Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
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Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Shelley Richmond/Trevillion Images
ISBN 978-3-7117-2099-3
eISBN 978-3-7117-5428-8
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Christian Klinger, geboren 1966 in Wien, Studium der Rechtswissenschaften. Seit 2017 Zweitwohnsitz in Triest. Er veröffentlichte zahlreiche Krimis und Beiträge in Anthologien, erhielt den Luitpolt-Stern-Förderungspreis und war auf der Auswahlliste des Agatha-Christie-Krimipreises (2011). www.christian-klinger.at
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
WIENER ZEITUNG VOM 29. JULI 1914
6. APRIL 1945, TAG NULL, FREITAG
9. AUGUST 1916 (MINUS 10.467 TAGE), MITTWOCH
15. AUGUST 1916 (MINUS 10.461 TAGE), DIENSTAG
24. OKTOBER 1917 (MINUS 10.026 TAGE), MITTWOCH
29. OKTOBER 1922 (MINUS 8193 TAGE), SONNTAG
20. MÄRZ 1945 (MINUS 17 TAGE), DIENSTAG
1. SEPTEMBER 1920 (MINUS 8983 TAGE), MITTWOCH
19. MÄRZ 1945 (MINUS 18 TAGE), MONTAG
23. DEZEMBER 1920 (MINUS 8870 TAGE), DONNERSTAG
22. MÄRZ 1945 (MINUS 15 TAGE), DONNERSTAG
WIEDER 19. MÄRZ 1945 (MINUS 18 TAGE), MONTAG, ETWAS FRÜHER
26. JÄNNER 1923 (MINUS 8107 TAGE), FREITAG
20. MÄRZ 1945 (MINUS 17 TAGE), DIENSTAG
7. AUGUST 1921 (MINUS 8643 TAGE), SONNTAG
16. SEPTEMBER 1929 (MINUS 5681 TAGE), MONTAG
29. OKTOBER 1929 (MINUS 5638 TAGE), DIENSTAG
10. JUNI 1940 (MINUS 1761 TAGE), MONTAG
24. MAI 1927 (MINUS 6527 TAGE), DIENSTAG
13. MAI 1931 (MINUS 5077 TAGE), MITTWOCH
19. SEPTEMBER 1938 (MINUS 2391 TAGE), MONTAG
12. JULI 1936 (MINUS 3190 TAGE), SONNTAG
NOCHMALS 20. MÄRZ 1945 (MINUS 17 TAGE), DIENSTAG
14. SEPTEMBER 1925 (MINUS 7144 TAGE), MONTAG
8. OKTOBER 1940 (MINUS 1641 TAGE), DIENSTAG
18. AUGUST 1943 (MINUS 597 TAGE), MITTWOCH
4. OKTOBER 1943 MINUS 550 TAGE, MONTAG
15. AUGUST 1943 (MINUS 600 TAGE), SONNTAG
10. NOVEMBER 1943 (MINUS 513 TAGE), MITTWOCH
29. JÄNNER 1944 (MINUS 433 TAGE), SAMSTAG
25. FEBRUAR 1944 (MINUS 406 TAGE), FREITAG
4. APRIL 1944 (MINUS 367 TAGE), DIENSTAG
26. APRIL 1944 (MINUS 345 TAGE), MITTWOCH
5. MAI 1944 (MINUS 336 TAGE), FREITAG
10. MAI 1944 (MINUS 331 TAGE), MITTWOCH
15. MAI 1944 (MINUS 326 TAGE), MONTAG
10. JUNI 1944 (MINUS 300 TAGE), SAMSTAG
18. MÄRZ 1945 (MINUS 19 TAGE), SONNTAG
20. MÄRZ 1945 (MINUS 17 TAGE), DIENSTAG
22. MÄRZ 1945 (MINUS 15 TAGE), DONNERSTAG
29. MÄRZ 1945 (MINUS 8 TAGE), DONNERSTAG
1. APRIL 1945 (MINUS 5 TAGE), OSTERSONNTAG
2. APRIL 1945 (MINUS 4 TAGE), OSTERMONTAG
3. APRIL 1945 (MINUS 3 TAGE), DIENSTAG
5. APRIL 1945, DER VORLETZTE TAG, DONNERSTAG
6. APRIL 1945, DER LETZTE TAG, FREITAG NACH OSTERN
SPURENSUCHE
DANKSAGUNG
An meine Völker!
Mit diesen drei Worten begann die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts und sie nahm ihren Ausgang in Wien. Mit diesen drei Worten war die Initialzündung gelegt. Diese Worte trieben einen endgültigen Keil zwischen die Völker Europas und legten es in den nächsten drei Jahrzehnten wiederholt in Schutt und Asche. Sie ließen zerteilte Länder, verbrannte Erde und vertriebene, verhungerte, entrechtete, ermordete Völker zurück und bahnten dem kollektiven Hass den Weg.
Durch die Luke in der Holztür zwängte sich ein schmaler Streifen Licht in die Zelle und schenkte den Insassen Hoffnung. Die Nacht war vorbei. Ein neuer Tag hatte begonnen, und das bedeutete, dass sie den alten überstanden hatten.
Doch auch dieser Tag fand seinen Anfang in einem Schrei. Ein Schrei, der klang, als versuchte die Stimme, diesen gequälten Körper zu verlassen. Eine Flucht hinaus und weg von dem Ort der Schmerzen.
Und da kamen vom Hof noch andere Schreie: Die ukrainischen Wachen rülpsten sie aus ihren betrunkenen Kehlen. Es waren Hetzrufe, bissig wie scharfe Hunde, denen man die Kette abgenommen hatte. Sie bohrten sich in die Gehirne der Gefangenen.
Pino griff nach seiner Jacke und tastete sie vorsichtig ab. Es brauchte seine Zeit, bis sich ein leichter Widerstand unter dem Stoff gegen den sanften Druck seiner Finger stemmte. Sie würden es nicht finden, machte er sich Mut. Mit dem Anflug eines Lächelns streckte er sich auf der Pritsche aus. Vorsichtig, damit ihn die Prellungen nicht schmerzten.
Unter ihm regte sich Stipe. Der stöhnte, als er seinen Körper auf die Seite drehte. Auf ihn hatten es die Aufseher gestern besonders abgesehen. Er hatte die lauteste Stimme. Und die schönste.
Die abgestandene Luft in dem engen Kabuff roch sauer. Nach Schweiß und nach Urin. Es kam vor, dass man es nicht mehr halten konnte, wenn sie einen in eine Ohnmacht prügelten. Hier störte das keinen mehr und die freute es, wenn einer in seinen eigenen Exkrementen krepierte. Es war eng, so eng, dass man kaum atmen konnte, aber sie waren unter sich, und keiner von ihnen, die das Schicksal so boshaft zusammengeführt hatte, zählte mehr als fünfundzwanzig Jahre.
