Mit den Augen von Zeitgenossen
Erinnerungen an PAUL CELAN
Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Petro Rychlo
Suhrkamp Verlag
Moshe Barash Meine erste Begegnung mit Paul Celan fängt an, als wir wirklich kleine Kinder waren. Ich nehme an, ich war damals vier oder fünf Jahre alt. Paul Celan war um zwei Jahre älter.
Cord Barkhausen Das war 1927 etwa?
M. B. Das war 1927, ja, in Czernowitz. Er ist mir schon damals, und das ist mir merkwürdigerweise erinnerlich, aufgefallen durch ein interessantes, schönes Gesicht. Schön auf eine merkwürdige Weise. Und er hat als Kind in seinen Gesichtszügen schon die ganze Physiognomie des älteren Paul Celan gehabt. Er war ein sehr zurückhaltendes Kind, und nachdem ich auch nicht einer der aktivsten Jungen dort war, haben wir uns ziemlich gut gefunden. Wir haben manchmal auch gespielt in dem Sinne, in welchem Kinder spielen, nämlich mit einem Fußball, das war das Ideal der Kinder, einem auf eine sehr primitive Weise selbsthergestellten Ball, aus irgendwelchen Materialien zusammengestellt. Der größte Teil unserer Begegnungen bestand aus Gesprächen.
C. B. Das ist ja etwas ungewöhnlich, dass Kinder in dem Alter nicht spielen, sondern miteinander sprechen.
M. B. Aber wir haben viel gesprochen. Das ist ziemlich klar.
C. B. Man traf sich, um zu sprechen?
M. B. Ich weiß nicht, ob es richtig ist zu sagen, dass man sich traf, um zu sprechen, aber man traf sich in der Erwartung, dass man sprechen wird. Und es war so eine irgendwie verträumte Atmosphäre, die mir heute rückschauend ein wenig utopisch gefärbt scheint.
C. B. Was meinen Sie damit?
M. B. Das Ganze hatte einen halb irrealen Charakter. Da saßen wir also in der Sonne und sprachen; wenigstens von meiner Seite, ich nehme an, auch von seiner, wussten wir so ziemlich klar, oder wir fühlten es ziemlich klar, dass wir über Phantasien sprechen. Ich sehe vor mir ein sehr lebendiges Bild: Wir saßen auf einem kleinen steinernen Zaun, vor uns ein großer Spielplatz, wo Kinder sich tummeln und großen Lärm machen. Er sprach auf eine merkwürdig verträumte Weise. Ob das seiner allgemeinen Zurückhaltung zuzuschreiben ist, kann ich nicht sagen, aber die Art des Sprechens, also der Ton – sehr leise, ruhig –, ich kann mich z. B. überhaupt nicht an ihn erinnern als schreiend oder als lärmend, als jemanden, der Lärm macht. Es war irgendeine – heute würde ich sagen: so eine besonnene Melancholie über diesem Kinde.
C. B. Aus was für einer Familie kommt er denn?
M. B. Seine Familie, das war eine typisch jüdisch-czernowitzer Familie, d. h. eine Familie, die in der Reichweite der deutschen Kultur aufgewachsen ist, wo man sich bemühte, gutes Deutsch zu sprechen. Es war eines der Merkmale für den jungen Celan und auch für seine Eltern, soweit ich mich sehr dunkel an sie erinnern kann, dass sie sich bemühten, gutes Deutsch zu sprechen. Gutes Deutsch hieß: reines Deutsch. Und reines Deutsch war, das ist vielleicht von Interesse, eine geschriebene eher als eine gesprochene Sprache.
C. B. Also war da vielleicht schon etwas angelegt von der Sprachpräzision Celans?
M. B. Ich glaube schon. Ich meine, ich will da keine poesiegenetischen Theorien aufstellen, aber auf eine intuitive Weise spricht das einen sehr an.
