Ich gehöre zu den Menschen, die das, was wir als die sogenannte Wahrheit bezeichnen, gerne infrage stellen.
Ja, ich glaube an den Mythos des American Gothic. Dieser Kleinstadtcharme ist doch im Grunde genommen seine eigene Parodie, und Lokalstolz nichts anderes als unter blütenreinen Sonntagsklamotten versteckte Angst. Ich glaube, Norman Rockwell und Grant Wood hätten ihre helle Freude daran gehabt, ein ländliches Idyll meiner Heimatstadt Horseshoe Bay zu malen. Aber wie hätten sie uns wohl gesehen, wenn sie sich unserer traumhaften Küstenlandschaft gewidmet hätten?
Kratzt man den Lack einer x-beliebigen amerikanischen Kleinstadt ab, entdeckt man beinahe unausweichlich das schwarze, verfaulte Herz, das sich darunter versteckt.
Ich habe mein ganzes Leben in Horseshoe Bay verbracht. Seine Bräuche, seine Traditionen – sie gehören zu mir, sind mir angeboren wie meine Fingerabdrücke, durchdringen meine DNA.
Und ich liebe das Leben hier, trotz aller Kleinstadtgeheimnisse. Ich liebe die echten, lebendigen Dinge. Die skurrilen Eigenarten und kleinen Details, die unserer Stadt Licht und Leben einhauchen. Wie zum Beispiel die alljährlichen Feierlichkeiten zum Gedenken an den Tag, an dem Horseshoe Bay seinen Namen bekam. So zuverlässig wie die Tagundnachtgleiche, so sicher wie die länger werdenden Tage im Frühling. Eine Feier der Wurzeln und der Geschichte unserer Gemeinde.
Denn was könnte schließlich feierwürdiger sein?
Meine schönsten Erinnerungen an den Stadt-Namenstag sind in eisgekühlte Limonade getränkt und von frischer, sonniger Frühlingsluft umweht. Sie riechen nach dem letzten abendlichen Kaminfeuer des Winters, erstrahlen im Glanz des Sternenlichts, wenn die Sonne am Horizont abtaucht. Ich erinnere mich an so viele Dinge: Wie unglaublich klein ich war, als ich einer Traube älterer Mädchen zusah, die schwanengleich an mir vorüberschwebten wie Nymphen in der blauen Stille der Abenddämmerung, Kronen aus Blüten in ihr Haar geflochten. Ich erinnere mich an die Stimme meiner Mutter, wenn sie – lachend, aber furchtbar schief – die beliebtesten Hits von Horseshoe Bay mitsang, die live – und ebenso schief, das war fast schon ein ungeschriebenes Gesetz – auf der winzigen Freilichtbühne der Stadt dargeboten wurden. Und ich erinnere mich daran, wie ich als kleines Mädchen begeistert beim Sackhüpfen mitmachte und wie ich Händchen haltend mit meinen Freundinnen Riesenrad fuhr, lauter Meerjungfrauen-Prinzessinnen mit bunt geschminkten Gesichtern, die Münder vor begeistertem Entsetzen in stummen Schreien weit aufgerissen, als unsere Kabine den höchsten Punkt erreichte.
Aber ich bin nicht die Einzige mit Erinnerungen an den Namenstag. Jeder in dieser Stadt hat seine ganz eigenen.
Und der Legende zufolge sind einige von ihnen alles andere als glücklich.
Zu dumm nur, dass ich nicht an Legenden glaube. Ich glaube weder an Schwarze Magie noch an das Übersinnliche oder an irgendetwas, was ich nicht mit eigenen Augen sehen kann.
Blut. Wissenschaft. Fakten. Das sind die Dinge, an die ich glaube. Dinge, die ich in Zahlen ausdrücken kann. Dinge, die ich beweisen kann. Die ich in meiner Hand halten kann.
Ich glaube an Kleinstädte und salzige Luft. Und ja, sogar an die dunklen Geheimnisse, die meine Freunde und Nachbarn mit sich herumtragen, ganz tief in ihren Herzen. Wir alle haben unsere Leichen im Keller, unser persönliches Kreuz zu tragen. Das ist nun mal eine Tatsache, ein Nebenprodukt der menschlichen Natur.
Aber Legenden? Schauermärchen? Böse Flüche?
Nein.
Ein Fluch ist nichts anderes als ein Rätsel, das in eine eindringliche, ernste Warnung verpackt ist. Ich glaube nicht an Flüche.
Aber jeder weiß, dass ich einem guten Rätsel nicht widerstehen kann.
Und jeder weiß, dass selbst das beste Rätsel keine Chance gegen mich hat.
– Freitag –
Besetzungsliste für den Namenstag: Countdown ist ABGELAUFEN!
Wenn es eines gibt, das die braven Einwohner von Horseshoe Bay lieben, dann ist es ein Fest, und kein anderes lieben sie vermutlich so sehr wie das Fest zum Stadt-Namenstag! Und das Kronjuwel dieser zweitägigen Feierlichkeiten? Nun, über Favoriten kann man streiten – und das tun wir hier auch! –, aber eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die dramaturgische Nachstellung der historischen Namensgebungszeremonie, die am Samstagnachmittag stattfindet, steht bei allen ganz weit oben auf der Favoritenliste!
Und in diesem Jahr sind die Erwartungen und die Begeisterung so groß wie nie, denn wir bereiten uns auf den hundertfünfundsiebzigsten Jahrestag der Namensgebung unserer schönen Stadt vor! Was könnte schließlich bejubelnswerter sein als ein Horseshoe-Bay-Jubiläum?!
