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Rhenna Morgan

NOLA Knights: His to defend

 

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Jazz Winter

 

© 2019 by Rhenna Morgan unter dem Originaltitel „His to Defend (NOLA Knights #1)“

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

info@plaisirdamourbooks.com

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

© Coverfoto: Shutterstock.com

ISBN Print: 978-3-86495-485-6

ISBN eBook: 978-3-86495-486-3

 

Dieses Werk wurde im Auftrag von Harlequin Books S.A. vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Dieser Roman darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Inhalt

 

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Danksagung

Autorin

 

Widmung

 

Für diejenigen von euch, die im Moment durch harte Zeiten gehen müssen. Vergesst nicht, dass die dunklen Wolken vorbeiziehen, die Schmerzen letztendlich nachlassen werden und das Licht von Glück irgendwann wieder auf euch niederscheinen wird. Bis dahin, setzt einen Fuß vor den anderen und glaubt an die märchenhaften Enden: „… und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende“. Es gibt sie wirklich.

Kapitel 1

 

$480.

Evette packte den Scheck ihres ehemaligen Arbeitgebers fester zwischen ihren Fingern und starrte auf das Logo der Reinigungsfirma in der oberen Ecke. An jedem anderen Freitag hätte das Geld so etwas wie eine gewisse Sicherheit für sie und ihren Sohn Emerson bedeutet. Einen Schritt mehr aus dem Chaos, das sie in ihrem Leben verursacht hatte. Die unerwartete Entlassung heute, die mit ihrer wöchentlichen Bezahlung gekommen war, fühlte sich wie ein Schlag in den Magen an. Schon wieder eine Hürde, die es zu überwinden galt. Seit Jahren war es so, als würde sie einen Spießroutenlauf absolvieren, ohne die Ziellinie überhaupt sehen zu können.

Vielleicht sollte sie sich einen Reinigungsjob in einem der Hotels ergattern. Im French Quarter gab es bei Gott jede Menge davon, und sie könnte sichergehen, dass sie dort regelmäßige Schichten arbeiten könnte. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wie sie das vor Montag schaffen sollte, denn es war bereits sechzehn Uhr dreißig am Freitagnachmittag. Schnell etwas zu finden, war die einzige Möglichkeit, diesen Rückschlag wieder auszugleichen, sonst wäre sie gezwungen, an die Ersparnisse für Emersons Schulbildung zu gehen. Ebenso gab es da noch eine weitere Hürde: Wenn der neue Arbeitgeber bei ihrem ehemaligen anrufen würde, käme heraus, dass sie wegen eines Sicherheitsproblems gefeuert worden war.

Nicht. Gut.

Der Ziehharmonikabus schwang auf die Tulane Avenue und fuhr Richtung Stadtmitte. Evies Laune sank noch ein wenig mehr. Hätte ihr in jungen Jahren jemand erzählt, dass sie im Alter von achtundzwanzig als Alleinerziehende in einer der schlimmeren Gegenden von New Orleans leben würde, hätte sie demjenigen ins Gesicht gelacht. Sie würde als Mode-Einzelhändlerin arbeiten – oder wenigstens irgendeine Karriere in der Modebranche haben. Sie würde die Welt bereisen. Dinge sehen. Menschen kennenlernen. Als Abenteurerin durch ihr Leben gehen und alles in sich aufsaugen.

Doch dann war ihre Mutter gestorben und sie geriet auf die schiefe Bahn.

Evie seufzte und rutschte auf der harten Plastikbank etwas tiefer, während die heruntergekommenen Geschäfte, Bars und Restaurants wie verschwommen an ihr vorbeizogen und die Vibrationen des Busmotors sie bis ins Mark erschütterten.

Sieben Mal niedergeschlagen und acht Mal wieder aufgestanden.

Hätte sie jedes Mal einen Dollar dafür bekommen, wenn ihre Momma das gesagt und Evie selbst es in den letzten acht Jahren wiederholt hatte, würde sie jetzt in einem Porsche in den Garden District fahren statt mit dem öffentlichen Bus zu einem kaum bewohnbaren Apartment.

Aber ihre Momma hatte es immer irgendwie geschafft.

Meistens.

Sie hatte Evie, trotz ihrer turbulenten vorpubertären Teenagerzeit und Daddys Tod, allein großgezogen und hatte es so leicht aussehen lassen. Erst nachdem Emerson ein Jahr alt geworden war, hatte Evie den Mut aufgebracht, einige der Tagebücher ihrer Mutter zu lesen, und hatte festgestellt, wie groß die Herausforderung tatsächlich für sie gewesen sein musste. Wie viel sie aufgegeben hatte und wie allein sie sich in jeder Sekunde gefühlt hatte.

Jetzt verstand Evie es. Sie erlebte selbst, welche Opfer ihre Mutter für sie hatte bringen müssen.

Und sie hatte alles weggeworfen, während sie sich in ihrer Trauer verkrochen hatte.

Entschlossenheit und eine Menge Sturheit gaben ihr einen neuen Energiekick und brachten sie dazu, sich in ihrem Sitz aufzurichten. Selbstmitleid war genau das, was sie erst in diese Situation gebracht hatte. Sie würde den Teufel tun, ehe sie wieder dort hineingeraten würde. Frauen der Labadie-Familie warfen niemals alles hin. Gaben nie auf. Sie stellten sich den Dingen, denen sie sich zu stellen hatten, und sie taten es mit einem Lächeln im Gesicht. Vielleicht würde sie einen Weg finden, Emerson und ihr selbst die Welt zu Füßen legen zu können. Möglicherweise musste sie nur eine Weile länger sparen und etwas kreativer werden, um es zu schaffen.

Die Bremsen des Busses quietschten und die alte Dame neben ihr fiel gegen sie.

Evie spannte sich an, um sie beide im Sitz zu halten, und lächelte auf ihre Mitfahrerin hinab. „Steigen Sie hier aus, Ms. Arnold? Sie wissen doch, Dorothy’s Freitagsangebote sind die Besten in der Woche.“

Ms. Arnold warf ihr ein strahlendes Lächeln zu und presste ihre Einkaufstasche fester gegen ihre Brust. Ihre blauen Augen mochten vielleicht in den letzten Jahren ein wenig trüber geworden sein und die Falten in ihrem Gesicht etwas tiefer, aber ihr liebevolles Herz war genauso stark wie eh und je.

„Nein, nein, Evette. Der Weg zum Lebensmittelladen ist nicht mehr so einfach, wie er einmal war. Es ist besser, wenn ich meine müden Knochen nach Hause schaffe, bevor es dunkel wird.“

Eine kluge Entscheidung. Besonders in diesem Teil der Stadt, wo eine Frau wie Ms. Arnold ein gefundenes Fressen für Räuber wäre.