Darf ich noch ein Detail hinzufügen, an das ich mich eben jetzt erinnere, und daran habe ich wirklich schon Jahrzehnte nicht gedacht: Dieser Steinzaun, auf dem wir uns zu treffen pflegten, war gelegen genau an der Grenze zwischen dem streng orthodoxen chassidischen Wohnviertel und einer anderen Stadtgegend, wo die mehr europäisierten Juden wohnten. Gerade an der Grenze trafen wir uns dann. Ich hatte damals den Eindruck – das ist, was in meiner Erinnerung noch bestehenbleibt –, dass zwischen uns beiden in gewissem Sinne die Spannung der zwei Viertel noch lebte. Also ich gehörte mehr zu dem nördlichen, also dem streng chassidischen, Paul Celan gehörte mehr zu dem südlichen, also zu dem etwas mehr europäisierten Viertel. Es war auch interessant: Ich hieß – offiziell – Moses, und dieses junge Kind da hieß Paulus, Paul. Ich will nicht nachträglich Symbolik hinzufügen, aber … […]
Aus irgendwelchen Gründen – ich weiß sie nicht – haben wir uns dann beide irgendwie aus dem Gesichtsfeld verloren. Dann kommt eine zweite Phase, und das war ungefähr um die Zeit – oder vielleicht etwas später – nach der Bar Mizwa. Ich war ungefähr 13, 14 Jahre alt. Das war eine Reihe von Begegnungen, die einen völlig anderen Charakter hatten. Und da erinnere ich mich, dass wir zum großen Teil über Bücher – richtiger gesagt: über Gedichte – gesprochen haben. Ich erinnere mich, dass Paul mir ein merkwürdiges Gedichtbuch geschenkt hatte, das hatte ich bis zum Jahre 41, also bis zum Ende 41, bis zur Gettozeit. Das war eine Anthologie von Gedichten, eine Auswahl von Gedichten, mit der Maschine geschrieben, schön gebunden; die Gedichte waren nicht von ihm – oder fast nicht von ihm –, da waren Stellen aus Nietzsche, da waren einige Rilke-Gedichte, und da war auch ein Gedicht, wo nichts draufgestanden ist, kein Name, und ich nehme an, das war Paul Celans Gedicht. Das war so ein grün gebundenes Heft, das ich sehr klar vor mir sehe. Ich muss sagen: der Gebrauch der Schreibmaschine war schon an sich etwas nicht sehr Übliches.
C. B. Das ist aber doch sehr spannend, wenn man sich überlegt, dass die Schreibmaschine ein anonymes Instrument ist, man weiß nicht, von wem welche Gedichte stammen können, dann hat er sich da untergereiht, und es ist kein Autor mehr festzustellen …
M. B. Eben! Wir haben viel über die Gedichte gesprochen. Ich glaube mich zu erinnern – ich will mich vorsichtig ausdrücken –, dass er eigentlich sehr viel über die Atmosphäre gesprochen hat, also über den allgemeinen Gefühlscharakter dieser Gedichte.
Aus jener Zeit also – vielleicht war das 35, 36 – sind mir noch zwei Problemkreise in Erinnerung, sehr verschiedener Art und doch irgendwie zusammenhängend. Das eine war: Ich ärgerte mich über seinen Namen. Über den Namen Paul. Ich hieß damals Moses, also heute Moshe, was natürlich die hebräische Urform von Moses ist. Paul, das war etwas, was fremd klang. Eine dunkle Erinnerung sagt mir – aber ich würde nicht zu sehr dafür einstehen –, dass er mir irgendwie geantwortet hat: Ich hab' mir ja nicht selber den Namen gegeben, also weder es verteidigt noch seinen Unmut ausgesprochen, aber irgendwie der Sache aus dem Wege gegangen ist.
