Über das Buch

»Eine so lebendige Stimme, unvorstellbar, dass sie in Vergessenheit geraten konnte.«
EVENING STANDARD

Übermütig, rasant und mit bitterbösem Humor erzählt Banine ihre eigene Geschichte, die Geschichte einer jungen Frau, die sich dem Leben genau dann am schwungvollsten entgegenwirft, als ihre Welt völlig aus den Fugen gerät.

INHALT

Teil I

Teil II

Kurzer Abriss der Geschichte Aserbaidschans zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Ein vergessenes Leben Nachwort von Olga Grjasnowa

I

13

In der unabhängigen Republik Aserbaidschan ging es hoch her. Eine Delegation des Landes im Werden machte sich auf nach Genf, und die Republik wurde de facto anerkannt, wenn auch nicht de iure. Baku war denkbar nationalistisch, wenn nicht gar chauvinistisch, ganz wie es sich für die Hauptstadt eines frischgebackenen Landes ziemt. Manche Parteien beharrten auf der Tradition, andere strebten nach »Fortschritt und Emanzipation für alle«. Letztere forderten die Schulbildung für Frauen und bedauerten ihren Ausschluss aus dem öffentlichen Leben. Der nahm in der Tat erstaunliche Formen an: Im Nationaltheater von Baku zum Beispiel, wo oft Opern auf Aserbaidschanisch aufgeführt wurden, konnte man Desdemona hören, die – das Gesicht bläulich von einem unausrottbaren Bartschatten, die Augenbrauen buschig und die Arme muskelbepackt – auf Othellos leidenschaftliche Rede mit energischer Männerstimme antwortete; schulterlange Locken und üppige falsche Brüste waren die einzigen Versuche, die fehlende Weiblichkeit ostentativ wettzumachen.

Die blutjunge Hauptstadt war quirlig und lebhaft, wozu die zahlreichen Emigranten aus dem revolutionären Russland beitrugen. Jeder, der eine Verbindung zum Kaukasus hatte (und auch jene, die keine hatten), suchte hier Zuflucht und wartete auf das Ende der Revolution, bloß eine Frage von Monaten, wie alle dachten. »Bis die Bolschewiken wieder weg sind«, hörte man diese vorausschauenden Menschen immer wieder sagen, gefolgt von der Mitteilung, was sie dann tun würden. In Erwartung dieses garantiert binnen Kurzem eintretenden Ereignisses lieh sich jeder so viel Geld, wie er konnte, und vergnügte sich nach Kräften.

Unser Haus stand mittlerweile vielen offen, am laufenden Band empfingen wir Gäste. Unter den vielen jungen Männern, die bei uns verkehrten, fand sich immer einer, der unserer kollektiven Liebe würdig war. Jedes Mal verliebten wir uns in derselben bewährten und strikt eingehaltenen Reihenfolge: erst Suleyka, dann Süreya, dann ich, sobald ich Wind von der Sache bekam. Innerhalb einer Saison verliebten wir uns im Kollektiv in einen russischen Musiker, einen jungen Balten und einen schwedischen Ingenieur. Unser Geschmack war vielfältig, unsere Herzen waren flatterhaft.

Im Frühjahr lernten wir einen jungen Offizier kennen, Murat, der jede vorherige Verliebtheit in den Schatten stellte: erstaunlich dichte Augenbrauen, eine breite, mit Orden dekorierte Brust und ein so scharfsinniger Geist, dass er allgemein gefürchtet war. Wie sollte man seinem Charme widerstehen? Keiner von uns gelang es, und so verdrehte er einer nach der anderen den Kopf.

Er war persischer Abstammung, hatte jedoch die aristokratischste Schule Petersburgs besucht, an der er aufgrund seines adligen Blutes zugelassen wurde. An dieser Schule lernten die militärischen Größen von morgen ihren Beruf, indem sie die Bücher in ihre behandschuhten Hände nahmen, »um sich nicht bei der Berührung zu beschmutzen« (Lesen, Lernen überhaupt, stellte eine Anstrengung dar, und Anstrengung war etwas für Domestiken und nicht für junge Herren); sie banden sich die Seidenstrümpfe ihrer Mätressen um den Hals, betranken sich regelmäßig und verwendeten ihre ganze, oft große Intelligenz darauf, eine hochkomplexe Satzung auszuarbeiten, in der die ebenso grausamen wie unsinnigen Initiationsriten festgehalten wurden, die jüngere Schüler auf dem Weg nach oben durchlaufen mussten. Murat hatte sich mit sechzehn freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und so todesmutig gekämpft, dass er mehrfach ausgezeichnet worden war. Dann setzte die Revolution seiner militärischen Laufbahn ein Ende und er zog mit seinen Eltern nach Baku, zu ihren vielen Verwandten. So lernten wir ihn kennen.

Meine, ach was, unsere Leidenschaft für ihn war heftig und für zwei Drittel der verliebten Gesellschaft vergebens. Für mich bestand am wenigsten Hoffnung, um nicht zu sagen gar keine, und ich wusste es. Ich liebte umsonst, wie immer, doch ich liebte darum nicht minder. Da ich ohnehin keine Aussicht hatte, je mit Murat allein zu sein, behalf ich mir mit einer armseligen List, um meine Leidenschaft zu stillen: Wenn er uns besuchte, schlich ich zur Garderobe, fand mit einem raschen Blick unter allen Kopfbedeckungen seine Offiziersmütze, presste sie an mein dreizehnjähriges Herz und bedeckte sie mit glühenden Küssen, vor allem die Kappe, deren zarter Duft mir wahrhaft berauschend vorkam.

– Liebe Mütze, sagte ich zu ihr, als wäre sie lebendig, sag Murat, dass ich ihn liebe. Wenn er wollte, würde ich ihn glücklich machen.

