Sykes, Sam Sieben schwarze Klingen

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon

 

© Sam Sykes 2019
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Seven Blades In Black. The Grave of Empires 1« bei Orbit, New York 2019
© Piper Verlag GmbH, München 2020
Karte: Tim Paul
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Sarah Borchart, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von GettyImages

 

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1. KAPITEL

WEHRTURM

Alle liebten gute Hinrichtungen.

Von den Mauern des Imperialen Cathama bis hin zu den entlegensten Ecken der Revolution gab es keinen Bürger der Scar, der sich einen angenehmeren Zeitvertreib für den Nachmittag vorstellen konnte, als zuzusehen, wie Bröckchen von Dissidenten an die Mauern klatschten. Hinter ebendiesen Mauern des revolutionären Ortes Wehrturm lag eine Spannung in der Luft, die für jeden Bürger spürbar war.

Die Menge der Schaulustigen sammelte sich und verfolgte, wie die noch feuchten Reste von der gestrigen Hinrichtung vom Pfahl gewischt wurden. Das Erschießungskommando saß ein Stück abseits. Die Männer polierten ihre Bajonette und schlossen Wetten darauf ab, wer ins Herz des armen Arschlochs treffen würde, das heute an den Pfahl kam. Nicht weit entfernt priesen Händler lautstark ihre Waren an; sie verkauften alles, angefangen von Erfrischungen bis hin zu Souvenirs, damit die Leute sich an diesen Tag zurückerinnern konnten, an dem sie ihre Arbeit ein paar Stunden ruhen ließen, um zuzusehen, wie ein weiterer Feind der Revolution aufgeknüpft oder erschossen wurde.

Außerdem gab es seit einiger Zeit in Wehrturm nicht viel zu tun.

Milizgouverneurin Tretta Stern gab sich derweil Mühe, all das zu ignorieren: die Menge, die sich unter ihrem Fenster vor dem Gefängnis versammelte, die schrillen Stimmen, die nach Blut schrien, die weinenden Kinder und die lachenden Männer. Zivilisten konnte man eine solch primitive Blutgier nachsehen, Offiziere der Revolution dagegen dienten einem höheren Ziel.

Ihr schwarzes kurz geschorenes Haar war geölt und lag dicht an ihrem Kopf an, wie es einem Offizier anstand. Die Jacke war fest zugeschnallt, die Hose frisch gepresst und gegürtet, ihr Säbel hing an der Hüfte, und nirgendwo an ihr fand sich auch nur eine Spur von Staub, Fusseln oder Rost. Vor allem blickte ihr das Gesicht der Frau, die Hunderte von Feinden mit einem einzigen Wort unter die Erde geschickt hatte, ungerührt aus dem Spiegel entgegen.

Man konnte sich fragen, ob es sinnvoll war, sich für eine Exekution derartig aufwendig zurechtzumachen. Den kriminellen Abschaum, der in knapp sechs Stunden in einem flachen Grab verscharrt werden würde, kümmerte das schließlich nicht die Bohne. Aber als Offizier der Revolution hatte man gewisse Maßstäbe zu erfüllen. Und Tretta hatte ihre Position wahrhaftig nicht durch Nachlässigkeit erlangt.

Sie nahm sich einen Moment Zeit, die Orden auf ihrem Revers zu richten, bevor sie ihr Quartier verließ. Die beiden Wachen an der Tür salutierten zackig, bevor sie ihre Gewehre schulterten und ihr mit exakt drei Schritten Abstand folgten. Die Morgensonne fiel durch die Fenster, als sie die Treppen zum Kommandostab hinuntergingen. Wachen und Offiziere nahmen Haltung an, wenn sie vorbeimarschierten, und hoben ihre Arme zum Salut. Sie nickte ihnen flüchtig zu und gab den Befehl, bequem zu stehen, während sie der Tür am gegenüberliegenden Ende des Raums zustrebte.

Der Revolutionswächter davor blickte hoch. »Milizgouverneurin!« Er salutierte.

»Sergeant«, antwortete Tretta. »Wie verhält sich die Gefangene?«

»Aufsässig und respektlos«, antwortete er. »Als Erstes heute Morgen hat sie den ihr zugeteilten Haferschleim auf die Schließer geworfen, einen Schwall von Obszönitäten von sich gegeben und unverblümte Andeutungen gemacht, was das berufliche und persönliche Verhalten der Mutter des Schließers anging.« Er schnaubte verächtlich. »Alles in allem mehr oder weniger das, was wir von einem Vagranten erwarten.«

Tretta ließ sich nicht anmerken, dass sie beeindruckt war. Angesichts der Situation hatte sie weit Schlimmeres erwartet.

Sie machte eine Handbewegung, woraufhin der Revolutionswächter die schwere Eisentür mit einem Schlüssel öffnete und sie aufstieß. Tretta und ihre Eskorte stiegen über die Treppe in die Dunkelheit des Gefängnisses von Wehrturm hinab. Das Schweigen leerer Zellen begrüßte sie.

Wie alle revolutionären Außenposten war beim Bau von Wehrturm daran gedacht worden, Raum für Gefangene zu schaffen: für imperiale Aggressoren, Konterrevolutionäre, verbrecherische Gesetzlose und sogar den ein oder anderen Vagranten. Im Unterschied zu den meisten anderen revolutionären Außenposten jedoch lag Wehrturm von den Schlachtfeldern der Scar weit entfernt und hatte nicht viel Verwendung für seine zahlreichen Zellen. Jeder gefangene Gesetzlose wurde für gewöhnlich relativ kurz nach seiner Ergreifung wegen Verbrechen gegen die Revolution hingerichtet, da die Zivilisten ohne die unterhaltsamen Hinrichtungen zur Unruhe neigten.

Während ihrer gesamten Dienstzeit in Wehrturm hatte Tretta das Gefängnis genau zweimal aufgesucht, einschließlich des heutigen Tages. Das erste Mal hatte sie einem Spion des Imperiums, der sich als Bandit getarnt hatte, Gnade im Austausch gegen Informationen angeboten. Dreißig Minuten später hatte sie ihn vor das Exekutionskommando geschickt. Bis dahin war er der am längsten einsitzende Gefangene in Wehrturm gewesen.

Diesbezüglich hatte ihre derzeitige Gefangene den Rekord bereits um zwei Tage überschritten.

Das Verhörzimmer lag am Ende der Zellenreihe. Die beiden Wachen salutierten zackig, bevor sie die Tür aufzogen.

Das Verhörzimmer maß etwa sieben mal sieben Meter und enthielt nur einen Tisch mit zwei Stühlen. Durch einen schmalen Fensterschlitz fiel ein einziger Lichtstrahl. Das Fenster befand sich unmittelbar unter der Decke und ließ so gut wie keine Luftzirkulation zu, sodass es in dem Raum erstickend heiß war.

Was man nach einem Blick auf die Gefangene nicht vermutet hätte.

Die Frau, Tretta schätzte sie auf etwa Ende zwanzig, saß an einem Ende des Tisches. Sie trug eine schmutzige Hose und ebenso schmutzige Stiefel. Die Ärmel und der Saum ihres weißen Hemdes waren abgetrennt und zeigten die Tätowierungen auf ihren Unterarmen und den größten Teil der langen Narbe, die von ihrem Schlüsselbein bis zum Bauch führte. Ihr Haar war nach imperialer Mode weiß, an den Seiten kurz geschoren und im Nacken zu einem unordentlichen Zopf geflochten. Trotz der erstickenden Hitze war sie ruhig, wirkte gelassen und so bleich wie Eis.