C. B. Haben Sie damit irgendeine Problematik von ihm angesprochen, dass er einen christlichen Namen hat, aber Jude ist und aus jüdischer, zionistischer …
M. B. Ich habe wahrscheinlich etwas in ihm angesprochen da, was viel tiefer ging, als ich wusste. Denn er war natürlich aus völlig jüdischer Familie, aus einer sehr zionistischen Familie, aber er war damals, wenn ich nicht irre, in einem Stadium, wo manche dieser Dinge anfingen, fragwürdig zu werden. Die Frage: »Warum heißt Du Paul?« war natürlich eine Frage – ich weiß nicht, ob ich es damals so gewusst habe –, warum machst Du Deine Identität nicht völlig klar. Der Name Paul war ein Name, der von manchen unter uns Kindern damals als eine Verhüllung gedeutet wurde oder gedeutet werden konnte.
Und dann gab es noch ein Thema, über das wir öfter gesprochen haben. Das Thema mag im Retrospekt eigentlich interessant sein: Wir sprachen über unsere Beziehung zur Landschaft von Czernowitz und die Situation in Czernowitz, insbesondere natürlich die Situation der Juden in Czernowitz war uns beiden klar. Es war uns klar die Aussichtslosigkeit eines menschenwürdigen Lebens, niemand konnte sich vorstellen, was in einigen Jahren kommen würde, aber ich sagte ihm: Ich mag das Ganze nicht. Es ist wahr, die Bäume sind sehr schön, aber sie sind fremd. Und ich erinnere mich an Pauls Antworten, die irgendwie ein wiederkehrendes Motiv waren: Die Menschen sind nicht schön, aber die Natur ist eine reiche und schöne, und ich liebe sie und ich bin mit ihr tief verbunden. Nicht die Worte, die ich jetzt gebrauche, [sie] sind modern, aber das war der Sinn.
C. B. Paul Celan hat ja über die Landschaft gesagt, es lebten in ihr Menschen und Bücher.
M. B. Ja, für ihn. Es lebten in ihr Menschen und Bücher aus dem Grunde, weil nicht sehr viel anderes möglich war. Er hat wirklich auch im Leben viele landschaftliche Eindrücke mit Büchern und mit Zitaten verbunden. Es fiel ihm immer was ein.
C. B. Es taucht ja oft in seinen Gedichten irgend etwas einzelnes, ein Ort oder so, auf von Czernowitz oder von der Umgebung von Czernowitz, die Landschaft ist ja immer anwesend in seinen Gedichten.
M. B. Nicht nur das – auch die Gedichte waren anwesend in der Landschaft.
Ich kann Ihnen sagen, ich erinnere mich folgender Sache: Wir gingen irgendwo ein bisschen raus, sehr weit in die Landschaft sind wir nicht gegangen, weil zwei Judenjungen, die alleine in die Landschaft gingen, das war ein bisschen gefährlich. Also nicht, dass man uns umgebracht hätte, aber man hätte uns wahrscheinlich gut verdroschen. Ich kann mich nicht genau erinnern: Irgend jemand lag da im Schatten eines Baumes an einem schönen Sommertag. Und plötzlich höre ich Paul Rilke zitieren, das Gedicht Rilkes, das das Gebet Jesu auf dem Gethsemane beschreibt, »aufgelöst im Ölgelände«. Nun, das war kein Ölgelände, es gab keine Ölbäume dort, aber immerhin, das fiel ihm ein.
Also in diesem Sinne kann ich sagen, nicht nur, dass die Landschaft anwesend ist in Pauls Gedichten, die Gedichte waren bei ihm auch anwesend in der Landschaft. Also die literarischen Assoziationen, die poetischen Assoziationen. […]
C. B. Da sind wir ja genau bei dem Problem, das wahrscheinlich doch für Celan ganz typisch ist oder prägend war, nämlich dass er letztlich doch aus einer jüdischen Tradition kommt. Vielleicht können Sie dazu etwas Genaueres sagen?
