Kriminalroman
„Wie viele Jahre habe ich gewartet? Wie viele Tage? Warum kann ich es nicht einfach vergessen? Aber dieser Hass, dieser elende Hass. Ich muss es tun und ich werde es tun. Nicht kurz und schmerzlos. Leiden sollst du. Ich bin in deiner Nähe. Ich bin näher, als du glaubst.“
*Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Die Personen
Der Autor
Es war einer dieser Abende Anfang Mai, an dem man meinte, den Sommer schon spüren zu können, obwohl man wusste, dass dieser trotz milder Temperaturen noch weit weg war. Es dämmerte bereits, in der Luft lag ein intensiver Geruch von Blüten und feuchtem Waldboden. Heinrich Wolf stellte den Subaru Forester fünf Kilometer hinter Gutfeitzen an dem asphaltierten Wirtschaftsweg ab, dort, wo eine Treckerspur in den Wald führte. Er hängte sich seine alte Mauserbüchse mit dem Lauf nach unten über die Schulter und stapfte mit entschlossenem Blick los. Nach einer Viertelstunde Fußmarsch öffnete sich der Wald und mündete in eine idyllisch gelegene Weide, auf der im Sommer seine Pferde grasten.
Schnaufend stieg er die Leiter zum Hochsitz hinauf, der so aufgestellt war, dass man den Waldrand im Blick und dennoch freies Schussfeld auf die Weide hatte, die nur bei Anwesenheit der Pferde von einem Elektrozaun begrenzt wurde.
Wie viele Stunden, dachte Wolf, hatte er hier schon auf ihn gewartet? Bisher immer vergeblich. Der Bursche war schlau und vorsichtig. Nur einmal war er für Sekunden aus dem Wald herausgetreten, aber sofort wieder verschwunden, ehe der Schütze die Büchse hatte heben können. Ein schwarzer Rehbock, gut vier Jahre alt. Den musste er haben, und was ein Heinrich Wolf haben wollte, das nahm er sich auch. Der Jäger kniff die Augenlider zusammen und stellte die Mauser neben sich.
Das Rascheln war leise, aber Wolf hörte trotz seiner fünfundsechzig Jahre noch immer sehr gut. Im Zeitlupentempo griff er nach der Mauser, ohne den Blick vom Waldrand abzuwenden. Er spürte eine Bewegung, legte die Büchse an und ließ sie enttäuscht sinken, als ein Feldhase auf die Weide hoppelte und kurz darauf wieder in der Deckung verschwand.
Blödes Vieh, dachte Wolf. Dennoch spürte er mit dem Instinkt eines Jägers: Heute Abend würde er ihn kriegen. Irgendetwas Besonderes lag in der Luft.
Er sollte recht behalten. Wenigstens zum Teil. Schon zehn Minuten später war der Moment gekommen, auf den er so lange gewartet hatte. Erst sah er nur den Kopf mit dem auffallend dunklen Fell, dann schob sich der schwarze Bock Zentimeter um Zentimeter aus der Deckung heraus. Komm schon, komm schon, dachte Wolf, zog den Kolben der Mauser vorsichtig an die rechte Schulter, steckte den Finger in den Abzugsbügel und spürte, wie sich kleine Schweißperlen auf seiner Oberlippe bildeten. Nur wenige Sekunden und der Rehbock stand in der idealen Abschussposition. Jetzt gehörte er ihm, dachte Wolf.
In diesem Moment krachte es hinter dem Hochsitz. Kein Schuss, sondern das laute Geräusch eines morschen Astes, der absichtlich über dem Knie gebrochen wird.
Im Bruchteil einer Sekunde war der Bock verschwunden. Heinrich Wolf riss Augen und Mund auf.
„Das ist doch …“, entfuhr es ihm mit heiserer Stimme.
Der Schreck verwandelte sich in Wut. Er drehte sich um und starrte in die Dämmerung, konnte aber nichts entdecken. Die Wut hielt an. Er beugte sich weit aus dem Hochsitz heraus. Jetzt erblickte er die Gestalt hinter der Eiche.
„Was zum Teufel …“, brüllte er und beugte sich noch weiter vor, um besser sehen zu können. Er riss die Augen auf und schluckte. Seine Stimme klang krächzend.
„Was zum Teufel, wer sind Sie …?“
Es war die letzte Frage, die Heinrich Wolf in seinem Leben stellte. Der Pfeil, der sich lautlos durch sein rechtes Auge ins Gehirn bohrte, warf ihn auf den Boden des Hochsitzes.
Der gurgelnde Laut, den er reflexartig von sich gab, hallte durch die Dämmerung wie der eines angeschossenen Tieres.
Ziemlich genau fünf Wochen zuvor saß Kriminaloberkommissar Erik Corvin in seiner Lieblingskneipe „Koslowski“ im Hamburger Stadtteil Ottensen vor seinem dritten Bier und fand das Leben zum Kotzen. Eigentlich war er auf den Namen Enrico getauft worden, weil seine Mutter eine glühende Verehrerin des großen Caruso gewesen war. Der Junge hatte sich mit diesem Namen allerdings nicht besonders wohlgefühlt und darauf bestanden, Erik genannt zu werden. Nur einige Freunde waren bei der Kompromissform Rico geblieben.