Es gab nichts an dieser Frau, was Tretta nicht verabscheute.

Sie blickte nicht hoch, als die Milizgouverneurin eintrat, und achtete ebenso wenig auf die beiden Revolutionswächter, die ihr folgten. Ihre zusammengeketteten Hände lagen ruhig auf dem Tisch. Selbst als Tretta sich ihr gegenüber an den Tisch setzte, nahm sie das kaum zur Kenntnis. Die Augen der Gefangenen waren so blassblau wie flaches Wasser, und ihr Blick war woandershin gerichtet. Ihr Gesicht, schmal, kantig und von einer langen Narbe über ihrem rechten Auge entstellt, wirkte selbst im Angesicht ihres unmittelbar bevorstehenden grausamen Todes vollkommen ungerührt.

Das ärgerte Tretta mehr, als sie zuzugeben bereit war.

Die Milizgouverneurin beugte sich vor, faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und gab der Frau Gelegenheit zu erkennen, in was für einer gewaltigen Scheiße sie steckte. Nach einer Minute Stille streckte Tretta eine Hand aus. Einen Moment später drückte einer der Wächter ihr ein paar Blätter Papier hinein. Sie legte den Stapel vor sich auf den Tisch und blätterte ihn gemächlich durch.

»Ich werde dir nicht weismachen, dass du dich retten könntest«, sagte sie nach einer Weile. »Ein Offizier der Revolution sagt stets die Wahrheit.« Sie warf einen Blick auf die Frau, die nicht reagierte. »Du wirst innerhalb von sechs Stunden wegen Verbrechen gegen die Glorreiche Revolution der Faust und der Flamme exekutiert. Nichts, was du sagst, kann daran etwas ändern. Du verdienst den Tod für deine Verbrechen.« Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Und du wirst ihn erleiden.«

Jetzt endlich reagierte die Frau. Ihre Handfesseln klapperten etwas, als sie die Hände hob und an den Narben auf ihrem Gesicht kratzte.

Tretta verzog höhnisch das Gesicht und sprach weiter: »Allerdings: Im Austausch gegen Informationen über die Ereignisse in der Woche vom elften bis zum zwanzigsten Masens bis zum und einschließlich des Massakers an der Bevölkerung der Siedlung Starks Murmeln, der Vernichtung der Freistatt Lohstaff und dem Verschwinden von Revolutions-Untersergeant Cavric Stolz bin ich bereit, dir im Namen des Kaders einen schnellen und humanen Tod zu gewähren.«

Sie legte das Papier zur Seite und beugte sich vor. Die Frau starrte einfach links an Tretta vorbei.

»Wegen dir sind sehr viele Menschen gestorben«, fuhr diese fort. »Und einer unserer Soldaten ist deinetwegen verschwunden. Bevor diese sechs Stunden verstrichen sind und du tot und begraben bist, passieren noch zwei Dinge: Ich werde genau herausfinden, was geschehen ist, und du wirst dich entscheiden, ob du durch eine Kugel oder einhundert Klingen stirbst.« Sie legte die Hände flach auf den Tisch. »Was du als Nächstes sagst, entscheidet, wie viel von deinem Blut wir heute zu sehen bekommen. Denk sehr sorgfältig nach, bevor du sprichst.«

Jetzt endlich sah die Frau Tretta in die Augen. Aber in ihrem Blick lag keine Furcht. Sie wirkte genauso ruhig und gelassen wie zuvor. Sie klang geschwächt, als sie antwortete.

»Kann ich vielleicht einen Schluck bekommen? Es ist heiß hier.«

Tretta zog die Augen zu Schlitzen zusammen, hob aber gleichzeitig die Hand. Einer der Revolutionswächter verließ rasch den Raum und kehrte mit einem Krug und einem Glas zurück. Er füllte das Glas und schob es der Gefangenen hin. Sie nahm es, trank einen Schluck, schmatzte und blickte dann in das Glas.

»Was verflucht ist das?«

»Wasser.« Tretta runzelte die Stirn. »Was sollte es sonst sein?«

»Ich hätte eher Gin oder etwas Derartiges erwartet«, erwiderte die Frau.

»Du hast nach Wasser verlangt.«

»Ich habe um einen Schluck gebeten!«, gab die Frau zurück. »Nach all dem Getöne darüber, wie du mich umbringen willst, dachte ich, du würdest mich zumindest mit irgendetwas Anständigem in den Tod schicken. Bekomme ich keinen letzten Wunsch gewährt?«

Tretta verzog empört das Gesicht. »Natürlich nicht!«

Die Frau schmollte. »In Cathama würde man ihn mir erfüllen.«

»Du bist aber nicht in Cathama!«, fuhr Tretta sie an. »Du bist nicht einmal in der Nähe des Imperiums, und der einzige imperiale Abschaum innerhalb von tausend Meilen liegt in den Gräbern neben dem, in das ich dich bringen werde!«

»Sicher, das hast du unmissverständlich deutlich gemacht«, antwortete die Frau mit einer abfälligen Handbewegung. »Wegen Verbrechen gegen die Revolution und dergleichen. Nicht, dass ich dich eine Lügnerin nennen würde, Madame, aber bist du sicher, dass du das richtige Mädchen erwischt hast? Es gibt jede Menge Abschaum in der Scar, der dich weit mehr gekränkt haben dürfte als ich.«

»Ich bin mir vollkommen sicher.« Tretta nahm die Papiere und blätterte zur ersten Seite. »Gefangene Nummer 15-15-5 alias …« Sie warf der Frau über dem Papier einen finsteren Blick zu. »… Sal Kakophonie.«

Sal verzog sarkastisch die Lippen und verbeugte sich elegant, jedenfalls soweit das mit Handschellen und auf einem Stuhl sitzend möglich war.

»Madame.«

»Wahre Identität unbekannt, Geburtsort unbekannt, Geburtsstadt unbekannt.« Tretta las die Einzelheiten vom Papier ab. »Angegebene Profession: Kopfgeldjäger.«

»Ich bevorzuge ›Menschenjäger‹. Klingt irgendwie dramatischer.«

»Wurde erst kürzlich in zwölf Siedlungen wegen Mordes verurteilt, in drei Freistätten wegen Brandstiftung, wegen illegalem Besitz von revolutionären Relikten, wegen Häresie gegen Eden, wegen Mundraub …«

Sal streckte die Hand aus. »Zeig mir dieses Papier!«

»… Blasphemie, illegale Anwendung von Magie, Entführung, Erpressung und so weiter und so fort.« Tretta klatschte das Papier auf den Tisch. »Kurz gesagt, alles, was ich von einem gemeinen Vagranten erwarte.« Sie biss die Zähne zusammen und spie die folgenden Worte förmlich heraus: »Wenn du noch irgendeinen Funken Anstand in dir hast, wie geheuchelt er auch sein mag, wirst du mir erzählen, was in Starks Murmeln sowie in Lohstaff passiert ist und was meinem Soldaten Cavric Stolz widerfahren ist.«

Sal spitzte die Lippen und betrachtete Tretta mit einem eisigen Blick. Dann versteifte sie sich, und Tretta imitierte ihre Pose. Die beiden Frauen starrten sich einen Moment lang an, als würde jede erwarten, dass die andere gleich eine Klinge zücken und zuschlagen würde.