M. B. Es gab da einige Probleme. Es gab da erst einmal ein Problem auch der Sprache. Bitte vergessen Sie nicht: Wir hatten keine natürliche Sprache. Auch Paul Celan nicht.
C. B. »Die Sprache ist mir geblieben«, sagte er, »die Muttersprache.«
M. B. Ja, ja. Aber trotzdem, die Grundschule, die er gemacht hat, die Volksschule, war hebräisch, wenn ich mich richtig erinnere …
C. B. … dazu hat sein Vater ihn gezwungen, soweit ich weiß …
M. B. Ja, das hat ihn sehr beeinflusst, dass er dazu gezwungen wurde. Dann hat er Rumänisch gelernt, natürlich war Deutsch seine Sprache, aber sie war nicht so selbstverständlich für ihn, wie sie es für Sie ist.
C. B. Nein, ich meine, es heißt von Juden, dass sie schweigen, warten, abwarten, bis das Ereignis kommt, oder so. Und Celan war jemand, der gesagt hat: Ich stehe jetzt in dieser Situation, ich lebe in der Bukowina, in Czernowitz, ich muss Rumänisch lernen, und er hat Rumänisch gelernt, oder er hat Shakespeare gelesen und Englisch lernen wollen, später hat er Russisch gelernt, weil die Russen gekommen sind in die Bukowina. Kein Wort darüber, er hat immer geschwiegen über alles, er hat's einfach gemacht.
M. B. Ja natürlich, er hat das gemacht … natürlich …
C. B. Aber was ist dann das Problem mit der Sprache? Ich dachte, die Muttersprache ist Deutsch?
M. B. Ja, die Muttersprache ist Deutsch, aber immerhin … bitte verstehen Sie – ich kann sehr gut sehen, dass es schwer ist, das zu verstehen –, das ist eine Muttersprache, die gleichzeitig ein bisschen – ich will nicht sagen: Geheimsprache wird, aber das ist nicht eine Sprache, die man überall spricht. Die Kinder in der Schule sprechen eben nicht deutsch. Dann, in Czernowitz selber musste er natürlich viele andere Sprachen hören. Ich glaube nicht, dass Paul Celan mit der Muttersprache viele Probleme hatte, aber ganz natürlich, intuitiv, ohne dass man darüber nachdenkt, war es nicht – ich bin überzeugt davon, ich kann es nicht beweisen –, aber gut deutsch zu sprechen war etwas, das man erreden musste, man konnte es tun, aber das kam nicht von selber.
C. B. Sie sagten vorhin, dass es einige Probleme gäbe, die das Verstummen beträfen. Welche gibt es da noch außer der Sprache?
M. B. Ich glaube, dass man da noch vielleicht ein anderes Phänomen heranziehen könnte. Man kann es vielleicht nicht ganz genau nachweisen, aber ich glaube, als Hintergrund wäre es doch von Bedeutung. Das war die Neigung in gewissen jüdischorthodoxen Kreisen, insbesondere in chassidischen Kreisen, das Schweigen als eine höchste Form des Ausdrucks anzusehen. Das Verstummen vor dem Unsagbaren, vor dem Unaussprechbaren, spielt ja im jüdischen Geistesleben eine ziemlich große Rolle. Insbesondere – um es auf eine ganz kurze Formel zu bringen – in gewissen, zur Mystik neigenden Kreisen gab es viele Vorbilder, viele Modelle für Schweigen. Man darf natürlich den Namen Gottes nicht aussprechen. Das Schweigen in der Gegenwart des Rabbi ist in der chassidischen Bewegung, manchmal in gewissen Kreisen, in gewissen Strömungen, ein Ausdruck höchster Ehrfurcht. Ich glaube, im allgemeinen, wie es auf klarere Weise eine ikonoklastische Stellung gibt, also man kann Gott, das Höchste, nicht abbilden, so gibt es, vielleicht weniger ausgesprochen, aber doch auch eine Unterströmung, welche behauptet, man kann das Höchste nicht aussprechen.
