Roman
Aus dem Englischen
von
Simone Jakob
Ullstein
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Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Februar 2021
© 2009 by David Nicholls
Copyright der deutschen Übersetzung
© 2009 Kein und Aber AG Zürich – Berlin
Copyright der deutschen Ausgabe
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Titel der englischen Originalausgabe:
One Day (Hodder & Stoughton, London)
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Titelabbildung: © James Coates 2020
Autorenfoto: joSon / Gallery Stock
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2338-1
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Für Max und Romy, wenn ihr älter seid.
Und, wie immer, für Hannah.
Wofür sind Tage gut?
In Tagen leben wir.
Sie kommen, wecken uns,
immer von neuem.
Sie sind zum Glücklichsein:
Wo könnten wir sonst leben als in Tagen?
Ja, die Lösung dieser Frage
ruft nach dem Priester und dem Arzt,
in langen Mänteln kommen sie
über die Felder gelaufen.
Philip Larkin, Tage
Dies war für mich ein denkwürdiger Tag, da er gewaltige Veränderungen in mir bewirkte. Doch das gibt es in jedem Leben. Man stelle sich vor, ein ganz bestimmter Tag würde daraus gelöscht, und überlege dann, wie anders dieses Leben verlaufen wäre. Du, der du dies liest, halt ein und denke für einen Augenblick an die lange Kette aus Eisen oder Gold, aus Dornen oder Blumen, die dich niemals gefesselt hätte, wäre nicht an einem denkwürdigen Tage ihr erstes Glied geschmiedet worden.
Charles Dickens, Große Erwartungen
Freitag, 15. Juli 1988
Rankeillor Street, Edinburgh
»Ich glaube, das Wichtigste ist, irgendwas zu verändern«, sagte sie. »Du weißt schon, wirklich zu verbessern.«
»Wie, meinst du etwa ›die Welt verbessern‹?«
»Nicht gleich die ganze Welt. Nur das kleine Stück um dich rum.«
Für einen Augenblick lagen sie schweigend und eng umschlungen in dem schmalen Einzelbett, dann lachten beide in der Dunkelheit vor Sonnenaufgang leise vor sich hin. »Ich kann es nicht fassen, dass ich das gesagt habe«, stöhnte sie. »Klingt ganz schön abgedroschen, was?«
»Schon ein wenig.«
»Ich versuche hier, dich zu inspirieren! Ich versuche, deine schwarze Seele auf das große Abenteuer einzustimmen, das vor dir liegt.« Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Nicht, dass du es nötig hättest. Du hast deine Zukunft bestimmt schon total verplant, heißen Dank auch. Hast wohl irgendwo einen Masterplan deines Lebens rumliegen.«
»Wohl kaum.«
»Was hast du denn sonst vor? Wie sieht der große Plan aus?«
»Na ja, meine Eltern holen mein Zeug ab, nehmen es mit nach Hause, und dann verbringe ich ein paar Tage in ihrer Wohnung in London und besuche Freunde. Danach ab nach Frankreich …«
»Wie nett …«
»Später gucke ich mich vielleicht ein bisschen in China um, anschließend eventuell weiter nach Indien, ein bisschen rumreisen …«
»Reisen«, seufzte sie. »War ja klar.«
»Was hast du gegen Reisen?«
»Klingt mehr nach Realitätsflucht.«
»Ich finde, die Realität wird überbewertet«, sagte er in der Hoffnung, düster und charismatisch zu klingen.
Sie schniefte. »Schätze, das geht in Ordnung, wenn man es sich leisten kann. Aber warum sagst du nicht gleich: ›Ich nehm zwei Jahre Urlaub‹? Ist doch gehopst wie gesprungen.«
»Weil Reisen den Horizont erweitert«, sagte er, stützte sich auf den Ellbogen und küsste sie.