Vielleicht hätten sie ihn gehen lassen. Vielleicht würden sie ihn sogar jetzt noch gehen lassen. Er hatte Häuser bauen wollen. Groß und eindrucksvoll wie das Empire State Building in New York. Doch er würde New York nie sehen, nie würde sein Fuß amerikanischen Boden betreten. Feindesland jetzt. Dabei gab es dort die besten Architekten, Menschen, die bereits die Zukunft bauten. Und er lag in einem engen Bretterverschlag, der in die alte Fabrikshalle hineingezimmert worden war. Die Deutschen waren gute Planer, wenn es um die Architektur des Todes ging. Und wenn es darum ging, halb Europa die Zukunft zu nehmen. Perfektion der Vernichtung.
Draußen wurden weitere Stimmen laut. Ein herrisches Bellen – für nichts anderes hielt Pino die in der harten, fremden Sprache geschrienen Kommandos – hallte durch den Hof des Backsteinbaus, und das Poltern der Schaftstiefel über die Steine, wenn die Soldaten zum Morgenappell liefen, verstärkte die einsetzende Hektik.
»Sie kommen uns holen«, sagte Stipe von unten. Er streckte den Kopf vor und Pino konnte in seinem Gesicht die Angst vor dem Ungewissen ablesen. Kein Glanz in der Stimme und keiner in den Augen. Zwei tote Punkte in einem fahlen Gesicht, dessen Muskulatur schlaff, aber nicht entspannt war.
»Ich habe auch Angst«, sagte Pino, um dann nachzuschieben: »Aber bald ist es vorbei. Dann sind wir frei.« Er lächelte, und seine Lippen zitterten, als wehrten sie sich gegen diese Lüge. Sein Herz zitterte ebenso, als ahnte es den Preis der Freiheit. Draußen zitterten die Luft und auch der Boden, es zitterte einfach alles.
Die Nacht war Pino Robusti wach gelegen, hatte darüber nachgedacht, was er noch alles hätte sagen wollen, was er noch alles hätte tun wollen, was er Laura hätte sagen wollen, was er mit Laura hätte tun wollen. Er sah ihr Gesicht. Er dachte an ihren Geruch, ihre weiche Haut. Er hoffte, sie würde bald in ein neues Leben finden.
Er dachte an seine Eltern. Für sie würde es keinen Trost geben. Ihr restliches Leben lang würden sie die Trauer mit sich schleppen müssen. Er fühlte sich schuldig, weil er es hatte so weit kommen lassen, weil er nicht versucht hatte einzulenken, sich zu retten. Weil es ihn mit Stolz erfüllt hatte, dass er ein politischer Häftling war, einer, der sich gegen dieses Regime gestemmt hatte, der mit dem Einsatz seines Lebens gegen die Deutschen gekämpft hatte. So wie sie alle hier auch. Wenn er nur nicht diese Scheißangst hätte …
Der Junge in der Zelle nebenan – Pino schätzte ihn auf vielleicht sechzehn Jahre – hatte die ganze Nacht über gewimmert. Wiederholt hatte er nach den Eltern gerufen. Er verstand zwar nur schlecht Slowenisch, aber jeder hätte mitbekommen, wem dieses weinerliche Flehen gegolten hatte. Die anderen hatten versucht ihn zu trösten, hatten ihm mit rauen Stimmen ruhig zugeredet und so getan, als hätten sie alles das schon einmal hinter sich gebracht. Als wäre der Schrecken geringer, wenn man Erfahrung damit hat.
Die Tür flog auf. Mit einem Knallen wurde eine Holztür nach der anderen aufgerissen. Sie traten nacheinander hinaus, so wie sie es die letzten Tage schon gemacht hatten. Und das schon seit Wochen. Wochen, die den Übergang in ein neues Leben bedeuteten, nachdem Pino so brutal aus dem alten gerissen worden war. Egal wie geordnet sie standen, aufgefädelt wie die Zinnsoldaten, die Wärter prügelten mit ihren Stöcken auf sie ein und befahlen, gerade zu stehen, in Reih und Glied. Sie schimpften und pöbelten sie an. Man musste dazu kein Deutsch verstehen, der Tonfall war Beleidigung genug. »Saubande! Elendes Pack, verfluchtes!«
Pinos Hintermann, dem einer der Wächter einen Stoß in den Rücken gegeben hatte, rempelte ihn an der Schulter und Pino musste einen Schritt zur Seite machen, was ihm selbst wieder einen Schlag von einem anderen Wachmann einbrachte. Schnell reihte er sich wieder ein. Wieder blitzte kurz die Idee in ihm auf, sich zu wehren, sich dem Zwang zu widersetzen. Sich vor den SSler zu stellen und ihn direkt anzublicken. Mit einem Leuchten in den Augen würde er lächelnd sagen: »No!«
Doch dann würden sie ihn aus der Reihe zerren und wieder so lange verprügeln, bis ihm die Sinne schwanden, und es wäre wieder nicht ausgestanden. Abermals würde er in der Zelle warten müssen.
Der Zug aus Gefangenen bog vom Gang in den großen Hof. Das Licht blendete die Männer nach den langen Stunden in der Dunkelheit. Einige hielten sich schützend die Hände vor die Augen. Auch Pino blinzelte. Er sog die Luft ein, die nach Frühling roch. Er dachte an die ersten gelben Blüten auf dem steinigen Karstboden, an den Duft von Salbei, der vom Wind in die nahen Dörfer getragen wurde. Sie sahen die Wand, die voll von Einschusslöchern war. Instinktiv rückten die Männer zusammen wie eine Herde, die eng aneinandergedrückt ein drohendes Unwetter zu überstehen hofft.
Die Sonne entflammte die roten Ziegel der ehemaligen Fabrik, und in den blinden Fenstern, da, wo es noch Glas gab, brach sie sich. Die Henker hatten ein anderes Feuer entzündet. Seit Tagen schon stieg Rauch aus dem Schlot in den Himmel. Dann rief einer der Schergen: »Marsch, marsch, ihr Banditen, in Zweierreihen antreten!«
Das Empire State Building war das höchste Gebäude der Welt. Dreihunderteinundachtzig Meter ragte es in den Himmel, mit Antenne kratzte es sogar mit vierhundertdreiundvierzig Metern an den Wolken. Nichts auf der Welt, von Menschen geschaffen, war so hoch. Diese Höhe konnte es nur erreichen, weil man einen speziell mit Eisen verstärkten Beton für den Bau verwendet hatte. Es war im Stil des Art déco und in der Rekordzeit von nicht einmal zwei Jahren errichtet worden, geplant vom Architekturbüro Shreve, Lamb und Harmon. Er sagte sich diese Daten vor, als würde er eben geprüft werden. Dabei würde er vermutlich das Bauwerk niemals sehen, und auch niemals darüber geprüft werden. Das schien sich nun mit einer heimtückischen Gewissheit abzuzeichnen.
