Inhalt
[Cover]
Titel
Vorwort der Autorin
ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
ZWEITER TEIL
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
DRITTER TEIL
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
Januar 1945
Epilog
Nachwort der Übersetzerin
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Über das Buch
Impressum
Vorwort der Autorin
In den Krematorien von Auschwitz und Birkenau wurden bis zum 18. Januar 1945 etwa fünf Millionen Menschen verbrannt.1 Es waren Polen, die, von der Gestapo verhaftet oder nach dem Warschauer Aufstand interniert, hierhergebracht wurden, Russen, Jugoslawen, Tschechen, Engländer, Niederländer, Franzosen, Belgier, Italiener, Ukrainer, Esten. Deutsche Kriminelle. Kinder verschiedener Nationalitäten, die ins Lager verschleppt oder hier geboren wurden. Zigeuner, mit denen man ähnlich wie mit Juden umging, indem man ihr ganzes Lager, in dem Männer, Frauen und Kinder gelebt hatten, ins Gas schickte. Diese Angaben wurden während der Liquidierung des Lagers von Personen geliefert, die in der politischen Abteilung von Auschwitz beschäftigt waren.
Mein langer Aufenthalt in Birkenau (1942–1945) und die Vielfalt der dort verrichteten Arbeiten haben mir erlaubt, viele Geheimnisse des Lagers zu ergründen. Die geheimsten Dinge wurden ja mit den Händen der Häftlinge erledigt. Durch diese Hände, die fleißig alles ausführten, was ihnen befohlen wurde, ging die ganze Registrierung der Lebenden, aber auch derer, die direkt aus dem Zug in den Tod gingen, ohne erfasst und tätowiert zu werden.
Das unbeschreibliche Chaos und die Unmöglichkeit, die Identität Tausender von Lebenden und Toten festzustellen, hatten die Einführung der Tätowierung zur Folge. Es war ein großer taktischer Fehler, der von den Lagerbehörden begangen wurde. Denn heute kann man sich mit eigenen Augen überzeugen, welch ein geringer Prozentsatz der Gefangenen von Auschwitz überlebt hat. Zwar wurden die Papiere der Ermordeten vernichtet, und wir mussten ganze Wagen von »Todesmeldungen« zum Verbrennen schleppen, doch wenn man die Endzahl weiß, kann man sehr leicht ausrechnen, wie viele Personen in Auschwitz getötet wurden. Millionen von Menschen waren ins Lager gekommen. Wo sind sie geblieben? Verlassen haben es gerade mal einige Zehntausend. Die Deutschen ahnten nicht, dass jede Nummer, die in den Arm eines Häftlings gestochen wurde, zu einem Dokument werden würde. Durch das Tätowieren stellte man die Grenzpfosten einer Fläche auf, auf die Tausende und Abertausende passen würden. Versuchen wir, sie nur noch ein einziges Mal zu einem Generalappell zusammenzurufen. Versuchen wir, sie in Fünferreihen aufzustellen und nachzuzählen, wie viele von jedem Tausend überlebt haben. Ich weiß, dass das Ergebnis zutiefst deprimierend wäre. Wir würden als eine ganz kleine Gruppe dastehen – als ein lebendiges, tragisches Dokument; als einzelne, durch eine Laune des Schicksals erhaltene Glieder einer riesigen Menschenkette, die ihres Lebens beraubt wurde.
Heute sieht man in Auschwitz und Birkenau nur leere Baracken. Ein Zufall bewirkte, dass die eilige Liquidierung des Lagers unterbrochen wurde. Der Liquidierungsplan sah vor, alle Spuren von Birkenau, dem blutigsten Teil des Lagers, zu verwischen. Wenn anstelle der Baracken und Krematorien Gras gewachsen wäre, hätte man die ganze Angelegenheit gegenüber Europa und der Welt leichter reinwaschen können. Doch es kam anders. Die Rote Armee drang in einem unerwarteten Tempo voran, wie ein Lauffeuer. Das Lager wurde überrascht.
Heute kann man genau die Stellen zeigen, wo das Blut am reichsten floss (es gibt übrigens in Auschwitz kein einziges Stück Erde, auf das kein Blut geflossen wäre). Zwar wurden im Jahre 1944 Gärten angelegt, Blumen gepflanzt und Konzerte veranstaltet, doch das hat den Anblick der nackten Leichen, die in riesigen Bergen vor den Baracken lagen, in unserem Gedächtnis nicht verwischt. Das hat in uns die Erinnerung an die Selektionen, infolge derer alte, kranke und gebrechliche Menschen in den Block 25, den Todesblock, geschleppt wurden, nicht verblassen lassen. Zu lange dauerten die Sterbestunden der im Schlamm liegenden, an Typhus und Ruhr erkrankten Häftlinge, als dass man es je vergessen könnte. Zu deutlich zeigten die Generalappelle, welch ein kleiner Prozentsatz am Leben blieb.