Und ich sagte ihr noch manch andere Dinge. Vielleicht übermittelte sie ihm manchmal sogar meine Geständnisse, denn ich war für Murat kein Pflasterstein wie für den georgischen Adligen vor ihm. Hin und wieder sah er mich an, sprach sogar ein paar Worte mit mir, allerdings mit seinem sarkastischen Unterton, der mich zugleich erschreckte und bezauberte. Er schien zu ahnen, dass wir alle drei in ihn verliebt waren, und ich glaube, es amüsierte ihn. Doch oft sprach er nicht mit mir – Suleyka gab acht und nahm ihn ständig in Beschlag. Wenn sie ihn versehentlich einen Augenblick in Ruhe ließ, war sofort Süreya zur Stelle. Entmutigt verzog ich mich in meine Ecke. Bei großen Empfängen durfte ich nicht dabei sein, bei Mahlzeiten im kleinen Kreis wurde ich ans andere Ende des Tisches verbannt und fühlte mich wie Aschenputtel – mir wurde wirklich alles verboten: der Flirt, die Liebe, die Hoffnung.

Heute noch denke ich ungern an diese Zeit zurück: Mein Alter entsprach in keiner Weise meiner körperlichen und seelischen Entwicklung, doch weil ich einige Jahre jünger war als meine Schwestern, wurde ich wie ein kleines Kind behandelt. Fast wie mein Bruder und mein Neffe, die ich deshalb beide mit derselben Inbrunst hasste. Wenn sie in ihrem kindlichen Eifer zu mir stürmten, wandte ich mich voll Abscheu ab, so sehr schmerzte es mich, mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden, obwohl ich sämtliche Werke von Mirbeau und Maupassant gelesen und die Privatschule meiner Cousins durchlaufen hatte.

Unter einer Sache litt ich besonders: früh ins Bett gehen zu müssen, was umso grausamer war, als ich unter hartnäckiger Schlaflosigkeit litt. Aus den Empfangssalons drangen von fern Musikfetzen, Stimmengewirr, Gelächter, und ich wälzte mich in meinem Bett herum, manchmal sogar bis ich weinen musste, vor Wut, aus Müdigkeit und Trotz. Es kam mir lächerlich vor, allein in diesem tristen Zimmer eingesperrt zu sein, statt mich mit den anderen zu vergnügen.

Doch ich litt allein, während Süreya und Suleyka so taten, als wären sie schon erwachsen. Zudem bekam ich, sei es wegen der unruhigen Zeiten, sei es aus reiner Nachlässigkeit, keinen regelmäßigen Unterricht mehr und fühlte mich ohnmächtig. Zum Glück hatte ich einen Trost, dem ich mich immer öfter zuwandte – mein Klavier. Ich verbrachte die Tage mit Etüden, schwärmerischen Tagträumen und Lesen.

Ich wäre weniger einsam gewesen, wenn ich mich Fräulein Anna anvertraut hätte, die uns unvermindert liebte, doch davon wollte ich nichts wissen. Statt mit meinem Leid zu ihr zu gehen, entwickelte ich zu jener Zeit sogar Abscheu vor ihr. Längst hatte sie jede Macht über uns verloren. Leyla, Ehefrau und Mutter, war beleidigt, wenn sie ihr Ratschläge gab; Süreya und Suleyka, immer noch in Aminas Bann, fanden Fräulein Anna altmodisch, ihre Moralvorstellungen öde und jagten die häuslichen Tugenden zum Teufel, die die arme Frau uns vergeblich einzutrichtern versuchte. Fräulein Anna missbilligte Süreyas und Suleykas Verhalten und ihre Manieren, doch gegen die höhere Instanz, die die berühmte »Emanzipation für alle« ausgerufen hatte, konnte sie nichts ausrichten – meine Schwestern folgten Aminas Beispiel.

Weil Fräulein Anna sich nicht an die vielen Neuerungen gewöhnen konnte, entfremdeten wir uns vollends. Die letzten Jahre in der Familie waren schwierig für sie; man behandelte sie fast wie ein Dienstmädchen, und wenn ihre Meinung überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, dann nur, um sie zu verspotten. Wahrscheinlich war ich am gemeinsten von allen; ich war mit den Babys, ihren njanjas (Kindermädchen auf Russisch) und Fräulein Anna eingesperrt, und die behielt uns alle scharf im Auge, weshalb sie – durch einen grausamen Logikfehler – zum Symbol dessen wurde, was ich zu jener Zeit am meisten verabscheute: die Kindheit. Ich sprach in einem flegelhaften Ton mit ihr und triumphierte, wenn ich sie zum Weinen brachte, was bei dieser armen, dünnhäutigen Frau leider ein Leichtes war. Doch manchmal hatte ich nagende Gewissensbisse und mein Herz war voll Zärtlichkeit, denn ich wusste, ich hatte ihr viel zu verdanken. Für gewöhnlich überkamen mich meine gütigen Momente in schlaflosen Nächten, wenn ich mich unruhig im Bett hin und her wälzte; dann dachte ich an meinen Krach mit Fräulein Anna zurück, durchlebte ihn noch einmal und fing selbst an zu weinen, aber vor Scham, und wollte schnell zu ihr laufen, um ihr meine Zuneigung zu gestehen, die unter der harten Schale der oberflächlichen Gefühle schlummerte … Doch ich tat nichts dergleichen, und am nächsten Morgen ging ich wieder mit der ganzen Palette meiner Gemeinheiten zu Werke.

Armes, vom Schicksal und von den Menschen ungerecht behandeltes Fräulein Anna. Zum Dank für zwei aufopferungsvolle Jahrzehnte erntete sie nichts als Enttäuschung und Erniedrigung: Nur Allah könnte uns das Rätsel der Ungerechtigkeit erklären.

Doch zurück zu Murat. Während ich mich in Gesellschaft der Kleinen zu Tode langweilte, festigten sich seine Absichten. An anfangs zarten, dann immer deutlicheren Hinweisen erkannten wir, dass Süreya seine Auserwählte war – die Auserwählte fürs Leben, denn Murat war Muslim und nichts stand einer Heirat im Wege. Die Verlobung wurde gefeiert, und uns, Suleyka und mir, die beide gleichermaßen enttäuscht waren, blieb nichts anderes übrig, als einen anderen Mann zu suchen; das taten wir sogleich und verliebten uns in einen russischen Oberst.