C. B. … und bezogen auf Celan …?
M. B. Und Celan war mit dieser jüdischen Richtung ganz bestimmt vertraut. Ich will nur sagen, die Geschichten, von dem berühmten jüdischen Novellisten Perez erzählt, aber als Volksgeschichten zirkulierend, von dem ungelehrten Jungen, der am Yom-Kippur-Abend, das ist der Abend des Versöhnungstags, der heiligste und schicksalsschwerste Tag im Leben der Juden, in der Anschauung der Juden, der an diesem Abend, wo der Legende nach oder dem Volksglauben nach der Augenblick eintritt, in welchem Gott das Schicksal jedes einzelnen für das ganze nächste Jahr signiert, definitiv bestimmt, also ein ungelehrter Junge soll in diesem Augenblick – der Legende nach – nichts haben sagen können, und da hat er einfach geschwiegen oder – wie andere erzählen – einfach gepfiffen. Das, diese Geschichte, die Macht des Schweigens, war Paul Celan fraglos bekannt. Jedes Kind kannte sie. Und das Verstummen, das Schweigen, kann und soll auch zum Teil gedeutet werden aus dieser jüdischen Tradition, die ja überhaupt große Fragezeichen auf die Aussprechbarkeit tiefer Erlebnisse oder tiefer Wahrheiten stellt. […]
C. B. Also Sie meinen, dass einiges in Celans Poesie auch aus dieser jüdischen Tradition sich herschreibt?
M. B. Ich würde ein Doppeltes behaupten oder wenigstens andeuten: Erstens, dass aus diesem jüdischen Erbe sehr vielgestaltig und sehr vielfältig vieles in Celans Gedichten weiterlebt, zweitens – und vielleicht mit besonderer Betonung –, dass dieses Motiv des Verstummens oder das Bewusstsein des Nicht-sprechen-Könnens speziell in diesem Erbe verwurzelt ist.
C. B. Es gibt noch ein anderes Motiv bei Celan, und zwar das Motiv des Namens, des intentionslosen Namens. Es taucht immer wieder das Wort »Name« auf. Wie es also das Bilderverbot im Jüdischen gibt, so herrscht es auch in der Celanschen Dichtung. Er sagt, seine Gedichte seien auf das Mögliche hin gerichtet. Dabei eröffnet er aber keine neuen Bildräume, Bilderwelten – auch durch eine paradoxe Verschränkung der Wörter, die ja meist keine Metaphern mehr sind bei ihm –, symptomatisch deutet sich das wohl im Wort »Name« an, das vielleicht auf jenes Unaussprechbare verweist.
M. B. Ich will wagen, hier eine Bemerkung zu machen, die man natürlich mit gewisser Beschränkung aufnehmen soll. Im voraus: Ich will nicht alles, was an Celans Poesie da ist, auf sein jüdisches Erbe zurückführen, das wäre natürlich ganz falsch, aber da wir darüber sprachen, will ich sagen, dass im jüdischen religiös-kulturellen Erbe die Metapher für Gott »Name« ist. Das galt für Jahrhunderte, das gilt auch noch heute. Jeder fromme Jude sagt, anstelle »Gott« zu sagen, »Hashem« – der »Name«. Der »Name« ist Realität, und zwar ist der »Name« Realität nicht nur in dem Sinne, dass er magisch irgend etwas hervorbringt, sondern er selber ist es, es ist eine irgendwie direkte Bezeichnung, die, wenigstens der Intention nach, gar nichts anderes mehr bedeuten soll. Und ich kann mir sehr gut denken, dass das eine tiefe Wirkung auf Celan ausgeübt hat.
Da wir bei der Dichtung Celans sind, würde ich gerne vielleicht noch eine andere Bemerkung hinzufügen. Ich habe es oft sagen hören oder gelesen, dass Celans Dichtungen viele präzise Beziehungen und Beschreibungen haben. Ich glaube, man kann manches hier aus unserer direkten Erfahrung erklären.