»Also, ich glaube, in deinem Fall hieße das Eulen nach Athen tragen«, sagte sie und wandte das Gesicht ab, zumindest für den Moment. Sie ließen sich auf das Kissen zurücksinken. »Egal, ich hab nicht gemeint, was du nächsten Monat machst, sondern in der richtigen Zukunft, wenn du, keine Ahnung …« Sie schwieg, als versuchte sie sich etwas Fantastisches vorzustellen, etwa eine fünfte Dimension. »… 40 bist oder so. Was willst du mit 40 sein?«
»40?« Auch er hatte Mühe, sich das auszumalen. »Keinen Schimmer. Wie wärs mit ›reich‹?«
»So was von oberflächlich.«
»Na gut, dann ›berühmt‹.« Er knabberte an ihrem Nacken. »Etwas morbide, die Vorstellung, oder?«
»Nicht morbide, es ist … aufregend.«
»›Aufregend!‹« Er ahmte ihren leichten Yorkshire-Akzent nach, so dass es bescheuert klang. Sie erlebte oft, wie reiche, verwöhnte Jungs Dialekte nachäfften, als ob sie ungewöhnlich oder seltsam wären, und nicht zum ersten Mal verspürte sie einen beruhigenden Anflug von Abneigung gegen ihn. Sie rückte von ihm ab und presste den Rücken an die kühle Wand.
»Ja, aufregend. Wir sollten schließlich aufgeregt sein, oder? So viele Möglichkeiten. Wie der Vizedekan schon sagte: ›Alle Türen stehen Ihnen weit offen …‹«
»›Ihre Namen werden dereinst die Zeitungen zieren …‹«
»Eher unwahrscheinlich.«
»Und, bist du aufgeregt?«
»Ich? Gott nein, ich mach gleich in die Hose.«
»Ich auch. Heilige Scheiße …« Plötzlich drehte er sich um und griff nach den Zigaretten auf dem Boden neben dem Bett, wie um seine Nerven zu beruhigen. »40 Jahre. 40. Teufel auch.«
Sie lächelte über seine Panik und beschloss, noch einen draufzusetzen. »Und was willst denn du jetzt machen, wenn du 40 bist?«
Nachdenklich zündete er sich eine Zigarette an. »Tja, die Sache ist die, Em …«
»›Em‹? Wer soll das denn sein?«
»Alle nennen dich Em. Ich habs gehört.«
»Ja, meine Freunde nennen mich Em.«
»Und, darf ich jetzt Em zu dir sagen?«
»Nur zu, Dex.«
»Also, ich habe ziemlich viel über diesen ganzen ›Erwachsenwerden‹-Kram nachgedacht und bin zum Schluss gekommen, dass ich genau so bleiben will, wie ich jetzt bin.«
Dexter Mayhew. Sie linste unter ihrem Pony zu ihm hoch, während er sich an das billige Vinyl-Knopfpolster lehnte, und selbst ohne Brille konnte sie klar erkennen, warum er genau so bleiben wollte, wie er war. Die Augen geschlossen, die Zigarette lässig im Mundwinkel, eine Seite des Gesichts vom warmen, durch den Vorhang rötlich gefärbten Licht des Sonnenaufgangs beschienen, hatte er die Gabe, ständig so auszusehen, als posierte er für ein Foto. »Wie ein junger Gott«, schoss es Emma Morley durch den Kopf, ein alberner Ausdruck aus dem 19. Jahrhundert, aber es gab wirklich keine treffendere Beschreibung, außer vielleicht »schön«. Er hatte eines der Gesichter, bei dem selbst die Knochen unter der Haut anziehend wirken, sogar sein Schädel schien attraktiv. Die Nase war fein, glänzte leicht fettig, und er hatte dunkle Ringe um die Augen, fast schon Veilchen, Ehrenmale, die er sich durch Rauchen und nächtelange, absichtlich verlorene Strip-Poker-Partien mit Mädchen von der Bedales-Schule erworben hatte. Er hatte etwas Katzenhaftes an sich: feine Augenbrauen, volle, etwas zu dunkle, bewusst zum Schmollmund verzogene Lippen, die jetzt trocken, rissig und rot vom bulgarischen Rotwein waren. Das erfreulich schrecklich aussehende Haar war hinten und an den Seiten kurzgeschnitten, aber vorn hatte er eine peinliche kleine Stirnlocke. Das Haargel hatte sich verflüchtigt, und die Tolle sah keck und aufgeplustert aus wie ein albernes Hütchen.