Es überrascht daher nicht, dass sämtliche Korridore der Keene High vor Aufregung nur so knistern – und vor endlosen Spekulationen darüber, wer in diesem Jahr zu den glücklichen Auserwählten zählt und es auf die Besetzungsliste für besagte Aufführung geschafft hat. Doch keine Angst, Neptunes! Mehrere Quellen bestätigen, dass die komplette Liste noch heute Nachmittag auf dem Schulhof aushängen wird, wo sie nach dem letzten Klingeln all jene unter euch erwarten wird, die schon beinahe vor quälender Neugier sterben. Und so begebet euch denn gen Schulhof und haltet sämtliche Daumen gedrückt. Doch vergesst nicht: Nur für ein paar wenige glückliche Auserwählte der Abschlussklasse wird dieser Stadt-Namenstag der beste sein, den sie je erlebt haben!
»Wow, Nancy, das ist definitiv ein … lebhafter Artikel in der heutigen Masthead-Ausgabe. Ehrlich, ich bin schon vom Überfliegen total erschöpft. Hast du heute Morgen vielleicht aus Versehen Erkältungsmittel eingeatmet oder so?«
Ich machte die Tür meines Spinds zu. Lena Barrow, Captain des Cheerleading-Teams und ein Drittel unseres absolut unzertrennlichen Highschool-Trios, wartete auf mich, ein leicht irritiertes Grinsen auf den Lippen und in der Hand ein zusammengefaltetes Exemplar der aktuellen Ausgabe unserer Schülerzeitung mit den jüngsten Ergüssen meiner Tätigkeit als Schreiberling.
»Ernsthaft?« Ich bedachte sie mit einem Augenrollen. Lena waren ausgeprägte Meinungen alles andere als fremd, und sie war auch ganz sicher nie zu schüchtern, ihren eigenen Standpunkt kundzutun – mit der Folge, dass sie hin und wieder Angst und Schrecken unter ihren Mitschülern verbreitete. Mein Glück war, dass ich einfach verstand, wie Lena tickte: Sie bellte gerne laut, biss aber nur sehr selten. Und mein noch größeres Glück: Ich ließ mir so schnell keine Angst einjagen. »Aber danke für dein Feedback. Ist hiermit zur Kenntnis genommen.«
»Was nehmen wir zur Kenntnis?«
Apropos »lebhaft«: Wie aufs Stichwort tauchte Daisy Dewitt auf, die Dritte in unserem Power-Dreigestirn. Sie drückte sich zwischen Lena und meinen Spind und vibrierte förmlich vor Energie. Ihre großen blauen Augen leuchteten und selbst ihr glänzendes, von der Sonne gesträhntes blondes Haar knisterte regelrecht vor Aufregung. Lena mochte vielleicht unser Cheerleader-Captain sein, aber Daisy lief definitiv allen den Rang ab, wenn es um Teamgeist ging. Außerdem war sie ganz allgemein ein entschieden freundlicheres und sanfteres Wesen als unser Alphaweibchen. Und sie war meine beste Freundin.
»Nur die Tatsache, dass der Stadt-Namenstag offiziell vor der Tür steht!« Ich drückte Daisys Hand. Sie war in der Abschlussklasse, was – hoffentlich – bedeutete, dass sie dieses Jahr endlich die Hauptrolle bei der Aufführung bekommen würde. Unsere Kleine war aus mehreren Gründen die große Favoritin – schon ihr Nachname bestätigte schließlich ihren »Gründerfamilien«-Status, was in Horseshoe Bay praktisch einem royalen Titel gleichkam. Trotzdem war sie wegen der ganzen Sache furchtbar nervös, was irgendwie niedlich war. Und dabei war ihre Bescheidenheit noch nicht mal aufgesetzt. Bei jedem anderen wäre ein derartiges Verhalten absolut unerträglich gewesen, aber bei ihr war es einfach nur charmant. Es gehörte zu den Dingen, die ich am liebsten an ihr mochte, und war wohl einer der Hauptgründe dafür, dass wir seit dem Kindergarten befreundet waren.
»Oder dass zumindest die Besetzungsliste steht«, entgegnete Daisy. »Wie du ja selbst so gewandt in deinem, äh, enthusiastischen Masthead-Beitrag dargelegt hast.«
Lena wackelte selbstgefällig mit den Augenbrauen. »Was hab ich dir gesagt, Nance? Manchmal macht eben die Interpunktion die Musik.«
»Schon gut, schon gut. Ich verspreche, dass ich beim nächsten Mal nicht mehr so mit Ausrufezeichen um mich werfe.« Um ehrlich zu sein, hatte ich in diesem Punkt selbst so meine Zweifel gehabt, schließlich war »lebhafte Begeisterung« normalerweise nicht mein Ding.
Daisy hakte sich bei uns beiden unter und führte uns mit zielstrebigen Schritten den Korridor hinunter. »Schon okay«, trällerte sie. »Ich weiß, dass du wegen des Namenstags nur total aufgeregt warst – also meinetwegen, natürlich. Ich meine, ihr zwei seid wahrscheinlich die beiden einzigen Menschen auf der Welt, die meinetwegen genauso aufgeregt sind wie ich!« Sie kicherte. Wenn man mit Daisy zusammen war, kam man sich manchmal vor wie in einer riesigen Limonadenflasche, blubbernd und süß und jeden Moment bedrohlich kurz davor, total überzuschäumen oder überzusprudeln. Und das meine ich natürlich total positiv.
Wir gingen den Korridor bis zum Ende hinunter und verließen das Schulgebäude durch den Hinterausgang, der auf den weitläufigen, grasbewachsenen Schulhof führte. Der Himmel war blau marmoriert, von milchigen Wolkenschlieren durchzogen, und auf dem Schulhof …
Lena sprach als Erste aus, was wir wohl alle dachten. »O weh! Es wird Blut fließen.«
»Sieht definitiv ein bisschen nach Hunger Games aus da draußen«, stimmte ich ihr zu. Das war leicht übertrieben – aber wirklich nur leicht. Der Schulhof platzte vor Neptunes förmlich aus allen Nähten. Offenbar versuchten sämtliche Schüler der Abschlussklasse, einen Blick auf die Besetzungsliste zu erhaschen, während sich ihre Freunde im Hintergrund tummelten.