Das Tor wurde aufgerissen. Das Tor, das den Weg in die Freiheit oder den Weg in die Gefangenschaft bedeutete. Je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete und in welche Richtung man ging. Ein grau lackierter Mannschaftswagen fuhr in den Hof. Pino atmete durch. Vielleicht machten sie wieder einen Ausflug.
Willkommen in der Hölle!
Links und rechts von Vittorio spritzten Erde und Steine durch die Luft. Es war Mittwoch und die Schlacht dauerte nun schon fünf Tage. Fünf Tage, in denen sie zum ersten Mal etwas vorrücken konnten. Doch dann mussten sie wieder in die Stellungen zurück. Vor, zurück. Etwas vor, weiter zurück. Ein bisschen vor. Ein Todesreigen. Und das Leichenorchester spielte auf. Dazu trommelten die Kanonen, sie gaben den Rhythmus des Sterbens vor.
Mit jeder neuen Detonation drückte Vittorio Robusti sich noch fester gegen den Erdwall. Mehr Schutz gab es nicht. Er umklammerte sein Gewehr. Es war das Einzige, woran er im Moment Halt finden konnte. Der Befehl zum Angriff war schon vor Stunden gekommen, doch sie saßen in der Falle, wie schon so oft. Wer es nicht wahrhaben wollte, wurde von den Maschinengewehrsalven niedergemäht. Die österreichisch-ungarischen Verteidiger auf der anderen Seite hatten sich eingegraben, und von beiden Seiten pfiffen die Kugeln über den Fluss. Die schweren Geschütze rissen Löcher in die Erde. Seit Tagen hingen sie fest. Die Luft war mittlerweile schwer von dem vielen Pulverdampf. Die Hitze machte einem das Atmen fast unerträglich. Hinzu kam der süßliche Verwesungsgeruch, der sich mit dem Pulver und dem Rauch der brennenden Bäume und Leichen vermischt hatte und wie zähflüssiges Bitumen die Lungen verstopfte. Abgesehen vom Donnern der Haubitzen waren die Schreie der Verwundeten und Sterbenden unerträglich. Der Piemonteser aus seiner Einheit schien es ausgestanden zu haben. Er hatte aufgehört zu wimmern. Er war einer der Ersten, der mit lautem Hurra aufgesprungen war und den gleich die erste Salve von drüben zu Fall gebracht hatte. Vittorio hatte den Kopf eingezogen und sich sofort hinfallen lassen, als mechanisches Knattern eingesetzt hatte. Der Piemonteser hatte die Augen weit aufgerissen und war der Länge nach in den Graben zurückgekippt, die Uniform überall rot gesprenkelt. Er hatte ihn für tot gehalten, doch nach gut zwei Stunden hatte er wieder zu stöhnen und zu klagen begonnen. Nur Sanitäter waren keine gekommen. Die kamen erst, wenn die Todesmelodie der Maschinengewehre verstummt war. Jetzt war es zu spät. Das zählte nichts in diesem Krieg. Niemand holte die Verletzten, niemand holte die Toten. Seit Tagen schon nicht.
Vittorio zuckte zusammen. Eine Granate war wenige Meter vor ihm eingeschlagen. Der Druck der Explosion versetzte ihm einen Schlag. Sand und Erdreich bedeckten seinen Körper. Er wischte sich den Staub aus dem Gesicht. Offenbar hatte es der feindliche Posten genau auf ihre Stellung abgesehen. Sie lagen seit dem Morgen unter Beschuss.
»Psst«, hörte er von rechts. Neben ihm robbte sich Jacopo an ihn heran. »Wir müssen hier weg. Bald ist das alles in Dampf aufgegangen«, sagte er. Als er Jacopo betrachtete, sah er, dass ihm eine Kugel oder vielleicht durch die Luft geschleudertes Gestein sein linkes Ohr zerfetzt hatte. Nur mehr ein kleiner Fetzen blutiges Fleisch war von der Muschel geblieben. Das Blut auf Hals und Uniformkragen war eingetrocknet. Jacopo fasste ihn an der Schulter und drückte ihn hinunter. Der Graben war voll von Leichen. Es würde kein Leichtes sein, über die Körper der Kameraden zu robben, um von hier zu fliehen. Es war ein Schwimmen in einem Meer aus Fleisch und Knochen.
Jacopos Familie stammte aus Padua. Vittorio und er kannten sich von der Universität. Beide hatten dort vor dem Krieg ein Studium der Rechte begonnen. Im Gegensatz zu Vittorio, der sich freiwillig gemeldet hatte, war Jacopo eingezogen worden. Gegen seinen Willen. Alles hatte er versucht, um dem Kriegsdienst zu entkommen, doch seine Familie hatte zu wenig Geld, um ihn freizukaufen, also musste er an die Front einrücken. Während im Regiment einige glühende Anhänger des Risorgimento mit ihrem Leben dafür kämpften, dass Italien als Staat wieder erstarkte und an die einstige Größe anschließen konnte, haderten diese Feiglinge mit ihrem Schicksal, das jetzt verlangte, dass sie sich für ihr Vaterland einsetzten. Doch der Feigling Jacopo hatte einen untrüglichen Überlebensinstinkt. An seiner Seite schien es tatsächlich, als ob eine unsichtbare Macht Kugeln und Schrapnelle fernhielt.
Er war ein Streber. Vittorio hatte zwei Vorlesungen mit ihm besucht. In der ersten Reihe sitzend hatte er oft den Arm gehoben, um auf sich aufmerksam zu machen und den Vortrag des Dozenten mit seinen Fragen zu unterbrechen. Für diese Fragerei erntete er ein Kopfschütteln der anderen Studenten, doch ein Professor hatte tatsächlich milde gelächelt, war sie doch Beweis dafür, dass nicht alle Hörer sanft entschlummert waren. Im letzten Jahr waren die Gedanken ohnehin woanders gewesen. Keiner dachte an den Codice Civile, wenn es um die nationale Frage des Landes ging. Die meisten Politiker hatten sich feige gegen den Kriegseintritt Italiens ausgesprochen, doch das Volk hatte sie gezwungen umzudenken. Dazu hatte es Vordenker wie Gabriele D’Annunzio gebraucht, der mit der Macht des Wortes die Macht des Volkes entfachte und dann hatte wirken lassen.
Sie zogen beide die Köpfe ein, als eine Granate hinter ihnen explodierte und einen Regen aus grober Erde niedergehen ließ. Das Licht war gedämpft von dem vielen Rauch und dem Staub, der in der Luft hing. Von hinten setzte die eigene Artillerie ein. Salve um Salve wurde in Richtung Hügel abgefeuert. Die Einschläge ließen die Erde zittern. Die Krater wuchsen immer schneller im Rhythmus des Trommelfeuers.