Nachdem Evie sicher war, dass die ältere Frau ihre Balance wiedergefunden hatte, erhob sie sich, schulterte ihre Handtasche und unternahm einen weiteren Versuch, dieselbe Diskussion mit der Nachbarin zu führen, die sie seit einem Jahr mit ihr führte. „Sieht so aus, als sollten Sie diesen schicken Lebensmittelbringdienst nutzen, den alle anderen Anwohner verwenden, um ihre Besorgungen zu erledigen. Es wäre viel weniger stressig.“

Ms. Arnold hob ihr Kinn ein bisschen höher und wurde zum Inbegriff einer Südstaatenfrau mit eisernem Kern. „Selbstversorgung ist ein Privileg für mich. Das werde ich solange tun, wie der liebe Gott mich lässt.“ Sie nickte in Richtung der Bustüren. „Besser, Sie machen sich selbst auf den Weg zu Dorothy’s und ihrem gut aussehenden Jungen.“

Verdammt. Schon wieder mundtot gemacht worden. „Na gut, aber glauben Sie nicht, dass wir nicht auch das nächste Mal darüber reden werden.“

„Ich freue mich darauf, hübsches Mädchen.“

Evie schüttelte den Kopf und ging zu den Türen.

„Evette.“ Ms. Arnolds scharfer Tonfall brachte sie dazu, innezuhalten. Sie wartete, bis Evie ihren durchdringenden Blick erwiderte, ehe sie weitersprach. „Es wird alles gut werden. Was immer es auch sein mag … es wird Sie nicht kleinkriegen. Vergessen Sie das nicht.“

Evettes Kehle zog sich zusammen, und Tränen drohten ihr die Sicht zu vernebeln. Vielleicht würde sie nie mehr die Gelegenheit haben, Ms. Arnold die Anfahrt mit dem Bus zum Lebensmittelladen auszureden. Jedenfalls nicht, wenn ihr nächster Job nicht auch in derselben Gegend lag, in der sie bisher gearbeitet hatte. Sie umschloss das Geländer neben den steilen Stufen mit einer Hand fester und zwang sich zu einem Lächeln, das sie nicht im Geringsten fühlte. „Machen Sie sich keine Sorgen, Ms. Arnold. Es braucht mehr als einen oder zwei Tritte, um mich runterzuziehen.“

Die ältere Dame nickte, als hätte sie eine solche Antwort erwartet, und kehrte dann dazu zurück, aus dem gegenüberliegenden Fenster zu starren. „Gutes Mädchen. Und nun gehen Sie schon zu Ihrem Jungen und sagen Sie Dorothy ‚Hallo‘ von mir.“

Die Temperatur draußen lag bei fast neunundzwanzig Grad. Eigentlich gar nicht so unangenehm, dafür, dass es bereits Ende September war. Doch die Luftfeuchtigkeit des Golfstroms und der ergiebige Regen von letzter Nacht im Quarter machten das Ganze nicht wirklich zu einem angenehmen Spaziergang auf den Straßen. Sie eilte an dem albernen Souvenirgeschäft, einem Gemischtwarenladen und einem Pub vorbei. Letzterer entließ einen leichten Hauch von Zigarettengeruch auf den Bürgersteig, obwohl die Tür geschlossen war, um die kühle klimatisierte Luft drin zu behalten. Am Ende der Straße stand Dorothy’s Diner wie ein Leuchtturm im Viertel. Der Eingang lag direkt an der Ecke. Zwei große Fenster von etwa dreieinhalb Metern Länge erstreckten sich zu beiden Seiten, damit vorbeischlendernde Passanten einen guten Blick auf die Menschenmenge darin bekamen.

Und es gab stets eine Menschenmenge bei Dorothy’s. Wenn es um Diners ging, war das hier eine Institution. Ein Zufluchtsort inmitten der Hölle und ein Stückchen Himmel voller Seelenfutter in einem.

Wie immer saß Emerson auf dem Barhocker, der der Eingangstür am nächsten war, an der Theke im Soda-Shop-Stil. Seine Schultern waren etwas nach vorn gebogen und seine Unterarme umrahmten seinen Teller, als wäre er ein Linebacker, der sein Essen verteidigen müsste. Sein dunkelblondes Haar rührte eher aus der Familienlinie ihres Vaters her, war ein wenig zu lang und wie bei allen siebenjährigen Jungs nach einem langen Schultag total zerzaust. Doch sein Gesichtsausdruck war leer. Seine haselnussbraunen Augen waren zu gleichgültig für jemanden, der so jung war wie er.

Sie zwang sich zu einem weiteren falschen Lächeln und schob die Glastür auf. Die Glocke oberhalb der Tür gab ein fröhliches Klingeln von sich und zwei oder drei Bedienungen riefen ihr eine Begrüßung zu.

Evie winkte ihnen freundlich zu, ging aber direkt zu ihrem Kind und verstrubbelte dessen Haar ein wenig mehr. „Hey, Champ. Wie war die Schule?“

Nur für einen kurzen Moment erwiderte ihr Sohn ihren Blick. Nur der Hauch eines Lächelns zeigte ihr, dass irgendwo tief da drin noch dieses kleine Kind steckte, das sich vor nicht allzu langer Zeit unschuldig auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte. Die Offenheit war mit einem Augenblinzeln wieder verschwunden, und mit einem mürrischen Blick, den sie wirklich zu hassen begonnen hatte, sah er zurück auf den Teller voller Putenfleisch mit Soße. „Ein Tag wie immer.“

„Ja, aber es ist Freitag, und jeder weiß doch, dass Freitage besser als alle anderen Tage sind.“ Sie ließ sich auf dem Barhocker neben Emerson nieder und stellte ihre Handtasche neben ihren Füßen auf der erhöhten Stufe ab. „Ist irgendetwas Besonderes passiert?“

Emerson schüttelte den Kopf.

„Irgendwelche überraschenden Tests?“

Wieder ein Kopfschütteln.

„Irgendwelche niedlichen Mädchen getroffen?“

Daraufhin hob er seinen Kopf und starrte sie an, als ob er hin- und hergerissen wäre, ohne sie nach Hause zu gehen oder ihr vorzuschlagen, dass sie ihr Gehirn mal untersuchen lassen sollte.

„Nun, wenigstens das hat deine Aufmerksamkeit erregt“, sagte sie. „Weißt du, als ich in deinem Alter war, konnte meine Momma mich nicht dazu bringen, die Klappe zu halten.“

Emerson schob eine Bohne, die sich zu nah an seine Soße verirrt hatte, zurück in ihr Exil auf der anderen Seite des Tellers. „Gibt keinen Grund zu reden, wenn nichts los war.“

„Hmm.“ Sie kreuzte ihre Arme und tat so, als würde sie die anderen Gäste im Diner beobachten, während sie sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie mit ihrem Sohn umgehen sollte. Er mochte erst sieben Jahre alt sein, aber er drückte sich kultivierter aus als mancher Erwachsene. Sprach fast keinen Slang. Ohne kreolische Eigenarten und definitiv ohne Obszönitäten. Eher wie ein Gentleman, der in dem Körper eines Jungen feststeckte. Also, wie kam sie nur auf die Idee, dass plötzlich eine schockierende Erkenntnis, wie sie mit ihrem Sohn auf dessen Level reden sollte, in ihrem Hirn auftauchen würde? Und das genau in dieser Sekunde, wo sie bereits seit einem Jahr danach suchte. „Wenn du nicht mit mir sprechen willst, macht es vielleicht Ms. Dorothy. Hast du sie gesehen?“

Höflich wischte sich Emerson mit der Serviette den Mund ab und nickte in Richtung der Küche. „Sie ist da drin verschwunden, gleich nachdem du reingekommen bist. Tisch sieben mochte das Tagesgericht wohl nicht.“

Evie blickte auf Emersons Teller mit Pute und Soße. „Jemand hat sich übers Essen beschwert? Sind die high?“

Wunder, oh Wunder, Emersons Mund verzog sich zu einem Lächeln, das sich nicht gänzlich durchsetzen konnte. „Nicht jeder hat einen guten Geschmack, Mom.“

„Das stimmt“, schoss sie zurück und wünschte sich mit allem, was sie hatte, dass sie ihr Kind dazu bringen könnte, lockerer zu werden und wieder Kind zu sein. Sie drehte sich zur Küche um und deutete auf ihre Handtasche. „Passt du bitte darauf auf? Wir wollen ja nicht, dass das Geld von unserem Zahltag plötzlich Beine bekommt und ohne uns davonrennt.“

„Ja, Ma’am.“

Ja, Ma’am.