»Wie sind die denn alle vor uns hier rausgekommen?«, stöhnte Daisy. »Ich bin nach dem letzten Klingeln sofort zu euch gerannt.«
»Und das war dein erster Fehler«, erklärte Lena ihr.
»Okay, ich stürz mich rein.« Sie winkte uns noch kurz über die Schulter hinweg zu und hüpfte dann davon, um sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen. Mir persönlich kam das Gewühl aus Schülern, die sich vor der mächtigen Eiche drängelten, an der traditionell sämtliche Ankündigungen angeschlagen wurden, allerdings vollkommen undurchdringlich vor.
Stolz beobachtete ich jedoch, wie Daisy eine Mitschülerin aus ihrer Stufe mit einem lässigen Hüft-Check zur Seite schubste und ihr ihr schönstes »verlegenes« Lächeln zur Entschuldigung schenkte. »Tja, sie ist ganz sicher nicht zum Spaß hier.« Das hier war ihr großer Moment, und ihre Begeisterung war richtig ansteckend.
»Mein kleines Mädchen wird erwachsen«, sagte Lena und wischte sich eine nicht existierende Träne von der Wange, obwohl sie in meinem Jahrgang und damit jünger als Daisy war. »Aber mal ernsthaft: Kann man ihr das übel nehmen? Sie stammt aus einer Gründerfamilie. Ich meine, das ist sozusagen die Rolle, für die sie geboren wurde. Sie hat quasi schon die Tage bis zu diesem speziellen Namenstag gezählt, als sie noch in den Windeln lag.«
Das entsprach der Wahrheit. Daisy stammte von einer langen Reihe von Dewitts ab, auch bekannt als eine der »wahren Gründerfamilien«, an die jedes Jahr bei den Namenstagsfeierlichkeiten erinnert wurde. Es war einer ihr Ururur-und-so-weiter-und-sofort-Großväter gewesen, der damals die Stadtrechtsurkunde unterzeichnet hatte. Colonel Chester Dewitt, obendrein ein echter Kriegsheld, gehörte bei der alljährlichen Dramatisierung wenig überraschend zu den begehrtesten Rollen. Jedes Jahr wurden bei der Zeremonie einige bedeutende Szenen aus dem Leben der ersten Bewohner von Horseshoe Bay nachgestellt, die stets in einer Darbietung der allerersten Namensgebungszeremonie ihren Höhepunkt fanden. Daisys Familie war natürlich viel zu achtbar, um sich auf ein so unseriöses Niveau wie Vetternwirtschaft herabzulassen. Daisy hatte daher wie alle anderen bis zu ihrem Abschlussjahr warten müssen, um überhaupt für die ersehnte Hauptrolle vorsprechen zu können.
Das war zumindest meine Version. In Wahrheit waren die Dewitts ein wenig … exzentrisch. Und ihr exzentrisches Wesen führte unter anderem dazu, dass sie sich am liebsten bedeckt hielten. Was hin und wieder extreme Ausmaße annahm.
Daisys Familie war unglaublich weitläufig: Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen rankten sich in sämtliche Himmelsrichtungen, als hätte sich ihr Stammbaum in Kletterefeu verwandelt. Im Allgemeinen zogen die Dewitts es vor, am Rand der Stadt zu wohnen und ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, wobei die Eltern die Gesellschaft der eigenen Familie der aller anderen Einwohner der Stadt stets vorzogen. Nur Daisy bildete eine Ausnahme in diesem elitären Familienclan. »Eigenartig« war das Wort, mit dem meine Eltern die Dewitts – sehr wohlwollend – beschrieben. »Eine Sekte voller Freaks« war eine andere Bezeichnung, die unter den weniger aufgeklärten Bewohnern von Horseshoe Bay weitverbreitet war.
Diese selbst auferlegte Isolation bedeutete jedoch auch, dass niemand von uns Daisys Familie oder ihre Eltern besonders gut kannte, nicht einmal wir, ihre engsten Freundinnen. Daisy hatte ihre Eltern förmlich angefleht, sie auf eine öffentliche Highschool zu schicken – und die nächste Schlacht mit ihnen ausgetragen, als sie in der neunten Klasse darum gekämpft hatte, sich um einen Platz im Cheerleading-Team bewerben zu dürfen. Sie hatte sich durchgesetzt, aber die restlichen Dewitts blieben trotzdem weiterhin unter sich. Übernachtungspartys fanden beispielsweise grundsätzlich bei Lena oder mir statt. Nur ein Grund mehr, warum ich mir so sehr für Daisy wünschte, dass sie beim Namenstag endlich ihren großen Moment im Rampenlicht bekam. Des übertriebenen Beschützerinstinkts ihrer Eltern wegen hatte Daisy im Laufe der Jahre so manche außerschulische Aktivität versäumt.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Es ist doch absolut unmöglich, dass sie keine Rolle bekommt, oder? Und … ihre Eltern werden es ihr auch erlauben, tatsächlich aufzutreten, richtig?«, fragte ich Lena. Eigentlich glaubte ich fest daran. Aber was, wenn ich mich doch irrte? Dann würde es hier schon bald zu ziemlich unschönen Szenen kommen, vor allem, wenn ich mir das Reality-TV-mäßige Wettkampfverhalten so anschaute, das sich gerade vor uns auf dem Schulhof abspielte.
Lena schaute mich an. »Es ist völlig unmöglich, dass sie keine Rolle bekommt. Unsere Süße hat den richtigen Stammbaum, und du weißt selbst, dass sie beim Vorsprechen alle an die Wand gespielt hat. Ausgeschlossen, dass ihre Eltern ihr das wegnehmen.«
Ich wusste Lenas Zuversicht zu schätzen, aber in meinem Metier wusste ich auch nur allzu gut, dass einen die Leute immer wieder überraschen konnten.