An diesem Abend sprudelte es aus Corvin, der eigentlich mehr zur Einsilbigkeit neigte, geradezu heraus, denn der „Koslowski“-Wirt war ein Meister des Zuhörens.
„Ich sage dir, Uli, das war schon immer so in meinem Leben. Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht bei mir immer gleich alles schief. Das ist ein Gesetz.“
Hans-Ulrich Schäfer, Gemütsmensch mit grauem Bart und Äquatortaille, hörte schweigend zu und stellte dabei Gläser aus der Spülmaschine ins Regal.
„Und ich dachte“, sagte er und hielt ein Glas gegen das Licht, „du wärst über die Sache mit Gabi längst hinweg.“
Corvin winkte ab.
„Bin ich ja auch fast. Aber ich musste es über Monate aushalten, dass sie jeden Abend mit einem Riesenhals aus ihrem Büro nach Hause kam, weil ihre neue Cheftusse sie wieder den ganzen Tag tyrannisiert hatte. Und dann rate ich ihr noch, zu einem Coach zu gehen, der ihr sagt, welche Fehler sie macht. Und beteilige mich auch noch an den Kosten.“
Corvin stürzte den Rest seines Bieres hinunter.
„Mach mir bitte noch eins. Wo war ich stehen geblieben? Ach so … und dann kommt sie und sagt, dass der Dominik und sie herausgefunden hätten, dass ich wohl das Hauptproblem sei.“
Uli runzelte die Stirn.
„Dominik?“
„Ja, das ist dieser Coach, mit dem sie in die Kiste gestiegen ist. Jetzt wohnt sie schon bei ihm.“
Uli strich sich über die schütteren Haare.
„So sind die Frauen. Sie kommen und gehen. Mach dir keine Sorgen, die nächste ist schon unterwegs. Hast du denn immer noch Ärger mit deinem Chef? Oh, entschuldige, ich muss mal an Tisch fünf.“
Corvin zog die Augenbrauen nach oben. Und was für einen Ärger er mit dem Chef hatte. Kriminaldirektor Krause! Nur weil er dem Daniels vom Abendblatt nach dem Überfall auf den Juwelier Wenger gesagt hatte, es gäbe noch keine Spur. Nichts ahnend, dass Krause demselben Mann eine Stunde früher erzählt hatte, es gäbe eine heiße Spur, obwohl er genau wusste, dass das nicht stimmte. Den Dienstwagen, den er kurz zuvor zu Schrott gefahren, und die Ohrfeige für einen Randalierer, der eine Kollegin aufs Übelste beleidigt hatte, lagen noch im äußersten Toleranzbereich, aber der war jetzt wohl überschritten.
Uli kam mit einem vollen Tablett geleerter Gläser zurück. Corvin strich sich über seine kurzen dunkelbraunen Haare.
„Ärger mit Krause? Den habe ich permanent. Wir rasseln dauernd aneinander. Er hat mir schon geraten, dass ich meine Versetzung beantragen soll, bevor er das tut.“
Er zog seine Jacke an.
„Kann ich dann mal zahlen?“
Uli nickte.
„Kannste, aber vorher geb ich noch einen Grappa aus. Lass uns darauf trinken, dass alles besser wird. Immerhin hast du ja noch deine Jungs und die Band. Das ist doch was Konstantes.“
Corvins Gesichtsausdruck war immer noch gequält.
„Aber in wenigen Tagen bin ich fünfundvierzig. Und dann sind es nur noch fünf Jahre bis fünfzig. Für jemanden, der Rockmusik macht, keine besonders erotische Zahl.“
„Ach, Rico, mach dir keinen Kopf“, sagte Uli und leerte das Grappaglas in einem Zug. „Solange Keith Richards älter ist als du, kannst du locker weitermachen.“
Corvins Wohnung lag nur zwei Ecken vom „Koslowski“ entfernt. Missmutig schlurfte er durch den nasskalten Märzabend. Hätte er Uli sagen sollen, dass sich die Band auch gerade in der Auflösung befand? Ganz plötzlich war das gekommen. Horst, Bassist und leitender Ingenieur bei der Baubehörde, hatte kaum noch Zeit und die Übungstermine zogen sich mit jedem Mal weiter auseinander. Immer häufiger mussten sie wieder bei Null anfangen. Meistens, so lautete eine alte Musikerweisheit, beginnt das Ende einer Band, wenn der Schlagzeuger mitteilt, er habe jetzt auch mal etwas komponiert.
Bei ihnen war das anders. Tom, dem Drummer, war plötzlich alles zu laut gewesen. Und um den Pegel herabzusetzen, spielte er nur noch ganz leise mit Stahlbesen, sodass die Drums kaum noch zu hören waren. Das sorgte stets für kollektive schlechte Laune.
Dabei waren alle vor Kurzem noch bester Dinge gewesen, hatten ihn wegen seiner Angst vor seinem Geburtstag gehänselt und angekündigt, sie würden ihm einen Rollator schenken. Und nun standen sie vor einem riesigen Trümmerhaufen.
Zu Hause angekommen, schloss er die Tür des großen alten Mietshauses aus der vorletzten Jahrhundertwende in der Friedensallee auf und stellte fest, dass niemand aufgeräumt oder abgewaschen hatte.