»Wir haben Gorizia eingenommen!«, hallte es durch die Reihen der Italiener. Tatsächlich wirkten der Bombenhagel und das Donnergrollen, als ob es sich um das Aufbäumen eines sterbenden Tieres handelte, das im Todeskampf seine letzten Kräfte mobilisierte.
Vittorio schloss die Augen und dankte dem Herrn, der nun endlich ein Einsehen mit der Sache der Angreifer zu haben schien. Er lag da in seiner Deckung im Dreck, seine Uniform staubig und ramponiert. Risse und Löcher wie auch Flecken hatten dem ehemals grünen Stoff zugesetzt, sodass er nun aschgrau aussah wie die Gesichter der vielen Leichen um ihn herum. Auch seines hatte die Farbe in den vielen zermürbenden Stunden der letzten Tage verloren. Es ging nicht um Bodengewinn, das Einzige, wonach die Überlebenden seines Korps trachteten, war, weiter am Leben zu bleiben. Nur überleben! Die große Übermacht der italienischen Angreifer ließ das Oberkommando leichtfertig mit den zur Verfügung stehenden Soldaten umgehen, munkelte man. Auch dass die Erfolge nicht annähernd so groß seien wie die Verluste an Männern oder Material. Die einfachen Soldaten hüteten sich natürlich, so etwas laut zu denken, darauf stand Kriegsgericht. Aber einige Zeitungen hatten es geschrieben und die Leute auf der Straße, genau diejenigen, die noch vor wenigen Monaten mit lautem Hurra-Gebrüll auf diesen Krieg mit Österreich-Ungarn gedrängt hatten, zweifelten jetzt daran und brachten auf ebensolche Weise ihren Unmut zur Geltung. Vittorio hatten diese bösen Rufe zuletzt ebenfalls zugesetzt. Doch hier und jetzt, in der Stunde des Sieges, war sich Vittorio sicher, konnte niemand mehr zweifeln. Die öffentliche Entrüstung über diese zersetzenden Gedanken würde diese Schmierblätter wegfegen wie die Bora den Staub. Mit einem Mal sah er wieder den Sinn darin, hier zu liegen. Im Dreck, umgeben von faulenden Körpern. Er konnte wieder atmen, die Luft schien reiner, weniger drückend, und die Hitze war erträglich geworden. Vergessen waren der Schmerz und der Hunger, ebenso wie der Sand zwischen den Zähnen. Und seine Uniform (wie stolz hatte er sie getragen, als er in den Zug gestiegen war, mit einem Schlag zum Mann geworden) hatte wieder etwas von ihrem ursprünglichen Glanz erhalten. Er klopfte sich den Staub von den Schultern und empfand in diesem Moment nur mehr Verachtung für Jacopo, der sich zusammengerollt in eine Mulde gekauert hatte wie ein Wurm. Was war das für ein Waschlappen!
»Ssst!«, zischte dieser in Vittorios Richtung, doch das Mörserfeuer übertönte in dem Moment jegliches andere Geräusch. Jacopo drückte jeden Zentimeter seines Körpers tief in die Erde, während es Vittorio juckte, endlich aufzuspringen und mit einem »Viva l’Italia« loszustürmen, die feindlichen Reihen zu durchbrechen. Er sah sich mit gezücktem Säbel einen Österreicher nach dem anderen niederhauen. Doch diese Kriegsromantik, dieser Traum vom Kampf Mann gegen Mann, war hier und jetzt vorbei. Hier siegte der, der am Ende noch Soldaten hatte, um das Artilleriefeuer länger am Lodern zu halten. Vittorio holte tief Luft, hinter einem Stein richtete er sich langsam auf, kam auf dem einen Knie zu ruhen, während der Fuß bereit war, seinen Körper hochschnellen zu lassen.
»Ssst!« Jacopos Zischen drang endlich an sein Ohr. Der hatte sich zu ihm hingedreht und sah ihn aus geweiteten Augen an. Es war plötzlich still geworden. Die Granaten schwiegen. Entfernt hörte man den Wind durch die Bäume streichen und ganz leise das sterbende Wimmern der Verwundeten. Mit der Hand bedeutete er Vittorio beinahe zornig, sich wieder hinzulegen. Er blickte sich zu seinen Kameraden um. Sie hatten ihre Deckung verlassen und schritten vorsichtig, die Waffe im Anschlag, vorwärts. Links und rechts von ihm, etwas vor und auch hinter ihm gingen sie langsam auf die Stellung der Verteidiger zu. Nur das Rauschen der Blätter auf den Bäumen am nahen Ufer war zu hören, sogar das Wehklagen der Verwundeten schien aufgehört zu haben. Vittorio erhob sich ebenfalls und ging los. Da setzte das Pfeifen eines Lufttorpedos ein und das Blitzen des Sperrfeuers baute sich vor den Angreifern auf wie eine tödliche Wand, durch die keiner gelangen konnte. Der schwarze Rauch der Ekrasitgranaten stieg in Säulen in den Himmel. Es brodelte wie in einem Hexenkessel, der Gestank kam direkt aus der Hölle, und bald war das Schlachtfeld zu einem Inferno geworden. Ein Italiener nach dem anderen wurde umgemäht. Wer konnte, suchte Schutz in den Kratern, die die Geschosse in den steinigen Boden gerissen hatten.
Als sich von hinten der Hufschlag eines Pferdes näherte, hörte Vittorio noch, wie der Melder sagte: »Die Österreicher haben sich zum Bahnhof zurückgezogen, wir müssen weiter zum Bahnhof!«, dann waren ein Schlag gegen seinen Körper und eine verzehrende Hitze der letzte Eindruck, den er für Sekunden wahrnehmen konnte, bevor er in ein dunkles Loch fiel.
Die Wärme war die Umgebung, die ihn beschützte und zugleich erdrückte. Zwei große schwarze Augen, so dunkel wie die Nacht, starrten ihn an, dann begann er zu schweben.
Sie hatten ihn gefunden, begraben unter dem Kadaver eines Pferdes, das von einem Mörser getroffen auf Vittorio geschleudert worden war. Der halbe Leib mit seinen offenen Rippen und dem heißen Fleisch hatte sich wie ein Panzer über Vittorio gelegt. Das Gewicht, das auf ihm ruhte, brach ihm zwar sämtliche Knochen, beschützte ihn aber vor dem weiteren Kugelhagel und fing sogar die meisten Granatsplitter ab. Nachdem das Gefechtsfeuer einige Stunden später, nach dem weiteren Rückzug der Österreicher, verebbt war, hatten sich die Sanitäter des Croce Verde auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Es war das Verdienst Jacopos, der seine Erdhöhle erst nach dem Abflauen der Kampfhandlungen verlassen hatte, dass sie ihn überhaupt mitgenommen hatten.