Was Daisys Vorsprechen anging, hatte Lena jedoch vollkommen recht, daran bestand kein Zweifel. Daisy war der Star der Theater-AG und bei jeder Schulaufführung seit der fünften Klasse in der Hauptrolle zu sehen gewesen. Ein paar Mal im Jahr ließ sich ihre erweiterte Familie doch in der Öffentlichkeit blicken und lief beinahe geschlossen auf, um sie auf der Bühne zu bewundern. Ich war mir sicher, dass ihr Vorsprechen perfekt gelaufen war.
»Aber mal ganz abgesehen von Daisys schauspielerischem Talent: Ihre Familie bringt doch garantiert jedes Jahr beim Thanksgiving-Essen eine eigene Privatproduktion der Namensgebungszeremonie auf die Bühne, oder? Zumindest habe ich mir die Feiertage bei den Dewitts zu Hause immer so vorgestellt. Daisy muss das Skript inzwischen komplett auswendig könn… Oh, warte! Jetzt wird’s spannend«, unterbrach Lena sich selbst und lehnte sich vor Aufregung so dicht zu mir, dass sich unsere Schultern kurz streiften. »Sie hat es in die erste Reihe des tobenden Mobs geschafft. Sie steht vor der Besetzungsliste … sie überfliegt die Liste, sucht ihren Namen … sucht … sucht …«
»Das ist hier ja wie auf einer Safari, bei der sich die wilden Tiere gegenseitig in Stücke reißen. Nur nicht so zivilisiert. Die wissen schon alle, dass es hier um die Aufführung eines Stadttheaters geht, oder?«
Ich liebte Horseshoe Bay, sicher, aber hin und wieder musste ich eben trotzdem lachen, wenn ich sah, wie sehr sich manche Leute in diese vermeintlichen Höhepunkte des kulturellen Kleinstadtlebens hineinsteigerten, zum Beispiel, wenn sie ihre Mitschüler ohne Rücksicht auf Verluste überrannten, nur um den ersten Blick auf eine Besetzungsliste zu ergattern. Die Sache mit Kleinstädten? Nun, sie sind per Definition genau das: klein. Ich könnte euch die Vor- und Zunamen all meiner Mitschüler nennen und euch erklären, nach wem sie benannt sind. Ich weiß, wer gegen Nüsse allergisch ist und wer gerne irgendein nicht näher definiertes körperliches Gebrechen vortäuscht, um sich vor dem Sportunterricht zu drücken.
Ich persönlich hatte für meine Zukunft Größeres im Visier, jenseits des Kleinstadthorizonts, dort, wo das Gras entschieden grüner wirkte. Darauf zielten die allgegenwärtigen Motivationsposter in den Büros der Studienberater landauf, landab schließlich ab, richtig?
»Ja, ja, wir wissen alle, dass du innerlich längst auf dem Absprung bist, Nancy Drew«, zog Lena mich auf. »Aber ich werde dich in genau einem Jahr an diesen Moment erinnern, wenn wir beide uns gegenseitig über den Haufen rennen und versuchen, als Erste an dieser Besetzungsliste zu sein. Es ist leicht, entspannt zu bleiben, solange wir noch in der Elften sind. Aber du und ich, wir wissen beide, dass du in deinem tiefsten Inneren genauso auf diesen kitschigen, in Nostalgie getränkten Ruhm abfährst wie jeder andere in Horseshoe Bay.«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu erwidern – tatsächlich wollte ich ihr sogar recht geben –, doch bevor ich etwas sagen konnte, wurde ich von einer gigantischen Explosion aus überschäumender Freude und blondem Haar beinahe von den Füßen gerissen.
»Ich hab sie!«, kreischte Daisy. »Ich hab die Rolle! Abigail Dewitt, die Siedlerin, die die ganze Stadt während des kältesten Winters in der Geschichte mit Essen versorgt hat, obwohl sie selbst an Scharlach erkrankt und halb erblindet war.«
»Bist du sicher, dass das Abigail Dewitt war und keine Szene aus Unsere kleine Farm?«, neckte ich sie und umarmte Daisy genauso stürmisch. »Aber Spaß beiseite: Herzlichen Glückwunsch!«
»Abigail Dewitt, ja?«, scherzte Lena. »Na, wenn wir ganz ehrlich sind, musst du für die Rolle ja nicht besonders viel schauspielern.«
Daisy winkte ab. »Es ist nicht die größte Rolle bei der Aufführung, aber definitiv die beste. Sie haben eine ganz neue Szene hinzugefügt …«
»Zu Ehren der Jubiläumsfeier«, beendeten Lena und ich den Satz gemeinsam und lachten.
»Und Coop ist Jebediah Dewitt, also …« Sie verstummte, eine Augenbraue in einem perfekten Bogen hochgezogen.
Cooper Smith war der Captain der Footballmannschaft, was – den unerschütterlichen Regeln sämtlicher Jugendklischees entsprechend – bedeutete, dass er zu den begehrtesten Jungs der Schule gehörte. Sehr zum Leidwesen der restlichen Schülerschaft hatte er jedoch nur Augen für Daisy. Wir waren klug genug, sie nicht zu fragen, wie sie ihre Eltern dazu gebracht hatte, ihr einen festen Freund zu erlauben. Daisy zu lieben, wie wir es taten, bedeutete auch, ihre eigenartige – und eigenartig geheimnisvolle – Familie zu akzeptieren.
»Ihr zwei müsst ja total aus dem Häuschen sein«, sagte Lena. »Darf er dir auf der Bühne denn auch einen kalten Wickel auf die fiebrige Stirn drücken? Oder dein von Wundbrand infiziertes Bein bandagieren?«
»Igitt.« Daisy verzog angewidert ihre schmalen Lippen. »Ich ignoriere dich hiermit offiziell. Und überhaupt: Bloß kein Neid! Schließlich seid ihr beide nächstes Jahr selbst dran!«
»Ich sterbe schon jetzt fast vor Aufregung«, höhnte Lena, lächelte aber trotzdem. Auch in diesem Jahr steckten wir bereits mittendrin und hatten uns praktisch für sämtliche Freiwilligenkomitees gemeldet. In dieser Stadt konnte man einfach nicht anders, als sich mitreißen zu lassen.