Mein Vater hatte zwar nichts gegen Murats und Süreyas Hochzeit einzuwenden, doch die Sippschaft missbilligte sie mit gewohnter Heftigkeit. Zum einen waren in Baku Ehen mit »Fremden« verpönt, zum anderen hegte die mittlere Schwester meines Vaters, die, deren Landsitz durch eine Mauer und die Barometer-Tür von unserem getrennt war, von jeher die Hoffnung, ihr Sohn Mirza werde Süreya heiraten. Meine Verwandten hatten eine ausgesprochene Vorliebe für Ehen unter Cousins, Ehen, bei denen das Geld in der Familie blieb.

Meinen Cousin Mirza habe ich bisher nicht erwähnt, weil der große Altersunterschied zwischen uns einem engeren Kontakt im Wege stand. Als ich jünger war, hatte er mit Suleyka und Süreya und ihrer Clique Umgang und nicht mit der von Assad und Ali.

Er gehörte zur Kategorie meiner unrühmlichsten Verwandten. Wie alle anderen in unserer Generation hätte er von den Errungenschaften der Zivilisation profitieren können und sollen. Doch trotz der ausdauernden, hartnäckigen und kostspieligen Bemühungen, ihn zu einem einigermaßen kultivierten Menschen zu machen, wurde daraus nichts. Schlimmer noch, ihm fehlten der Humor und alle anderen Wesenszüge, seien sie gut oder schlecht, die den Umgang mit Assad und Ali so interessant machten. Er war ungehobelt und wirkte sowohl durch sein wildes Aussehen wie durch seine meist gedrückte Stimmung unsympathisch. Schon als Kind hatte er seine Erzieherinnen verschreckt, denen es nicht gelang, seine unheilbaren Wutanfälle und seine Disziplinlosigkeit zu bändigen; nach einer kurzen Probezeit verließen sie ihn alle. Später flog er von mehreren Schulen, ließ das Lernen zuletzt ganz bleiben und führte ein müßiges, komfortables und wenig erbauliches Leben. Seine Eltern, die ihn abgöttisch liebten – er war der einzige Sohn –, sprachen gerührt von seinen Fehlern, die dank ihrer Zuneigung zu Qualitäten wurden. Die geheimnisvolle Macht der Liebe …

Seine Mutter hoffte also, er werde seine Cousine Süreya heiraten, doch weder mein Vater noch die Betroffene selbst hatten diese Absicht je gebilligt. Dennoch erhob meine Tante massiven Einspruch, als Süreyas Verlobung bekannt gegeben wurde, so heftig, dass man hätte meinen können, sie, der mein Vater nie etwas versprochen hatte, sei benachteiligt oder gar beraubt worden. Großer Aufruhr in der Familie: Die einen – nur wenige – waren für die Heirat mit Murat, die anderen waren dagegen und überschütteten den Verlobten und seine Familie mit Drohungen und meinen Vater mit Schmähungen – die Mehrheit. Doch mein Vater machte sich nichts aus ihrem Zorn und blieb gleichmütig wie immer.

Eines Abends, als Murat aus unserem Haus ging, löste sich ein Schuss in der Dunkelheit, verfehlte ihn aber. Niemand hatte den geringsten Zweifel, wer hinter dieser Attacke steckte, doch ebendeshalb ließ man die Angelegenheit auf sich beruhen und kehrte sie unter den Teppich.

Murat selbst fand das alles sehr lustig und amüsierte sich über die »Einheimischen«, eine Entdeckung für ihn, der in adligen Kreisen in der Hauptstadt aufgewachsen war. Er hatte eine große Begabung dafür, Menschen nachzumachen, einen Blick für jede noch so kleine Lächerlichkeit, und amüsierte sich über seine neue Familie. Er stattete allen Verwandten einen Besuch ab und fand sie entzückend urig. Höhepunkt war sein Besuch bei Onkel Süleyman. Er erzählte:

– Ich komme also im Auto an, steige aus und will zur Haustür gehen, als ich eure Cousine Gülnar auf dem Balkon sehe. Ich begrüße sie, wie es sich gehört. Statt zu antworten, schreit sie aus voller Kehle: Was wollen Sie von uns?

Gar nichts, Mademoiselle, gar nichts, antworte ich. Ich will nichts. Ich möchte mich nur Ihrer Frau Mama empfehlen.

Was?, ruft Gülnar da, die mich offensichtlich missverstanden hat.

Sie sieht mich erzürnt und zweifelnd an, schreit dann:

Gut, warten Sie, und verschwindet im Inneren des Hauses.

Ich warte also. Ich warte sogar so lange, immer noch draußen, auf dem Fußweg, dass ich mich frage, ob die hübsche, ungehobelte Gülnar mich vergessen hat. Aber nein, sie hatte mich nicht vergessen. Sie öffnet mir sogar persönlich die Haustür und fordert mich mit spöttischer Miene auf, ihr zu folgen. Dann führt sie mich in einen seltsam möblierten Salon, wo die ganze Familie versammelt ist.

Wissen Sie, schreit mich euer Onkel Süleyman an, damit können Sie mich gar nicht beeindrucken, mit Ihrer Uniform und dem ganzen Kram. So was haben wir hier nicht, aber wir haben was Besseres, wir haben Geld.

Und er schlägt sich kräftig auf die Brust, an die Stelle, wo üblicherweise das Portemonnaie steckt.

Nach dieser vornehmen Einleitung stellt mir einer nach dem anderen Fragen und will mich lächerlich machen. Dabei werfen sie sich gegenseitig Blicke zu, um Bestätigung für ihre geistreichen Witze zu erheischen, und die Kinder lachen hinter vorgehaltener Hand und stupsen sich gegenseitig an. Was für eine reizende, originelle Familie! Aber, warum zum Teufel, schreien sie immer nur und sprechen nie in normaler Lautstärke? Ist das bei ihnen Sitte?

Süreya wurde rot vor Scham; sie hatte nicht, wie Murat, Khane und Botschafter in der Familie, bloß armselige Millionäre, mit denen man sich wirklich nicht brüsten konnte.

Murat hatte einen Onkel, Präsident einer der jungen und neuerdings Freien, Stolzen und Glücklichen Republiken im Nordkaukasus, die er in diesem historischen Augenblick in Paris repräsentierte. Da ihn im Kaukasus nichts hielt, beschloss Murat, zu ihm zu fahren: In Verbindung mit den Flitterwochen würde dies ein überaus angenehmer Besuch sein … »bis die Bolschewiken wieder weg sind«.