Mit geschlossenen Augen blies er den Rauch durch die Nase. Er schien genau zu wissen, dass er beobachtet wurde, denn er schob sich eine Hand unter die Achsel, so dass die Brustmuskeln und der Bizeps anschwollen. Wo hatte er die Muckis her? Mit Sicherheit nicht vom Sport, es sei denn, man zählte Nacktbaden und Billard dazu. Wahrscheinlich war es einfach die Art von guter Gesundheit, die in seiner Familie vererbt wurde, zusammen mit den Aktien, den Wertpapieren und den teuren Möbeln. Wie ein junger Gott, oder eben schön, die Boxershorts mit dem Paisleymuster bis auf die Hüftknochen heruntergezogen, war er nach vier Jahren College irgendwie hier in dem schmalen Bett ihres winzigen möblierten Zimmers gelandet. »Wie ein junger Gott«! Für wen hältst du dich, Jane Eyre? Werd erwachsen. Sei vernünftig. Reiß dich zusammen.
Sie nahm ihm die Zigarette aus dem Mund. »Ich kann mir vorstellen, wie du mit 40 bist«, sagte sie mit einer Spur Bosheit in der Stimme. »Ich sehs direkt vor mir.«
Er lächelte mit geschlossenen Augen. »Dann schieß mal los.«
»Na schön …« Sie setzte sich auf, die Decke unter die Achseln geklemmt. »Du hockst in ’nem offenen Sportkabrio in Kensington, Chelsea oder irgendeinem anderen Nobelviertel, und das Tolle an dem Auto ist, dass es absolut geräuschlos fährt, wie alle Autos im Jahr, keine Ahnung – 2006?«
Er rechnete mit zusammengekniffenen Augen. »2004 …«
»Das Auto schwebt zehn Zentimeter über dem Boden die Kings Road entlang, dein Bäuchlein klemmt unter dem Lederlenkrad wie ein kleines Kissen, du trägst diese Rennfahrerhandschuhe mit Luftlöchern, hast kein Kinn, und dein Haar lichtet sich. Du bist ein dicker Mann in einem kleinen Auto, knackbraun wie ein gebratener Truthahn …«
»Themenwechsel?«
»Und neben dir sitzt eine Frau mit Sonnenbrille, deine dritte, nein, vierte Frau, bildschön, ein Model, nein, ein Ex-Model, 23 Jahre alt, du hast sie getroffen, als sie bei einer Autoausstellung in Nizza auf einer Motorhaube lag oder so, und sie ist atemberaubend schön und dumm wie Brot …«
»Klingt gut. Kinder?«
»Keine Kinder, bloß drei Scheidungen, es ist ein Freitag im Juli, ihr seid auf dem Weg zu irgendeinem Landhaus, im winzigen Kofferraum deines schwebenden Autos liegen Tennis- und Krocketschläger, ein Korb voll mit edlem Weißwein, südafrikanischen Trauben, ein paar bedauernswerten kleinen Wachteln und Spargel, und der Wind weht dir durch die Geheimratsecken, du bist unglaublich selbstzufrieden, und Ehefrau Nummer drei, vier, weiß der Teufel, lächelt dich mit zweihundert strahlendweißen Beißerchen an, du lächelst zurück und versuchst zu verdrängen, dass ihr euch nichts, rein gar nichts zu sagen habt.«
Plötzlich brach sie ab. Du klingst total durchgeknallt, sagte sie sich. Versuch, normaler zu klingen. »Aber falls es dich tröstet, wir gehen sowieso alle vorher bei ’nem Atomkrieg drauf!«, fuhr sie fröhlich fort, doch er sah sie immer noch stirnrunzelnd an.
»Vielleicht sollte ich lieber gehen. Wenn ich so oberflächlich und verdorben bin …«
»Nein, geh nicht«, sagte sie, etwas zu schnell. »Es ist doch erst vier.«
Er rutschte nach oben, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war. »Keine Ahnung, wie du zu dieser Vorstellung von mir kommst, du kennst mich doch kaum.«
»Ich kenne deinen Typ.«
»Meinen Typ?«
»Ich habe euch gesehen, ihr lungert bei den Literatur- und Sprachwissenschaften rum, grölt euch Sachen zu, schmeißt Dinnerpartys im Smoking …«
»Ich habe überhaupt keinen Smoking. Und grölen tu ich schon gar nicht …«
»Schippert in den Semesterferien auf Jachten durchs Mittelmeer, heititei, wir sind so toll …«
»Wenn ich so schrecklich bin …« Er legte ihr die Hand auf die Hüfte.