C. B. Es ist ja, glaube ich, ganz typisch für Celans Dichtung, dass sehr viel eigenes Erfahrenes mit hineinspielt, und auf der anderen Seite auch historisch Aktuelles, und dass das zugleich ins Allgemeine gehoben wird. Das unterscheidet ihn ja wohl auch eben von der Mallarméschen Tradition, die das schon gar nicht mehr getan hatte …
M. B. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Ich tue das wieder mit einem wenigstens zum Teil schlechten Gewissen, denn ich würde nicht alles in seiner Dichtung aus den Erfahrungen des Krieges ableiten wollen. Das ist ganz gewiss falsch. Aber lassen Sie mich einige Bilder assoziativ berichten. Ich gehe aus von der »Todesfuge«, dem Gedicht, das ihn berühmt gemacht hat und das er gegen Ende des Krieges geschrieben hat, 1944. Es gibt da Metaphern oder Halbbilder, die mich sehr genau an gewisse Ereignisse und Erzählungen, die wir in der Zeit zwischen 1942 und 44 gehört haben, erinnern. »Schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens, wir trinken sie nachts, wir trinken und trinken, wir schaufeln ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng. Ein Mann wohnt im Haus, der spielt mit den Schlangen, der schreibt, der schreibt, wenn es dunkelt, nach Deutschland dein goldenes Haar Margarethe. Er schreibt es und tritt vor das Haus, und es blitzen die Sterne. Er pfeift seine Rüden herbei, er pfeift seine Juden hervor, lässt schaufeln ein Grab in der Erde. Er befiehlt uns: Spielt auf nun zum Tanz.«
Darf ich frei assoziieren? Ich bin Wissenschaftler von Beruf, und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich vielleicht jemanden dazu verleiten könnte, zu glauben, dass man alles aus einem Erlebnis ableiten kann … Aber nachdem ich das gesagt habe, lassen Sie mich folgende Erlebnisse und Erinnerungen assoziieren: Wir lesen, »wir schaufeln ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng«. Nun, im Sommer 42, in drei Wochen hintereinander, wurde ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung, der in Czernowitz geblieben ist, unter ganz besonderen Bedingungen – das war eine Extra-Kategorie – deportiert. Da waren auch Paul Celans Eltern dabei. Alle Juden, die weggebracht wurden, wurden umgebracht, wurden erschossen, fast alle. Ich erinnere mich nicht an die Zahl, aber es wurden viele Tausende weggebracht, ich glaube, drei oder vier sind entkommen. Die Erzählungen, die uns dann erreichten – wir waren damals noch in Czernowitz –, waren natürlich uns allen bekannt, fraglos auch Paul Celan.
C. B. Um es einzufügen: Paul Celan ist ja damals eben nicht mit verschleppt worden, sondern blieb in Czernowitz und ist dann in Czernowitz ins Arbeitslager gebracht worden.
M. B. Ja, ja. Eine der Erzählungen war immer, dass die Leute, die dann umgebracht wurden, ihr Grab schaufeln mussten, und ich erinnere mich ganz genau an die Betonung der Erzählung, wie eng es in diesen Gräbern war, nämlich dass niemand natürlich ein Grab für sich hatte und dass die tiefen Gräber, die da von den Leuten geschaufelt wurden, sich mit dicht gedrängten Leichen füllten, und – ich kann das nicht beweisen und ich will das auch nicht beweisen – das Bild von dem Grab in den Lüften, wo man nicht eng liegt, verbindet sich wenigstens in meiner Assoziation mit der Vorstellung von der toten Mutter, die in einem engen Grab liegt.