Dieser Satz wurde immer noch wiederholt, inzwischen aber mit Vorbehalt. Natürlich würden sie wieder gehen, aber vielleicht nicht ganz so schnell wie erwartet. Manche Leute glaubten sogar, sie würden in Russland bleiben; andere, aber die waren offensichtlich unzurechnungsfähig, behaupteten, statt zu gehen, würden sie vielleicht sogar in den Kaukasus kommen, sobald der Bürgerkrieg vorbei war. Man redete viel und wusste wenig, außer dass die Zeiten ungewiss waren.

Murats Vorhaben machte Amina ganz krank vor Sehnsucht. Dass jemand nach Frankreich reiste, während sie dazu verdammt war, in Baku zu bleiben, wollte ihr nicht in den Kopf. Mit allen Mitteln versuchte sie meinen Vater zu überzeugen, dass auch sie nach Paris musste, zusammen mit Suleyka. Sie fand immer neue Gründe für diese Reise: Sie habe eine Krankheit, die nur in Frankreich behandelt werden konnte; Süreya, die Jungvermählte, werde sich dann in dem fremden Land nicht so einsam fühlen; Suleyka, wirklich eine hochbegabte Malerin, müsse sich an einer Pariser Akademie fortbilden und ein aserbaidschanischer Ingres werden (das liebe Vaterland hätte es dringend nötig!); außerdem hätten sie beide wirklich nichts mehr anzuziehen und es mangle ihnen an den notwendigsten Dingen.

Kurz, sie mussten unbedingt hin.

Mein immer sehr entgegenkommender Vater stimmte der Reise schließlich zu, aber unter einer Bedingung: Amina sollte meinen Bruder mitnehmen. Nicht ohne Grund war er der Meinung, dass ein Sohn in diesen unsicheren Zeiten bei seiner Mutter sein sollte. Amina war zu jedem Opfer bereit.

Von mir war nicht die Rede – und mehr denn je fühlte ich mich als Aschenputtel. Vielleicht sprach etwas dafür, dass ich in Baku bleiben sollte? Ich habe es nie verstanden und empfinde es heute noch als ungerecht.

Süreya und Murat verließen uns als Erste, bei strahlendem Sonnenschein. Die Luft war mild und das Zugabteil, von wo aus Süreya uns lächelnd zuwinkte, über und über mit Blumen geschmückt; blumenreich sollte auch ihre Zukunft sein – so dachte Süreya und so dachten wir mit ihr. Dass sie sich täuschte und Jahre der Ungewissheit vor ihr lagen, ahnte niemand, und das war auch besser so.

Dann brachen die anderen auf. Gegen jede Vernunft hoffte ich, man werde mich im letzten Moment doch nach Paris mitnehmen. Aber der Tag nahte, die Pläne änderten sich nicht. Die Reisekleidung lag bereit, die Koffer waren gepackt, und schließlich kam der Tag der Abreise.

Der Zug sollte um neun Uhr abends fahren, um Viertel nach acht begann die Verabschiedung. Unter einem willkürlichen Vorwand verkürzte ich sie, ich wollte niemandem meinen Kummer zeigen und ging in den maurischen Salon, von wo ich zwar nichts sah, aber alles hörte.

In der Finsternis legte ich die Stirn an die Scheibe, lauschte und wartete. Unten ging die Haustür auf, ich hörte Stimmen, der Wagenschlag flog zu und der Motor wurde angelassen. Dann war es still.

Das Unvorstellbare war geschehen. Amina und Suleyka waren ohne mich an einen derart leuchtenden Ort aufgebrochen, dass er mit Worten nicht zu beschreiben war. Sie fuhren weg und ich blieb da, in einem ausweglosen Dunkel. Ich stellte mir das Leben, das nun folgen würde, in quälender Ausführlichkeit vor: grau, voller immer wieder enttäuschter Hoffnungen, freudlos und beherrscht vom erdrückenden Gefühl der Ungerechtigkeit. Und währenddessen würden dort, in Paris, in dieser Stadt, die jede geografische Bedeutung verloren hatte und zu einem Märchenland geworden war, das mehr mit dem Traum als mit der Realität gemein hatte … dort, in Paris, würden Amina und Suleyka … Und endlich brach sich eine Flut von Tränen Bahn.

Warum konnte man sich nicht in Tränen auflösen, zu einem Bach werden und verschwinden, dem Leben und seinen Sorgen entfliehen? Wie alle gutgläubigen Menschen fragte ich mich, mit welcher bösen Tat ich diese Ungerechtigkeit verdient hatte. Aber auch Tränen versiegen, und man bleibt leer zurück, ein Wrack, den Winden preisgegeben.

Doch ich hatte mich getäuscht, als ich mir eine graue Zukunft ausmalte: Mein Leben würde vieles sein, aber niemals grau.

Einen Monat später starb mein Großvater Musa. Er vermachte uns, seinen vier Enkelinnen, sein Vermögen, das sogar für Bakuer Verhältnisse immens war, obwohl es dort Millionäre im Dutzend gab. Durch eine Ironie des Schicksals wurde ich im Alter von dreizehn Jahren zur Multimillionärin – aber nur für wenige Tage, denn kurze Zeit später erwachte ich im Morgengrauen zu den Klängen der Internationale, die auf der Straße gesungen wurde. Ich stand auf und sah Soldaten, die weder so aussahen wie aserbaidschanische Askaris noch deren Uniform trugen. Es waren Russen.

In der Nacht hatte ein gepanzerter Zug, ein einziger, die zeitweilige Grenze der zeitweilig unabhängigen Republik Aserbaidschan überquert und Rotarmisten im Bahnhof des schlafenden Baku abgeladen. Und so ging innerhalb weniger Augenblicke die aserbaidschanische Armee unter, ohne einen einzigen Schuss: Die Republik war tot und das siegreiche Russland hatte seine Untertanen zurückerobert.

Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie eine Welt unterging.