Die Helfer hievten nur die wenigsten Verwundeten auf ihre Bahren. Oft gab es auch tatsächlich niemanden mehr zu retten. Da blieb nur noch, Kalk auf die Kadaver zu streuen, damit sich die Seuchen nicht allzu rasch ausbreiten konnten. Bei denen, für die es aufgrund der Schwere der Verletzungen keine Hoffnung mehr gab, blickten sie betreten zu Boden (und auch das immer seltener), machten ein Kreuz (das fast gar nicht mehr) und gingen zum Nächsten weiter, über den sie sich beugten, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Einen Eindruck, der über die Chance, die nächsten Stunden zu erleben, Auskunft geben sollte. Die meisten ließen sie liegen. Auch Vittorio hätten sie liegen gelassen. Er atmete kaum, der Kadaver des Tieres verdeckte seinen Körper, unter ihm eine Blutlache. Jacopo schnellte vor, Gefahr durch einzelne Heckenschützen schien nicht mehr zu bestehen, und deutete auf den Körper seines bewusstlosen Studienkollegen. »He, was ist mit ihm?«
Der eine Sanitäter schob sich an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Seine Uniform war schlamm- und blutverschmiert und auf seinem Bart klebten Krusten von Blut oder Eiter. Über der Stirn hatte er sich offensichtlich selbst einen Verband angelegt. Im Mundwinkel hing, nur vom Speichel gehalten, eine Zigarette, die erloschen war. Jacopo ging ihm nach und bekam ihn an der Schulter zu fassen. »Was ist mit ihm, hab ich gefragt!« Er schob sich an dem apathisch wirkenden Mann vorbei und stellte sich dem anderen Helfer in den Weg.
Der hintere Sanitäter mit dem Verband drehte sich zu Vittorio hin und gab ihm einen Tritt in das unter dem Pferd hervorragende Bein. »Da ist nichts zu machen, der wird nicht mehr.« Mit dem Blick deutete er auf das Blut.
»Ihr Trottel, das ist nicht seins, glaubt mir, der wird wieder, der hat nichts abgekriegt.«
Jetzt zeigte der Vordermann doch eine Reaktion, indem er laut auflachte. »Nichts abgekriegt? Auf dem liegt ein halbes Pferd. Wer da wohl der Trottel ist.«
Da stürzte Jacopo zu Vittorio hin und zerrte wild und unablässig an dem Leichnam des Tieres. Ungläubig sahen die beiden Sanitäter dem jungen Mann in der zerrissenen Uniform zu, wie er immer mehr an Mensch zutage förderte und wie sich langsam dessen Brustkorb hob, als endlich wieder Luft in die Lungen strömen konnte. Als sich Vittorios Gesicht von Aschgrau wieder zu normalem Kriegsbleich gefärbt hatte, begriffen die Sanitäter. »Der Cretino hat recht«, sagten sie zueinander, »der lebt noch.« Auch das Stöhnen, das Vittorio von sich gab, als sie ihn auf ihre Bahre luden, klang nach Lebenswillen und unterschied sich von den üblichen Todeslauten der Verwundeten.
Sie brachten ihn ins Ospedale Militare Principale nach Padua. Die Stadt, der er als Student den Rücken gekehrt hatte, um seinen Patriotismus im Feld unter Beweis zu stellen, empfing Vittorio jetzt als einen von vielen Verwundeten. Wegen der immer größer werdenden Verluste, zu denen die Militärführung auch die Verwundeten zählte, war man gezwungen gewesen, immer größere Kapazitäten für diese zu schaffen. Die wenigen Feldlazarette reichten schon lange nicht mehr aus. Seit diesem Jahr hatte sich Padua zu einem regelrechten Spitalszentrum des Krieges entwickelt. Zusätzlich zum Militärspital hatte man auch in den zivilen Einrichtungen wie dem Ospedale Civile mehrere Hundert Betten für die im Kampf Verletzten vorgesehen, sodass die Stadt nun insgesamt über eine Kapazität von mehreren Tausend Betten verfügte. Doch auch diese war bald erreicht. Der Krieg fraß die Menschen, und diejenigen, denen er nur ein Bein oder einen Arm abgebissen hatte, landeten hier.
Vittorio lag in einem Saal mit gut dreißig Metallbetten. Das Quietschen der ausgedienten Bettfedern vermengte sich mit dem Röcheln und Stöhnen der Kriegsversehrten. Sie trugen blutgetränkte Verbände am Kopf oder über das Gesicht, andere hatten dort, wo früher eine Extremität gewesen war, nur mehr einen abgebundenen Stumpf. Morphium und andere Opiate standen mit dem Fortschreiten des Krieges kaum mehr zur Verfügung, also mussten die Patienten die Operationen ohne entsprechende Narkose über sich ergehen lassen. Chirurgie mutierte zur Fleischhauerei.
Die Luft war abgestanden und drückend. Die Ausdünstungen der Patienten vermengten sich mit dem Arbeitsschweiß der Pfleger und der wenigen Schwestern, die man hier einsetzte, und man roch die Anstrengung derer, die mit dem Tod kämpften, und jener, die sich für deren Leben einsetzten.
Vittorio schien zu den Glücklichen zu gehören, denen das Schicksal weniger böse mitgespielt hatte. Er war bei seiner Einlieferung nicht aus der Bewusstlosigkeit erwacht und hatte dann ein paar Tage vor sich hin gedämmert. Vor zwei Tagen hatte er sich erstmals aufsetzen können. Er klemmte sich an das Bettgestell und stellte zum ersten Mal die Beine auf den Boden. Das Brennen und Ziehen in seinem Unterleib hatten ihn aber sofort wieder in die Liegeposition gezwungen, wo die Schmerzen bald ein wenig nachließen.
Auf seine Frage, wie schwer es ihn erwischt hatte, hörte er von den Schwestern nur: »Warten Sie auf den Arzt«, und auch vom Pfleger, der ihm Essen brachte und ihn notdürftig wusch, erhielt er dieselbe Antwort.
Bis auf wenige Ausnahmen wahrten die Schwestern und das Krankenpersonal die Distanz zu den Verwundeten. Offenbar wollte man keine emotionale Bindung zu jenen aufbauen, von denen man nicht wissen konnte, ob sie die Nacht überleben und ihr Bett für den nächsten Patienten demnächst frei machen würden.
Durch die Fenster drang schwüle, heiße Luft, die sich als zusätzliche Last auf die Verwundeten legte. Der Luftzug, der die Vorhänge schweben und den Stoffbezug der wenigen Paravents zwischen den Betten tanzen ließ, brachte anstelle von Linderung zusätzliche Wärmeströme. Den Fiebernden legte man nasse Tücher auf die Stirn, in der Hoffnung, ihnen so ein wenig Kühlung zu verschaffen.