Darf ich noch eine Assoziation bringen? »Es blitzen die Sterne, er pfeift seine Rüden herbei« – wer immer das sein mag –, »er pfeift seine Juden hervor, lässt schaufeln ein Grab in der Erde, er befiehlt uns, auf, nun zum Tanz«. Nun, diese Deportationen der Juden, die dann über den Bug geschickt wurden – das sind die Deportationen, die für Paul Celan sehr entscheidend wurden, weil eben seine Eltern da umgekommen sind –, die geschahen jede Woche in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag. Die Leute, die bewaffneten, wer immer das war: rumänische Polizei plus andere Gruppen, die die Leute dann zur Deportation holten, die waren merkwürdigerweise wenn nicht immer, dann oft von großen wilden Hunden begleitet, und sein Herbeipfeifen der Rüden erinnert mich wenigstens an dieses Ereignis. Wie er die Rüden heranpfeift, so pfeift er seine Juden hervor, die natürlich alle kamen – was konnten sie sonst tun –, um dann eventuell schließlich ihre Gräber von ihnen schaufeln zu lassen.
Ich habe noch eine kleine Assoziation, die – wie mir scheint – ganz genau hier passt: »Er befiehlt uns, spielt auf nun zum Tanz!« Ich will Ihnen sagen: In diesen Nächten von Samstag auf Sonntag gab es in den verschiedenen Häusern der Machthaber große, ballartige Veranstaltungen, und wir verfolgten mit Schrecken jeden Sonnabend, ob nun diese Vorbereitungen gemacht werden oder nicht. Wurden sie nicht gemacht, so gab's keine Deportation. Um dieselbe Stunde in den frühen Morgenstunden – ich sehe das vor meinen Augen – jetzt –, als die Juden da konzentriert wurden, umgeben von den Rüden und von den Bewaffneten, da gab es verschiedene Kapellen, die die Gäste von diesen Festlichkeiten dann rausbegleitet haben. Ich versteckte mich zu jener Zeit in einer Wohnung, die nicht weit von einem solchen Haus gelegen war, und ich habe das an drei solchen frühen Sonntagmorgen miterlebt, wie man nun aufspielte zum Tanz. Diese Zusammensetzung – Gräber, wo man nicht gedrängt ist, Herbeipfeifen von Rüden und Juden und Aufspielen zum Tanz –, das hat eine für mich bis heute – entschuldigen Sie – erschreckende Genauigkeit. Das wollte ich Ihnen sagen. […]
C. B. Man kann das ja noch an etwas anderem verdeutlichen: Die Literaturwissenschaft hat ja bisher in ihren Interpretationen gar nicht so sehr auf die kulturelle Tradition oder kulturelle Herkunft, aus der Celan kommt, Gewicht gelegt. Was ganz spannend ist, ist ja auch die Namensgeschichte von Celan. Celan hat ja gar nicht Celan ursprünglich geheißen, sondern Paul Ancel. Daraus entstand dann in anagrammatischer Umformung der Name Celan, und der Name Celan bedeutet ja etwas, vielleicht wissen Sie das.
M. B. Darf ich vielleicht noch einen Schritt weiter zurückgehen? Der Name Ancel bedeutet auch etwas. Ancel ist eine Diminutivform von »Enosch«, und das heißt Mensch.
C. B. Also »Menschlein«…
M. B. Ancel ist eigentlich »Menschlein«. Wenigen Leuten wird das bekannt gewesen sein, aber Paul Celan, der einerseits sehr hellhörig war für Worte, immer, auch im privaten Leben, andererseits gut Hebräisch konnte, hat das natürlich gewusst. […] Als Paul Ancel sich Celan zu nennen begann, habe ich keine direkten Beziehungen mehr gehabt. Unsere Wege gingen auseinander, ich ging dann nach dem, was noch nicht Israel war, aber Israel werden sollte, und Paul ging dann schließlich erst nach Bukarest und dann nach Paris. Wir waren in Bukarest zusammen, aber wir haben uns kaum getroffen, mal auf der Straße.
[…]