II

2

Und wie freute ich mich, als ich sie wiedersah! Um die Becken und Bäume kümmerten sich immer noch die Gärtner, genau wie früher. Bald sollten sie uns verlassen, weil wir vom Glück verlassen worden waren. Doch bis eine Lösung gefunden war, arbeiteten sie ohne Lohn: Unser Landsitz ernährte sie noch. Frei von Angst vor der Revolution gediehen die Schafe und Kartoffeln in Hülle und Fülle. Die Luft roch wie immer: Geißblatt und noch intensiver der rankende Jasmin erfüllten die Terrassen mit ihrem Duft, der sogar bis in die Zimmer drang. In der Natur war alles noch beim Alten. Dieser Sommer hätte seinen Brüdern gleichen können – alles schien unverändert. Der klare Himmel scherte sich nicht um Revolutionen, blau lag das Meer zwischen ihm und der Erde; die ließ sich anmutig befruchten. Und der Kontrast zwischen dieser heiteren Welt und unserer zunehmenden Besorgnis stimmte mich wehmütig; es war schmerzlich, genauso schmerzlich wie das Gefühl, das ich allmählich bei der Betrachtung der ewigen Wiederauferstehung der Natur im Gegensatz zur Kürze unseres Lebens entwickelte.

Wenige Jahre waren seit jenem Sommer verstrichen, in dem ich mir meine Stiefmutter mit Leyla in Paris vorgestellt hatte. Jetzt stellte ich sie mir erneut in Paris vor, aber mit meinen beiden anderen Schwestern. Sie schickten uns Briefe und Fotografien: Zufrieden wirkten sie, elegant, glücklich. Sie lebten in einer großen Wohnung an den Champs-Elysées, die ihnen Gaby Deslys, ein Schauspielstar der damaligen Zeit, vermietet hatte. Die Champs-Elysées! Ein Name, bei dessen Klang alle, die nicht dort sind, vor Sehnsucht umkommen.

Von morgens bis abends tat ich nichts. Ich war von jeher nur unregelmäßig unterrichtet worden und jetzt gar nicht mehr. Zu irgendetwas ist die Revolution also gut, dachte ich schadenfroh. Nur das Klavierspiel fand hin und wieder Gnade vor meinen Augen. Meistens spazierte ich durch den Garten, las ein wenig, doch am liebsten war mir der Tagtraum, dieses Brot der Unzufriedenen. In jenem Sommer fand ich ein neues Fleckchen, wo ich mich meinen Träumereien in aller Ruhe widmen konnte.

Es war ein Felsen am Rand des pappelgesäumten Weingartens. Dort kam nie jemand hin und in der Stille der heißen Nachmittage konnte ich mich an Bildern und Empfindungen berauschen. Ich legte mich auf den rauen Stein, mit Blick auf das glitzernde Meer. Hinter mir eine gravitätische Wache von Pappeln, in deren Zweigen der Wind spielte. Manchmal trieb er Wolken herbei, sie zogen ohne Eile vorüber, und jedes Mal schien das Laub lauter zu rauschen. Andächtig folgte ich ihnen mit dem Blick. Eine Wolke nach der anderen tauchte am Horizont auf, endlos, sie zogen übers Meer, kamen zu mir und verschwanden dann für immer hinter den Baumwipfeln. Je nach ihrer Laune zeigte sich der blaue Himmel und verschwand wieder: ein hoher, reiner Himmel, er sprach die einsame Sprache der Ewigkeit. So ruhig, so losgelöst war er von den rastlosen Wolken und den rastlosen Menschen mit ihren vielen kleinen und großen Sorgen, dass ich ihn für die Ewigkeit selbst hielt. Eine merkwürdige und so starke Empfindung, dass sie mir manchmal die Tränen in die Augen trieb.

Bald war es allerdings mit der Einsamkeit vorbei. Meine Cousine Gülnar kam mit ihrer Mutter aufs Land, der Rest der Familie war mangels Verkehrsmitteln in Turkestan geblieben. Ich freute mich, denn im Winter hatten Gülnar und ich uns kaum gesehen. Eine alte Freundschaft verband mich mit ihr, und ich bewunderte sie für ihre Eigenständigkeit. Die aufgeweckte, zynische, heitere und durch und durch unmoralische Gülnar entführte mich in eine zugleich bezaubernde und erschreckende Welt, die sich sehr von meiner unterschied. Mit ihren knapp sechzehn Jahren schien sie alles vom Leben zu wissen; ihr reger Geist brachte sie auf Gedanken, die für einen im Grunde genommen ungeschliffenen Menschen überraschend waren. Sinnlichkeit drang bei ihr aus jeder Pore und bestimmte ihre ganze Persönlichkeit. Sie begehrte die Männer heftig, verachtete sie aber auch. Ständig war sie verliebt, und je verliebter sie war, umso mehr Gründe fand sie, das Objekt ihrer Begierde zu verachten; ich glaube, unbewusst verabscheute sie denjenigen, der sie, und sei es nur für kurze Zeit, unterwarf. So kokett war sie, dass sie sich wahrscheinlich sogar zusammenreißen musste, um nicht mit ihren Brüdern und ihrem Vater zu flirten, dem schönen Onkel Süleyman. Sie war groß und schlank und hatte eine ganz andere Figur als unsere Landsfrauen, deren Kurven sich ungehemmt in alle Richtungen ausdehnten. Kaum hatten ihre Brüste angefangen zu wachsen, schnürte sie sie erbarmungslos in Büstenhalter aus kräftigem Tuch. Ihr Becken zwängte sie auf dieselbe Weise in mörderische Korsette. Auf das Ergebnis konnte sie stolz sein, und sie bewunderte sich denn auch gern selbstgefällig im Spiegel. Mit ihren Samtaugen und den vollen, sinnlichen Lippen war sie anziehend, hatte Ähnlichkeit mit einer Schwarzen. Sobald ein Mann ihr über den Weg lief, wandte sie sich ihm zu und sah ihn mit schwülem Blick an. Nur wenige widerstanden ihrem Charme und sie hatte schon viele Liebesabenteuer hinter sich, die jedoch »am Tor zum Paradies« endeten, wie sie es kühn umschrieb.