„Ist ja auch kein Wunder“, knurrte er, „wenn man plötzlich wieder Single ist.“
Von einer bösen Vorahnung getrieben, eilte er in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Gott sei dank, er hatte sich getäuscht. Eine Dose Bier war noch da.
Gerade, als er den Verschluss aufgerissen und ihn in die Küche gefeuert hatte, klingelte das Telefon.
„Hey, Rico“, hörte er eine fröhliche Männerstimme sagen, „lebst du eigentlich noch?“
Andreas Feindt musste sich nicht mit seinem Namen melden, die Stimme kannte er seit vielen Jahren. Er war der letzte Kindheitsfreund aus dem Wendland, zu dem er noch Kontakt hatte.
„Hey, Andi, hast ja Recht. Ich hatte so viel um die Ohren und nichts Gutes, kannst mir glauben. Ich erzähl dir das mal in Ruhe.“
Erik Corvin war in Dannenberg geboren. Dort war er aufgewachsen und die ersten Jahre zur Schule gegangen. Andi Feindt immer an seiner Seite. Für die Kinder war das Wendland ein wahres Paradies gewesen. Sie hatten in den Elbtalauen gespielt, im Gümser See gebadet und waren durch die endlosen Wälder gelaufen. Keiner hatte sie gestört, denn der Landkreis war damals der dünn besiedelste Teil des Landes und ragte wie eine Nase in das Gebiet der DDR. Durch diese Abgeschiedenheit hatte sich hier eine Natur erhalten, wie sie in Deutschland selten geworden war. Andis Vater war Polizist, ein respekteinflößender Mann. Und so hatten die beiden Jungs beschlossen, dass auch sie zur Polizei gehen wollten.
Doch vorher trennte das Schicksal ihre Lebenswege. Als Erik zehn Jahre alt war, starb sein Vater. Viel hinterlassen hatte er nicht, und weil seine Mutter in Hamburg einen guten Job bei einem Rechtsanwalt in Aussicht gestellt wurde, war sie mit ihm dorthin gezogen. Andi und Corvin sahen sich nur noch selten, ließen aber den Kontakt nicht abreißen, obwohl sie zwei sehr unterschiedliche Charaktere waren. Corvin neigte zur Maulfaulheit und Grübelei und konnte ohne Vorwarnung ausrasten, während Andi fast immer gut gelaunt war, keine Gelegenheit für einen Kalauer ausließ und harten Auseinandersetzungen gern aus dem Weg ging. Während Corvin schlank und sportlich war, hatte Brillenträger Andi ein Faible für Kalorienreiches und kämpfte ständig mit den Pfunden, was seine Lebenslust aber keineswegs dämpfte.
„In Ordnung“, sagte Andi, „erzähl mir alles später. Aber, was mich am meisten interessiert: Hast du immer noch Ärger mit deinem Direktor Krause?“
Corvin lachte. „Ärger ist gut. Der will mich unbedingt loswerden. Hat mir schon mit einer Zwangsversetzung gedroht!“
Jetzt lachte auch Andi. „Das wollte ich hören. Wie gut, wenn man den Feindt zum Freund hat. Ich rufe nämlich an, weil ich dir einen Vorschlag machen will.“
Corvin hatte sich in den alten Ledersessel fallen lassen, der zwar schon ein paar Risse aufwies, aber so herrlich bequem war.
„Dann schieß mal los!“
„Pass auf“, sagte Andi, „ich hatte dir doch vor einiger Zeit von meinem Kollegen, dem Herbert Hanke, erzählt. Der hatte vor einem halben Jahr eine Herzoperation. Ein genialer Spürhund, regt sich aber über jeden Scheißdreck fürchterlich auf. Das macht ihm gesundheitlich schwer zu schaffen und nun hat er den Antrag auf Frühpensionierung gestellt. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Und da habe ich meinem Chef, dem Voss, schon mal von dir erzählt und davon, dass du dich gern zu uns versetzen lassen würdest. Mensch, Rico. Ich fände das super, es sei denn, Gabi hat was dagegen.“
Corvin seufzte.
„Kein Problem, die ist weg, aber wie gesagt, ich erzähle dir alles später ausführlich.“
„Weg? Das haut mich aber um. Egal. Was sagst du zu meiner Idee?“
Corvin seufzte abermals.
„Andi, das ist jetzt alles wahnsinnig viel. Lass mich noch mal eine Nacht drüber schlafen.“
„Okay, dann lass uns spätestens übermorgen telefonieren.“
Warum sagte man eigentlich „eine Nacht drüber schlafen“, wenn man ein Problem lösen muss?, dachte Corvin, als er sich noch nach Stunden ruhelos im halbleeren Doppelbett hin und her wälzte. Sollte er wirklich ernsthaft darüber nachdenken, ins Wendland, in die Provinz, zurückzugehen? Was gab es dort für einen Polizisten überhaupt zu tun? Ermitteln, wer dem alternativen Landwirt die Birkenstocksandalen geklaut hat? Das klang alles nicht sehr aufregend. Wollte er wirklich sein Leben radikal ändern? Hier, im quirligen Ottensen, ging es ihm doch gut. Aber andererseits, wann konnte er das wirklich genießen? Wie oft hatte Gabi mal wieder mit ihm im „Eisenstein“ richtig gut essen gehen wollen? Und dann? Immer kurz vorher kam ein Einsatz. Dann der obligatorische Anruf zu Hause: Tut mir leid, heute Abend wird’s doch nichts.