Das hätte Tretta tatsächlich auch fast getan, als Sal schließlich doch das Schweigen brach.

»Hast du schon viele tote Vagranten gesehen, Madame?« Sie sprach leise.

»Viele«, antwortete Tretta gepresst.

»Als sie starben, was haben sie gesagt?«

Tretta kniff erneut die Augen zusammen. »Meistens haben sie geflucht. Sie haben das Imperium verflucht, dem sie dienten, sie haben das Pech verflucht, das sie mir in die Hände gespült hat, und sie haben mich dafür verflucht, weil ich sie in die Hölle zurückgeschickt habe, die sie ausgespuckt hat.«

»Nun, eines weiß ich: dass meine letzten Worte kein Fluch sein werden.« Sal schnalzte mit der Zunge. »Ich werde dir erzählen, was du wissen willst, Madame, über Lohstaff, über Cavric, über alles. Ich sage dir alles, und dann kannst du mir eine Kugel in den Kopf schießen oder mich zerhacken oder mich von Vögeln zerfetzen lassen. Ich habe nichts dagegen. Ich bitte dich nur um Folgendes.«

Tretta spannte sich an und griff nach ihrem Säbel, als Sal sich über den Tisch beugte. Dann zeichnete sich ein Grinsen auf dem Gesicht der Vagrantin ab, so scharf wie eine Klinge.

»Erinnere dich an meine letzten Worte.«

Tretta hatte ihren Rang nicht dadurch erlangt, dass sie Gefangene nachsichtig behandelte, schon gar keine so üblen wie eine Vagrantin. Sie hatte ihre Position durch die Unterstützung und den Respekt der Frauen und Männer erlangt, die sie jeden Morgen so zackig begrüßten. Und diesen Respekt hatte sie sich nicht dadurch verdient, dass sie das Schicksal dieser Leute einfach der Vergessenheit anheim hätte fallen lassen.

Doch um ihretwillen und für die Revolution, der sie diente, nickte Tretta. Die Vagrantin lehnte sich daraufhin auf ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen.

»Es begann«, hub sie leise an, »beim letzten Regen.«

2. KAPITEL

RINS SUMPF

Wenn es in Cathama regnet, flüchten sich die verweichlichten
Imperialen unter die Markisen ihrer Cafés und warten darauf, dass ihre Magier das Wetter ändern. Regnet es in Eden, strömen die Menschen in die Kirche und danken ihrem Herrn dafür. Und wenn es in Weiless heiß wird, dann – wie ihr wisst – schieben sie diese unbarmherzige Sonne imperialen Intrigen zu und verdoppeln ihre revolutionären Anstrengungen.

Aber in der Scar? Wenn es in Strömen regnet und so schrecklich donnert, dass man durch die Straßen schwimmen muss und nicht einmal hört, wie man ersäuft? Dann wickelt man sich einfach fester in seinen Umhang und macht weiter.

Genau das habe ich in jener Nacht gemacht, als ich in diesen ganzen Schlamassel geraten bin.

Rins Sumpf war, wie der Name schon ahnen lässt, die Art Siedlung, wo Regen die Leute nicht sonderlich kümmerte. Nicht mal, wenn es so grell blitzte, dass man hätte schwören können, es wäre helllichter Tag. Das Leben in der Scar war so hart, dass ein bisschen apokalyptisches Wetter niemanden sonderlich beeindruckte.

So ziemlich alle Häuser in Rins Sumpf waren dunkel wie die Nacht, nur die Taverne war hell erleuchtet – eine schmuddelige, zweistöckige Scheune in der Mitte der Stadt. Das Licht war so hell, dass man den Dreck auf den Scheiben erkennen konnte, die abblätternde Farbe auf der Fassade und das hässliche Schild, das an knarrenden Ketten hing: Ralps Letzte Zuflucht.

Ein angemessener Name.

Der sich als noch passender erwies, als ich die Tür aufstieß und einen Blick ins Innere warf.

Wie ich so klatschnass auf der Schwelle stand, während das Wasser von mir heruntertropfte und einen kleinen See um meine Stiefel bildete, muss ich wie eine kleine tote Katze ausgesehen haben, die man aus einem Plumpsklo gezogen hat. Und dabei sah ich noch erheblich besser aus als alles im Inneren dieser Bar genannten Kaschemme.

Eine feine Dreckschicht versuchte vergeblich eine weit weniger feine Schicht aus Splittern auf den vernachlässigten Stühlen und Tischen zu verbergen, die an den Wänden des Gemeinschaftssaals standen. Eine Bühne, auf der früher wahrscheinlich eine Reihe schlechter Künstler aufgetreten war, lag jetzt im Dunkeln; ein einsames Voccaphon hatte sie ersetzt und spielte ein Stück, das vermutlich früher mal beliebt gewesen war.

Im hinteren Teil hockten ein paar Jugendliche, zwei Jungen und ein Mädchen. Sie nahmen kleine Schlucke aus einer Flasche mit einem Gebräu, das sie sich leisten konnten, und starrten auf den Tisch. Hinter der Bar stand ein großer Mann in schmutzigen Klamotten, der gelangweilt das einzige saubere Glas in der Kneipe mit einem Tuch polierte.

Ralp, jedenfalls vermutete ich, dass er es war, machte sich nicht die Mühe, mich nach meinen Wünschen zu fragen. In der Scar konnte man schon von Glück reden, wenn man die Wahl zwischen zwei Getränken hatte.

Der Wirt griff nach einem Fass hinter der Bar, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, als ich mich räusperte und ihm einen warnenden Blick zuwarf. Er nickte, hielt eine Flasche Whiskey hoch – laut dem schwarzen Etikett Avonin & Sons – und sah mich abwartend an. Ich nickte und warf einen kleinen Silberklumpen auf den Tresen. Er schenkte mir erst von dem Whiskey ein, nachdem er den Brocken in die Hand genommen und auf Echtheit überprüft hatte, bevor er ihn in die Tasche steckte.

»Auf der Durchreise?« Sein Tonfall deutete mehr auf Gewohnheit als auf wahres Interesse.

»Ist denn schon mal jemand geblieben?«, fragte ich zurück, während ich einen Schluck der bitteren braunen Brühe trank.

