Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2021
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Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2021
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-951-7
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0121-2 (EPUB), 978-3-7495-0123-6 (PDF), 978-3-7495-0122-9 (Kindle).
Coaching und Positive Psychologie, das sind zwei Themengebiete – oder besser: Perspektiven –, die mein berufliches Leben und mich selbst sehr stark geprägt haben. Meine erste Coachingausbildung begann ich bereits während meines Psychologiestudiums. Seit knapp 30 Jahren arbeite ich als Coach und bilde seit 25 Jahren Coaches aus. Lösungsorientiertes Denken und die Freude daran, was man mit Sprache, mit Fragen und Zuhören bewirken kann, das ist mir in dieser Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Wann immer ich gefragt wurde, was ich beruflich mache, war meine Antwort: „Ich unterstütze Menschen dabei, sich und anderen das Leben etwas leichter zu machen.“ Das bereitet mir nach wie vor große Freude, und es erfüllt mich immer noch und immer wieder mit Staunen und Begeisterung, wenn ich sehe, wie sich Menschen auf den Weg machen, um ihr Leben selbstbestimmt und aktiv zu gestalten.
Mein Verständnis von Coaching ist geprägt durch meine Ausbildung als Psychologin. Darauf fußt mein Verständnis von menschlicher Entwicklung, von Bedürfnissen, Werten und Gewohnheiten und wie ich Klientinnen und Klienten auf ihrem Weg zu den eigenen Zielen und im konstruktiven Umgang mit Rückschlägen unterstütze. Wesentliche methodische Grundlagen waren für mich dabei die lösungsorientierten Ansätze, klientenzentrierte Gesprächsführung, Gestalttherapie, NLP und systemische Verfahren. Damit konnte ich meine Klientinnen und Klienten unterstützen, häufig in kurzer Zeit wesentliche Veränderungen in ihrem persönlichen oder beruflichen Leben zu verwirklichen. Und so hätte es gut und gerne auch weitergehen können – wäre mir da nicht die Positive Psychologie begegnet.
2008 hatte ich zum ersten Mal etwas von dieser neuen Richtung der Positiven Psychologie gehört, die mich sofort faszinierte. War hier etwa eine Verbindung zwischen den praktischen und wirksamen Coaching-Ansätzen und der Welt der wissenschaftlichen Psychologie möglich? Die meisten meiner Coaching-Ausbilder oder -Kollegen sahen eine solche Schnittstelle nicht, denn „die Coaches“ arbeiten ja schließlich in der „echten Welt“ und „die Wissenschaftler“ in ihrem sprichwörtlichen Elfenbeinturm. Doch je mehr ich von der Positiven Psychologie hörte, las und auf Kongressen erfuhr, umso mehr zeigte sich für mich, dass sich hier wissenschaftliche Forschung auf genau die Themen fokussierte, die im Coaching zentral sind. Das begeisterte mich so, dass ich mich entschied, die Positive Psychologie intensiv und akademisch zu erkunden. Über zwei Jahre flog ich zum Studium regelmäßig nach London (denn damals gab es einen Studiengang zum Master of Applied Positive Psychology nur in den USA oder eben in England) und tauchte nach mehr als 20 Jahren wieder ganz tief in die Welt der wissenschaftlichen Psychologie ein. Meine anfängliche Vermutung fand ich nach jeder Vorlesung, nach jedem Fachartikel bestätigt: Positive Psychologie und Coaching, das ist eine ideale Verbindung.
Ich entwickelte Kurse für verschiedene Zielgruppen, um dieses Wissen im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, zunächst Praxiskurse, um die Positive Psychologie für Teilnehmer/innen zur Burnout-Prophylaxe und zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens nutzbar zu machen, und dann Ausbildungen in Positiver Psychologie für Coaches und Trainer/innen. Zusammen mit Fachkollegen gründete ich 2013 den Deutschsprachigen Dachverband für Positive Psychologie (DACH-PP e.V.), denn mir war klar, dass Ausbildungen im angewandten Feld eine fundierte Qualitätssicherung brauchen würden, um dem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, der Positive Psychologie ausmacht und der sie auch von bisherigen Strömungen der angewandten Psychologie unterscheidet. Mit der Entwicklung von Curricula für Ausbildungsgänge und Kriterien für Ausbilder/innen wurde dieses Ziel unterstützt, und die Ausbildungsstandards des DACH-PP sind bis heute die höchsten im deutschsprachigen Raum.
2017 schloss ich meine Promotion ab, in der ich über drei Jahre untersucht hatte, wie sich die Teilnahme an einer Ausbildung in Positiver Psychologie verglichen mit einer Coachingausbildung auf das Wohlbefinden der Teilnehmenden auswirkt (Blickhan 2017). Dazu erfasste ich sowohl Belastungsmaße wie Burnout-Risiko oder Depressionssymptome als auch Variablen gelingenden Lebens wie Zufriedenheit, Wohlbefinden und Flourishing. Die Ergebnisse bestätigten, was wir in unseren Kursen immer wieder von den Teilnehmenden hörten: Beide Ausbildungen wirkten sich positiv auf ihr Wohlbefinden aus, doch in der Positiven Psychologie zeigte sich dieser Anstieg schneller, und er blieb stabil. Sich mit Themen der Positiven Psychologie zu beschäftigen macht also angehende Coaches und andere Professionals anscheinend nicht nur fachlich kompetenter, sondern auch persönlich zufriedener und glücklicher.