»… bist du.«
»… warum schläfst du dann mit mir?«
Seine Hand lag jetzt auf dem warmen weichen Fleisch ihres Schenkels.
»Hab ich strenggenommen doch gar nicht, oder?«
»Kommt drauf an.« Er beugte sich vor und küsste sie. »Definier den Begriff.« Er legte ihr die Hand auf das Kreuz und ließ ein Bein zwischen ihre gleiten.
»Übrigens«, murmelte sie, den Mund gegen seinen gepresst.
»Was?« Er spürte, wie sie das Bein um seines schlang und ihn enger an sich zog.
»Du müsstest dir mal die Zähne putzen.«
»Mich störts nicht, wenns dich nicht stört.«
»Es ist schrecklich«, lachte sie. »Du schmeckst nach Wein und Kippen.«
»Na, dann sind wir ja quitt. Du nämlich auch.«
Abrupt drehte sie den Kopf weg. »Echt?«
»Mich störts nicht. Ich steh auf Wein und Kippen.«
»Bin gleich wieder da.« Sie schlug die Decke zurück und kletterte über ihn hinweg.
»Wo willst du hin?« Er legte ihr die Hand auf den nackten Rücken.
»Bloß auf den Lokus«, sagte sie und fischte ihre Brille vom Bücherstapel neben dem Bett; ein dickes, schwarzes Kassengestell Modell Nullachtfünfzehn.
»›Lokus‹, ›Lokus‹ … das Wort ist mir leider …«
Einen Arm über die Brust gelegt, blieb sie stehen, wobei sie darauf achtete, ihm den Rücken zuzudrehen. »Bleib, wo du bist«, sagte sie, tappte aus dem Zimmer und hakte zwei Finger in den Bund ihres Schlüpfers, um ihn herunterzuziehen. »Und spiel nicht an dir rum, während ich weg bin.«
Er atmete durch die Nase aus, setzte sich auf, sah sich in dem schäbigen Zimmer um und wusste mit absoluter Gewissheit, irgendwo zwischen den Kunstpostkarten und fotokopierten Plakaten von engagierten Theaterstücken lag ein Foto von Nelson Mandela – wie das Bild eines Schwarms. In den vergangenen vier Jahren hatte er, über die Stadt verteilt wie Tatorte auf einer Karte, unzählige solcher Schlafzimmer gesehen, in denen man nie weiter als zwei Meter von einem Nina-Simone-Album entfernt war. Und obwohl er selten zweimal dasselbe Schlafzimmer besuchte, kam ihm alles nur zu bekannt vor. Die kaputten Nachtlichter, die verwelkten Topfpflanzen und der Waschmittelgeruch der billigen, schlecht sitzenden Laken. Sie hatte auch die für künstlerisch angehauchte Mädchen typische Vorliebe für Fotomontagen: Schnappschüsse von Kommilitonen und der Familie inmitten von Chagalls, Vermeers, Kandinskys, Che Guevaras, Woody Allens und Samuel Becketts. Nichts war neutral, alles verriet irgendeine Anhängerschaft oder einen Standpunkt. Das Zimmer war ein Manifest, und seufzend erkannte Dexter sie als die Art von Mädchen, die »Bourgeois« für ein Schimpfwort hält. Er verstand, warum »Faschist« negative Konnotationen hatte, aber er mochte das Wort »Bourgeois« und alles, was damit zusammenhängt. Sicherheit, Reisen, Ehrgeiz, gutes Essen und gute Manieren; weshalb sollte er sich dafür entschuldigen?
Er sah den Rauchkringeln seiner Zigarette aus seinem Mund nach. Dann machte er sich auf die Suche nach einem Aschenbecher und fand neben dem Bett ein Buch. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, dessen Rücken an den »erotischen« Stellen geknickt war. Das Schlimme an diesen ultraindividualistischen Mädchen war, dass sie alle gleich waren. Noch ein Buch: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Was für ein Idiot, dachte er in der Gewissheit, dass ihm so ein Irrtum nie unterlaufen würde.