»Nur, wer genug Fehler gemacht hat.« Ralp warf einen vielsagenden Blick auf die Jugendlichen in der Ecke. »Der erste Fehler ist, hier einzukehren, statt weiterzureisen. Nach einem solchen Regen bestehen die Straßen etliche Tage lang aus Schlamm. Dann kommt ohne einen Vogel niemand hier weg.«

»Ich habe einen Reitvogel«, sagte ich und grinste ihn über mein Glas hinweg an. »Und ich dachte, du wärst froh über etwas zusätzliches Silber.«

»Metall lehne ich nie ab«, antwortete Ralp. Er musterte mich genauer und hob dann eine Braue, als ihm plötzlich zu dämmern schien, dass unter diesem nassen, stinkenden Umhang eine Frau steckte. »Aber wenn du mich wirklich glücklich machen willst …«

»Ich sag dir was.« Ich hob einen Finger. »Den Gedanken zu Ende zu bringen, macht dich vielleicht auf kurze Sicht gesehen glücklich, aber die Worte in deinem Mund zu behalten, sorgt auf lange Sicht dafür, dass du keine aufs Maul bekommst.« Ich lächelte so zuckersüß, wie eine Frau mit meiner Art von Narben es konnte. »Das ist ein einfaches Vergnügen, Ser, aber ein lang anhaltendes.«

Ralp musterte mich noch einen Moment länger, rieb sich dann nachdenklich über den Mund und nickte einmal. »Ja, ich würde sagen, da hast du recht.«

»Aber ich habe etwas, das genauso gut ist.« Ich knallte drei weitere Silberstücke auf den Tresen. Als er danach griff, klatschte ich ihm noch etwas anderes hin. »Das heißt, falls es dir gelingt, mich glücklich zu machen.«

Mit diesen Worten faltete ich das Papier auseinander und schob es ihm zu. Auf der gelben Oberfläche war mit Tinte die lüsterne Maske eines Opernschauspielers gezeichnet, mit einer wilden Haarmähne und in einem schwarzen Rahmen, unter dem eine sehr große Summe Gold geschrieben stand und darüber das Wort Todesurteil.

»Dieser Hurensohn!« Ralps Stimme erhob sich ebenso wie beide Brauen. »Du suchst nach diesem Hurensohn?«

Ich legte einen Finger auf die Lippen und sah mich aus dem Augenwinkel um. Die Jugendlichen hatten seinen Ausbruch offenbar nicht bemerkt, sondern starrten nach wie vor ihre Flasche an.

»Er hat einen Namen«, sagte ich. »Daiga, das Phantom. Was weißt du über ihn?«

»Nichts«, sagte er. »Ich habe den Namen gehört, aber mehr weiß ich nicht.«

»Gar nichts anderes?«

»Ich weiß, dass die Summe, die sie für seinen Tod bieten, bei Weitem nicht das aufwiegt, wozu er fähig ist.« Ralp sah mich vielsagend an.

Ich erwiderte den Blick.

»Nun, er hat etwas, das ich haben will«, antwortete ich.

»Na, dann hoffe ich mal, du findest jemand anderen, der es dir besorgt.« Er suchte sichtbar nach irgendetwas, womit er seine Hände beschäftigen konnte. »Ich weiß nichts über Magier, schon gar nicht über Vagranten wie diesen … Mann. In Wahrheit, Madame, weiß ich nicht einmal, ob mir überhaupt auffiele, wenn jemand wie er hier auftaucht.«

»Vogelkacke!« Ich beugte mich dichter zu ihm und presste die nächsten Worte zwischen den Zähnen hervor. »Bevor ich in den Schankraum gekommen bin, habe ich mich hinter dem Haus ein bisschen umgesehen und deine Lieferung bemerkt.« Ich zog die Lider zu Schlitzen zusammen. »Das sind verdammt viele Weinfässer für einen Wirt ohne Kunden. Wohin schickst du sie?«

Ralp starrte auf den Tresen. »Das weiß ich nicht. Aber wenn du nicht sofort hier verschwindest, dann rufe ich die Friedenshüter und …«

»Ralp.« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Es würde mich sehr traurig stimmen, wenn du mich zwingst, dir wegen dieser albernen Kleinigkeit wehzutun.«

»Ich sagte doch, ich weiß es nicht«, wiederholte er leise. »Jemand anders holt die Fässer ab.«

»Und wer? Wen benutzt Daiga dafür?«

»Darüber weiß ich auch nichts. Ich versuche so wenig wie verflucht noch mal möglich über diesen Freak oder jeden anderen Freak wie ihn zu wissen.« Jetzt spielte er nicht mehr. In seinen Augen lag echte Furcht. »Es ist nicht meine Angelegenheit, irgendetwas über irgendeinen Magier zu wissen, sei es nun ein Vagrant oder was anderes. Das ist nicht gesund.«

»Aber sein Metall nimmst du trotzdem, wie ich sehe.«

»Dein Metall habe ich auch genommen. Der Rest der Scar schwimmt vielleicht in Gold, aber Rins Sumpf ist so trocken wie sechs Tage alter Vogelschiss. Wenn ein Vagrant mir Silber dafür gibt, dass ich keine Fragen stelle, nehme ich dieses Angebot nur allzu gerne an.«

»Tatsächlich?«

Ich schlug die andere Seite meines Mantels zurück und zeigte ihm den Griff einer ganz anderen Waffe. Aus geschnitztem Holz, schwarz, so glänzend wie die Sünde und vollkommen makellos. Das Messing schimmerte, als wartete die Waffe voller Feuer und Flamme, dass ich sie herausholte und damit herumfuchtelte.

Ich spürte, wie die Pistole an meiner Hüfte zu brennen begann, mich anflehte, endlich losgelassen zu werden.

»Wie sich herausstellt, Ralp, macht es mich auch unglücklich, Fragen zu stellen. Was sollen wir deiner Meinung nach dagegen unternehmen?«

Schweiß trat Ralp auf die Stirn. Er leckte sich die Lippen und blickte mit großen Augen auf meine Pistole, bevor er seinen Blick wieder zu dem hässlichsten Grinsen hob, zu dem ich fähig war.

Versteh mich nicht falsch, Gouverneurin. Ich fühlte mich nicht besonders großartig, weil ich mich zu so etwas Langweiligem herabließ, wie mit einem Schießeisen anzugeben. Aber ich hatte halt tatsächlich erwartet, dass die Sache glattgehen würde. Hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch nichts Schlaueres ausgebrütet.

Dann hörte ich hinter mir das Klicken, mit dem ein Hahn gespannt wurde. Kaltes Metall presste sich gegen meinen Nacken.

»Ich hätte da ein paar Ideen«, knurrte jemand.

Ralp trat vom Tresen zurück, aber erst, nachdem er die Silberbrocken aufgesammelt hatte, die ich dort hingelegt hatte, der Scheißkerl. Dann verschwand er schnell in ein Hinterzimmer.

»Das Phantom mag es nicht, wenn Leute nach ihm fragen.« Eine männliche Stimme. »Er findet das schrecklich unhöflich. Und zufälligerweise stimme ich darin mit ihm überein.«

»Genauso wie ich auch«, antwortete ich freundlich. »Und ich muss ja noch unhöflicher wirken, weil ich dir die ganze Zeit den Rücken zukehre.« Ich sprach langsam und ruhig. »Deshalb werde ich mich jetzt zu dir herumdrehen.«

»N…nein.« Seine Stimme kiekste etwas. »Mach das nicht.«

Aber ich drehte mich bereits – und erkannte einen der Jugendlichen vom Tisch – ein Rabauke mit weit aufgerissenen Augen, einem weichen Gesicht und einem wilden Haarschopf. Er hielt mir eine Handkanone ins Gesicht. Der andere Junge und das Mädchen standen hinter ihm. Sie waren mit zwei automatischen Armbrüsten bewaffnet und taten, als könnten sie damit umgehen. Das waren gute Waffen. Zu gut für dieses Drecksloch, das sich als Siedlung aufspielte.

»Ihr seid ziemlich jung«, bemerkte ich.