Typisches Beispiel: Das ungestüme Gewimmel der Schüler, die sich eben noch mit Zähnen und Klauen zur Besetzungsliste durchgekämpft hatten, löste sich langsam wieder auf, während diejenigen, die ihren Namen entdeckt hatten, in triumphierenden Jubel ausbrachen. Amanda Reeser, der ich in der Mittelstufe geholfen hatte, als sie den Verdacht hegte, jemand würde ihr Wissenschaftsprojekt sabotieren – was auch der Fall war –, führte einen kleinen Freudentanz auf, der keinerlei Raum für Fehlinterpretationen ließ. Doch so groß der Konkurrenzkampf auch war, da die Teilnahme an der Aufführung der Abschlussklasse vorbehalten war, ergatterten ohnehin fast alle, die vorgesprochen hatten, irgendeine Rolle, weshalb man die Stimmung auf dem Schulhof nur als glücklich und ausgelassen bezeichnen konnte. Und die Freude war richtig ansteckend. Daisys Freude war auch meine Freude, unsere Freude. Und ja, Lena hätte so vehement mit den Augen gerollt, dass sie ihr vermutlich aus den Höhlen gefallen wären, wenn sie mich so rührselig hätte daherreden hören. Aber dennoch: Ich war nun mal in rührseliger Stimmung. Meine Freundinnen waren happy. Ich war happy. Alles lief ungewöhnlich friedlich, ungewöhnlich gut.
Daisy zerrte uns über den Schulhof, auf dem sich unsere Mitschüler jetzt in kleinen Gruppen zusammenfanden, sich mit Freudentränen in den Augen umarmten und voller Aufregung mit ihren Freunden abklatschten, während sie über Textlernen, Kostüme, Proben und andere Dinge aus der Abteilung Ich kann’s kaum erwarten, dass es endlich losgeht plapperten. Es war das reinste Minenfeld, nur mit strahlenden, grinsenden Teenagern statt mit irgendetwas Gefährlichem.
Na ja, nichts wirklich Gefährlichem, jedenfalls. Wir waren eine Realität gewordene Energydrink-Werbung.
»Ich glaub es nicht!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen, nur einen Moment, bevor auch Daisy und Lena kapierten, was los war.
Da war sie doch: die tickende Bombe.
In der Mitte des Schulhofs, direkt neben der Eiche, an der die Besetzungsliste in der nachmittäglichen Brise flatterte, stand Caroline Mark. Ich kannte sie nicht besonders gut. Wir waren ein Halbjahr lang zusammen im Biokurs gewesen, als sie nach Horseshoe Bay gezogen war, und was das Sezieren anging, war sie nicht unbedingt ein Naturtalent. Aber ich musste sie auch nicht besonders gut kennen, um den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu entschlüsseln.
Obwohl es ein sonniger Bilderbuchtag war, glich ihre Miene einer eisigen Unwetterwolke. Selbst aus der Ferne konnte ich sehen, wie ihre braunen Augen vor tobender Wut funkelten. Ihre Wangen waren knallrot und auf ihrer Stirn war eine leichte, glänzende Schweißschicht zu erkennen.
Ich bin Investigativjournalistin, mir fallen solche Details nun mal auf.
»Caroline …« Es war Anna Gardner, ganz offensichtlich eine Freundin von ihr. Anna tat ihr Bestes, um Caroline zu beruhigen, aber es war, als würde sie während eines Hurrikans versuchen, die Fensterläden mit Klebeband zu sichern: vollkommen sinnlos.
»Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll!«, fauchte Caroline. Sie riss die Besetzungsliste vom Baumstamm und begann, sie in winzige Fetzen zu schreddern, als sei sie vollkommen wild geworden. Die um sie stehenden Schüler beobachteten sie mit ängstlicher Neugier, wichen ein, zwei Schritte zurück oder machten einen großen Bogen um sie. Sie erntete mehr als nur ein paar argwöhnische Seitenblicke.
Lena schnappte pfeifend nach Luft. »Waaaaas geht denn hier ab?« Sie konnte ihre Neugier nicht verbergen und schien das Drama, das sich vor unseren Augen abspielte, sichtlich zu genießen. Wenn es Lenas liebste Beschäftigung war, ein Drama zu verursachen, dann war es ihre zweitliebste Beschäftigung, sich entspannt zurückzulehnen und zu beobachten, wie sich ein solches entfaltete. Ich hingegen war weniger scharf darauf, Zeugin dieses sehr öffentlichen Nervenzusammenbruchs zu werden.
Daisy packte mich am Arm, so fest, dass ich im ersten Moment Angst hatte, sie würde mir einen blauen Fleck bescheren. »Oh my God! Das ist Caroline Mark! Ihr kennt sie!«, sagte sie leise, so als könnte Caroline uns von der anderen Seite des Schulhofs trotz ihres wohl jetzt schon legendären Ausrasters hören. »Sie ist in der Theater-AG, aber sie ist noch ganz neu.«
»Oh, ja«, erwiderte Lena. »Komisch, ich hätte sie fast nicht erkannt. Dabei sollte man doch meinen, dass ich mich an eine solche Dramaqueen erinnern würde.«
»Ich kenne sie vom Sehen«, fügte ich hinzu. »Normalerweise ist sie aber nicht so … kreischig, glaube ich.« Obwohl sie sich, wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, ziemlich explizit über die Sache mit dem Sezieren ausgelassen hatte.