– Verstehst du, erklärte sie mir, ganz Geschäftsfrau, man muss bis zur Hochzeit Jungfrau bleiben, sonst könnte es Ärger geben. Aber dann …

Und sie pfiff. Dieses Pfeifen schien ihre ganze Zukunft voller Liebhaber, Affären und Leidenschaft zusammenzufassen. Ihren Zukünftigen kannte sie bereits: ein entfernter Verwandter ihres Vaters, seit jeher von der Familie akzeptiert und ebenfalls seit jeher in meine Cousine verliebt; er war gut und schwach, wie dafür geschaffen, der ideale Ehemann meiner Cousine zu werden, damit sie ihre glanzvolle Bestimmung erfüllen konnte. Sie sollten heiraten, sobald die Familie nach Baku zurück konnte, spätestens im Herbst, wie Gülnar hoffte. »Ich kann es kaum erwarten«, sagte sie schmachtend. In der Zwischenzeit ließ sie keine Möglichkeit ungenutzt, um ihre Glut zu besänftigen. In der großen Hitze, die zum Mittagsschlaf verlockte, führte Gülnar mich manchmal in ihr Zimmer, wo wir uns bei geschlossenen Läden auf das kühle Betttuch legten. Erst schlief sie ein, erstaunlich schnell, wie ein Kind, schmiegte im Schlaf ihren geschmeidigen braunen Körper in voller Länge an mich, lehnte ihren Kopf an meinen. Um uns die Stille eines tropischen Nachmittags: nur gelegentlich von einer ums Bett summenden Fliege unterbrochen, von einem knarrenden Möbel, Gülnars leisen Bewegungen. Ich fand wie immer keinen Schlaf, blieb mit offenen Augen liegen und wartete auf das Erwachen meiner Freundin und das anschließende Spiel. Sobald Gülnars Hand sich bewegte, wusste ich, sie schlief nicht mehr. Mit den Fingerspitzen fing sie an, mich zu streicheln, meinen ganzen Körper zu berühren. Die Spielregeln besagten, dass ich exakt denselben Parcours auf Gülnars Körper zurücklegen musste. Unter meiner Berührung spannte er sich an vor Lust; sie richtete sich leicht auf, mit geschlossenen Augen, und bedeckte mein Gesicht, meinen Hals, mit leidenschaftlichen Küssen. Sie sah mich nicht an und ich durfte nichts sagen: Nicht ich war das Objekt ihrer Begierde, sondern, auf dem Umweg über mich, die Männer, die ihr eines Tages gehören würden. Bei diesem Spiel empfand ich keine Lust, ich machte mit, weil Gülnar es wollte. Sie hatte eine solche Macht über mich, dass ich alles tat, was ihr in den Sinn kam.

Sie langweilte sich auf dem Land, wo es keine anderen Männer zu verführen gab als die Gärtner.

– Ich langweile mich, ich langweile mich, wiederholte sie den lieben langen Tag.

Sie zuckte die Schultern, wenn ich vorschlug, sie solle lesen, träumen oder musizieren.

– Du nervst, sagte sie ungeduldig, verstehst du nicht? Mich interessieren nur Männer, sonst nichts.

Als eines Tages die »Kommission zur Errichtung von Ferienlagern« zu uns kam, war sie entzückt. Es war ein großes Ereignis. Vier Männer fanden sich am Eingangstor ein. Den Gärtnern, die fragten, was sie wollten, zeigten sie Papiere, die diese Analphabeten nicht lesen konnten. Nach großer Verständnislosigkeit auf beiden Seiten rannten die Gärtner zu meiner Großmutter, um ihr den Besuch anzukündigen. Sie war gerade bei einem ihrer fünf täglichen Gebete.

– Was wollen sie, die Christenhunde? Das Haus sehen? Sollen sie sich doch zum Teufel scheren … Unser Haus sehen? Schmeißt sie raus, die Ungläubigen.

Trotz des Heiligen Buchs vor ihr auf dem Stuhl war sie rot angelaufen vor Entrüstung und wollte nichts von dem Anliegen wissen. Wir konnten ihr noch so ausführlich erklären, dass es keine Rolle spielte, was sie davon hielt oder nicht hielt, dass die Russen jetzt an der Macht waren und nicht als »Hunde« bezeichnet werden durften; dass es ihnen dagegen freistand, uns nach Lust und Laune als solche zu behandeln – sie hörte nicht auf uns. Dieses ganze Palaver dauerte so lange, bis die Kommission die Geduld verloren hatte und sich auf eigene Faust auf den Weg zu uns machte. Meine Großmutter bedeckte zwar züchtig ihr Gesicht, fluchte aber unverzüglich auf Aserbaidschanisch los, was die Besucher, alles Russen, glücklicherweise nicht verstanden. Sie waren zu viert, nicht alle gleich gutaussehend, aber alle männlich, und als sie sagten, sie wollten das Haus besichtigen, hastete Gülnar los, ehe jemand sie daran hindern konnte, und zeigte es ihnen. Großmama brüllte ihr wüste Flüche hinterher, doch zu spät: Gefolgt von den vier Männern, die Gülnar weitaus mehr Aufmerksamkeit schenkten als dem, was sie ihnen zeigte, spazierte sie von einem Raum zum nächsten.

– Dieses Flittchen, schrie unterdessen meine Großmutter, wie immer freiheraus. Seht nur, wie sie mit ihrem Affenhintern wackelt. Und das ist alles deine Schuld, attackierte sie im selben Atemzug ihre Tochter. Du hast sie so schlecht erzogen. Als ob du sie ins Bordell schicken wolltest. Und überhaupt, was wollen diese Männer?

Unsere neuerlichen Erklärungen fruchteten genauso wenig: Sie verstand weder, was ein Ferienlager war, noch was es mit unserem Landsitz zu tun hatte. Alle anderen begriffen nur zu gut: Unser Haus entsprach genau den Vorstellungen der Kommission, und die Besucher erklärten, mindestens die Hälfte der Zimmer würden für das Ferienlager beschlagnahmt. Das taten sie auf ausgesucht höfliche Art, und derjenige, der am wichtigsten wirkte, erklärte uns, wir könnten stolz sein, Männer zu beherbergen, die vom Dienst an der Revolution erschöpft waren.

– Warum sollten diese vielen großen Räume ungenutzt bleiben?, beschloss er seine Rede schwungvoll. Künftig sollen Männer sie nutzen, die hier die ländliche Ruhe und Abgeschiedenheit suchen. Bei unserer noblen Sache müssen einige Opfer bringen, damit alle glücklich werden.