»Tatsächlich?«, erwiderte der Jüngling.

»Viel zu weichlich, um für einen Vagranten arbeiten zu können«, fuhr ich fort. »Daiga muss verdammt verzweifelt sein.«

»Das Phantom ist nicht verzweifelt!« Er versuchte überzeugend zu klingen, aber das Kieksen in seiner Stimme vermasselte es. »Er ist nur auf der Flucht. Er wird schon sehr bald dieses Drecksloch verlassen, und dann nimmt er uns mit.«

»Ja«, sagte das Mädchen hinter ihm finster. »Er zeigt uns Magie und lehrt uns, Magier zu werden wie er.«

»Ich bin sicher, dass er sehr beeindruckt gewesen ist. Warum sonst hätte er euch wohl die wichtige Aufgabe übertragen sollen, als seine Weinlieferanten zu fungieren?«

»Halt’s Maul!« Der Junge kreischte fast. »Halt dein verdammtes Maul! Das Phantom …«

»Daiga«, verbesserte ich ihn.

»Das Phantom hat uns gesagt, wir sollten jeden töten, der hier auftaucht und nach ihm fragt, ganz gleich, ob es ein Imperialer oder … oder ein Revolutionär oder …«

»Jungchen«, unterbrach ich ihn. »Ich bin keine Imperiale und auch keine Revolutionärin. Und Daiga ist kein Held, der euch hier herausholt.« Ich blickte ihm in die Augen und zwang mich, nicht zu blinzeln. »Und du bist kein Killer.«

Geistesgegenwärtig stieß ich den Jungen zur Seite, als ich das Kreischen der automatischen Armbrüste hörte, und duckte mich.

Ich hörte das Splittern des Holzes, als sie einen Bolzen nach dem anderen in den Tresen feuerten, in der Hoffnung, dass sich die Bar einfach auflöste, wenn sie nur genug Metall hineinjagten. Früher oder später würde ihnen die Munition ausgehen, aber so lange konnte ich nicht warten.

Vor allem nicht, als ich die Handkanone hörte.

Ein gewaltiger Lichtblitz erhellte den Gastraum. Der altbekannte Gestank von Severium hing schwer in der Luft. Und wo eben noch der Tresen gewesen war, stand jetzt nur noch eine halbe Bar.

Ich zog mir den Schal tiefer ins Gesicht, um mich vor den Holzsplittern zu schützen, die auf mich herunterregneten. Der Junge hatte eine verdammt primitive Waffe in der Faust, und diese Dinger konnten genauso gut explodieren wie feuern. Aber sie machte viel Lärm und richtete viel Schaden an, also konnte ich mir ausrechnen, dass es ihm ziemlich egal war.

Außerdem gelangte ich zur selben Erkenntnis wie er zweifellos auch, als ich ihn nachladen hörte.

Er brauchte nur einmal zu treffen. Und es gab nur noch einen halben Tresen, hinter dem ich mich verstecken konnte.

Ich zog meine Pistole aus dem Halfter. Er begrüßte mich, glänzend und strahlend und begierig darauf, mir zu dienen. Er brannte warm, und seine siedende Freude strömte durch meinen Handschuh in meine Handfläche. Der blanke Messinglauf war wie das Maul eines Drachen geformt und grinste mich an, als wollte er sich erkundigen, was für lustige Sachen wir jetzt gleich unternehmen wollten.

Ich musste ihn leider enttäuschen.

Mit der anderen Hand griff ich in den Beutel an meiner Taille und tastete nach den Patronen. Auf jeder waren Schriftzeichen in das Silber eingraviert. Ich fuhr mit den Fingern über die Hülsen und formte mit den Lippen die Buchstaben nach.

Höllenfeuer – zu tödlich. Raureif – zu langsam. Diskordanz – das war es!

Ich zog die Patrone heraus, öffnete die Trommel der Pistole und schob die Diskordanz-Patrone in die Kammer. Dann spannte ich den Hahn, zählte bis drei und erhob mich hinter der Bar.

Zielen erübrigte sich bei Diskordanz. Ich drückte ab und feuerte zwischen ihre Füße. Das Geschoss zischte durch die Luft und grub sich einen Moment später in das Holz. Und einen weiteren Moment später?

Ich nehme an, ich habe Ralps Letzte Zuflucht zerlegt.

Die Jugendlichen wurden zurückgeschleudert. Sie flogen herum, als hätten sie Flügel, segelten zusammen mit den zertrümmerten Bodendielen und Stühlen durch die Luft.

Während ich über die Bar flankte, betrachtete ich das Werk der Zerstörung. Tische waren zertrümmert, Stühle zersplittert, und wo die Kugel getroffen hatte, waren die Bodendielen zerfetzt, und in der Erde befand sich ein vollkommen glattes Loch.

Diskordanz ist ein höllischer Zauber: nicht tödlich, aber er bereitet große Schmerzen. Die Imperialen hatten ihn benutzt, um Aufstände in den Kolonien zu unterdrücken, bevor die Aufstände zu Revolutionen auswuchsen und nicht-tödliche Zaubersprüche nicht mehr viel ausrichteten.

Der Jüngling lag neben der Tür und atmete flach. Ich warf kurz einen Blick auf seine Freunde, um mich davon zu überzeugen, dass sie ebenfalls außer Gefecht gesetzt waren. Dann packte ich den Jüngling am Revers seines Mantels, hämmerte ihn an die Wand und hielt ihm meine große grinsende Kanone ins Gesicht.

»Daiga hat dir erzählt, was das ist?« Ich drückte ihm den Lauf unter das Kinn. »Daiga hat dir von mir erzählt?«

Der Jüngling nickte heftig mit weit aufgerissenen Augen und schlaffem Kinn.

»Dann weißt du also, was ich damit alles schon gemacht habe!«, schnarrte ich. »Und du weißt auch, dass ich dich nicht noch einmal frage. Also, wo ist er?«

»Die … die alten Ruinen«, stammelte er. »Vier Stunden östlich von hier, am Fuß des Bergs. Ich … ich kann dir den Weg zeigen … wenn du …«

»Nein, nicht nötig.« Ich ließ ihn zu Boden fallen. »Ich werde dich verschonen, Kleiner. Aber dafür wirst du etwas für mich tun.«

»Ja, alles!«

»Dann sag mir jetzt, was du den Friedenshütern erzählst, wenn sie dich danach fragen, wer dir das angetan hat.«

Wenn du wissen willst, aus welchem Holz ein Mann geschnitzt ist, siehst du ihm scharf in die Augen und hörst zu, wie er deinen Namen ausspricht.

Der Jüngling stammelte ausweichend herum, während er versuchte, die in seinen Augen sichtbare Furcht zu überwinden, bevor er endlich mit der Sprache herausrückte.

»Sal, Sal Kakophonie.«

Er klang, als würde er sich gleich in die Hose machen.

Ich steckte meine Waffe ein, zog mir den Schal wieder über den Kopf und ging hinaus in den Sturm. Schon bald würden eine Menge Leute hier herumlaufen, die eine Menge Fragen stellten. Für so etwas hatte ich keine Zeit.

Ich musste schließlich einen Magier töten.

3. KAPITEL

DIE SCAR

Vier Stunden später, kurz bevor dem Morgen davor graute, dass
er einen weiteren Tag auf die Scar blicken musste, fand ich die Ruinen.