Mit 23 Jahren hatte Dexter Mayhew ähnlich nebulöse Zukunftsvorstellungen wie Emma Morley. Er hoffte, Erfolg zu haben, seine Eltern stolz zu machen und mit mehr als einer Frau gleichzeitig zu schlafen, aber wie ließ sich das alles vereinbaren? Er wollte, dass Zeitschriftenartikel über ihn erschienen, und hoffte, es werde eines Tages eine Retrospektive seiner Werke geben, ohne einen Schimmer zu haben, was für Werke das sein könnten. Er wollte das Leben voll und ganz auskosten, ohne Schlamassel und Komplikationen. Wenn ein Fotograf von einem beliebigen Augenblick seines Lebens ein Foto machte, sollte es ein cooles Bild werden. Alles sollte perfekt aussehen. Es sollte jede Menge Spaß und nicht mehr Traurigkeit darin geben als unbedingt notwendig.
Das war kein besonders toller Plan, und er hatte auch schon Fehler gemacht. Diese Nacht beispielsweise würde bestimmt nicht ohne unangenehme Folgen bleiben: Tränen, peinliche Telefongespräche und Vorwürfe. Am besten, er verdrückte sich so schnell wie möglich, und zur Fluchtvorbereitung sah er sich nach seinen abgelegten Kleidern um. Als aus dem Badezimmer das warnende Scheppern und Rauschen einer antiken Toilettenspülung ertönte, legte er das Buch hastig zurück, fand unter dem Bett ein kleines gelbes Colman’s-Senfglas, öffnete es, um festzustellen, ja, es enthielt Kondome sowie die winzigen, grauen Überbleibsel eines Joints, die aussahen wie Mäusedreck. Das kleine gelbe Senfglas und die Aussicht auf Sex und Drogen gaben ihm neue Hoffnung, und er beschloss, wenigstens noch ein Weilchen zu bleiben.
Im Badezimmer wischte sich Emma Morley die Zahnpasta-Halbmonde aus den Mundwinkeln und fragte sich, ob das alles nicht ein schrecklicher Fehler war. Nach vierjähriger romantischer Durststrecke war sie endlich, endlich mit jemandem im Bett gelandet, den sie wirklich mochte, auf Anhieb gemocht hatte, seit sie ihn 1984 auf einer Party zum ersten Mal gesehen hatte, doch in ein paar Stunden würde er weg sein. Wahrscheinlich für immer. Er würde sie wohl kaum bitten, ihn nach China zu begleiten – und abgesehen davon boykottierte sie China. Aber er war in Ordnung, oder? Dexter Mayhew. Insgeheim hatte sie zwar den Verdacht, dass er nicht übermäßig helle und etwas zu selbstzufrieden war, aber er war beliebt, witzig und – das ließ sich nicht leugnen – verdammt gutaussehend. Weshalb war sie dann so kratzbürstig und sarkastisch? Wieso konnte sie nicht so selbstbewusst und amüsant sein wie die adretten, gutgelaunten Mädchen, mit denen er sonst herumhing? Morgenlicht drang durch das winzige Badezimmerfenster. Nüchternheit. Mit den Fingerspitzen fuhr sie sich durch das widerspenstige Haar, schnitt eine Grimasse, zog die Kette der antiken Klospülung und ging zurück ins Zimmer.