Mit diesen tröstlichen Worten verließen sie uns, während Gülnar seufzend zurückblieb: Der große Blonde mit der Stupsnase, für uns etwas ganz Exotisches, hatte ihr eindeutig gut gefallen.

– Was?, brüllte meine Großmutter. Russen in meinem Haus? Männer, die Schweinefleisch essen, die sich besaufen und denken, sie können sich alles erlauben? Bei mir, auf meinem Anwesen? Vielleicht haben genau diese Männer meinen Sohn ins Gefängnis gebracht! Niemals. Lieber sterbe ich.

Sterben tat sie nicht, aber fügen musste sie sich ins Unvermeidliche.

Das Haus hatte zwei gleich große Flügel. Wir alle zogen in den Flügel, den meine Großmutter bisher allein bewohnt hatte. Er bestand aus zehn Zimmern, sodass wir trotzdem nicht beengt lebten, zumal Leyla, deren Mann nun ebenfalls verhaftet worden war, nach Baku zurückkehrte und nicht wiederkam. Jede von uns hatte ein eigenes Zimmer, und ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass es bloß gerecht war, ein so großes Haus mit anderen Menschen zu teilen. Doch ich hütete mich, es laut zu sagen.

Eine Woche später traf ein Dutzend von ihren Heldentaten mehr oder weniger erschöpfte ehemalige Revolutionäre ein. Unter ihnen alte Ideologen, Dauergäste der Lager in Sibirien, Lehrerinnen mit vor kommunistischem Eifer glühenden Augen, ein ukrainischer Dichter, der wahlweise Verse rezitierte oder hustete, und sogar eine Kommissarsgattin, die hier offensichtlich stellvertretend die Erschöpfung ihres Mannes kurierte, und noch weitere, deren Aussehen und Funktion mir entfallen sind. Bald lernten Gülnar und ich all diese Leute kennen. Wenige Tage später verliebten wir uns beide in einen der alten Ideologen. Wenn ich »alt« sage, dann spreche ich aus der Sicht einer Vierzehnjährigen: Grigori Tarassow war ein sehr jugendlicher Vierzigjähriger. Er sah aus wie Turgenjew, nur ohne Bart, lehrte im Alltag Geschichte und immer und überall einen lyrischen Kommunismus. Gülnars Reizen wegen musste er uns wohl oder übel unsere Zugehörigkeit zur Klasse der ehemaligen Unterdrücker verzeihen, eine Klasse, zu der wir, allerdings ohne Überzeugung, zählten. Er sah großmütig darüber hinweg und bemühte sich, uns kommunistisches Gedankengut nahezubringen. Es war nicht weiter schwer, uns zu überzeugen – die Voraussetzungen waren gut. Gülnar gab sich aus Koketterie gewonnen, ohne genau hinzuhören: Vor allem hing sie schmachtend an Grigoris schönen, vollen Lippen, hinter denen seine blendend weißen Zähne zum Vorschein kamen. Ich war aufgeschlossener und verfolgte mit Interesse die Argumente, die er uns leidenschaftlich darlegte.

– Spürt ihr denn nicht die Ungerechtigkeit dieser immensen Vermögen, die rein zufällig durch die Entdeckung von Erdöl angehäuft wurden?

Wir spürten sie.

– Findet ihr es denn nicht irrsinnig ungerecht, dass in den Clubs Millionen beim Spiel verloren wurden, während die Arbeiter in ihren armseligen Löchern vor Hunger und Kälte starben!

Wir fanden es, in aller Aufrichtigkeit.

– Und was haltet ihr von diesen müßigen Frauen, die nichts anderes im Kopf haben, als sich herauszuputzen? Von diesen Männern, die an nichts anderes denken als an Pferderennen, an das Spiel, die Liebe?

Wir hielten, ganz ehrlich, nichts Gutes von ihnen.

Er machte sich also eifrig an unsere marxistische Schulung. So erfolgreich, dass bereits einen Monat nach seiner Ankunft das heiße Blut der Neubekehrten durch unsere Adern strömte. Grigori betrachtete uns gerührt, wie ein Maler oder Bildhauer sein Werk betrachtet, und fuhr fort, zärtlich unsere Köpfe zu bearbeiten.

Eines Tages brachte er uns zwei emaillierte Broschen mit Lenins Konterfei aus Baku zurück, heftete sie uns an die Kleider und betrachtete uns fortan als seine Geschöpfe. Ich erwiderte sein Wohlwollen, ging sogar so weit, ihm eines Tages meinen Platz zum Träumen zu zeigen, und er eignete ihn sich sogleich an. Jeden Nachmittag legten wir uns zu dritt auf den rauen Felsen, der nach Sonne und getrockneten Trauben roch, und sprachen über dieses und jenes. Grigori nannte uns seine »kleinen Orientalinnen«, sprach über sich, über die Revolution, über uns.

– Fast alle unseren großen Schriftsteller, sagte er eines Tages, haben über den Kaukasus geschrieben. Ich habe immer davon geträumt, dorthin zu reisen; ich habe immer davon geträumt, Kaukasierinnen kennenzulernen, die anders sind als die russischen Mädchen; Mädchen wie euch. Sie, Gülnar – er beugte sich über Gülnar, die rücklings auf dem Felsen lag und die Hände über der Brust gefaltet hatte – Sie sind ein bisschen wie eine gefährliche Pflanze mit schönen Blüten, vor der man sich aber in Acht nehmen muss. Man möchte sie berühren, an den Blüten riechen, denn man ahnt, dass sie herrlich duften, doch man fürchtet sich, hat Angst, gestochen zu werden.

– Berühren Sie mich, sagte Gülnar, ohne zu lächeln und mit geschlossenen Augen, Sie werden sehen, dass ich nicht steche.

Lange Zeit betrachtete Grigori ihr Gesicht.

– Ich traue mich nicht, sagte er schließlich. Wenn Sie wirklich nicht stechen, ist das noch gefährlicher für mich.