Aber – auch wenn man es könnte, man tut es nicht. Die meisten Leute, die gern in der Großstadt wohnen, berufen sich auf die vielen Theater, und einige sogar auf die Oper, nur dorthin gehen die wenigsten.
Aber das war für Gabi ganz sicher kein Argument gewesen.
Andererseits liebte er das Wendland. Nicht nur, weil er dort seine Kindheit verbracht hatte. Auch später, wenn er hin und wieder Andi besuchte, gefielen ihm diese wunderbare Landschaft, die Ruhe, die Rundlingsdörfer, die vielen schrägen Vögel, die sich im Zuge des Widerstands gegen ein Endlager in Gorleben niedergelassen und sich mit den dickköpfigen Einheimischen solidarisiert hatten. Irgendwie eine gute Atmosphäre. Und dann merkte er plötzlich, dass seine innere Stimme zu ihm sprach: Dein Leben in Hamburg ist festgefahren, du brauchst einen Neuanfang. Nicht erst im nächsten Jahr – du brauchst ihn jetzt!
Plötzlich saß er kerzengerade im Bett. „Jawohl, jetzt!“, hörte er sich sagen.
Als er am nächsten Morgen in aller Hergottsfrühe zum Bäcker an der Ecke Daimlerstraße ging, war ihm doch etwas mulmig. Im Gegensatz zum Vortag schien jetzt die Sonne und tauchte „sein Ottensen“ in ein freundliches Licht. Irgendwie war es ja doch nett hier, dachte er, als man ihm zum dritten Mal auf dem kurzen Weg einen „Guten Morgen“ wünschte. Eigentlich war es ja auch wie auf einem Dorf, das sich zwischen dem Bahnhof Altona und den beginnenden Villenstraßen der Elbvororte mit einem ganz eigenen Gesicht etabliert hatte.
Auch wenn es abends noch so spät geworden war und er jetzt allein lebte, ließ er es sich nicht nehmen, in Ruhe zu frühstücken. Ein gutes Frühstück stärkt die Seele für den ganzen Tag, hatte seine Mutter immer gesagt, und wenn er ausnahmsweise einmal nicht dazu kam, war ihm, als hätte er vergessen, eine lebenswichtige Medizin einzunehmen. Ach, Mutter, dachte er. Das war jetzt auch schon wieder acht Jahre her, dass sie – gerade mal sechzig – so plötzlich verstarb. Er hätte gern gewusst, ob sie ihm zu- oder abgeraten hätte.
Mal eben um die Ecke gehen und frische Brötchen holen – das würde er auf dem Land nicht haben, dachte er. Da müsste er sich erst einmal ins Auto setzen.
Auch, wenn er selten dazu kam, er liebte es, dass auf seinem Kiez alles so dicht beeinander lag. Seine Lieblingskneipen „Koslowski“, „Aurel“ und „Familieneck“. Die hörenswerte Livemusik in der „Fabrik“, die neuesten Filme in den „Zeise-Kinos“, der Wochenmarkt auf dem Spritzenplatz, alles konnte man in wenigen Minuten zu Fuß erreichen.
Kurz vor dem Haus in der Friedensallee, wo seine Wohnung im ersten Stock lag, blieb er mit seiner Brötchentüte in der Hand stehen und schaute in beide Richtungen. Und wieder kamen ihm Zweifel, ob er das hier wirklich aufgeben sollte.
Er schüttelte den Kopf, so, als wolle er etwas abwerfen. Nun sei nicht so sentimental, sagte er zu sich selbst. Du ziehst ja nicht nach Timbuktu, sondern eineinhalb Autostunden in südöstliche Richtung. Reiß dich zusammen – der Neuanfang ist beschlossen!
Andi Feindt war begeistert.
„Mensch, Rico, das ist super. Und eine Unterkunft habe ich auch schon für dich. Mein Onkel Hermann aus Waddeweitz ist doch letztes Jahr gestorben. Und nun wohnt Tante Frieda ganz allein in dem riesigen Haus. Die ist achtzig und wäre erleichtert, wenn wieder ein Mann im Hause lebt. Und der Mietpreis liegt wohl irgendwo im Bereich des Symbolischen. Ich werde jedenfalls Himmel und Hölle in Bewegung setzen, dass du die Stelle bei uns kriegst.“
Tatsächlich ging die Versetzung von Hamburg nach Niedersachsen reibungsloser über die Bühne, als Corvin es befürchtet hatte. Zwar dauerte die gesamte Bürokratie noch einige Wochen, doch da sich auf seinem Überstundenkonto eine beträchtliche Anzahl freier Tage angesammelt hatte, konnte er sehr viel früher seinen Arbeitsplatz räumen und hatte noch genug Zeit, seine privaten Angelegenheiten zu regeln. Das war relativ einfach, denn die meisten Möbel gehörten Gabi, sein Hab und Gut passte in drei Koffer, eine Reisetasche und einen Umzugskarton. Nicht zu vergessen der Gitarrenkoffer mit seiner Original Fender Stratocaster. Einen Nachmieter für eine noch günstige Wohnung im angesagten Stadtteil Ottensen zu finden, war ebenfalls ein Kinderspiel.