Es starben Künstler, Menschen von Talent, Menschen von Genie, Menschen der Vergangenheit und Menschen der Zukunft. Von diesen vielen Toden, von diesen Hekatomben von Menschen, von jedem verblassenden Augenlicht ging eine stumme Bitte aus – der letzte Wille der Sterbenden. Dieser Wille bohrte sich ins Gedächtnis der Überlebenden und sprengte die Wände ihrer Herzen. Es schien, als sollte er die Stacheldrähte zerreißen, die Tore öffnen und die ganze Welt mit seinem Schrei erfüllen. Und als sollte dieser Schrei zu den freien Staaten, zu den freiheitsliebenden Völkern gelangen.
Aus Auschwitz kamen nur wenige von uns zurück. In jenen denkwürdigen Tagen des Januars 1945 wurde das Lagertor weit geöffnet, und Tausende von Menschen wurden eilig unter starker Eskorte hinausgeführt. Als sich dann auf der Strecke Auschwitz – Groß-Rosen ein kilometerlanger Zug gekrümmter, elender Gestalten formierte und danach ununterbrochen über die Straßen Schlesiens lief, da und dort einen von den SS-Wachen totgeschlagenen Häftling im Schnee zurücklassend, blieben die Bewohner der naheliegenden Städte und Dörfer verblüfft stehen. Von Weitem, von den Schwellen ihrer Häuser, zu ängstlich, um sich der unheilvollen Straße zu nähern, hoben sie die Hände in die Luft und machten ein Kreuzzeichen über den Gehenden.
»Was?«, wunderten sie sich. »So viele Menschen passten nach Auschwitz? Unglaublich!«
Die Vorbeigehenden durften kein Wort sagen; sie konnten also nicht vor ihnen stehen bleiben und ihnen zurufen:
»Nein, es ist nicht wahr! Nicht so viele Menschen passten nach Auschwitz. Es gab Platz für viel mehr. Die, die ihr hier seht, das ist nur eine Handvoll, das sind nur die Übriggebliebenen. Die meisten der Lebenden wurden schon früher nach Deutschland gebracht, die Transporte gingen das ganze letzte Jahr über.«
Heute, während ich diese Worte schreibe, laufen unaufhörlich über die unbekannten Straßen Deutschlands die schmerzenden Füße meiner zurückkehrenden Leidensgenossen. Sie laufen ununterbrochen. Durch den Lärm des Lebens, durch die Stille der Einsamkeit hindurch hört man ihren schweren, müden Schritt.
Meine Geschichte wird nur einen Teil der gigantischen Todesmaschinerie von Auschwitz beschreiben. Ich beabsichtige, ausschließlich die Fakten zu nennen, die ich direkt beobachtet oder erlebt habe. Es handelt sich um Ereignisse, die sich in Birkenau (Auschwitz II) abgespielt haben.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich erklären, dass ich nicht die Absicht habe, die Bedeutung dieser Fakten in irgendeiner Weise zu vergrößern oder sie aus Propagandagründen zu verändern. Es gibt Dinge, die man nicht vergrößern muss. Alles, was ich hier erzählen werde, kann ich vor jedem Tribunal beweisen.2
Es sind Erlebnisse und Beobachtungen einer Person – es ist also nur ein Tropfen in einem riesigen, unermesslichen Ozean.
Zweifellos werden sich auch andere, die dieses Lager überlebt haben, zu Wort melden. Und auch diejenigen, die aus anderen, zahlreichen Lagern zurückkehren werden.
Doch die meisten werden niemals zurückkehren und sich niemals zu Wort melden.
Seweryna Szmaglewska, 1945
1 Zu den Zahlenangaben der Autorin siehe das Nachwort der Übersetzerin.
2 Seweryna Szmaglewskas Bericht gehörte bei den Nürnberger Prozessen (1945/46) zu den Beweisstücken, die dem Internationalen Militärgerichtshof vorlagen. Sie selbst war eine von zwei Zeugen aus Polen, die im Prozess gegen die Hauptverbrecher des »Dritten Reichs« aussagten, was sie später in einem weiteren Buch (Die Unschuldigen von Nürnberg) beschrieb. Mehr dazu im Nachwort der Übersetzerin.