Der Arzt war ein zerknautschter Typ von etwa vierzig Jahren. Sein fahles Gesicht war unter dem strohgelben Bart, der wie ein Rapsfeld im Frühjahr hervorstach, von Kanten und Furchen durchzogen. Meistens schritt er gehetzt durch die Gänge zwischen den Krankenbetten, schnaufend vor Eile und Rauchwolken verpuffend. In seinem Mundwinkel klebte eine Zigarette, die zu seinem Gesicht zu gehören schien wie seine Nase. Er rauchte auch beim Operieren, und wenn er dabei ein Aschehäufchen verlor, meinte er nur, Asche sei antiseptisch und für den Patienten in dessen Situation noch das Beste, was ihm passieren konnte. Sein Kittel war blutverschmiert, und hätte er nicht diesen durchbohrenden Blick gehabt, der Medizinern gemein ist, die auch ohne Röntgen in ihre Patienten schauen können, man hätte ihn leicht mit einem Fleischer verwechseln können. So viel anders war seine Aufgabe hier auch nicht, wenn er die zerfetzten Gliedmaßen abtrennte, um zumindest den Rest des Körpers zu retten.
In einer Rauchwolke begab er sich heute zu Vittorios Bett. Der versuchte sich aufzurichten, um zu salutieren. Auch wenn der Doktor keine Uniform trug, waren die Chirurgen doch alle im Rang eines Kapitäns oder zumindest eines Leutnants.
»Ah, ich sehe, unserem Ritter geht es schon wieder besser.«
Die Geschichte seines Tierpanzers hatte schnell die Runde gemacht. Sein Überleben und seine Errettung waren wegen der skurrilen Begleitumstände wohl außergewöhnlicher als so mancher Heldentod, der oft still und unbeobachtet gestorben wurde.
Ein Stechen und ein ziehender Schmerz, der wie ein Aufschrei seinen Körper durchdrang, zwangen Vittorio dazu, sich wieder auf die Matratze fallen zu lassen. Er konnte sich nur am Ellenbogen aufstützen, um nicht wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken zu liegen.
Doch jetzt, da endlich die Gelegenheit bestand, Auskunft über seinen Zustand zu erhalten, galt Vittorios erster Gedanke etwas völlig anderem: »Haben wir Triest erobert?«
Irritiert wandte sich der Militärarzt zu seinem Adjutanten um, der den Kopf schüttelte.
»Aber wieso denn nicht? Wir standen doch schon so gut wie vor dessen Toren?«
Der Arzt dämpfte die Zigarette in einem Blechnapf aus und sagte: »Diese Frage musst du dem Generalstab stellen, ich bin nur für den menschlichen Auswurf von dessen Plänen zuständig. In dieser Eigenschaft kann ich dir nur sagen, dass der Krieg für dich zu Ende ist. Sobald wir dich wiederhergestellt haben, gehst du am besten nach Hause.«
»Ich kann nicht nach Hause. Meine Familie stammt aus Triest. Ich habe hier in Padua nur studiert.«
»Dann studier fertig und such dir eine Arbeit und dann eine Frau. In genau der Reihenfolge.«
Es war das erste Mal, dass der Arzt durch seinen verwitterten Bart so etwas wie ein Lächeln zeigte. Dieses gefror aber schnell wieder. »Eines muss ich dir noch sagen. Gewisser Freuden wird dich der feindliche Granatsplitter womöglich beraubt haben. Ich glaube nicht, dass du Kinder haben wirst.«
Die Wende kam in der Nacht auf den 24. Oktober, als sich das Kriegsglück zugunsten der Verteidiger wenden sollte. Österreich-Ungarn hatte Unterstützung von seinen deutschen Verbündeten erhalten. Zusammen mit den Truppen des Habsburgerreichs – bei den Italienern waren wegen ihrer Tapferkeit besonders die muselmanischen Bosniaken mit ihren roten Mützen gefürchtet – startete das deutsche Oberkommando im Schutz der Dunkelheit und trotz des Wetters und der damit verbundenen schlechten Sicht eine gewagte Gegenoffensive. Binnen weniger Stunden hatten sie die meisten Stellungen der Italiener überrannt. Die Deutschen setzten Gas ein und die Gegenwehr der bisherigen Angreifer, die nun zu Verteidigern geworden waren, war gering. Das Giftgas hatte das Tal um Flitsch in ein Massengrab verwandelt und am selben Tag war Habsburg wieder in Karfreit (von den Italienern Caporetto genannt) am oberen Isonzo angelangt.
Später würden Militärhistoriker meinen, dass neben der waghalsigen Kriegstaktik der Mittelmächte vor allem ein Faktor für die italienische Niederlage verantwortlich war: das seit Beginn der Kampfhandlungen mehr als zwei Jahre zuvor andauernde Zögern General Cadornas, des Oberbefehlshabers der königlich-italienischen Armee. Der war auch viel zu sehr damit beschäftigt, sich dem Machtkampf mit General Capello, dem weit besseren Strategen, zu widmen und diesen aus seiner Umgebung zu entfernen, bevor er ihm gefährlich werden konnte. Trotz großer italienischer Überlegenheit an Kriegsgerät und Soldaten hatte sich die Front festgefressen, und bis auf die Besetzung von Görz und die Eroberung der Hochebene von Bainsizza konnte sich die italienische Führung keiner weiteren Erfolge rühmen. Für die Rückschläge wurden jedoch die niederen Chargen oder die am Schlachtfeld verblutenden Soldaten verantwortlich gemacht. Kein Wunder, dass diese Soldaten bereits kriegsmüde waren und sich gern in österreichische Gefangenschaft begaben.
Vittorio hatte zu der Zeit bereits sein Studium beendet. Weil die meisten jungen Männer in der Armee dienten, war die Schar der Studenten auf eine Handvoll geschrumpft, und diese konnten des Vertrauens und der besonderen Zuwendung der Professoren sicher sein, besonders wenn sie wie Vittorio ihrem Land ihre Gesundheit geopfert hatten. Dieses Land war de jure ein neues Land für ihn, Italien war eine neue Heimat, denn bis zum Eintritt in den Kriegsdienst in der königlichen Armee war Vittorio Untertan der Habsburger gewesen. Mit seinem Eintritt in das italienische Heer hatte er die österreichische Staatszugehörigkeit verloren, und ihm war auf sein Ansuchen auch schnell die neue von den Italienern bewilligt worden.
Vom weiteren Verlauf des Krieges erfuhr er nur wenig. Das, was man in den Zeitungen lesen konnte, entsprach so gar nicht den eigenen Eindrücken und den Berichten so mancher Frontkämpfer, die länger als er in den Schützengräben ausgehalten hatten. Triest, seine Heimatstadt, war immer noch nicht befreit, und er hatte Sehnsucht nach seinen Eltern.
Doch die beschönigten Meldungen der Führung stimmten ihn jedes Mal zuversichtlich. Das italienische Königreich hatte zwar seine zahlenmäßige Überlegenheit nicht erfolgreich zum Einsatz bringen können, beherrschte dafür perfekt die Regeln der Kriegspropaganda, die es verstand, die eigenen Schwächen als Stärken hervorzukehren und den Gegner zu verteufeln und gleichzeitig zu verharmlosen.