Und so verstaute der Polizeioberkommissar Erik Corvin eine Woche nach seinem fünfundvierzigsten Geburtstag an einem kühlen und verregneten Donnerstag um zehn Uhr seine Habseligkeiten in seinem alten Mercedes Kombi und verließ sein altes Leben in Richtung Südosten.
Tolstefanz, Meuchefitz, Salderatzen, Waddeweitz – Corvin lächelte, als er im Vorbeifahren die ihm wohlbekannten Namen auf den Wegweisern las. Heimatliche Gefühle stiegen in ihm auf. Immerhin war sein Familienname auch identisch mit einem Dorf im südwestlichen Wendland. Jeder, der zum ersten Mal hierher kam, stolperte über diese seltsamen Ortsnamen, deren Ursprung im Wendischen lagen. Wissenschaftlich genau hieß diese Sprache Dravänopolabisch, aber die beherrschte hier schon lange kein Mensch mehr, lediglich die Ortsnamen waren geblieben.
Der Hof von Hermann und Frieda Schulz in Waddeweitz stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert und bestand aus dem riesigen Haupthaus, einer großen Scheune und zwei Stallgebäuden. Die umfangreichen Ländereien waren verpachtet. Die Auffahrt und der Hof waren mit kleinen unbehauenen Feldsteinen gepflastert, mit dünnen Sohlen oder hohen Absätzen kaum begehbar.
Der Regen hatte aufgehört und die Sonne kroch wieder hinter den Wolken hervor, als er langsam die Auffahrt hinauffuhr, an den vier großen Kastanien hielt und den Motor abstellte.
Als hätte sie dort bereits auf ihn gewartet, erschien Frieda Schulz in der Tür. Corvin schaute sie erstaunt an. Wie eine Achtzigjährige wirkte sie nicht. Sie trug weite, ausgeblichene Jeans und einen geräumigen blauen Pullover, denn sowohl im Sommer als auch im Winter war es im Haus immer gleichmäßig kühl. Die silbergrauen Haare hatte sie straff zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, durch ihre randlose Brille blitzten zwei wache Augen.
Er machte eine angedeutete Verbeugung.
„Guten Tag, Frau Schulz, ich bin Erik Corvin. Als Sie mich das letzte Mal gesehen haben, war ich zehn Jahre alt. Ich denke doch, Andi hat alles mit Ihnen besprochen.“
Frieda Schulz blickte ihn prüfend an.
„Pass mal auf, mein Junge, ich bin nicht Frau Schulz, ich bin Tante Frieda. Du weißt doch, das sagen hier alle. Ich bin zwar eine alte Frau, aber mein Gedächtnis funktioniert noch und ich kann mich gut an dich erinnern. Und auch an deine Mutter. Wie oft haben wir zusammen auf dem Sofa gesessen und die alten Platten von Caruso gehört. Gott, war das schön. Es ist so traurig, dass sie so früh gehen musste. Aber jetzt komm erst mal rein, ich habe gerade Kaffee gemacht. Dein Zimmer ist auch schon fertig.“
Und dann saßen sie in der großen Küche mit den schwarz-weißen Fußbodenfliesen, den dunklen Eichenbalken und der laut tickenden Wanduhr an dem langen Tisch und tranken Kaffee. Tante Frieda erzählte von dem arbeitsreichen, aber schönen Leben, das sie und ihr Hermann gehabt hatten, und dann plötzlich im letzten Sommer dieser Infarkt und wie er nicht wieder aufgewacht war.
„Im Krankenhaus“, fügte sie bedauernd hinzu. Sein Vater sei ja zu Hause gestorben, und als sie den Sarg hinausgetragen haben, hätten sie die Türschwelle angehoben und ihn darunter durchgeschoben. Das sei das sicherste Mittel, damit der Verstorbene nicht als „Düwwelsüger“, eine Art wendländischer Vampir, zurückkehre und das Blut der Verwandten aussauge.
Da sie das mit ernstem Gesicht erzählte, wagte Corvin nicht zu grinsen, und plötzlich fiel ihm ein, wie seine Mutter ihm als Kind erzählt hatte, dass ein ganz spezieller Aberglaube im Wendland immer noch existierte. Einige legten heimlich eine geöffnete Schere mit den Klingen nach außen auf einen Balken, damit das Böse draußen blieb.
„Wann fängst du denn an mit deiner neuen Arbeit?“, fragte Tante Frieda.
Corvin zuckte mit den Schultern.
„Weiß ich noch nicht. Ich gehe heute erst einmal dorthin und sage, dass ich da bin.“
Tante Frieda nickte.
„Gut. Aber fang nicht an einem Donnerstag an. Das bringt Unglück.“
Werner Voss streckte die Hand aus, lachte und zeigte seine neuen Zähne, die er sich dank seiner Privatversicherung als Beamter hatte leisten können.
„Mein lieber Corvin, schön, dass Sie schon mal vorbeischauen. Wir freuen uns, bald einen so erfahrenen Kollegen an unserer Seite zu haben.“
Er schüttelte Corvins Hand so intensiv, als wolle er prüfen, was dessen Gelenke alles aushielten.