Evie schlenderte zur Küche, während die perfekte Antwort ihres Sohnes in ihrem Kopf widerhallte. Wäre sie in diesem Alter so schicklich gewesen, hätte ihre Momma eine Straßenparty veranstaltet und an die Kirchenkollekte gespendet, was auch immer ihr Bankkonto zugelassen hätte. Stattdessen war sie ziemlich frech gewesen. Natürlich niemals respektlos. Denn dann hätte sie wohl den Hintern voll oder die Ohren lang gezogen bekommen. Aber ein Oki dokie oder ein Darauf kannste wetten war eher normal als ein Ja, Ma’am.

Das Kratzen von Metallfüßen eines Stuhls auf dem schwarz-weiß gefliesten Fußboden schallte durch das Diner. Evie hielt am Ende der Theke inne und drehte sich zu dem Geräusch.

Ein etwa vierzigjähriger Mann mit schütterem Haar in einem Kurzarmhemd, das kaum seine Plauze bedeckte, schob seinen Stuhl von der beliebten runden Sitzecke an der hinteren Wand zurück. Seine schwarze Hose war ein wenig zu kurz, doch sie war sauber und nicht billig. Er presste ein paar Papiere in seinen Händen zusammen und verbeugte sich auf eine Art, die man leicht als Angst oder großen Respekt interpretieren konnte.

Ein Blick auf denjenigen, der sich außerdem in dieser Sitzecke befand, und die angespannte Geste ergab Sinn.

Sergei Petrovyh.

Er war ihr beim Hereinkommen gar nicht aufgefallen. Das bewies, wie sehr sie von der neuen Entwicklung in ihrem Leben abgelenkt war, denn nur an seinen Namen zu denken, ließ sie normalerweise erröten. Ehrlich gesagt machte sein Anblick sie und drei Viertel der weiblichen Einwohner sprachlos. Das restliche Viertel warf sich ihm meist an den Hals und betete zu jedem Gott, der sie erhören könnte, darum, seinem starken russischen Akzent persönlich und aus direkter Nähe lauschen zu dürfen. Vorzugsweise natürlich in einer Situation, in der keine Kleidung erforderlich wäre.

Statt in die Küche zu platzen, während Dorothy mit dem Küchenchef schimpfte, wartete Evie an der Kasse und richtete die herumliegenden Menükarten gerade aus.

Der Mann mit dem schütteren Haar trat zwei Schritte rückwärts, drehte sich um und ging eilig zur Vordertür.

Ihr Blick glitt zurück zu Sergei und sie überspielte ihr genüssliches Mustern mit dem Durchblättern eines Bestellblocks. Dunkles, welliges Haar bis zu den Schultern, elegante Gesichtszüge, einer dieser höllisch sexy wirkenden kurz geschorenen Bärte und dazu ein köstlicher großer und fitter Körper. Aber es war nicht bloß sein Aussehen, das Frauen so anmachte. Es war seine Macht. Ein Charisma, das in diesen dunkelblauen Augen brannte und in seinen eleganten und gleichzeitig raubtierhaften Bewegungen lag. Kurz gesagt, Sergei Petrovyh war die Art von Mann, die jede Frau mit nur einem Blick dazu brachte, ihre Probleme für diesen kleinen kostbaren Moment zu vergessen.

Wenn sie ehrlich war, könnte Sergei alle ihre Probleme komplett ausradieren. Das war jedenfalls das, was er für eine lange Liste von Leuten in der Nachbarschaft getan hatte, seit er vor etwas mehr als einem Jahr nach New Orleans gezogen war. Er räumte untragbare Situationen aus dem Weg, dafür schuldete man ihm einen Gefallen.

Um auf den Punkt zu kommen … Sergei war ein Mafioso.

Ein verflucht gut aussehender, das lag auf der Hand, aber auch ein absolut gefährlicher Mann.

Schritte und leise gemurmeltes Fluchen ertönte einige Sekunden bevor Dorothys lustige Stimme Evies Liebäugeleien unterbrach. „Mädel, ich habe schon starbesessene Groupies wesentlich unauffälliger agieren sehen, als du es gerade tust.“

Evie weigerte sich, wie ein schuldiges Schulmädchen zusammenzuzucken, und ließ ihren Blick ein letztes Mal absichtlich zu Sergei schweifen, um ihn zu beäugen, nur um ihnen beiden zu beweisen, dass sie es konnte. Ernsthaft, dieser Mann war ein griechischer Gott. Vielleicht lag es an dieser olivfarbenen Haut. Oder daran, dass er sich wie ein Panther bewegte. Die maßgeschneiderten Anzüge, die er trug, brachten die Modeliebhaberin in ihr dazu, sich strecken und schnurren zu wollen.

Also, ja. Sie war alt genug, um zu liebäugeln, wann immer sie Lust dazu hatte, und sie würde sich nicht dafür entschuldigen. Ganz besonders nicht nach einem Tag wie diesem. „Hinzusehen ist doch nichts Verwerfliches.“ Sie drehte sich zur besten Freundin ihrer Momma um, lehnte eine Hüfte gegen die Theke und bedeckte eine Hand mit der anderen. „Und ihn anzusehen ist besser, als herauszufinden, wie ich zwischen heute und Montag ein großes Wunder schaffen soll.“

Dorothy steckte ihren Bestellblock in die Tasche ihrer weißen Schürze. Ihr Daddy hatte sie nach Dorothy Dandridge benannt, weil er total verschossen in die Schauspielerin gewesen war, als Dorothy das Licht der Welt erblickt hatte. Und sie war zu einer ebenso großen Schönheit herangewachsen. Mit achtundsechzig Jahren war ihre Haut faltig und ihr Haar grau, aber ihre nahezu schwarzen Augen waren scharf wie eh und je. Sie beäugte Evie auf die Art, wie es nur eine Mutter tun konnte.