Noch am Abend des 24. Oktobers spielte der Corriere della Sera die Offensive der Mittelmächte herunter. Doch die Flüchtlingsströme und die Berichte der wenigen Kämpfer, die den Rückzug geschafft hatten, gaben Anlass zu schlimmster Befürchtung. Als die Österreicher am vierten Tag der Schlacht in Udine einmarschiert waren und der Rest der italienischen Truppen sich hinter den Piave zurückgezogen hatte, war wohl allen klar, dass nicht nur das Ziel Triest in weite Ferne gerückt war, sondern der Krieg auf diesem Schlachtfeld für die Armee nicht mehr zu gewinnen war.
Vittorio litt darunter, dass er keinen Kontakt mit seiner Familie herstellen konnte. Seine Eltern lebten weiterhin im österreichischen Feindesland. Er hatte einen Brief in die neutrale Schweiz geschickt, wo eine Cousine seiner Mutter lebte. Er hatte die Verwandte, die er nicht kannte, gebeten, den Brief an seine Eltern in Triest weiterzuleiten. Aber er wusste nicht, ob sie seinem Wunsch entsprochen hatte und wenn ja, ob seine Eltern den Brief erhalten hatten. Und selbst dann war er vielleicht der Zensur zum Opfer gefallen. Eine Zensur, die auf beiden Seiten die öffentliche und die private Meinung vorgab.
Seine Eltern – er vermisste sie trotz aller Gegensätze. Sein Plan war ein anderer gewesen: Er hatte sich vorgestellt, wie ihn seine Heimatstadt beim Eintreffen mit der siegreichen Armee empfangen würde. Die Leute, die im Spalier neben den Straßen gestanden wären, und er, wie er mit seinem Regiment an dieser Menschenmasse im Gleichschritt vorübermarschiert wäre. Über die Riva Carciotti zur Piazza Grande. Die Damen hätten mit ihren blütenweißen Taschentüchern gewinkt und echte Patrioten die Tricolore geschwungen. Spätestens dann hätte sein Vater den gegen ihn gehegten Groll aufgeben. Dachte Vittorio. Es war schon schwer gewesen, den Vater davon zu überzeugen, in Padua studieren zu dürfen. Der Vater hatte ihn nach Wien schicken wollen, auf die Technische Universität, um sich als Ingenieur später hier dem Schiffsbau widmen zu können. Das Recht zu studieren, noch dazu das italienische, stieß bei ihm auf erheblichen Widerstand: »Etwas Sinnloseres fällt dir wohl nicht ein?«, hatte er ihn mehr zur Rede gestellt denn gefragt. Er schüttelte den Kopf, als hätte er den Glauben an die Vernunft seines Sohnes gänzlich verloren. »Wir leben in Triest. Triest ist seit sechshundert Jahren Teil des Habsburgerreichs und wird es auch bleiben, also wirst du mit deinem Wissen hier nichts anfangen können. Wenn du also weggehen willst, wenn du Italiener werden willst, dann bitte, dann aber nicht auf meine Kosten, ganz sicher nicht«, hatte Giuseppe Robusti die Diskussion abgewürgt und sich zum Fenster gestellt, Vittorio den Rücken zugedreht. Dass er am ganzen Körper zitterte, entging Vittorio nicht. Nur die Überredungskunst seiner Mutter, einer stillen und sanften Person mit ergrauten Haaren an den Seiten und einem Lächeln im Herzen, die ihrem einzigen Kind keinen Wunsch abschlagen konnte, brachte den Vater zum Einlenken. Doch den späteren Kriegsdienst gegen die ehemalige Heimat hätte er ihm niemals durchgehen lassen. Er gehörte zu jenen Italienern, die in der Herrschaft der Habsburger keinen Nachteil für die Stadt sahen. Im Gegenteil: Er hatte eine gute Anstellung beim Österreichischen Lloyd und die Familie hatte vor einigen Jahren eine neue komfortable Wohnung in der Via dell’Acquedotto beziehen können. Der nahe Giardino Pubblico lud zum Spazierengehen ein, und das Teatro Politeama Rossetti lag auch nur einen Steinwurf weit entfernt. Mit dem gehobenen Gehalt des Vaters war es Vittorio als einzigem Kind der Familie auch möglich zu studieren. Dann kam der Krieg dazwischen.
Sein Vater war zugleich auch dem italienischen Volk verpflichtet. Die Wurzeln der Familie Robusti reichten in den Raum um Venedig zurück. Dieses war bereits seit über fünfzig Jahren wieder ein Teil Italiens, und es war auch kein Zufall, dass Vittorio seinen Vornamen mit den italienischen Königen teilte. Der Vater war also doch Patriot, aber er war pragmatisch genug, die Verwaltung von Triest durch die Österreicher als Faktum hinzunehmen, ohne sie zu hinterfragen und ohne seine eigene nationale Identität zu verleugnen. Für Vittorio war er ein Italiener, der sich mit den Habsburgern arrangiert hatte. Wie so viele damals.
Vittorios Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in seine Heimat schien jetzt mehr denn je unrealistisch. Wenn der Lauf der Geschichte, der jetzt Fahrt aufgenommen und den bisherigen Stellungskrieg weg von den Schützengräben und den befestigten Stellungen hin zu einem Eroberungskrieg entwickelt hatte, es so wollte und wenn Österreich-Ungarn weiter in dem Tempo durch die Ebenen Oberitaliens zog, dann würde der Kaiser bald in Padua Einzug halten. Wenn das passierte und sie seiner habhaft wurden, hätte er im besten Fall mit Kerker zu rechnen, und das auch nur, wenn die Österreicher in der Laune des Gewinners großzügig Amnestie gewährten. Denn auf Hochverrat stand die Todesstrafe. Genau dieses Schicksal war etwa Cesare Battisti widerfahren, der sogar als Deputierter zum Reichsrat exekutiert wurde, nachdem er als Alpini in österreichische Gefangenschaft geraten war. Doch noch war es nicht so weit. Italien hatte Verbündete, die es nicht hängen lassen würden.
Eine andere Sorge quälte ihn. Was, wenn es seinen Eltern schlecht ging? Was, wenn seine ohnehin etwas schwache Mutter krank war? Wie oft hatte sie sich an ihm abstützen müssen, wenn sie von Schwindel befallen wurde. Was, wenn sie ihn gar nicht mehr empfangen könnte? Auch der Vater war nicht mehr der Jüngste. Sicher hatten sie ihm den Kriegsdienst erspart, dazu war er zu alt. Aber vielleicht war sein Herz schon zu müde für die Strapazen, die es auch hinter der Frontlinie für die Zivilisten zu ertragen galt. Krankheiten und Seuchen waren in Zeiten wie diesen hinter jedem her. Es war ja auch in seinem Heer so gewesen, dass ein Großteil der Toten gar nicht durch feindliche Mörser oder im Kugelhagel gestorben war. Der Typhus hatte sie dahingerafft, geschwächt, wie sie wegen der mangelhaften Ernährung waren. Und dabei war Italien sicher noch in einer weit besseren Versorgungslage als das im österreichischen Teil gelegene Triest, das als Teil der kaiserlich-königlichen Monarchie von vielen Fronten umgeben und vom meisten Nachschub abgeschnitten war. Diese Gedanken wollten ihn nicht mehr loslassen. Jeden Morgen legten sie sich schwer auf seine Brust, und jeden Tag waren sie schwerer abzuschütteln. Er fühlte sich einsam. Er vermisste die Eltern und die wenigen Schulfreunde.