»Ist sie nicht«, bestätigte Daisy. »Aber, wie schon gesagt, sie ist noch neu in der Theater-AG und, na ja … Sie hat wohl noch nicht kapiert, dass bei diesen Dingen eine gewisse Hierarchie herrscht. Ich meine, sie hat vermutlich einfach geglaubt, sie könnte am ersten Schultag zur Tür reinspazieren und sofort die Hauptrolle im Schulmusical ergattern.«
»Es gibt ein Schulmusical?«, scherzte Lena. Als ob wir das jemals ernsthaft vergessen könnten. Wir kamen schließlich gefühlt schon seit Anbeginn der Zeit zu Daisys Aufführungen.
»Dieses Jahr ist es Der kleine Horrorladen, schon vergessen?!«, echauffierte sich Daisy. »Ich bin natürlich Audrey. Die Frau, nicht die Pflanze. Die Pflanze ist technisch gesehen Audrey zwei. Aber wie dem auch sei … Caroline kam einfach reingewalzt und war total Ich hatte in den Sommerferien Gesangsunterricht, ihr solltet mal meinen Mezzosopran hören-mäßig unterwegs. Unser Lehrer war allerdings ziemlich unbeeindruckt.«
»Weil es eine Hierarchie gibt«, fügte Lena hinzu.
»Ganz genau. Sie hat für den Stadt-Namenstag vorgesprochen, weil sie auch in der Zwölften ist, deshalb hat sie auch …«
»Jedes Recht dazu«, warf ich ein.
»Richtig«, bestätigte Daisy.
»Ich vermute mal, dass sie keine Rolle bekommen hat«, bemerkte Lena trocken.
Auf der anderen Seite des Schulhofs warf die arme Caroline ihrer unglücklichen Freundin Tausende winziger Papierschnipsel ins Gesicht, kreischte immer noch furchtbar schrill und fuchtelte höchst dramatisch mit den Armen in der Luft herum.
»Falls doch, reagiert sie jedenfalls ziemlich seltsam darauf«, fügte Daisy hinzu. »Das ist so peinlich.«
»Und trotzdem kann ich den Blick gar nicht von ihr abwenden«, gestand Lena. »Wie sehr ich diese kleinen Highschool-Dramen doch liebe!«
Da bist du allerdings die Einzige. Ich musste einfach etwas sagen. »Sorry, Mädels, aber dieses Voyeurismus-Ding ist nichts für mich. Wir müssen uns das nicht länger anschauen.« Carolines Qualen waren ein bisschen zu heftig für mich – ich war schließlich nicht Lena. Sie drückte damit voll auf meinen Mitleidsknopf, bis zum Anschlag. Sicher, ich hing mit den »coolen Kids« ab, aber Rätsel zu lösen und Geheimnisse aufzudecken brachte mir nicht immer nur Sympathiepunkte ein. Ich wusste, wie man sich als Außenseiterin fühlte. Und ich belauschte andere nur, wenn es unbedingt nötig war.
Was ziemlich häufig der Fall war, aber das war jetzt nicht der Punkt.
»Du vielleicht nicht«, widersprach mir Lena.
»Wie dem auch sei, es ist alles okay, siehst du?«, sagte Daisy und zeigte auf Caroline. Wir folgten ihrem Blick und sahen, wie Mr Stephenson – der Englischlehrer, der auch die Theater-AG leitete – aus der Hintertür kam und zu Caroline eilte, die immer noch total durchdrehte. Sanft legte er eine Hand auf ihre Schulter und beugte sich zu ihr.
Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, und ich sah zu, wie das Feuer in ihren Augen langsam zu einem blassen Glühen abflaute. Sie sah zwar nicht wirklich weniger wütend aus, aber immerhin ein wenig ruhiger. Sie erwiderte irgendetwas – ziemlich leidenschaftlich, ihrer Körpersprache und den wilden Gesten nach zu urteilen. Dann ließ sie jedoch langsam die Schultern sinken, und es war offensichtlich, dass ihr schlimmster Zorn verflogen war.
»Die Show ist vorbei, schätze ich.« Lena klang enttäuscht. »Was jetzt? Das war schließlich alles viel zu aufregend, um einfach nach Hause zu gehen.«
»Ins Claw?«, schlug Daisy vor. »Ich glaube, Coop hat erwähnt, dass sich ein paar aus unserer Stufe dort treffen, um ein bisschen zu feiern. Aber selbst wenn nicht, soll uns das schließlich nicht abhalten. Ich muss erst in einer Weile wieder zu Hause sein. Ich hab Mom und Dad erzählt, dass ich nach der Schule noch Lerngruppe habe.« Sie wackelte aufgeregt mit den Schultern.
»Ausgezeichnete Idee«, sagte Lena. »Ihr wisst ja, dass ich einem Hummerbrötchen niemals widerstehen kann.«
Ich hörte die Unterhaltung der beiden, nahm sie jedoch nur am Rande wahr, wie aus der Ferne, so als sei sie nur die Geräuschkulisse im Hintergrund. Ich war abgelenkt, weil ich beobachtete, wie Mr Stephenson eine definitiv immer noch verstimmte Caroline, die ihre Arme trotzig über der Brust verschränkte, zurück ins Schulhaus führte. Er hatte einen Arm um ihre Schultern geschlungen und drückte sie tröstend an sich – ein wenig vertrauter, als es ein Lehrer mit einer Schülerin sein sollte. Aber es schien Caroline zu beruhigen.
»Erde an Nancy«, sagte Lena, und ihre Stimme durchdrang schließlich doch meine Gedanken, wenn auch nur gedämpft. »Fritten? Hummerbrötchen?«
»Sicher«, murmelte ich, hörte ihr jedoch immer noch nicht richtig zu.
Carolines kleine Show hatte meine Neugier geweckt. Ganz gleich, wie ernst unsere kleine Stadt ihre Traditionen und Feierlichkeiten auch nahm, ihre Reaktion darauf, dass sie keine Rolle bei der Namenstagsaufführung ergattert hatte, war … extrem. Und sie kam mir definitiv nicht wie die Reaktion einer normalen, ausgeglichenen Person vor.