Und zwei Minuten danach wurde mir klar, dass es kein guter Tag werden würde. Obwohl der Regen aufgehört hatte.

Es war wohl mal eine Festung gewesen. Solche Festungen betrat man nicht, es sei denn, man benötigte dringend eine zerstörte, gefährliche Todesfalle als Versteck.

Daiga das Phantom hatte wie jeder Vagrant ein großes Bedürfnis genau danach.

Sie lag am Fuß der Berge, genau wie der Junge es gesagt hatte. Zwei große Steintürme mit langen, dunklen Fenstern und zerfallenden Treppen, die eine hohe Steinmauer flankierten.

Wir näherten uns langsam, und ich lauschte angestrengt nach irgendeinem Hinweis auf einen Hinterhalt, hörte aber nichts; also sprang ich von meinem Reittier und betrachtete prüfend die zerstörte Ruine des Forts.

»Ich nehme an, er hat sich darin verkrochen.« Ich deutete auf die Türme. »Er ist ein Greifmagus, also wird er sich mit Dingen umgeben, die er durch die Luft schleudern kann. Ich wette, er könnte diese Türme auf jede Meute schleudern, die nach ihm sucht. Aber eine solche Mühe macht er sich höchstwahrscheinlich nicht für eine einzelne Person. Ist logisch, oder?«

Mein Reittier sah mich an. Es sagte nicht, ob es einen Fehler in meiner Theorie entdeckt hatte.

Was mir auch irgendwie logisch vorkam.

Immerhin war es ein riesiger übellauniger Vogel.

Die vier Fuß langen Beine endeten in gefährlichen Krallen, das Tier hatte einen zwei Fuß langen nackten Hals, große wütende Augen und einen scharfen hässlichen Schnabel. All das wurde von einer fetten Kugel aus groben schwarzen Federn verbunden. Seelenverwandte sah so gemein, dumm und wütend aus, wie man es von einer Ödland-Brut erwartete. Die Scar ist kein Ort für hübsche Vögelchen.

Als ich sie unverwandt anstarrte, stieß sie schließlich ein leises Gurgeln aus.

»Schön, dass wir uns einig sind.«

Ich griff in ihre Satteltaschen und wühlte darin herum, bis ich die vertraute Kälte der drei Patronen ganz unten in der Tasche spürte.

Höllenfeuer.

Raureif.

Diskordanz.

Das war es, was man für einen Kampf gegen einen Vagranten mitbringen musste. Ich zog die Pistole heraus und schüttelte die Trommel mit einer Handbewegung auf. Dann lud ich in alle drei Kammern eine Patrone und schloss sie mit einer ruckartigen Bewegung des Handgelenks. Ich überprüfte weder das Visier noch den Hahn.

Um solche Sachen kümmerte sich die Pistole für mich.

Ich schob die Waffe wieder in meinen Gürtel, griff noch einmal nach der Satteltasche und schnappte mir etwas Schlaffes, Pelziges.

»Hier hast du es, Miss.« Ich warf Seelenverwandte das tote Kaninchen zu. Sie würde ein paar Minuten brauchen, um dieses Kaninchen zu fressen, und dann mindestens eine Stunde mit der Verdauung beschäftigt sein, bevor sie die Knochen und das Fell wieder herauswürgte.

Diese Ruinen würde nur eine Person lebendig verlassen, und es würde keine Stunde dauern, um herauszufinden, wer.

Alle meine Zweifel, dass er hier war, schwanden, als ich ein leises Geräusch hörte, das durch die Festung waberte. Eine Frauenstimme, tief und wohlklingend, die allmählich höher stieg, als sie ein langes trauriges Lied sang, begleitet vom leisen Seufzen der Violinen.

Oper. »Das Klagelied der Lady«, wenn ich mich richtig erinnerte.

Das sagte mir drei Dinge.

Daiga hatte einen sehr antiquierten Musikgeschmack.

Daiga wusste, dass ich hier war.

Daiga schiss darauf.

Schlank und in elegante schwarz-rote, wenn auch etwas beschmutzte Kleidung gehüllt, lehnte er mit ausgestreckten Beinen auf einem makellosen Stuhl, sodass sein ganzer Körper den Teppich bedeckte, der auf der feuchten Erde lag. Ein Band aus Tand hing um seinen dünnen Hals, Ringe, zusammengefaltete Briefe, sogar ein Löffel.

Ein ganzer Haufen von Waffen – Schwerter, Speere, Schilde und Armbrüste – umgab ihn wie der Schatz einer großen Bestie. Aber die ganze Zeit war seine Aufmerksamkeit auf den winzigen Tisch gerichtet, der vor ihm stand, und auf das Voccaphon, aus dessen Trichter diese süßliche Opernmusik schallte.

Er schien mich gar nicht zu bemerken. Stattdessen bewegte er sich zur Musik und dirigierte mit seinen behandschuhten Fingern das Orchester in seinem Kopf.

»Ich habe keine besondere Verwendung für die Machenschaften dieser Barbaren in ihrer revolutionären Farce.« Daiga sprach, ohne mich anzusehen, und seine Stimme war so kultiviert, dass sie wahrscheinlich von seidenen Stimmbändern kam. »Kriegswaffen, die nur mit Mühe das bewerkstelligen, was Magie so mühelos vermag. Selbst diese neumodische Vorrichtung ist nichts im Vergleich zu der echten Bühne in Cathama.« Er seufzte, als die Arien-Sängerin eine hohe Note traf. »Aber da man außerhalb des Einflussbereichs der Imperatrix gestrandet ist, ist es schon ein Segen, wenigstens noch ein paar Erinnerungsstücke an die Zivilisation zu besitzen, nicht?«

Ich trat auf den Hof. Es war sinnlos, sich zu verstecken. So dicht vor ihm, wie ich es wagte, blieb ich stehen und warf einen Blick auf das Voccaphon, das seine Musik herausplärrte. Dann zuckte ich mit den Schultern.

»Die Maschine scheppert jedes Mal, wenn die Sängerin einen hohen Ton singt«, antwortete ich. »Sie können eine Armbrust herstellen, die zehn Bolzen in drei Sekunden verschießt, aber sie werden dieses Scheißscheppern niemals beseitigen können.«

»Deine Ausdrucksweise.« Daiga dirigierte weiter sein imaginäres Orchester. »Ich fürchte, du bist schon zu lange hier draußen gewesen. Keine Wertschätzung eines solchen Wunders wie diesem hier. Selbst die schlichte Kultur dieses Landes ist gar keiner Kultur vorzuziehen, richtig?«

Er winkte mit der Hand. Seine Augen hinter der Maske glühten schwach rot. Eine Teetasse erhob sich wie von allein vom Tisch und schwebte in seine Hand. Er trank genüsslich, ohne die Maske abzusetzen, und schnalzte dann mit der Zunge.

»Verzeihung, Madame.«

Mit einem weiteren Winken erhob sich ein weiterer Becher vom Tisch. Er schwebte auf mich zu, und ich nahm ihn. Ich bedankte mich mit einem höflichen Nicken und kostete den Tee. Alter Jasmintee. Dann saßen wir ziemlich lange da und tranken gemeinsam Tee, bevor wir uns daranmachten, uns gegenseitig umzubringen.