Vom Bett aus sah Dexter sie im Türrahmen auftauchen, sie trug das Barett und den Talar, die sie für die Abschlusszeremonie hatten ausleihen müssen, und schlang das Bein gespielt lasziv um den Türrahmen, in der Hand das zusammengerollte Abschlusszeugnis. Sie spähte über den Brillenrand und zog sich das Barett tief ins Gesicht. »Und, wie seh ich aus?«
»Steht dir. Besonders das kecke Hütchen. Und jetzt zieh das aus und komm zurück ins Bett.«
»Vergiss es. Ich habe 30 Mäuse dafür hingeblättert. Das muss man ausnutzen.« Sie schlang den Talar um sich wie ein Vampircape. Dexter zog daran, aber sie schlug mit der Zeugnisrolle nach ihm, setzte sich auf den Bettrand, nahm die Brille ab und schlüpfte aus dem Talar. Er erhaschte einen letzten Blick auf ihren nackten Rücken und die Rundung ihrer Brust, bevor sie sich ein schwarzes T-Shirt überzog, das sofortige Nuklearabrüstung forderte. Das wars dann wohl, dachte er. Nichts war sexuellem Begehren so abträglich wie ein langes schwarzes politisches T-Shirt, außer vielleicht ein Tracy-Chapman-Album.
Resigniert hob er das Zeugnis vom Boden auf, nahm das Gummiband ab, entrollte es und verkündete laut: »Englisch und Geschichte, Doppelabschluss, Einskommanull.«
»Da kannst du mit deinem ›Befriedigend‹ einpacken.« Sie griff nach dem Zeugnis. »He, vorsichtig damit.«
»Lässt es dir wohl einrahmen, was?«
»Meine Eltern lassen sich ’ne Tapete draus machen.« Sie rollte es fest zusammen und klopfte gegen die Enden. »Oder laminierte Platzdeckchen, oder meine Mum lässt es sich auf den Rücken tätowieren.«
»Wo sind deine Eltern überhaupt?«
»Och, nebenan.«
Er verzog das Gesicht. »Ohne Scheiß?«
Sie lachte. »Nö. Sind wieder nach Leeds gefahren. Dad findet, Hotels sind was für feine Pinkel.« Sie ließ die Rolle unterm Bett verschwinden. »Rutsch mal«, sagte sie und bugsierte ihn auf die kalte Bettseite. Er machte Platz, legte ihr etwas unbeholfen den Arm unter die Schultern und küsste sie versuchsweise auf den Hals. Sie zog das Kinn ein, um ihn anzusehen.
»Dex?«
»Hm.«
»Lass uns nur kuscheln, ja?«
»Klar doch. Wenn du möchtest«, sagte er galant, obwohl Kuscheln überhaupt nicht sein Ding war. Das war was für Großtanten und Teddybären. Vom Kuscheln bekam er einen Krampf. Besser, er gab sich geschlagen und trat schnellstmöglich den Rückzug an, aber sie legte ihm besitzergreifend den Kopf auf die Schulter, und so blieben sie eine Zeitlang steif und befangen liegen, bis sie sagte:
»Unfassbar, dass ich ›kuscheln‹ gesagt habe. Scheiße auch – kuscheln. Entschuldige.«
Er lächelte. »Schon okay. Wenigstens wars nicht knuddeln.«
»Knuddeln ist übel.«
»Oder schmusen.«
»Schmusen ist grausam. Schwören wir feierlich, nie, nie zu schmusen«, sagte sie und bereute die Bemerkung sofort. Was, miteinander? Eher unwahrscheinlich. Sie schwiegen wieder. In den letzten acht Stunden hatten sie geredet und geknutscht, und beide verspürten die tiefe, körperliche Erschöpfung, die bei Sonnenaufgang einsetzt. Im überwucherten Garten hinter dem Haus sangen die Amseln.
»Ich mag das Geräusch«, murmelte er in ihr Haar. »Amseln bei Sonnenaufgang.«
»Ich hasse es. Gibt mir das Gefühl, was getan zu haben, das ich bereuen werde.«
»Deshalb mag ich es ja«, sagte er in dem erneuten Versuch, düster und charismatisch zu klingen. Kurz darauf fügte er hinzu: »Hast du das denn?«
»Was?«
»Etwas getan, das du bereuen wirst?«
»Du meinst, das hier?« Sie drückte ihm die Hand. »Oh, ich schätze schon. Weiß ich noch nicht, oder? Frag mich morgen noch mal. Und du?«
Er küsste sie aufs Haar. »Natürlich nicht«, sagte er und dachte: Das darf nie, nie wieder vorkommen.