„Von was für einem Wunder reden wir hier?“

„Die Art von Wunder, die mich einen Job finden lässt.“

„Ich dachte, du wärst kurz davor, eine Vorarbeiterposition bei der Reinigungsfirma zu bekommen. Was ist passiert?“

Evie warf die Hände in die Luft und kreuzte dann die Arme vor ihrer Brust. „Verdammt, wenn ich das wüsste. Irgendwas mit einer Sicherheitslücke und dass meine Schlüsselkarte nach Feierabend am Wochenende benutzt worden sei, um Zutritt zu einem Anwaltsbüro zu bekommen. Was absoluter Blödsinn ist. Abgesehen davon, dass ich und Emerson am Samstag auf dem Bauernmarkt und beim Kirchenessen waren, haben ich und meine Schlüsselkarte das gesamte Wochenende zu Hause verbracht. Die müssen da irgendwas vertauscht haben.“

„Hast du ihnen das gesagt?“

„Na klar habe ich das. Aber die wollten es nicht hören. Sie meinten, dass sie keine andere Wahl hätten, als mich wegen ihrer Sicherheitsbestimmungen zu entlassen.“

Dorothy zog die Augenbrauen zusammen und schlenderte hinter Evie zur Theke, wo das saubere Besteck darauf wartete, in Servietten gewickelt zu werden. Sie legte die erste Serviette aus und begann mit der Arbeit. „Keine Ahnung, wieso das gleich ein Notfall sein soll. Ich kenne dich, Evie. Du bist immer auf ein Unwetter vorbereitet. Erzähl mir also nicht, dass du keine Ersparnisse hast.“

„Die sind für Emersons Schulgeld.“

 „Ich dachte, er steht auf der Warteliste. Es gibt demnach keinen Grund, gerade jetzt sparsam zu sein, wo du es brauchen kannst. Du kannst es doch später wieder zurücklegen.“

„Er ist nicht mehr auf der Warteliste.“ Evie stellte sich neben sie. Sie rollte Servietten bei Dorothy’s, solange sie denken konnte, und hatte schon so manche Krise mit dieser simplen Aufgabe durchlebt. „Der Direktor hat letzte Woche angerufen und gesagt, dass eins der Kinder woanders hinzieht. Ich kann ein Stipendium beantragen. Allerdings muss ich die Schulgebühren selbst berappen, damit sie den Platz so lange freihalten, bis sie den Antrag geprüft haben.“

„Wie viel ist es denn?“

„Neunhundert Dollar.“

Dorothys Kopf zuckte zu ihr, und ihre Stimme wurde so laut, dass einige Gespräche im Diner verstummten. „Neunhundert? Bist du verrückt?“

„Dorothy!“, schimpfte sie flüsternd und deutete mit ihrem Blick Richtung Emerson. „Emerson braucht das. All seine Lehrer sagen es. Sie meinen, er sei in der öffentlichen Schule total gelangweilt und dass eine Montessori-Schule perfekt für ein Kind wie ihn sei.“

„Pffff.“ Dorothy schüttelte den Kopf. „So viel Geld, nur um einen Platz freizuhalten. Dafür sollten sie ihm den Weg zum Himmel mit purem Gold pflastern und obendrein seinen Hintern abwischen.“ Sie pausierte lang genug, um eine angenehme Stille zwischen ihnen zu verbreiten, bevor sie Evie von der Seite ansah. „Und? Was willst du jetzt machen?“

„Nun ja, ich habe gehofft, ich könnte ein wenig für dich arbeiten, während ich mich nach etwas anderem umsehe.“

Dorothy gab ein Seufzen von sich. Es war ein ehrliches, das sagte, dass sie die folgenden Worte genauso ungern aussprach, wie Evie sie hören wollte. „Kann ich nicht machen, Schatz. Die Ladys, die ich jetzt habe, haben echt Qualität, und wenn ich ihre Schichten kürze, suchen sie sich woanders Arbeit. Das Beste, was ich für dich tun kann, ist, dich anzurufen, falls eine von ihnen krank werden sollte. Aber das wird nicht passieren. Sie brauchen das Geld zu sehr.“

Mist.

So viel zu Plan B.

Sie platzierte ein perfekt gerolltes Besteckset auf dem wachsenden Turm von Dorothy, drehte sich um, lehnte ihren Hintern gegen die Theke und kreuzte erneut die Arme vor ihrer Brust. „Das ist so eine Kacke.“ Angst versuchte, sich einen Weg in ihren Brustkorb zu suchen, angefacht von einer gesunden Dosis lang ignorierter Verzweiflung und Frustration. „Ich kann es Emerson nicht versauen. Er braucht es. Er braucht …“ Ein Lächeln. Spielen. Die Möglichkeit, ein Kind zu sein und einfach ein bisschen Spaß zu haben. „Er braucht irgendetwas. Wenn diese Schule ihm das geben kann, werde ich auch auf der Straße arbeiten, falls es nötig ist.“

„Dazu wird es nicht kommen“, sagte Dorothy mit der stillen Zuversicht einer Frau, die sich bereits ihren Weg durch die Erziehung ihrer Kinder gebahnt hat. „Der Herr wird dir geben, was du brauchst, wenn du es brauchst. Das tut er immer.“

„Hmpf.“ Evie kaute auf ihrer Unterlippe herum, um nicht auszusprechen, was sie dachte. Nämlich: Wenn der Herr ihr geben würde, was sie bräuchte, wäre es nett zu erfahren, dass er das eher früher als später zu tun gedachte.

Wie von einem Magneten angezogen, glitt ihr Blick wieder zurück zu Sergei. Die zwei Männer, mit denen sie ihn oft im Diner oder in der Stadt sah, saßen nun ihm am runden Tisch gegenüber in der Sitzecke. Kir Vasilek war genauso groß und einschüchternd wie Sergei, hatte aber wunderschöne blaue Augen und blondes Haar. Er benutzte beides zu seinem Vorteil und hatte sich in der Stadt einen Ruf als absoluter Playboy verschafft. Roman Koslov auf der anderen Seite beschäftigte sich selten mit irgendwem. Wahrscheinlich, weil sein großer und imposanter Körper und seine harten, bedrohlichen Gesichtszüge die Leute glauben ließen, er wäre der leibhaftige Teufel.

Sergei könnte ihre Probleme komplett ausradieren.

Der Gedanke war diesmal ein wenig subtiler. Ein Murmeln von der seidenen Stimme der Versuchung. „Was ist mit ihm?“, fragte sie Dorothy.

Dorothy drehte sich um und betrachtete Evies Gesicht, folgte dann ihrem Blick in Richtung Sergei. Da sie ihr Diner jahrelang in einem rauen Teil der Stadt in jeder nur denkbar schwierigen Zeit geleitet hatte, gab es nichts, was ihre alte Freundin runterziehen konnte. Doch in dieser Sekunde zeigte Dorothy echte Besorgnis. Sie verbarg sie so schnell, wie sie aufgetaucht war, und wandte sich wieder den Bestecken zu. „Ich denke nicht, dass du Schutz brauchst. Ich denke, du brauchst einen Job.“

„Na ja, vielleicht kennt er ja jemanden. Könnte mir einen Tipp oder eine Empfehlung geben. Ein Blick auf die Klamotten, die er trägt, und auf den schicken BMW vor der Tür, und du weißt, er hat Knete. Und das bedeutet, er muss auch andere reiche Leute kennen.“

„Er könnte welche kennen. Könnte dich sogar mit jemandem bekannt machen, aber falls du es vergessen haben solltest: Ein Mann wie er, der dir einen Gefallen tut, dem schuldest du am Ende auch etwas dafür.“

„Du hast es getan.“

Das war eine kindische Erwiderung. Eher passend für eine Sechzehnjährige, die mit ihrer Mutter und Dorothy darüber diskutierte, welche Klamotten für ein Mädchen ihres Alters schicklich waren und welche nicht. Aber nicht für eine Achtundzwanzigjährige, wenn es darum ging, einen Weg zu finden, ihre Rechnungen zu begleichen.

