflugzeuges ums Leben gekommen war. Die Leute verlangten nach Antworten und erwarteten, dass die Polizei größeres Engagement zeigte. Nun war Jackman das unglückliche Los zugefallen, den Fall zu übernehmen, bevor er viral ging.
Jackman seufzte genervt. Diese verdammten Medien! Außerdem sah es zu allem Überfluss auch noch so aus, als hätte Suzanne Holland eine Art Doppelleben geführt. Zumindest hatte sie eine sehr bewegte Vergangenheit, und jede Spur, der die Detectives folgten, warf am Ende noch mehr Fragen auf.
Jackman schloss die Akte und gähnte laut. Er brauchte unbedingt etwas Schlaf. Suzanne Holland musste bis morgen warten.
Doch sein Gehirn hatte andere Pläne, und so wanderte er um drei Uhr morgens in seinem Schlafzimmer auf und ab. Er hasste Ermittlungen ohne erkennbare Struktur. War die Frau tot? Hatte sie einen schweren Unfall gehabt und danach verwirrt die Flucht ergriffen? Hatte man sie entführt? Offenbar war sie kein Kind von Traurigkeit gewesen, doch die Nachforschungen hatten keine rachsüchtige Ehefrau und keinen eifersüchtigen Liebhaber zutage gefördert. Suzanne hatte bereits eine kurze, gescheiterte Ehe hinter sich, und ihr Ex-Mann lebte mittlerweile ein sehr alkoholumnebeltes Leben als Touristenanimateur in Spanien. Bei der Durchsicht der alten Ermittlungsakten war Jackman aufgefallen, dass noch niemand persönlich mit ihm gesprochen hatte. Er nahm sich vor, gleich morgen früh jemanden darauf anzusetzen.
Jackman ließ sich aufs Bett fallen.
Es gab noch ein zweites Problem.
Marie war eine positive, energiegeladene Frau, doch im Moment schien sie die Sorge um McLeans bevorstehende Rückkehr in den Außendienst aufzufressen. Jackman vertraute Maries Urteilsvermögen, und wenn sie besorgt war, war er es auch. Vielleicht sollte er ein paar Hebel in Bewegung setzen, um Carter von dem Holland-Fall fernzuhalten. Wenn es nach Ruth Crooke gegangen wäre, hätte Carter ohnehin den Rest seines Berufslebens hinter dem Schreibtisch verbracht. Er hatte keine Ahnung, warum die beiden einander partout nicht ausstehen konnten, aber er würde sie sicher nicht danach fragen. Die Fehde lief schon seit Ewigkeiten, und er wollte sich nicht hineinziehen lassen.
Zum ersten Mal seit Jahren hatten sie genügend Mitarbeiter. Die Kriminalpolizei hatte in den letzten Monaten einige erhebliche Umstrukturierungsmaßnahmen über sich ergehen lassen müssen, doch mittlerweile hatte sich die Lage beruhigt. Die Detectives von Saltern-le-Fen arbeiteten inzwischen eng zusammen, und neue Fälle wurden an jene Teams vergeben, die gerade am meisten Kapazitäten frei hatten. Endlich konnten Jackman und Marie auf mehrere gute Officer zurückgreifen und dank Ruth Crooke alle Hilfe anfordern, die sie benötigten.
Seine langjährigen Detectives Max und Charlie arbeiteten gemeinsam an Suzanne Hollands Verschwinden, unterstützt von dem Neuzugang DC Robbie Melton, der aus einer anderen Abteilung zu ihnen gewechselt hatte und von allen herzlich willkommen geheißen worden war. Robbies ehemalige Partnerin war im Dienst schwer verletzt worden, und nach ihrer Kündigung hatte er nicht mehr in seinen alten Job zurückgefunden. Der Abteilungswechsel hatte jedoch Wunder gewirkt, und vor allem mit Marie verstand er sich besonders gut. Er war schmächtig gebaut, trug meistens Jeans und einen Hoodie und sah beinahe aus wie ein Teenager, obwohl er schon über dreißig war. Seine Stärke war, dass er auf der Straße sofort unterging. Er war stolz darauf, dass ihn niemand eines zweiten Blickes würdigte. Außerdem war Robbie ein überaus scharfsinniger und intelligenter Detective.
Dann waren da noch DC Rosie McElderry, die im Moment ziemlich tief in einem Drogenfall steckte, ihnen aber trotzdem zur Hand gehen konnte, sowie der gute alte PC Gary Pritchard.
Und jetzt noch DS Carter McLean.
Seufzend schlüpfte Jackman zurück unter die Decke.
Nein, er würde Carter nicht dem Holland-Fall zuteilen. Es gab noch andere Ermittlungen, mit denen er sich beschäftigen konnte. Sich mit der dunklen Seite der verschwundenen Frau seines verstorbenen Freundes zu beschäftigen war keinesfalls ratsam. Er schloss die Augen. Zumindest würde diese Entscheidung Marie ein wenig beruhigen. Das hoffte er zumindest, denn er mochte den besorgten, angsterfüllten Ausdruck nicht, der sich in letzter Zeit auf dem Gesicht seiner zuverlässigen Kollegin breitgemacht hatte. Er wollte die alte Marie wiederhaben.
»Marie?« Es war drei Uhr morgens.
Sie erkannte Carters Stimme sofort. »Alles okay?«
»Abgesehen davon, dass ich nicht schlafen kann und ziemlich Schiss habe, geht es mir gut.«
»Das ist aber verständlich, oder? Morgen ist nun mal ein großer Tag. Es geht zurück an die Front.« Sie schüttelte den Schlaf ab und sprach so unbekümmert wie möglich, doch sie war alles andere als das.