Zufrieden schmiegte sie sich enger an ihn. »Wir sollten schlafen.«
»Wozu? Morgen steht nichts an. Keine Abgabetermine, keine Arbeit …«
»Nur der Rest unseres Lebens«, sagte sie schläfrig, atmete seinen wunderbar warmen, muffigen Geruch ein, während ihr bei dem Gedanken an ein unabhängiges Erwachsenenleben ein unbehaglicher Schauder über den Rücken kroch. Emma fühlte sich nicht erwachsen. Sie war völlig unvorbereitet. Es war, als wäre mitten in der Nacht ein Feueralarm losgegangen und sie stehe mit einem Kleiderbündel im Arm auf der Straße. Was sollte sie nach der ganzen Lernerei jetzt tun? Was sollte sie mit ihrer Zeit anfangen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung.
Der Trick ist, sagte sie sich, mutig und unerschrocken zu sein und etwas zu verändern. Vielleicht nicht gleich die ganze Welt, nur das kleine Stück um dich herum. Geh da raus mit deinem Doppeleinserabschluss, deiner Leidenschaft und der neuen, elektrischen Smith-Corona-Schreibmaschine und arbeite hart … woran auch immer. Vielleicht das Leben mithilfe der Kunst zu verändern. Schreib etwas Schönes. Kümmer dich um deine Freunde, bleib deinen Prinzipien treu, leb dein Leben gut, leidenschaftlich und in vollen Zügen. Mach neue Erfahrungen. Liebe und werde geliebt, wenn es irgendwie geht. Iss vernünftig. Etwas in der Richtung.
Das war zwar keine berauschende Lebensphilosophie und bestimmt keine, die sie jemandem mitteilen konnte, am allerwenigstem diesem Mann hier, aber sie glaubte daran. Und bislang waren die ersten paar Stunden ihres unabhängigen Erwachsenenlebens doch ganz in Ordnung gewesen. Vielleicht fand sie ja am nächsten Morgen, nach Tee und Aspirin, den Mut, ihn wieder ins Bett zu bitten. Bis dahin wären sie wieder nüchtern, was die Sache nicht erleichterte, aber vielleicht würde es ihr ja Spaß machen. Die wenigen Male, die Emma mit Jungs ins Bett gegangen war, hatte sie entweder einen Kicheranfall bekommen oder war in Tränen ausgebrochen, und es wäre nett, mal irgendwas dazwischen zu erleben. Sie fragte sich, ob noch Kondome im Senfglas waren. Wahrscheinlich schon, zumindest waren noch welche da gewesen, als sie das letzte Mal nachgeschaut hatte: Februar 1987, Vince, ein Chemieingenieur mit behaartem Rücken, der sich mit ihrem Kissenbezug die Nase geputzt hatte. Zauber der Liebe …
Draußen wurde es hell. Dexter sah das rötliche Licht durch die dicken Wintervorhänge schimmern, die zum Inventar gehörten. Um sie nicht zu wecken, streckte er vorsichtig den Arm aus, ließ die Zigarettenkippe in eine Tasse Wein fallen und starrte an die Decke. An Schlaf war nicht zu denken. Stattdessen würde er Muster in das graue Artex knibbeln, bis sie fest eingeschlafen war, und sich dann klammheimlich davonstehlen.
Wenn er sich jetzt vom Acker machte, würde er sie allerdings nie wieder sehen. Ob es ihr etwas ausmachen würde? Vermutlich schon, das war meistens so. Und er? Vier Jahre lang war er problemlos ohne sie ausgekommen. Bis zur gemeinsamen Nacht hatte er geglaubt, sie hieße Anna, und trotzdem hatte er auf der Party nicht den Blick von ihr abwenden können. Warum war sie ihm erst jetzt aufgefallen? Er betrachtete ihr Gesicht, während sie schlief.
Emma war hübsch, aber das schien sie zu ärgern. Ihr rot gefärbtes Haar war fast fahrlässig schlecht geschnitten, vermutlich tat sie es selbst vor einem Spiegel oder ließ das von Tilly Dingsbums erledigen, ihrer lauten, stämmigen Mitbewohnerin. Die leicht aufgedunsene, blasse Haut verriet, dass sie zu viel Zeit in Bibliotheken oder beim Biertrinken in Pubs verbrachte, und die Brille ließ sie spröde und eulenhaft wirken. Das Kinn sah weich und leicht mollig aus, aber das war vielleicht nur Babyspeck (oder durfte man »mollig« und »Babyspeck« heute nicht mehr sagen, so, wie man ihr nicht sagen konnte, dass sie geile Brüste hatte, ohne dass sie ausrastete, selbst wenn es stimmte).