Falls Dorothy gekränkt war, zeigte sie es nicht. Stattdessen sprach sie weiter. „Es war das kleinere Übel, Kind. Es gab Schläger, die mein Diner übernehmen wollten. Sergei hat sich darum gekümmert, und ich gebe ihm als Gegenleistung einen Ort, an dem er seine Geschäfte erledigen kann. Es ist ein kleiner Preis, den ich zahlen muss, damit mein Laden sicher ist, aber lass dich nicht von diesem gut aussehenden Gesicht täuschen. Er hat Dunkelheit in sich. Eine Menge davon. Und er hat keine Angst davor, sie rauszulassen.“ Sie pausierte einen Moment lang und wirkte wie eine Frau, die nach den richtigen Worten suchte, die sie als Nächstes sagen wollte. Sie drehte sich zu Evie. „Jetzt hast du nur Geldprobleme. Wenn du ihn in dein Leben lässt, löst du ein Problem, aber hast am Ende womöglich ein viel größeres.“

„Vom Regen in die Traufe, oder?“

Ihr Blick wurde sanfter, und eine Fülle an Weisheiten, die Evie nicht einmal im Ansatz begreifen konnte, starrte ihr entgegen. „So etwas in der Art.“

Evette seufzte und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die einzige andere Möglichkeit, die ihr einfiel, würde dafür sorgen, dass Momma sich in ihrem Grab umdrehen würde. Dennoch brachte sie sie ins Gespräch ein. „Ich schätze, ich könnte Onkel Carl nach Geld fragen. Erst vor Kurzen hat er mit einem ganzen Bündel hier herumgewedelt. Er ist so verrückt, wie der Tag lang ist, aber er hat immer angeboten, mir und Emerson zu helfen.“

„Nein.“ Dorothys Erwiderung klang so hart und kam so schnell, dass Evette sie wie einen Ruck empfand. Obwohl sie ihren Tonfall fast ebenso eilig milderte, zitterten ihre Hände, als sie die Arbeit mit den Servietten wieder aufnahm. „Deine Momma hatte ihre Gründe, sich von Onkel Carl zu distanzieren. Es ist das Beste, wenn du es auch tust.“

Es war nicht das erste Mal, dass Dorothy ihre Abneigung gegen Carl zum Ausdruck brachte. Warum sie und ihre Mutter ihn nicht mochten, hatten sie nie erzählt. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass sich Evette selbst nicht gern in seiner Nähe aufhielt, hatte sie auch nie eine Erklärung forciert.

Evette stützte die Hände hinter sich gegen die Theke und starrte Sergei an.

Sergei drehte sich um und fing ihren Blick auf.

Hielt ihn gefangen.

Die Verbindung war so besitzergreifend, dass Evie hätte schwören können, er hätte die komplette Konversation mit angehört.

Was natürlich totaler Quatsch war. Das konnte er gar nicht. Er war bloß ein einschüchternder Mann mit einer guten Intuition.

Aber er könnte ihr helfen.

Viel schneller als jeder andere in dieser Gegend.

Sie verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf Emerson, der nun mit seinem Abendessen fertig war und aus dem Fenster auf die Straße dahinter starrte.

„Besteht die Chance, dass ich dich zu einem Eis mit heißer Schokoladensoße für Emerson überreden kann?“, wandte sie sich an Dorothy.

„Besteht die Chance, dir das auszureden, was du vorhast zu tun?“

„Nur wenn du mir sagen kannst, wie ich bis Montag einen neuen Job bekomme und rechtzeitig weitere fünfhundert Dollar auftreibe, um den Platz für Emerson zu halten.“

Dorothy schwieg.

„Komm schon, Dorothy. Du hast selbst erzählt, dass er kein absolut schlechter Typ ist. Verdammt. Ich erinnere mich sogar daran, dass du mal eingeräumt hast, ihn zu mögen. Das hast du nicht einmal über Pastor Manny gesagt, und den mag jeder.“

„Ja, aber dich liebe ich. Ebenso, wie ich deine Mama geliebt habe. Merk dir meine Worte: Wer sich mit Sergei einlässt, der weiß nicht, was ihn am Ende erwartet.“

„Wenn es meinen Jungen ausnahmsweise zum Lächeln bringt, glaube ich, dass es das wert sein wird.“

Dorothy schüttelte ihren Kopf, hob den Besteckkasten hoch, als würde er nichts wiegen, und schob ihn unter die Theke. Sie drehte sich zu Evie, betrachtete sie einige Sekunden lang, nickte dann und begab sich auf den Weg in die Küche. „Ich mache zwei Eisbecher. Ich habe das Gefühl, der Junge ist nicht der Einzige, der einen Muntermacher braucht, bevor der Tag zu Ende geht.“

Kapitel 2

 

Sie sah ihn schon wieder an.

Immer, wenn Sergei ins Dorothy’s kam und Evette da war, musterte sie ihn, und sie gab nicht ein einziges Mal vor, schüchtern dabei zu sein. Ihre Kühnheit faszinierte ihn. Sie forderte ihn regelrecht heraus, wie ein Matador mit einem roten Umhang und Todeswunsch. Wäre sie jemand anders, hätte er es sich schon vor Monaten zur Aufgabe gemacht, sie zu erobern. Hätte seinen Hunger so lange an ihr gestillt, bis sie beide fix und fertig gewesen wären.

Aber sie war nicht irgendjemand.

Sie war Evette Labadie. Der Liebling der Nachbarschaft, den jeder verehrte und vergötterte. Sie auf jegliche Art, die er wollte, zu nehmen, stand im Widerspruch zu seiner Mission, nämlich die Loyalität derer zu gewinnen, die in den gefährlichsten Straßen von New Orleans lebten, die große Mehrheit der damit verbundenen Unternehmen zu kontrollieren und dabei die Konkurrenz auszulöschen. Eine so hoch angesehene Frau wie Evette zu besudeln, würde es erschweren, sich Respekt und Loyalität zu verdienen.

Außerdem war sie Dorothys Patentochter. Er mochte seinen Schutz gewährt haben im Austausch gegen einen öffentlichen Ort, an dem er seine Geschäfte erledigen konnte, doch er schätzte Dorothy auch. Er respektierte ihre hart erarbeitete Weisheit und ihre knallharte Unnachgiebigkeit. Er wollte diesen Respekt nicht entehren, indem er zuließ, dass die Hässlichkeit seiner Welt auf jemanden abfärbte, der so strahlend und offen war.