Er tröstete sich mit Besuchen im Caffè Pedrocchi, damit er wenigstens abseits seiner Ausbildung bei Gericht unter Leuten sein konnte. Doch auch dies konnte seine Sehnsucht nicht stillen. Ihm fehlte das Meer. Das Wasser, das zu jeder Jahreszeit in anderen Silbertönen glitzerte, die Wellen, die auf unendliche Art gekräuselt waren, je nachdem, woher der Wind kam und davon abhängig, welche Strömung gerade herrschte. Die Flut, die sich gegen die Molen legte, wenn sie der Scirocco in Richtung Land schob. Blies die Bora, dann häufte der Wind oft Wasserberge an, die am Ende der Welle wie eine Wand umfielen und die See mit ihrer Gischt unter sich zum Brodeln brachten. Vittorio schloss die Augen. Er stellte sich vor, wie eine Brise über seine Wangen strich und das Meer draußen beim Kastell gegen die Klippen stieß. Er schmeckte die salzige Luft und das Rauschen erfüllte sein Herz, wenn er an all das dachte. Heimweh. Es verbrannte sein sonst gesundes Herz.
Er schüttelte den Kopf. Er war in Padua, stand im Hausflur und nur das Haustor lag vor ihm. Ein Termin drängte sich vor die wehmütigen Erinnerungen. Vittorio kämmte sich mit den Fingern durch sein schwarzes Haar und klemmte seine Aktentasche unter den Arm. Forschen Schrittes ging er zum Gericht.
Vittorio war ein durchaus hübscher Kerl. Er war schlank und überdurchschnittlich groß, hatte spitze Wangenknochen und dunkle, geheimnisvolle Augen wie ein Orientale. Dazu dichtes, glattes Haar, das er nach unten verlaufend zum Nacken hin rasiert hatte. Seit dem Krieg ließ er auch öfter seine Bartstoppeln stehen und rasierte sich nur jeden zweiten, manchmal gar erst jeden dritten Tag. Er war zwar nicht sonderlich muskulös, aber sein drahtiger Körper hatte ihm im Feld gute Dienste erwiesen, wenn es darum gegangen war, schnell und gelenkig zu agieren. Mit seinem kerzengeraden Gang machte er durchaus Eindruck auf Frauen. Das war schon in seiner frühen Jugend so gewesen, etwa wenn er im Anzug mit seiner Mutter über die Rive spaziert war oder durch den öffentlichen Garten. Nicht selten, dass eine junge Dame ihm verstohlen einen Blick zugeworfen hatte. Er hatte das meist nicht registriert. Seine Mutter dafür umso mehr. Sie umfasste dann stolz seinen Oberarm und drückte ihren Kopf gegen seine Schulter. Obwohl er als Student der einen oder anderen Schwester eines Studienkollegen vorgestellt worden war, blieben seine Verabredungen im gesellschaftlich tolerierten Rahmen. Mehr als ein Spaziergang in Begleitung des Bruders oder ein Tee zu dritt war da nicht drin. Das störte ihn aber nicht. Nicht ungern hatte er sich auf seine Studien konzentriert und Frauengeschichten vermieden.
Natürlich waren sie mit einem der Unteroffiziere in einem Bordell gewesen, bevor es an die Front gegangen war. Wenigstens in dieser Hinsicht sollten die Knaben als Männer sterben. Aber er hatte, anders als manch anderer Sohn aus wohlsituiertem Haus, in Padua keine Liebschaften laufen, von denen man sich, wenn es später um Karriere und standesgemäße Familiengründung ging, mit Geld freikaufen musste.
Vittorio spazierte Arm in Arm mit seiner Frau über die Riva Tre Novembre, wie die ehemalige Riva Carciotti nun hieß. Das übliche Treiben aus Handkarren, Droschken, Automobilen und Händlern, die fliegend ihre Waren feilboten, war heute zum Erliegen gekommen. Dafür bevölkerte eine Vielzahl von Spaziergängern, die alle sauber und adrett gekleidet waren, die Straße am Hafenbecken. Auch die Ruß und Dampf spuckende Eisenbahn überließ heute die neben dem Wasser gelegenen Schienen den Menschen in ihrem Sonntagsgewand. Ein Eisverkäufer schob seinen Wagen zur Scala Reale und wartete dort auf Kundschaft. Vor dem Café Orientale auf dem Hauptplatz spielte eine Kapelle. Der Wind trug den Schall hinaus zum Meer und Vittorio konnte die zum Besten gegebenen Walzerklänge hören.
Nachdem sie die Messe besucht hatten, wollten sie den milden Herbsttag dazu nutzen, um am Molo San Carlo über das Meer zu schauen. Auch dieser wie ein ausgestreckter Finger in die Adria ragende Steinsteg war erst im März dieses Jahres umbenannt worden. Zur Erinnerung an jenen Zerstörer der Marine, der am 3. November 1918 dort angelegt und Triest für das italienische Königreich beansprucht hatte, hieß er nun Molo Audace. Vittorio musste sich an den neuen Namen erst gewöhnen. Noch in der Scuola elementare hatte er gelernt, dass die Mole nach dem im Jahr 1740 im Hafenbecken gesunkenen Schiff benannt war. Man hatte damals beschlossen, das Wrack nicht zu bergen, sondern das Schiffsgerippe als Fundament für einen Steg ins Wasser zu verwenden. Später war dann aus der Holzkonstruktion die steinerne Anlage entstanden.
Vittorio war mit Elisa nun schon etwas über ein Jahr verheiratet und sie würden noch diesen Winter ihr erstes Kind bekommen. Elisa trug ein langes Kleid aus dickem Stoff mit Knöpfen an der Seite, das fast zu warm für diesen Tag war. Vittorio trug seinen Mantel offen.
Sie betraten die Mole und nickten einigen Paaren zu, die gleich ihnen gemessenen Schrittes über die unebenen Steinquader stiegen. Bei klarem Wetter konnte man die Kräne der Werften in Monfalcone ganz nah sehen, ebenso die Lagune von Grado. Elisa drückte ihren Kopf gegen seine Schulter, so wie es seine Mutter bei ihren Spaziergängen immer gemacht hatte.