„Aber noch bin ich da!“, knurrte Herbert Hanke, der wegen seiner Herzprobleme Antrag auf Frühpensionierung gestellt hatte.
„Ist ja gut, Herbert“, mischte sich jetzt Andi Feindt ein. „Du tust ja so, als wollte er dir den Job wegnehmen. Er soll dich doch ersetzen. Aber ich fürchte, das schafft er nicht. Jeden Tag so schlechte Laune zu haben wie du, ist einfach nicht zu toppen.“
Hanke lief rot an und wollte etwas entgegnen, kam aber nicht dazu, weil Werner Voss sofort eingriff.
„So, meine Herren. Jetzt haben wir genug Ironie versprüht. Ich glaube, wir haben jede Menge zu tun.“
Dann wandte er sich wieder an Corvin.
„Die Zahl der Einbrüche ist in den letzten drei Monaten dramatisch angestiegen. So viele haben wir sonst das ganze Jahr über nicht.“
Er wandte sich ab, drehte sich aber gleich wieder um.
„Ach so, mein lieber Corvin, könnten Sie uns wohl einen Gefallen tun? Vor gut einer Stunde hat uns eine etwas verwirrte Dame einen Einbruch gemeldet. Von uns hat im Moment keiner Zeit und Sie fahren doch nach Waddeweitz an Gutfeitzen vorbei. Können Sie sich die Sache mal ansehen und uns dann einen kurzen Bericht geben? Wir sehen uns dann in der nächsten Woche am ersten.“
„Klar doch“, sagte Corvin, „dann geben Sie mir mal die Adresse der Verwirrten.“
Gutfeitzen war eines dieser typischen Wendlanddörfer: im Kern der Rundling und die im Kreis um den Dorfplatz aufgereihten Fachwerkhäuser, dahinter die Höfe und Ackerflächen wie Tortenstücke nebeneinander. Auch an der Zugangsstraße hatten sich später einige Höfe angesiedelt. Das Dorf zählte rund achtzig Einwohner, Tendenz fallend.
Das Haus, in dem eingebrochen worden war, stand, vom Dorfplatz aus gesehen, als letztes an der Zugangsstraße. Offenbar eine Kossaterstelle. So bezeichnete man die kleineren Häuser, in denen früher Leute gewohnt hatten, deren Land für den Lebensunterhalt nicht reichte und die als Tagelöhner bei den größeren Bauern arbeiten mussten.
Corvin schaute auf seinen Zettel.
„Vanessa van Steen“, murmelte er. „Dann wollen wir doch mal sehen.“
Der Vorgarten war total verwildert. Offenbar hatte hier vor einiger Zeit jemand versucht, Blumenbeete anzulegen, doch Giersch und Brennesseln hatten dies inzwischen erfolgreich verhindert. An der Eingangstür, deren taubenblaue Farbe sich nach Wind, Wetter und Sonne in kleinen Streifen kringelte, war kein Klingelknopf zu finden. Corvin machte eine Faust und klopfte mit den Knöcheln an das Holz.
„Hallo, jemand zu Hause?“
Keine Reaktion. Er zuckte mit den Schultern und begann, um das Haus herumzugehen. Auch hier waren die Wege mit Natursteinen gepflastert. Aber nicht wie bei Tante Frieda mit penibel entkrauteten Zwischenräumen und Fugen. Hier waren noch die braunen Überreste von Gräsern und Kräutern zu erkennen, deren neue Triebe sich gerade dazu aufmachten, ungestört bis zu Knöchelhöhe heranzuwachsen.
Hinter dem Haus sah es ähnlich aus, nur, dass hier noch leere Kisten und Kästen sowie ein Arsenal von Farbdosen durcheinander lagen. Eine junge Frau mit einem dunklen Lockenkopf war gerade dabei, rote Farbe mit einer Art Quirl, der von einer Bohrmaschine betrieben wurde, kräftig durchzumischen.
Sie trug eine von Farbklecksen übersäte blaue Latzhose, darunter ein kariertes Baumwoll-Männerhemd, das ein ähnliches Muster aufwies. Da sie Corvin den Rücken zuwandte, räusperte er sich und sagte laut: „Guten Tag, Corvin, Polizei Dannenberg!“
Die Angesprochene fuhr herum, stieß einen Schrei aus und riss dabei die Farbdose vom Tisch. Der Inhalt ergoß sich über ihr linkes Bein und den dazugehörigen Fuß. Da sie die Bohrmaschine nicht abstellte und den Quirl aufrecht hielt, verteilte sich der letzte Teil der Farbe auf dem Rest ihrer Kleidung, dem Unkraut, den Wänden und Fenstern sowie auf der dunklen Lockenpracht der Künstlerin und Corvins neuer Jacke im Antikleder-Look.
„Machen Sie doch endlich das Ding aus“, stieß er ärgerlich hervor.
Die Künstlerin stellte den Quirl ab, verharrte aber mit aufgerissenen Augen.
„Nicht bewegen. Bleiben Sie so.“
Sie griff in die geräumige Tasche ihrer Latzhose, zog ein Smartphone heraus, stellte auf Kamera um und schoss ein Foto nach dem anderen.