Kir lehnte sich auf seinem Platz so weit nach vorn, dass er Sergeis Fokus auf Evette unterbrach, und grinste. „Du solltest sie einfach endlich ficken.“

Wäre es jemand anderer gewesen, der das gesagt hätte, hätte Sergei ihn auf der Stelle und ohne zu zögern ausgeweidet. Glück für Kir, dass er einer der wenigen Männer war, denen Sergei blind vertraute, weshalb er sich mit einer Warnung begnügte. „Das Wort Fick oder etwas Ähnliches in Bezug auf Evette wird dir niemals wieder über die Lippen kommen oder auch nur in deinen Gedanken auftauchen. Und du wirst die Finger von ihr lassen.“ Er zwang sich dazu, seinen Blick von Evette abzuwenden, und starrte seinen Waffenbruder kalt an. „Sie ist sicher. Vor mir. Vor dir. Vor jedermann.“

Romans kehliges Lachen klang triumphierend. „Du hast bemerkt, dass die Warnung an dich sehr konkret war? Der Rest von uns hat bloß eine allgemein gültige Ansage erhalten.“

Einer von Kirs Mundwinkeln hob sich zu einem unbekümmerten und verschlagenen Grinsen. „Das liegt nur daran, dass er weiß, dass ich sie bekommen könnte, wenn ich mich ins Zeug legen würde.“

„Vielleicht.“ Sergeis Blick schweifte zurück zu Evette. Sie war ein zierliches kleines Ding, höchstens eins fünfzig, mit frechen Gesichtszügen und kurzem, aber modern gestyltem haselnussbraunen Haar, das ihn an eine Fee erinnerte, die gerade mit einem temperamentvollen Schwung aus dem Bett gesprungen war. Sergei hatte genug Details von Dorothy erfahren, um zu wissen, dass Evettes Vater aus einer hellhäutigen Familie stammte, während ihre Mutter tiefe kreolische sowie indianische Wurzeln hatte und ihre Persönlichkeit ebenso lebendig gewesen war. Es gab niemanden, den Evette wie einen Fremden betrachtete, und sie behandelte jeden gleich. Geschätzt. Wichtig.

Er hob seine Kaffeetasse vom Tisch und nippte mit einer trügerischen Lässigkeit daran. „Wie dem auch sei, dein Erfolg wäre nur von kurzer Dauer.“

„Was?“, fragte Kir. „Denkst du wirklich, ich könnte sie auf Dauer nicht bei Laune halten?“

„Nein. Ich denke, ich würde dir den Schwanz abschneiden, ihn dir in den Rachen schieben und dir dabei zusehen, wie du daran erstickst.“

Das war keine leere Drohung, und die Geschwindigkeit, mit der Kirs Grinsen verblasste, zeigte eindeutig, dass sein alter Freund das wusste. „Zur Kenntnis genommen.“ Er lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere in einer Geste, die den kaltblütigen Mörder nicht erkennen ließ, und studierte Evette. Was auch immer das Thema war, über das sie und Dorothy diskutierten, führte bei Evette zu eindringlichen Gesten. „Wenn du meine Meinung wissen willst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis du deine eigene Warnung in den Wind schießt.“

Das würde er nicht.

Sosehr er die Berührung eines so guten Menschen ehren und genießen würde, die Dunkelheit in ihm war zu groß, mit Leichen gepflastert und mit Blut besudelt, um eines solchen Geschenkes würdig zu sein.

„Was wollte Smitty?“ Romans nicht gerade subtiler Themenwechsel zeigte, wie gut er in den letzten Jahren gelernt hatte, Sergei zu lesen.

Leider hatte er ein Thema gewählt, das Sergeis Stimmung noch mehr trübte. Vor allem, weil er den Besitzer des Lebensmittelladens nur einen Block nördlich von Dorothy’s Diner als positive Präsenz in der Gemeinde und soliden Familienvater kannte. „Steven Alfonsi hat seine Rekrutierung verstärkt.“

„Er hat sich für Smitty interessiert?“ Roman hob überrascht die Augenbrauen.

Sergei schüttelte den Kopf. „Er hat es auf Smittys Sohn, Jamie, abgesehen. Hat einen Kerl in dessen Alter auf ihn angesetzt. Smitty hat gesehen, dass der Junge ständig den Laden besucht, wenn Jamie arbeitet.“

Kir zog die Stirn kraus, beugte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Das sieht Alfonsi gar nicht ähnlich. Jamie ist ein Collegejunge, klug und hält sich an die Regeln. Alfonsi mag keine intelligenten Schachfiguren. Sie sind schwer zu kontrollieren.“

„Er will engere Beziehungen zur Nachbarschaft“, antwortete Roman, ehe Sergei es tun konnte. „Wir haben fast die Hälfte seiner Geschäfte übernommen. Er will wissen, wie wir das gemacht haben. Dazu braucht er Leute im inneren Kreis, die ihm helfen, es herauszufinden.“

„Die wird er nicht bekommen.“ Diesbezüglich war Sergei absolut sicher. Diejenigen, die in der Stadtmitte, im siebten und achten Bezirk lebten und arbeiteten, wussten zweifelsohne, dass Sergei die Bestie unter ihnen war, aber er war ihre Bestie. Er war derjenige, der skrupellos genug war, um sie von den Tyrannen zu befreien, die ihre Welt überrannt hatten. Es war ihnen egal, dass er im Gegenzug Tribut verlangte. Was ihnen nicht egal war, war die Tatsache, dass er sie fair behandelte und beschützt hatte, als sie es selbst nicht konnten. Damit hatte er sich ihre Loyalität verdient.

„Und was will Smitty?“, fragte Roman.

Sergei tippte gegen den Rand seiner Tasse. „Was sich alle guten Väter für ihr Kind wünschen. Die Versuchung für den Jungen aus dem Weg räumen.“

Kir blickte zu Roman; die unausgesprochene Anweisung wurde von beiden sofort aufgegriffen. „Willst du das erledigen oder kann ich mich darum kümmern?“

Roman schwieg, aber die Bösartigkeit, die aus jeder seine Poren drang, war spürbar. Von ihnen dreien verabscheute er kozels- egoistische Idioten - wie Steven Alfonsi am meisten. Der Mann besaß keine Ehre, hatte sein Image um stereotypische Mafia-Filme und unnötige Machtspiele aufgebaut, um Angst einzuflößen. Er handelte mit Geheimnissen, benutzte sie, um gute Menschen seinem Willen zu unterwerfen.

Ein Grund mehr, warum die Menschen aus den gefährlichsten Straßen Sergei freiwillig als einen von ihnen akzeptiert hatten. Sein Reich war eins der Wahl, nicht der Gewalt. Ein Tanz, der bereitwillig angenommen und mit einer Schuld honoriert wurde. Ein Akt des Vertrauens und der Ehrung.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis ganz New Orleans aus exakt diesem Grund hinter ihm stehen würde.

Sergei antwortete Kir, bevor Roman die Gelegenheit nutzen konnte, um seine Blutlust zu stillen. „Du wirst es regeln.“

Hinter dem Tresen wandte Dorothy sich um und warf Sergei einen Blick zu, den man nur als Resignation bezeichnen konnte, und sagte dann etwas zu Evette, bevor sie sich in die Küche verzog.

Evette starrte ihn an. Ihre Arme waren überkreuzt und ihr Gesichtsausdruck hatte nichts mehr von der gewohnten Leichtigkeit. Was auch immer die feya auf dem Herzen hatte, es schien ernst zu sein.

Das gefiel ihm nicht.

Kein Stück.

Er zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit wieder auf Kir zu richten. „Übertreib es nicht. Etwas Kleines. Gerade genug, um eine Botschaft zu senden, aber nicht genug, um einen Krieg anzuzetteln. Wir werden Alfonsi gegenübertreten, wenn die Zeit reif ist.“

Kir nickte nur einmal kurz und griff nach seiner Kaffeetasse.