»Ich habe nicht erwartet, dass ich hier gefunden werde«, sagte er. Seine Stimme klang feierlich, als spräche er in Gegenwart von Toten. »Zumindest nicht von dir.«

Ich musterte ihn einen Moment lang. »Du kennst mich also.«

»Ich habe Geschichten gehört.«

»Welche Geschichten?«

»Mich interessiert nur eine davon.« Er blickte mich durch die leeren Augen der Opernmaske an. »Warst du wirklich in Vigil?«

Ich nickte. »War ich.«

»Verstehe. Und hast du wirklich das getan, was man dir nachsagt?«

Ich zögerte. »Habe ich.«

»Und jetzt bist du meinetwegen gekommen.« Er wandte den Blick ab.

Das Lied endete mit einem langen letzten Ton, der nur ganz allmählich verklang. Das Voccaphon war am Ende angekommen und gab jetzt nur noch ein leises knisterndes Geräusch von sich. Daigas Hand schwebte in der Luft, gehalten von dieser letzten Note.

Er erhob sich, und ich trat einen Schritt zurück, während ich nach meiner Waffe griff. Aber es wäre nicht klug, sie jetzt schon auf ihn zu richten. Man darf in Gegenwart eines Magus nicht nervös reagieren, schon gar nicht in der eines Magiers wie Daiga. Er hatte sich zu seiner ganzen Größe aufgerichtet, und seine Halskette aus Tand klingelte, als er aufstand. Durch die Augenschlitze seiner Maske starrte er mich an. »Ich habe eine Geschichte gehört, die wissen will, dass du die alten Sitten achtest.«

Das traf nicht immer zu. Diesmal jedoch schon. Ich nickte, schob meinen Mantel zurück und legte den Griff meiner Waffe frei.

Er reagierte, indem er seine langen Gliedmaßen spreizte und sich tief verbeugte, während die leeren Augen mich unablässig anstarrten.

»Wollen wir?«

Menschen wie Daiga trifft man nicht mehr oft. Jedenfalls nicht in der Scar. Die meisten Leute hier, vor allem Männer in seiner Situation, halten sich nicht mehr an die alten Sitten. Heutzutage geht es nur um Hinterhalte, Tricks und Mord. Nur die Vagranten halten sich an den Codex, auch wenn das nicht immer klug ist.

Wir erweisen uns gegenseitig diesen Respekt. Wenn es schon kein anderer tut.

»Ich bin bereit, wenn du es bist«, sagte ich.

»Möge die Lady Merchant den Würdigen belohnen.«

»Ocumani oth rethar.«

Die Worte drangen aus seiner Maske wie ein Donnerschlag. In der Ferne hörte ich ein leises Geräusch, als würde das Schlagen einer Glocke vom Wind herangetragen. Es wurde mit Furcht einflößender Geschwindigkeit lauter, bis der Klang durch meinen Umhang drang, durch meine Haut und in meinem Herz widerhallte. Das Ganze hatte zwei Sekunden gedauert.

In höchstens drei Sekunden hatte ich meine Pistole gezogen, zielte direkt zwischen seine Augen und drückte ab.

Aber diese eine Sekunde war alles, was ein Greifmagus benötigte.

Der Schuss knallte, und helle Funken stoben, dann ertönte wildes Gelächter, das von Metall gedämpft wurde, als etwas das Feuer verschluckte.

Genauer: der eiserne Schild, der vor ihm in der Luft schwebte und von der Flamme geschwärzt war.

Er ließ die Hand mit dem Schild langsam sinken und zeigte sein Gesicht. Ein schwaches Glühen erlosch, als die Zauber dahinter zum Leben erwachten. Der Schild schwebte unmittelbar über seiner Brust, während seine Dämonenfratze mich über den Rand höhnisch betrachtete. Dann hob er die andere Hand. Daraufhin kam Bewegung in die Waffenkisten. Schwerter, Speere, Bajonettgewehre, all das erhob sich wie von allein in die Luft und bildete einen Halo aus Stahl um seinen Kopf. Seine Maske grinste, als ich meine eigene Furcht in Dutzenden von Klingen reflektiert sah.

Jetzt wisst ihr, warum man ihn das Phantom nennt.

Und warum ich um mein Leben rannte.

Ich hörte das Knallen der Armbrüste hinter mir und fühlte, wie die Bolzen an meinem Kopf vorbeizischten. Vor mir erbebte die nasse Erde, als ein langer Speer über meinen Kopf hinwegflog und mich knapp verfehlte, bevor er sich ein Stück vor mir in den Boden grub.

Gerade noch rechtzeitig wirbelte ich herum und schlug in letzter Sekunde mit meiner Klinge das Schwert zur Seite, das auf mich zuflog. Es wirbelte funkenstiebend davon, und schon kam das nächste. Ich parierte einen Schlag der Phantomklinge nach dem anderen und fluchte wie ein Rohrspatz, während Stahl auf Stahl klirrte. Irgendwann war klar: Ich wollte etwas anderes benutzen.

Der Kakophon lag in meiner Hand, und das metallene Blut strömte warm durch den Messingkörper. Gerade als ich die Waffe hob und sie auf das Phantom richtete, wusste ich, wohin Daiga zielte – er hatte es immer auf das Herz abgesehen. Ich musste Kraft aufwenden, um niedriger zu zielen, und drückte ab.

Daigas Schild zuckte hoch. Aber darauf hatte ich gar nicht gezielt. Das Geschoss landete in der Erde unter ihm. Ein blauer Blitz schien die Nacht zu verschlingen. Die Erde wurde weiß. Ein großer Flecken aus Frost blühte in einer halben Sekunde auf. Und in einer weiteren Sekunde zuckten vier Fuß lange Speere aus Eis in einem frostigen weißen Gestrüpp hoch.

Raureif. Es dauerte einen Moment. Aber es lohnte sich.

Fast wäre Daiga davon erwischt worden. Er sprang hoch in die Luft, um den Eisdornen zu entgehen, und schwebte dort. Langsam drehte er sich herum und richtete seinen leeren Blick auf mich.

»Diese Waffe!«, zischte er. Jetzt war jede Spur von Höflichkeit aus seiner Stimme getilgt. »Du!«

»Ich«, bestätigte ich. Mit einer ruckartigen Handbewegung öffnete ich die Trommel, schob eine neue Patrone in die Kammer und hob den Kakophon. »Und er hier.«

Doch Daiga gab mir keine Chance abzudrücken, sondern winkte mit der Hand. Pfeile folgten seinem Befehl, flogen singend von sechs Bögen und zwangen mich, hinter der Barrikade in Deckung zu gehen. Ich warf einen Blick um die Ecke und sah, wie er irgendeinen faulen Zauber arrangierte.

Da! Immer mehr Bögen stiegen auf und ein ganzer Halo von Pfeilen mit ihnen. Aber irgendetwas an ihnen war sonderbar. Über ihr Holz zuckten Adern aus blauem Licht. Ihre Sehnen wurden gespannt, und die Pfeile knisterten in elektrischem Licht.

Moment! Der Gedanke kam mir unvermittelt: Scheiße, er hat Donnerbögen!

Und ich rannte los.