Egal, zurück zu ihrem Gesicht. Die Spitze ihrer hübschen, kleinen Nase glänzte leicht fettig, und sie hatte ein paar winzige rote Pickel auf der Stirn, aber ansonsten ließ sich nicht leugnen, dass – nun, ihr Gesicht war hinreißend. Sie hatte die Augen geschlossen, und er konnte sich nicht an die genaue Farbe erinnern, nur, dass sie groß und leuchtend waren und Humor verrieten; wie die beiden ausgeprägten Lachfältchen um den breiten Mund, die sich noch vertieften, wenn sie lächelte, was sie anscheinend oft tat. Glatte, rosige, einladend warm aussehende Wangen. Die ungeschminkten, weichen, himbeerroten Lippen, die sie beim Lächeln fest zusammenpresste, vielleicht um die Tatsache zu verbergen, dass ihre Zähne einen Tick zu groß waren oder dass ein Stück des Schneidezahns abgebrochen war: All das erweckte den Eindruck, als unterdrückte sie ein Lachen, eine kluge Bemerkung oder irgendeinen tollen, geheimen Witz.
Wenn Dexter jetzt abhaute, würde er dieses Gesicht möglicherweise nie wieder sehen, außer vielleicht in zehn Jahren bei irgendeinem schrecklichen Jahrgangstreffen. Sie hätte zugenommen, wäre desillusioniert und würde ihm vorwerfen, dass er sich ohne Abschied davongestohlen hatte. Besser, er verdrückte sich heimlich und mied Jahrgangstreffen. Immer vorwärts, kein Blick zurück. Da draußen gab es noch jede Menge andere Gesichter.
Als er sich gerade entschieden hatte, verzog sie den Mund zu einem breiten Lächeln und sagte mit geschlossenen Augen:
»Und, was hältst du davon, Dex?«
»Wovon, Em?«
»Uns beiden. Ist es die große Liebe, was meinst du?«, und sie lachte leise mit fest geschlossenen Lippen.
»Schlaf einfach, ja?«
»Dann hör auf, mich anzustarren.« Sie öffnete die Augen, die blaugrün, strahlend und scharfsinnig waren. »Welcher Tag ist morgen?«, murmelte sie.
»Du meinst heute?«
»Heute. Der strahlende, neue Tag, der uns erwartet.«
»Es ist Freitag. Freitag, den ganzen Tag. Der Tag des heiligen Swithin, um genau zu sein.«
»Was für ein Tag?«
»Alte Bauernregel. Wenns heute regnet, regnet es noch 40 Tage weiter, den ganzen Sommer oder irgendwas in der Richtung.«
Sie runzelte die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Soll es ja auch nicht. Es ist ein Aberglaube.«
»Wo soll es denn regnen? Es regnet doch immer irgendwo.«
»Auf St. Swithins Grab. Es liegt vor der Kathedrale von Winchester.«
»Woher weißt du das?«
»Ich bin da zur Schule gegangen.«
»Nobel geht die Welt zugrunde«, murmelte sie ins Kissen.
»›Gibts Regen am St.-Swithins-Tag, Dingsda dumdidum nicht enden mag.‹«
»Wie poetisch.«
»Na ja, war ein freies Zitat.«
Sie lachte wieder und hob schläfrig den Kopf. »Dex?«
»Em?«
»Was, wenn es heute nicht regnet?«
»M-hm.«
»Hast du schon was vor?«
Sag ihr, du hast keine Zeit.
»Nichts Besonderes«, antwortete er.
»Hast du Lust, was zu unternehmen? Mit mir, meine ich?«
Warte, bis sie schläft, und zieh Leine.
»Ja. Geht klar«, sagte Dexter. »Lass uns was unternehmen.«
Emma ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. »Ein ganz neuer Tag«, murmelte sie.
»Ein ganz neuer Tag.«