„Fantastisch, einfach fantastisch!“
Corvin wischte sich etwas Farbe von der Nase.
„Was ist fantastisch?“
Der Lockenkopf machte ein verzücktes Gesicht.
„Diese Komposition, die sich selbst geschaffen hat. Das ist Kunst, das ist die wahre Kunst! Autonom und nicht beeinflussbar!“
Corvin deutete auf seine Jacke.
„Ich hoffe, Sie beherrschen auch die autonome Kunst, dies wieder sauber zu kriegen.“
Die Verzückte wurde wieder weltlich und etwas schnippisch.
„Machen Sie sich keine Sorgen, die Farbe ist wasserlöslich.
Wer sind Sie eigentlich?“
Corvin versuchte, cool zu wirken.
„Sie haben mich gerufen. Corvin. Polizei Dannenberg.“
Vanessa van Steen machte einen schnippischen Mund.
„Ich habe überhaupt niemanden gerufen, das war meine Nachbarin. Ich war für ein paar Tage verreist.“
Sie verschwand im Haus und kam kurz darauf mit heißem Wasser in einer Schüssel und einem Schwamm wieder heraus.
„Geben Sie mir mal Ihre Macho-Jacke.“
Corvin zog die Jacke aus und die Künstlerin begann, mit kreisenden Bewegungen die Farbe abzuwaschen.
„Bitte sehr!“
Er nickte.
„Und jetzt zeigen Sie mir mal, wie der Täter ins Haus gekommen ist.“
„Hier durch die Küchentür. Da ist zwar ein neuer Zylinder drin, aber das ist ein altes Kastenschloss ohne Schließblech. Da ist nur ein alter Bügel mit kleinen Schrauben in der Zarge. Den kann man mit einem großen Schraubenzieher leicht herausbrechen. Und das hat er auch gemacht.“
Corvin schaute sie verblüfft an.
„Sie kennen sich ja gut aus.“
Vanessa zog die Augenbrauen hoch.
„Ich arbeite nicht nur zweidimensional, mein Herr, ich schaffe auch Objekte. Ich verfremde Gebrauchsgegenstände aus allen Materialien, dazu gehören auch Schlösser. Mein Objekt ‚Schließmuskel‘ wurde letztes Jahr in einer Sammelausstellung in Großburgwedel gezeigt.“
„Interessant“, sagte Corvin. „Kann ich mich jetzt mal innen umsehen?“
Im Haus musste man sich vorsichtig bewegen, denn auf jeder verfügbaren Abstellfläche inklusive des Fußbodens herrschte ein wüstes Durcheinander. Kisten, Kästen, Farbtuben, ein ausgestopfter Uhu, rostige Eisenteile, eingetrocknete Pinsel, undefinierbare Textilien, bemalte und unbemalte Leinwände. Dazwischen Tassen, Gläser und benutzte Teller.
„Sieh mal an“, sagte Corvin, „da hat Ihr Besuch aber ein ganz schönes Chaos hinterlassen.“
Vanessa schaute ihn erstaunt an.
„Bitte? Nichts hat er angerührt. Alles ist an seinem Platz. Sonst würde ich ja auch nichts mehr wiederfinden.“
Oder, dachte Corvin, er hatte gemeint, ein Kollege sei ihm zuvorgekommen, und war wieder gegangen.
„Und Sie vermissen wirklich nichts?“
„Nein, alles ist an seinem Platz!“
Er zog seinen kleinen schwarzen Block aus der Tasche.
„Trotzdem. Es handelt sich nun mal um einen Einbruch. Die Ermittlungen werden auf alle Fälle eingeleitet.“
Vanessa wendete sich ab.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber mich entschuldigen Sie jetzt bitte. Ich habe zu arbeiten.“
„Sehr gerne“, sagte Corvin, griff nach seiner inzwischen wieder trockenen Jacke und eilte davon, um nicht ein zweites Mal Teil eines Kunstwerks der Vanessa van Steen zu werden.
Nachdenklich stieg er in seinen alten Mercedes. Wieder kamen ihm Zweifel. War das wirklich die richtige Entscheidung gewesen, als Polizist ins Wendland zurückzukehren? Oder hätte er doch lieber in Hamburg bleiben sollen? Mach dir keinen Kopf, sagte er zu sich selbst und fuhr mit Tempo sechzig über die Bundesstraße 248 in Richtung Lüchow.
Tante Frieda war offensichtlich ausgegangen. So ganz genau konnte man es aber nicht erkennen, denn bei der Größe des Hauses war die einzige Bewohnerin nur schwer auffindbar und außerdem schloss sie nie die Tür ab, wenn sie den Hof verließ.