Und bei der Art, wie Stephenson seinen Arm um ihre Schultern legte? Kribbelte mein sechster Sinn ebenfalls deutlich.
Ganz zu schweigen von dem Ausdruck auf Carolines Gesicht, als er sie zurück ins Schulhaus führte. Dies war eindeutig nicht der Blick eines Mädchens, das sich mit einer enttäuschenden Nachricht abgefunden hatte. Oder der Blick von jemandem, den man als besänftigt bezeichnen konnte, vertraute Umarmungen von Schauspiellehrern hin oder her.
Nein, Caroline Mark stolzierte mit grimmig-entschlossener Miene zurück in die Highschool, zumindest meiner Einschätzung nach. Wie jemand, die nicht so schnell vergessen würde, dass man ihr unrecht getan oder sie beleidigt hatte.
Wie jemand, der es in diesem Augenblick nur mit Mühe gelang, sich auf die Zunge zu beißen und auf den passenden Moment zu warten.
Oh!«, rief Daisy aus, als wir auf den Parkplatz des Claw fuhren. »Coop hat gesagt, dass er sich mit ein paar Freunden hier treffen will, nicht mit der kompletten Oberstufe.«
»Ein paar ist offensichtlich relativ«, sagte Lena und winkte ausladend.
Offensichtlich: Der Parkplatz platzte vor Autos aus allen Nähten, noch mehr als der Schulhof vorhin vor Schülern. Wir mussten uns mit Daisys blauem Mini in die letzte freie Lücke quetschen. Ein Glück, dass meine beste Freundin viel zu viel Wert auf Ästhetik legte, um ein praktisches Raumwunder mit vier Türen zu fahren, sonst hätten wir es nie und nimmer geschafft.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich eine Parklücke ist«, sagte Lena auf dem Rücksitz und reckte den Hals, bis ihr Gesicht direkt zwischen Daisys und meinem schwebte.
»Feuerwehrzufahrten sind nur unverbindliche Empfehlungen. Und außerdem sind wir hier sowieso nicht weit vom Wasser entfernt.« Daisy deutete auf den Kiesweg, der vom Parkplatz zu den felsigen Klippen dahinter führte. »Im höchst unwahrscheinlichen Fall eines Feuers kann uns also gar nichts passieren.«
»Ich … glaube nicht, dass Brandschutz so funktioniert, Daisy«, widersprach ich ihr. Und ich war mir auch nicht sicher, ob ich die Beifahrertür wirklich weit genug öffnen konnte, um auszusteigen. Aber Daisy machte sich deswegen offensichtlich keine Sorgen. Sie stellte bereits den Motor ab und summte vergnügt vor sich hin, während sie – mit äußerster Vorsicht – ihre eigene Tür öffnete und sich seitlich aus dem Wagen schob.
Lena grummelte vor sich hin, rutschte über die Rückbank, zog so weit wie möglich den Bauch ein und atmete erst wieder aus, nachdem sie sich aus dem Auto geschält und wieder mehr Platz hatte. Sie ermunterte mich mit einem sarkastisch erhobenen Daumen. »Du schaffst das, Nancy.«
Mich für den stets heiß begehrten Beifahrersitz zu entscheiden, war ganz eindeutig ein Riesenfehler gewesen. Aber irgendwie gelang es mir tatsächlich, mich aus dem Wagen zu befreien, ohne mich dabei zu verletzen, und schon kurz darauf traten wir durch die Eingangstür des Diners. Eine winzige Glocke klingelte, als die Tür wieder hinter uns ins Schloss fiel. Der vertraute Geruch umhüllte uns – Salz, Bratfett und ein verweilender Hauch von vergangenen glücklichen Stunden –, gepaart mit der Wärme eines Raumes, in dem sich die Gäste dicht an dicht drängten.
»Ich hab das Motto des heutigen Tages erkannt: Überbevölkerung«, bemerkte Lena. Sie hatte nicht ganz unrecht. Das Claw war voll ausgelastet, und die Stimmung feierlich bis ausgelassen – ganz anders als während des Nervenzusammenbruchs, den wir auf dem Schulhof miterlebt hatten. »Finden wir hier überhaupt noch einen Platz?«
»Daisy!« Von einem Tisch im hinteren Bereich des Diners winkte Cooper ihr strahlend zu. »Du hast es geschafft! Ich hab dir einen Platz frei gehalten!« Er gestikulierte auf einen winzigen freien Fleck auf der Bank neben sich, der definitiv nicht aussah, als würde ein menschliches Wesen darauf passen.
Sie drehte sich zu uns um und blinzelte uns mit ihrem besten Hundeblick an. »Es macht euch doch nichts aus, oder?«
»Was, dass du uns einfach stehen lässt, während du dich den Schönen und Erfolgreichen anschließt und dich im Ruhm deiner ergatterten Festivalrolle sonnst? Nein, das macht uns natürlich überhaupt nichts aus«, zog Lena sie auf. »Tu dir keinen Zwang an, lass deine besten Freundinnen ruhig im Regen stehen, wann immer es dir beliebt – vor allem für einen Jungen, der im Prinzip das menschliche Äquivalent eines Labradors ist.«
»Krieg dich wieder ein«, sagte Daisy. »Ich weiß ja, dass du glaubst, Freundlichkeit sei eine Art tödlicher Schwäche, aber Coop ist nun mal einer von den Guten. Und daran ist überhaupt nichts Falsches.«
Lena zuckte mit den Schultern. »In der Highschool gilt das Gesetz des Stärkeren – mehr sage ich gar nicht.«
Ich knuffte Lena spielerisch in die Seite. »Und Cooper ist alles andere als ein Schwächling.« Zu Daisy gewandt fügte ich hinzu: »Natürlich macht es uns nichts aus. Geh ruhig.« Ich blickte mich um und wägte unsere begrenzten Möglichkeiten ab. »Wir setzen uns an die Theke.« Die Theke – eine lang gezogene Bar aus verwittertem Holz, mit maritimer Deko aus Fischernetzen und Ankern – war sowieso der beste und begehrteste Platz, um bei einer erfrischenden Limonade Leute zu beobachten. Wir mussten also kein allzu großes Opfer bringen.