Evette stieß sich vom hinteren Tresen ab, umrundete die Bar und kam mit langsamen, aber zielstrebigen Schritten näher. Ihr Weg führte sie direkt zu ihm. Er spürte den Drang, sich aufzurichten, doch bevor seine Muskeln in Aktion treten konnten, konzentrierte er sich darauf, sein Verhalten unbeeindruckt wirken zu lassen. Würde sich ein Mörder mit einer Waffe auf ihn zubewegen, wäre die Maske seine zweite Natur. Nur ein weiteres persönliches Gespräch mit dem Tod.

Aber als Evette auf ihn zukam, war es eine ganz andere Erfahrung. Hinter seinem Brustbein breitete sich ein unbekannter Druck aus. Ein Adrenalinschub machte seine Haut übersensibel und ließ die Umgebung bedeutungslos werden.

Beunruhigende Reaktionen.

Gefährlich für einen Mann wie ihn.

Romans tiefe Stimme drang kaum zu ihm durch, der russische Klang ihrer Muttersprache war wie ein beruhigendes Streicheln. „Zwei Audienzen an einem Tag. Und die hier ist mit einem Lamm.“

Kirs Mund zuckte. „Ich würde sie nicht unbedingt als Lamm bezeichnen. Aber das könnte interessant werden.“

„Nicht für euch beide“, sagte Sergei, als sie sich dem Tisch näherte. „Weil ihr nicht hier sein werdet.“

Dieses Mal machte sich Kir gar nicht erst die Mühe, sein Lächeln zu verbergen. Er wagte es sogar, zu lachen, während er aufstand und zu Roman sah, der bereits auf den Beinen war. „Wie ich schon sagte, nur eine Frage der Zeit.“

Evette blieb genau zwischen ihnen am Tisch stehen. So winzig, wie sie war, ließ sie Kir und Roman wie Riesen aussehen, aber sie beäugte die beiden mit einer bewundernswerten Furchtlosigkeit. „Unterbreche ich gerade etwas, das ich nicht unterbrechen sollte?“

Roman schenkte ihr etwas, das einem Lächeln bei ihm am nächsten kam, und bot ihr den Platz an, den er soeben frei gemacht hatte. „Nein, Madam. Bitte setzen Sie sich doch.“

Einige Sekunden lang inspizierte sie den ihr angebotenen Platz, die beiden Männer neben ihr und alle hinter ihr sitzenden Gäste. Dann, mit der gleichen Entschlossenheit, die er bereits während ihres Gesprächs mit Dorothy beobachtet hatte, straffte sie ihre Schultern und glitt auf den Platz rechts von ihm. „Danke.“

„Gerne.“ Roman neigte seinen Kopf Richtung Sergei und wechselte wieder ins Russische. „Viel Glück, moy brat.“

Kir imitierte die respektvolle Geste, doch seine Augen glänzten mit genug Heiterkeit, um zu versprechen, dass er später auf Details drängen würde. „Glücklicher Bastard.“ Er deutete mit dem Kinn Richtung Bürgersteig und wechselte zurück in die Landessprache. „Wir warten draußen.“

Sergei ignorierte den Spott und wandte seine Aufmerksamkeit Evette zu, nachdem die beiden davongeschlendert waren. „Ms. Labadie. Ihr Besuch an meinem Tisch kommt unerwartet.“

„Sie kennen meinen Namen?“

„Sie holen Ihren Sohn jeden Tag nach der Schule hier ab, besuchen Dorothy auch bei anderen Gelegenheiten häufig und manchmal arbeiten Sie sogar für sie. Es wäre nachlässig von mir, Ihre Patentante nicht nach dem Namen einer schönen Frau zu fragen, die ich so oft hier sehe.“

Sie verzog ihren Mund auf einer Seite, gerade mit gerade genug Verärgerung und Ironie, um zu beweisen, dass sie Sinn für Humor besaß. „Dorothy hat vergessen zu erwähnen, dass Sie charmant sind.“

Er war also das Thema ihres Gesprächs gewesen. Interessant. Er vermutete außerdem, dass dies wohl auch die Resignation auf Dorothys Gesicht erklärte, bevor sie in der Küche verschwunden war – seine feya brauchte etwas. Etwas, das wichtig genug war, um sich mit dem Teufel einzulassen, und ihre Patentante hatte nichts getan, um es zu verhindern. „Das kann ich durchaus sein.“ Aufzuzählen, was für Fähigkeiten ihm häufiger nachgesagt wurden, war unnötig. Es schwebte zwischen ihnen wie ein schwankender Sensenmann im Wind, der nur auf seinen nächsten Auftrag wartete.

Evette zappelte auf ihrem Sitz herum und schob Romans verlassene Kaffeetasse an den Tischrand. „Wissen Sie, meine Momma hat hier früher gearbeitet. Fast von dem Tag an, als Dorothy und ihr Ehemann das Diner eröffnet haben.“ Sie sah zu dem Tresen, an dem Emerson saß und nun seine Hausaufgaben erledigte. „Ich habe immer genau dort gesessen, wo Emerson jetzt ist, während ich darauf gewartet habe, dass sie ihre Schicht beendete. Wenn ich keine Hausaufgabe aufhatte, ließ Dorothy mich arbeiten, Salz- und Pfeffersteuer befüllen, Zuckerpäckchen auffüllen oder das Besteck in Servietten einrollen.“

Sie war ebenso ein Einzelkind und nun eine Alleinerziehende; wer Emersons Vater war, wusste nicht einmal Evette selbst. Sie lebte in einem heruntergekommenen Wohnhaus, das Sergei in den letzten drei Monaten zweimal zu kaufen versucht hatte, aber jetzt, wo er neben ihr saß – ihre Stimme hörte und ihrer unerschütterlichen Güte so nah war –, befeuerte das nur seine Motivation, alles zu bezahlen, was nötig war, um das Geschäft endlich abzuschließen. „Das weiß ich.“

Echte Überraschung erhellte ihr Gesicht. „Wirklich?“

„Dorothy hat Sie sehr gern. Sie hat mir viele Dinge erzählt. Auch, wie Ihre Mutter ihr nach dem Tod ihres Mannes beigestanden hat.“

Etwas von der Vorsicht, die sie mit an den Tisch gebracht hatte, verschwand und eine Düsterkeit legte sich über ihre haselnussbraunen Augen. Sie stützte ihre Unterarme auf den Tisch und zeichnete mit dem Zeigefinger die Linie ihres Fingernagels nach. „Das war eine schwierige Zeit. Es war ungefähr ein oder zwei Monate nach dem Hurrikan Katrina und alle waren nervös. Ich glaube, niemand hätte gedacht, dass es so schlimm werden würde, dass jemand für Essen erschossen werden würde.“

Aber Dorothys Mann war genau das passiert. Sergei hatte die Details dazu selbst nachgeschlagen. Nach Geschäftsschluss war ein Mann eingebrochen, der verzweifelt seine Familie ernähren wollte. Dorothys Ehemann war der Einzige, der zwischen dem Schützen und der von ihm begehrten Ware gestanden hatte. „Sie waren damals fünfzehn.“

 Dieses detaillierte Wissen erregte ihre Aufmerksamkeit innerhalb eines einzigen Herzschlags, und eine hart erlernte Vorsicht machte sich in ihrem strahlenden Blick breit.

Ja, malen’kaya feya. Ich weiß alles über dich.

Er musste es nicht sagen. Sie fühlte es und respektierte die Gefahr, die es repräsentierte.