Er wandte sich mir zu:

– Vor Ihnen fürchte ich mich weniger und meine Zuneigung zu Ihnen ist größer. Ich habe mir immer ein Mädchen wie Sie gewünscht, um sie zu der Frau zu machen, nach der ich mich seit jeher sehne: neugierig, idealistisch, fähig, sich für einen guten Zweck zu opfern, künstlerisch veranlagt. Doch ich muss bald fort und Sie beide hier zurücklassen. Das ist traurig.

– Oh, nein, gehen Sie nicht fort, rief Gülnar und öffnete die Augen. Warum wollen Sie mich nicht berühren?, fragte sie leidenschaftlich. Ich steche nicht.

Sie nahm Grigoris Hand und legte sie sich auf den Hals. Grigori streichelte sie. Ich schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als ich Grigori mit erstickter Stimme sagen hörte:

– Gehen wir zurück. Es ist spät.

An anderen Tagen erzählte er uns sein Leben, das klassische Leben eines Revolutionärs, voller Gefahren, Schwierigkeiten, Dramen. Zweimal war er nach Sibirien verschleppt worden, beide Male war er entkommen. Er hatte sich an einer Reihe von Attentaten beteiligt, eine illegale Druckerei betrieben, zwei Jahre in Genf gelebt, ein Jahr in Paris. Seine Frau und sein Sohn waren beide an Typhus gestorben.

– Wie Sie sehen, ist mein Leben wahrlich kein Kinderspiel. Und jetzt können Sie darüber urteilen, ob ich die Erholung, die mir die Partei auferlegt, wirklich verdient habe. Sind meine kleinen Orientalinnen dieser Meinung?

Ja, die »kleinen Orientalinnen« waren ganz dieser Meinung. Sie begannen zu verstehen, dass nicht alle Revolutionäre Unholde waren und der Kapitalismus auch Nachteile hatte. Ich fand die blinde Verstocktheit meiner Familie gegenüber den sozialen Entwicklungen in der Welt unverständlich. Sie hielten Stabilität und Wohlstand für ihr natürliches Privileg und empörten sich, wenn auch andere daran teilhaben wollten. Arbeiter waren da, um zu arbeiten, sie, um sich zu vergnügen. Das war ihr Credo. Etwas anderes zu denken war Ketzerei.

Grigori war nicht der Einzige, dem es die »kleinen Orientalinnen« angetan hatten. Fast alle im Ferienlager waren uns wohlgesinnt. Für sie, echte Russen aus dem Norden, war der Kaukasus dasselbe wie Marokko für, sagen wir mal, die Franzosen in der Hauptstadt: ein exotisches, fernes, irgendwie geheimnisvolles Land. Russische Dichter hatten den Kaukasus besungen, seine Frauen, seine Berge, seine Eigenarten. Mit ihm verband man gewisse Gefühlsregungen, die fast jeder empfindsame Russe verspürte, wenn er herkam. Für unsere Besucher waren wir »Gazellen mit schmachtendem Blick«, »Haremstöchter«, eben erst aus der Knechtschaft befreit: die »kleinen Wilden« aus exotischen Romanen.

Sie verwöhnten uns alle, und Gülnar und ich freuten uns über das Ferienlager, eine willkommene Abwechslung in unserem abgeschiedenen Dasein. Egal wie oft meine Tante, Großmama und Fräulein Anna uns ermahnten, uns verboten, »diese Leute« zu sehen, mit Strafen drohten und damit, es unseren Vätern zu sagen, nichts konnte uns aufhalten. Unsere Väter waren nicht da, vor den anderen hatten wir keine Angst. Lenins Porträt prangte weiterhin an unseren jungen Busen. Wir schworen nur noch auf Marx und den historischen Materialismus. Zu Grigoris Einfluss gesellte sich der einer Lehrerin. Auch sie hatte sich mit Leib und Seele der Revolution verschrieben, sprach geradezu mütterlich von ihr, als wäre sie ihre Tochter. »Es geht ihr sehr gut«, sagte sie überglücklich, »sie ist stärker geworden, im Moment entwickelt sie sich weiter und gewinnt an Kraft. Wir müssen ihr helfen zu leben.«

Sie erzählte uns detailreich von dem Dasein der Arbeiter unter dem alten Regime und flößte uns Abscheu vor denen ein, die sie auf so niederträchtige Weise ausgebeutet hatten. Das war der Sinn des Ganzen. »Ihr müsst mit dem Herzen dabei sein. Die siegreiche kommunistische Sache muss bis in die feindseligen Schichten der Gesellschaft getragen werden.« Eifrig stimmten die »feindseligen Schichten der Gesellschaft« zu.

Als Tochter kleiner Landbesitzer aus der Umgebung von Kiew fühlte sie sich seit ihrer Jugend von einer ebenso unverständlichen wie unwiderstehlichen Kraft zum Volk hingezogen. Sie wurde Lehrerin, Mitglied der Kommunistischen Partei und ging einer Bestimmung entgegen, bei der ihr eigenes Wohlergehen keine Rolle mehr spielte. Sie tauchte in den Idealismus ein wie in ein wohltuendes Bad. Ihr war völlig gleichgültig, was sie aß, was sie zu trinken bekam, womit sie ihren Körper bedeckte – die Revolution und ihre Erfolge waren das Einzige, was zählte, das Einzige, was ihrem Leben einen Sinn gab. Sie war klein, schlank und lebhaft und wälzte unentwegt soziale Gedanken, las oder bildete sich anderweitig weiter. Vom Träumen hatte sie keine Ahnung und verstand mich nicht, als ich ihr zu erklären versuchte, was es für mich bedeutete.

– Träumen? Was denn? Das Leben ist so faszinierend, tausendmal faszinierender als jeder Traum.

– Aber im Traum kann man etwas anderes sein, als man ist, dieses einzige Selbst, versuchte ich mich verständlich zu machen.

– Warum sollte man etwas anderes sein wollen, als man ist? Ich bin mit meinem Leben zufrieden.

Das war natürlich der springende Punkt – mit dem Leben zufrieden, warum sollte man es dann ändern?

Und sie fügte noch hinzu:

– Wenn Sie handeln würden, hätten Sie keine Lust mehr zu träumen. Probieren Sie es aus, Sie werden sehen.

Es war ein Leichtes, diesen Rat zu geben – weniger leicht war es, ihn zu befolgen.