Das Geräusch von Blitzen folgte mir, ein wütender, kreischender Vers. Ein zweiter Vers aus wütendem Stahl und jaulendem Metall folgte. Die Luft kreischte metallen, als Schwerter herangeflogen. Sie wirbelten in großen Bögen herum und versuchten, mich in Stücke zu hacken, während ich mich duckte und zur Seite sprang. Vor mir und hinter mir landeten Speere in einem gewaltigen Regen, verfehlten mein Bein nur um wenige Zentimeter. Greifmagier waren nicht wegen ihrer Genauigkeit gefürchtet. Sie brauchten nicht präzise zu sein, wenn sie so viel Macht hatten wie Daiga.

Mit jeder Handbewegung beförderte er mehr Waffen aus ihren Kisten und lenkte immer mehr von ihnen hauend, stechend und schießend auf mich. Ich musste immer schneller ausweichen. Irgendwann würde ich müde werden oder stolpern, oder er würde mir die ganze verfluchte Festung auf den Kopf werfen. Ich konnte das nicht mehr sehr viel länger durchhalten.

Aber das brauchte ich auch nicht.

Ich kam rutschend zum Stehen und hob meine Pistole.

Gerade rechtzeitig, um den Donnerbogen zu sehen, der hell leuchtete und direkt auf mich zielte.

Donner dröhnte, und ich stieß einen Schrei aus. Ich spürte, wie der Pfeil mich in der Seite erwischte, auf meinen Umhang prallte und mich durch die Explosion zurückschleuderte. Ich rutschte über die Erde, und Dampfwolken stiegen von meinem Körper auf. Die Waffen hingen in der Luft, erwartungsvoll, während Daiga mich beobachtete. Das Grinsen seiner Maske sog förmlich den Anblick ein, wie sein letzter Feind starb.

Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als ich mich aufrappelte.

Schmerz durchströmte mich. Ich keuchte, rang angestrengt nach Luft. Ich war verletzt, aber noch am Leben. Mein Umhang schimmerte, als eine lange Reihe von Buchstaben überall auf ihm sichtbar wurde, bevor sie flackernd erlosch, als ihre Magie erstarb.

Scheißmagie.

»Ein Glücksschrieb-Umhang.« Daiga lachte leise. »Du steckst ja wirklich voller Überraschungen.«

Er klang nicht sonderlich beeindruckt. Warum hätte er auch beeindruckt sein sollen? Er wusste, dass Glücksschrieb-Talismane sehr passend benannt worden waren – sie waren ganz gut, um vielleicht einem Treffer zu entgehen, bevor die Magie in ihnen frisch aufgeladen werden musste. Und er, Daiga, hatte noch sehr viele Treffer im Köcher.

Sein Phantom-Baldachin schwebte um ihn herum, ein Engel mit dornigen Flügeln und einem Halo aus Pfeilen. Aber ich hatte keine Augen für seine Waffen. Sie waren an ihm, hingen gut dreißig Zentimeter über dem Boden. Und direkt hinter ihm glitzerte immer noch der Raureif, dessen Eiszapfen sich ihm gierig entgegenstreckten.

Ich hob meine Pistole. Er richtete seine grinsende Mündung auf das Phantom. Ich drückte ab. Die Kugel flog und explodierte in strahlend rotem Licht. Höllenfeuer detonierte in einer winzigen Explosion und schlug die Schilde zurück. Daiga stieß einen Schrei aus, als das Feuer an seinem Schild vorbeizuckte und an seiner Kleidung leckte. Er stürzte aus der Luft und ließ sich auf den Boden sinken, um den lodernden Flammen zu entgehen.

Erneut zielen, erneut abdrücken. Meine Pistole stieß ein donnerndes Lachen aus, als die letzte Kugel herausflog.

Daiga sah es und riss den Arm hoch. Ein weiterer Schild erhob sich, um die Kugel abzuwehren.

Gut.

Grellrotes Licht flammte auf, gefolgt von einer Mauer aus Geräuschen und Wucht. Diskordanz traf den Schild wie ein verdammter Mauerbrecher und explodierte. Die Mauer aus Metall verhinderte, dass das Geräusch ihm direkt schaden konnte, und schleuderte ihn einfach zurück. Aber das war völlig in Ordnung. Diskordanz brauchte nicht zu töten.

Das war die Aufgabe von Raureif.

Daiga wurde von der Wucht des Aufpralls zurückgeschleudert und stieß einen Schrei aus, der nur eine Sekunde andauerte. Danach hörte ich nur noch das eklige Geräusch, wie Eiszapfen Haut durchlöchern.

Die Waffen hingen noch eine Sekunde länger in der Luft. Dann zitterten sie, sanken tiefer und fielen schließlich klappernd zu Boden. Sie bildeten einen Ring auf der Erde. In deren Mitte Daiga hing.

Aufgespießt.

Er hatte die Arme weit ausgebreitet, und seine Beine hingen schlaff herunter. Sein Körper zuckte. Als er auf den gewaltigen Eiszapfen blickte, der aus seiner Brust herausragte, grinste seine Dämonenmaske unablässig, während sein Blut den Metallschmuck an seiner Halskette rot färbte.

Er blieb dort noch einen Moment hängen, bevor sein Gewicht das Eis brechen ließ. Dann sackte er zu Boden und landete auf den Knien. Dort hockte er und richtete seine hohlen Augenschlitze auf den Boden, während er nach Luft rang und die Hände um den Eiszapfen in seiner Brust legte.

Bevor ich mich ihm langsam näherte, zog ich meine Klinge. Es war nicht klug, ein Risiko bei irgendeinem Magus einzugehen, ganz zu schweigen bei einem, der diesen Eiszapfen aus seiner Brust ziehen und ihn auf mich schleudern konnte. Aber als ich ihn erreichte, sah ich zum ersten Mal die Augen hinter seiner Maske.

Sie waren weit aufgerissen. Und sie verrieten seine Angst.

»Letzte …« Er keuchte und machte eine Pause, in der er rotes Blut durch den Mund seiner Maske spuckte. »Letzte … Worte …«

Ich verzog das Gesicht. Das war es also. Keine letzten Flüche, keine verzweifelten Versuche, nicht einmal ein Flehen. Daiga das Phantom blieb bis zum Ende Gentleman.

Dann nickte ich ihm zu, streckte die Hand aus und nahm ihm sanft die Opernmaske vom Gesicht.

Keine Ahnung, warum ich ihn mir jünger vorgestellt hatte. Ich bin mir auch nicht sicher, warum es sich merkwürdig anfühlte, sein Gesicht zu sehen, ein Gesicht, das meinem Großvater hätte gehören können, wenn wir beide vernünftigere Entscheidungen in unserem Leben getroffen hätten. Ich sah, wie seine müden Augen leuchteten, als der letzte Funke Leben in ihnen aufglühte. Selbst die tätowierten Skeletthände auf seiner Kehle konnten sein sanftmütiges Aussehen nicht mindern.

Und ich bin nicht sicher, warum ich es zuließ, dass er in den Himmel blickte und sprach, während das Blut aus seinem Mund lief.

»Lady … Sei meiner gnädig …« Er unterbrach sich und hustete. »Ocumani … oth rethar.«

Ich legte meine Klinge an seine Kehle. Er schloss die Augen, und ich schloss meine.

»Eres va atali«, antwortete ich flüsternd.