Umso besser für sie beide. Wenn sie eine Bitte hatte, war es klug, sich daran zu erinnern, mit wem und mit was sie es zu tun hatte, bevor sie die Anfrage stellte.

Für einen Moment ließ er die unangenehme Stille zwischen ihnen schwelen, dann gab er ihr einen verbalen Schubs. „Wollten Sie über etwas Bestimmtes mit mir sprechen, Ms. Labadie?“

Sie hielt seinem Blick stand. Ihre Augen waren ausdrucksstark, durchlässig für all die Emotionen, die sich dahinter regten. Angst. Vorsicht. Verzweiflung und Hoffnung.

Ihr Blick kehrte zurück zu Emerson, und als sie sprach, lag da eine gewisse Ehrfurcht in ihrer engelsgleichen Stimme. „Haben Sie Kinder?“

Ein unerwarteter Schmerz breitete sich zwischen seinen Rippen aus. „Nyet.“

Sie wandte sich ihm wieder zu. „Eine Ehefrau?“

Nyet.“

„Eine Freundin?“

Eine interessante Wendung. Er hatte keine Ahnung, wohin sie damit wollte. Eine Frau wie Evette würde sich nicht für einen Mann wie ihn interessieren. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie es ihre Befragung anzudeuten schien. Und doch war seine physische Reaktion sofort und eifrig bei der Idee dabei.

Sein Schweigen und seine Mimik mussten wohl die Richtung seiner Gedanken verraten haben, denn sie richtete sich auf und plapperte drauflos. „Ich versuche herauszufinden, ob Sie jemand Besonderes in ihrem Leben haben. Jemand, für den Sie sich ein Bein ausreißen würden.“

Ah, also war es Emerson, um den sie sich Sorgen machte. Das ergab Sinn. Jeder, der sie mit ihrem Sohn sah, wusste, dass sie Berge versetzen würde, um Emersons Leben dadurch besser zu machen. Auch wenn es bedeutete, sich auf einen Tanz mit dem Teufel einzulassen.

Er nickte und dachte dabei an die Frau, die er als Schwester betrachtete, Darya, und an Anton, den Mann, der mehr ein Vater als sein eigener für ihn gewesen war. „Es gibt da einige.“

Sie studierte sein Gesicht, konzentrierte sich darauf, als ob sie die Ehrlichkeit seiner Antwort einschätzen wollte. Was auch immer sie gesehen hatte, musste wohl ihren Mut befeuert haben, denn sie schluckte den letzten Rest ihrer Angst hinunter und fuhr fort. „Emerson ist mein Ein und Alles. Die einzige Familie, die ich noch habe.“

„Die Familie ist in der Tat wichtig.“ Er wartete. Wenn sie etwas wollte, musste sie darum bitten. Er hatte bereits genug auf dem Gewissen, um ihn für immer in die Hölle zu verbannen. Ihren Untergang würde er jedoch nicht auf dieser Liste ergänzen.

Sie fing erneut an, an ihren Fingernägeln herumzufummeln, während es so wirkte, als wäre ihre Aufmerksamkeit auf den Tisch gerichtet; dabei schien sie ganz woanders mit ihren Gedanken zu sein. „Die letzten Jahre waren hart für ihn. Es kommt mir vor, als wäre er über Nacht von einem Kind zu einem Erwachsenen geworden, der im Körper eines Jungen gefangen ist. Seine Lehrer sagen, es liege daran, dass er sich in der Schule langweilt. Oder unterfordert fühlt.“ Sie hob den Kopf und auf ihren Lippen zeichnete sich ein stolzes Lächeln ab. „Mein Emerson ist klug.“ Das Lächeln verrutschte. „Aber er hat es nicht leicht, und die Lehrer denken alle, wenn ich es schaffe, ihn in der Montessori-Schule im Stadtrand unterzubringen, würde ihm das helfen.“

Als hätte er gespürt, dass das Gespräch sich um ihn drehte, blickte Emerson von seinen Schulbüchern auf und erwiderte Sergeis Blick.

Schmerz.

Verwirrung.

Frustration.

Leere. Die Art, die entstand, wenn der wertvolle Teil im Leben eines Jungen fehlte.

Sergei kannte diese Leere, war den gleichen Weg voller Schmerz, Frustration und Verwirrung gegangen, bis Yefim ihn gefunden und Anton vorgestellt hatte. Evette konnte den Jungen in die beste Schule des Landes bringen, doch das würde nie die Lücke füllen, mit der ihr Sohn sich herumschlug. Er brauchte einen Mentor. Einen Mann, der ihn leitete, ihm half, sein Leben zu gestalten.

Es stand Sergei allerdings nicht zu, diese Weisheit mit ihr zu teilen. Ganz besonders, da es sich um ein Bedürfnis handelte, das Evette nicht erfüllen konnte. „Dann sollten Sie dieser Schule wohl eine Chance geben.“

„Das will ich. Ich werde es tun. Tatsächlich haben sie gerade einen Platz frei. Der Schulleiter sagte sogar, Emerson hätte gute Chancen, sich für ein Stipendium zu qualifizieren, allerdings muss ich das Geld für seinen Studiengebühren vorstrecken, um seinen Platz so lange zu halten.“

„Sie brauchen also Geld, um die Aufnahme zu sichern.“ Eine Bitte, die leicht zu erfüllen war und verhindern würde, dass sie die hässliche Seite seines Lebens sah.

„Nein. Keinen Kredit. Ich möchte Hilfe bei der Arbeitssuche. Eine Referenz oder einen Hinweis, wenn sie einen haben. Und je früher, desto besser.“

Interessant.

Wie oft waren die Menschen zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten, aber nicht ein einziges Mal hatte jemand das Angebot von Geld abgelehnt.

Er beugte sich vor und legte wie sie die Unterarme auf dem Tisch ab. Während seine Hände ruhig und locker blieben, waren ihre immer noch zappelig miteinander beschäftigt. „Ein Job.“

„Ja.“

„Was für ein Job?“

Sie drehte sich in ihrem Sitz neben ihm so, dass sie ihm ihren Oberkörper zuwandte. Ihr Bein, das ihm am nächsten war, hatte sie angezogen; es lag ruhig auf dem Sitz. Es wirkte, als ob sie sich für ein normales Gespräch mit einem unschuldigen Mann statt mit einem bekannten Subjekt aus der kriminellen Unterwelt wappnete. „Nun ja, Sie wissen, dass ich in einem Laden wie diesem arbeiten könnte. Zumindest hier vorne. Ich war noch nie in einer Küche tätig, also wäre das schwer zu verkaufen. Mein letzter Job war bei einer Reinigungsfirma. Wir haben in Geschäftsgebäuden gearbeitet, hauptsächlich in Büros. Das hat gut funktioniert, denn es ist Tagarbeit und ich hatte kurz nach Emersons Schulschluss frei. Ich denke jedoch, dass es schwierig sein wird, so etwas wieder zu bekommen, wenn der neue Arbeitgeber eine Referenz von meinem ehemaligen verlangt.“

„Und warum?“

„Weil sie mich wegen einem Sicherheitsverstoß gefeuert haben.“

Alles in ihm wurde still. Seine Raubtierinstinkte wurden mit der gleichen Eindringlichkeit ausgelöst, die er gespürt hätte, wenn einer seiner meistgehassten Feinde durch die Türen des Diners gekommen wäre. „Erklären Sie mir das.“

„“