»Oder ich könnte diese schäbigen Mädels aus der Mittelstufe da drüben von ihrem Tisch vertreiben«, schlug Lena vor und zeigte auf sie, aber ich winkte ab und würdigte ihre Bemerkung noch nicht mal einer Antwort. Auch wenn sie vielleicht nur selten zubiss, war ein lautes Bellen manchmal schon mehr als genug.
»Cool«, sagte Daisy erleichtert. »Ich sag Coop nur schnell Hallo, dann bin ich gleich wieder da, und wir machen uns einen netten Mädelsnachmittag.«
»Du bist gleich wieder da, natüüürlich«, erwiderte Lena. Ich bohrte ihr erneut einen Ellenbogen in die Rippen und sie jaulte auf. »Ich zieh dich doch nur auf, Daisy. Amüsier dich gut. Lass dir Zeit. Viel Spaß beim Sonnen. Aber vergiss nicht, dass du uns nach Hause fahren wolltest.«
Daisy setzte eine ernste Miene auf. »Ich würde euch niemals vergessen, das schwöre ich hoch und heilig – bei … meiner Hauptrolle bei der diesjährigen Namenstagsfeier.«
Ich riss mit gespieltem Entsetzen die Augen auf. »Blasphemie!« Wäre ich abergläubisch gewesen, hätte ich sie gewarnt, es lieber nicht zu beschreien. Aber das war ich noch nie, noch nicht mal als kleines Kind.
»Wirklichkeitsfremd« gehörte nicht zu den Worten, mit denen die Leute Nancy Drew für gewöhnlich beschrieben.
Mit einem Lächeln rauschte Daisy zu dem winzigen freien Fleckchen Sitzbank neben Cooper davon, während Lena und ich begannen, uns einen Weg zu den beiden letzten freien Hockern an der Theke zu bahnen, ganz in der hintersten Ecke des Raumes. Von unserem Platz aus konnten wir durch die Durchreiche in die Küche sehen, wo das Personal ganz offensichtlich redlich Mühe hatte, mit dem Appetit der riesigen Highschool-Meute mitzuhalten. Wie schon gesagt: Ich habe nun mal von Natur aus eine hervorragende Beobachtungsgabe, und so versuchte ich zwar nicht, die Kochmannschaft zu belauschen, doch aufgrund der Akustik im Raum und der Position meines Hockers war es schwierig, dem beinahe panischen Küchenpersonal nicht zuzuhören. Aber ich versuchte definitiv nicht absichtlich, irgendjemanden zu belauschen.
»Du musst echt mehr Tempo machen, Ace«, drängte eine Frauenstimme. Die Sprecherin hatte das Gesicht von mir abgewandt, deshalb konnte ich nur die beiden Zöpfe auf ihrem Rücken sehen, glänzend und glatt wie zwei Lakritzstangen. Der gute Ace – Tellerwäscher und Neuzugang im Claw – hatte eine durchnässte und von Essensflecken übersäte Schürze umgebunden und war mit ellenbogenlangen Gummihandschuhen ausgestattet. Er starrte mit mürrischem Blick auf eine vor Geschirr überquellende Plastikwanne, die neben ihm auf einem Rollwagen aus Metall stand. Sein Haar, sandbraun und zerzaust, hing ihm über ein Auge und kräuselte sich dank der hohen Luftfeuchtigkeit in der kleinen Küche leicht.
Falls ihn die Rüge zusätzlich stresste, ließ er es sich nicht anmerken. »Hier ist Land unter, George«, erwiderte er schulterzuckend. »Aber das bedeutet schließlich, dass das Geschäft boomt, richtig? Und das ist doch gut. Also, sei einfach … dankbar?«
»Ich wäre dankbar, wenn du wenigstens die Mindestanforderungen deines Jobs erfüllen würdest«, blaffte sie ihn an und drehte sich ein wenig zur Seite, sodass ich ihren angespannten Kiefer und den steinernen Ausdruck in ihren dunklen Augen erkennen konnte.
George Fan. Als Kinder waren wir gute Freundinnen gewesen und jahrelang bei Stadt-Namenstagen gemeinsam Riesenrad gefahren. Jetzt hatten wir jedoch kaum noch etwas miteinander zu tun. Was – ich glaube, da waren wir uns beide einig – durchaus Absicht war. Dachte ich manchmal daran zurück, wie nahe wir uns früher gestanden hatten, vor der Highschool? Vor Cliquen und exklusiven Geburtstagspartys für die »beliebten Kids«? Vor Gerüchten, herumgereichten Zettelchen und bösen Onlinekommentaren?
Nein. Definitiv nicht. Die Vergangenheit war vergangen, und George hatte mehr als deutlich gemacht, dass sich daran auch nichts ändern ließ. Warum diesen Dingen also nachhängen? Ihrer Ansicht nach hatte ich unsere Freundschaft verraten, als ich angefangen hatte, mit Lena und ihrer Clique abzuhängen. Lenas lautes Gebell hatte im Laufe der Zeit mehr als nur ein paar Brücken zerstört, und die, die zu George führte, war eine davon.
Was jedoch nicht bedeutete, dass es mir nicht wehtat, sie zu sehen.
Ich wusste, dass sie im Claw arbeitete. Es war der offensichtliche Nebenjob für Highschool-Schüler mit … unzuverlässiger familiärer Situation. Aber auch wenn es der Treffpunkt für praktisch alle in der Stadt war, die noch über einen Pulsschlag verfügten, war es mir immer irgendwie gelungen, zu vermeiden, während ihrer Schicht im Diner vorbeizuschauen.
Bis jetzt.
Oder vielleicht auch nicht »irgendwie«. Wie ich George kannte, steckte auch dahinter möglicherweise pure Absicht.