„Erstens“, pflegte sie zu sagen, „wissen die Nachbarn immer, ob ich da bin oder nicht, und eine fremde Person, die hier niemand kennt, wird zweitens sofort registriert und zur Rede gestellt.“ Dass die Einbrüche in letzter Zeit auch im Wendland zugenommen hatten, ließ sie nicht gelten. „Wenn ich nicht abschließe, kann auch niemand einbrechen. Wertsachen habe ich nicht oder glaubst du, sie nehmen meinen zwanzig Jahre alten Fernseher mit?“, argumentierte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Zum Teil musste Corvin ihr recht geben. Die Nachbarschaftshilfe in den Dörfern des Wendlands war fester Bestandteil des Lebens und hatte Tradition. Als die Ernte noch reine Handarbeit war, hätten die Bauern Getreide und Kartoffeln kaum in die Scheunen bekommen, wenn nicht das ganze Dorf mitgeholfen hätte. Was die Zugereisten anfangs oft als Neugierde interpretierten, war echte Anteilnahme. Die Familien kannten sich über Generationen, oft wussten die Älteren mehr über die Geschichte der Nachbarsfamilie als die später Geborenen. „Dein Großvater hat in so einem Fall immer gesagt …“ war ein oft gehörter Satz und beendete manche Meinungsverschiedenheit abrupt. Und wenn eine helfende Hand gebraucht wurde oder eine besondere Fachkenntnis von Nöten war, musste man nicht lange bitten. Der geeignete Nachbar war sofort zur Stelle und erwartete keineswegs, dass er für seine Tätigkeit auf irgendeine Weise entlohnt wurde. Nur, dass nach getaner Arbeit beim Helfer ein Durstgefühl aufkam, das musste auf alle Fälle verhindert werden.
Erst hörte Corvin das leise Vibrieren auf der Platte des Nachtschrankes, dann den Gitarrenriff von „Smoke on the water“, den er sich vor wenigen Tagen als Klingelton heruntergeladen hatte und der ihn immer noch erstaunte.
Andi war am anderen Ende. Er klang ausnahmsweise mal ernst.
„Rico, kannst du heute noch herkommen? Wir haben tatsächlich einen Mord. Spaziergänger haben einen toten Jäger im Wald auf einem Hochsitz entdeckt. Einzelheiten erzähl ich dir später.“
Corvin räusperte sich.
„Müsst ihr das nicht erstmal nach Lüneburg melden?“
„Haben wir längst. Die Spurensicherung ist auch schon vor Ort.
Hanke hat das alles so aufgeregt, dass er wieder einen Herzanfall bekommen hat und mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht wurde. Ich glaube, den sehen wir hier nicht wieder. Die Lüneburger haben gesagt, wir sollten uns erst einmal selbst darum kümmern, und Voss hat geprahlt, wir hätten jetzt sowieso jemanden aus Hamburg, für den Mord reine Routine sei. Also: Das ist jetzt offiziell ein Fall für uns beide, komm bitte so schnell du kannst.“
„Bin gleich da“, sagte Corvin.
Im Flur prallte er mit Tante Frieda zusammen.
„Warum so eilig, junger Mann?“
Corvin drehte sich kurz um.
„Ich muss sofort nach Dannenberg. Es gibt Arbeit.“
Tante Frieda machte ein besorgtes Gesicht.
„Das ist ärgerlich. Erstens habe ich frischen Apfelkuchen gebacken und zweitens ist heute Donnerstag. Kein guter Tag für einen Anfang.“
„Also“, sagte Andi Feindt und räusperte sich. „Der Ermordete heißt Heinrich Wolf und war Landwirt in Gutfeitzen.“
„Gutfeitzen? Da war ich doch gerade“, unterbrach ihn Corvin. „Scheint ein Zentrum wendländischer Kriminalität zu sein. Egal. Also, Mord sagst du? Kein Unfall oder Selbstmord?“
Andi schüttelte stumm den Kopf. „Mit einem Gewehr oder einer Pistole geht das, aber wohl kaum mit Pfeil und Bogen.“
Corvin starrte ihn fassungslos an. „Wie bitte? Du willst sagen, der Mann wurde mit einem Pfeil getötet? Geht das überhaupt?“
„Natürlich geht das. Ich bin zwar kein Fachmann, aber mit einem modernen Bogen haben Pfeile eine enorme Durchschlagskraft. Ein Freund erzählte neulich …“
Corvin hob die Hand.
„Danke für die Nachhilfe. Und? Hat die Spurensicherung den Pfeil gefunden?“
„Nein“, sagte Andi, „der Mörder hat ihn offenbar wieder rausgezogen und mitgenommen. Aber, dass es ein Pfeilschuss war, ist eindeutig.“
„War er denn sofort tot?“
„Das wird noch überprüft. In Amerika hat es einen Fall gegeben, da hat einer mit einem Pfeil im Kopf noch den Schützen niedergeschlagen. Erst dann ist er gestorben.“
„Andi, nun komm zur Sache. Gibt es sonst noch Spuren?“
„So gut wie keine, außer …“
„Was, außer …?“
„Naja, er hatte einen kleinen Zweig mit Eichenlaub zwischen den Zähnen. Im Jagdjargon nennt man sowas ‚den letzten Bissen‘, früher oft auch ein Zeichen der Inbesitznahme des Jägers. Kann aber auch ein Zufall sein. Neben dem Hochsitz steht ja eine Eiche.“
„Sonst nichts?“
„Leider nicht. Der Mörder muss das gut vorbereitet haben. Dann hat es in der Nacht noch ziemlich gegossen, was die Sache auch nicht einfacher macht. Ich lasse gerade mal seine Telefonverbindungen der letzten drei Monate auflisten. Handy, Festnetz, E-Mail – das ganze Programm.“
Corvin schüttelte ungläubig den Kopf.