Im Handbuch Positive Psychologie (Blickhan 2015) fasste ich Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zusammen, um sie im deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen. Mit dem Handbuch wollte ich deutschsprachigen Coaches, Trainer/innen und Therapeut/innen den Zugang erleichtern und eine Brücke zwischen Wissenschaft und Anwendung bauen.
Mit dem vorliegenden Coachingbuch wird die Brücke nun noch stabiler, tragfähiger und vor allem breiter. Positive Psychology Coaching ist ein Feld, das jeder Coach als Bereicherung in sein Repertoire aufnehmen kann, sei es, indem Sie nur die eine oder andere Intervention einbeziehen oder aber die Konzepte der Positiven Psychologie in größerem Maß integrieren.
Wer mein Handbuch Positive Psychologie bereits gelesen hat, kann das vorliegende Buch als Ergänzung, Erweiterung und Vertiefung für die Anwendung im Coaching nutzen. Das Handbuch ist aber keine Voraussetzung. Wer das Handbuch bereits gelesen hat, braucht auch nicht zu befürchten, im Coachingbuch nun einfach einen zweiten Aufguss der Themen von 2015 (oder der Neuauflage von 2018) zu bekommen. Die Grundlagen der Positiven Psychologie habe ich in diesem Buch, das Sie nun in Händen halten, neu aufbereitet und auf die Anwendung im Coaching fokussiert.
Im ersten Teil fasse ich wesentliche Grundlagen der Positiven Psychologie zusammen, die für Coaching relevant sind. Dabei beziehe ich mich inhaltlich auf die gleichen Grundlagen und Forschungsergebnisse wie im Handbuch, etwa zu Charakterstärken oder Positiven Emotionen. Doch was diese und andere Konzepte der Positiven Psychologie für Coaching bedeuten können, finden Sie in diesem Buch weit ausführlicher dargestellt als im Handbuch – verknüpft mit mittlerweile zehn Jahren Erfahrung in der Vermittlung der Positiven Psychologie in Coachingausbildungen.
Die wesentlichen Fragen, die im ersten Teil beantwortet werden:
Wie sich diese Grundlagen in einem Coachingprozess anhand verschiedener Themenfelder umsetzen lassen, dafür bietet Ihnen der zweite Teil dieses Buchs Anregungen, abgerundet durch Coaching-Fallbeispiele:
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen des Buches und vor allem beim Umsetzen aller Anregungen und Impulse, die Sie für interessant und wertvoll halten.
Daniela Blickhan
März 2020
Coaching bedeutet, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Ziele zu erkennen und auf dem Weg dorthin Ressourcen zu aktivieren und Hindernisse zu beseitigen. Diese Arbeitsdefinition ist für die meisten Coaches Grundlage ihrer Arbeit und viele Coaching-Interventionen aus dem Bereich der lösungsfokussierten Methoden stützen sich darauf. Sucht man nach Konzepten, die eine Grundlage für dieses Vorgehen bilden, so landet man über kurz oder lang bei einem der ersten Modelle für Problemlösung und Zielerreichung, dem sogenannten GROW-Modell. Es wurde in den 1990er-Jahren in England entwickelt17 und bezieht sich auf Problemlösung und Zielerreichung. In der wissenschaftlichen Coaching-Literatur ist es eines der meistzitierten Modelle18.
G wie Goal (Ziel) |
Was ist das Ziel? Woran wirst du merken, dass du es erreicht hast? |
R wie Reality (Ist-Zustand) |
Wo bist du derzeit? Wie kannst du diesen Ist-Zustand möglichst genau beschreiben? |
O wie Obstacles (Hindernisse) |
Welche Hindernisse stehen zwischen dir und deinem Ziel? Welche Möglichkeiten siehst du, wie du mit diesen Hindernissen umgehen kannst? |
W wie Way Forward (Lösungsweg) |
Wie kannst du jede dieser Möglichkeiten in konkrete Handlungsschritte auf deinem Lösungsweg übersetzen? |
Im GROW-Modell legt ein Ziel die Grundlage für Veränderung. Das unterscheidet es vom klassischen psychotherapeutischen Ansatz, der im ersten Schritt die Problematik ergründet (die in einer Diagnose festgehalten ist), bevor Ziele und Ressourcen betrachtet werden. Coaching ist seit jeher primär zielorientiert angelegt. Hindernisse spielen im Coachingverlauf nur dann eine Rolle, wenn sie der Zielerreichung im Weg stehen. Um mit ihnen umzugehen, braucht es Lösungswege (Optionen und Handlungsschritte im GROW-Modell), und diese sind am leichtesten umzusetzen, wenn die dafür nötigen Ressourcen aktiviert werden. Möchte man das in eine einfache Formel bringen, so lautet diese:
IST + Lösungswege + Ressourcen = ZIEL
Ein solches Verständnis von Veränderung basiert auf der Vorannahme, dass es sinnvoller ist, auf Ziele zu fokussieren als auf Probleme. Letztere muss man nur dann thematisieren, sofern sie der Zielerreichung im Weg stehen. Ein sinnvolles Vorgehen, denn es vermeidet unnötige Beschäftigung mit Problemen und stellt die Zielorientierung in den Mittelpunkt. Doch genügt das für Entwicklung und ein gelingendes Leben?
Die Positive Psychologie fordert, dass ein gelingendes Leben mehr sein muss als nur die Abwesenheit von Negativem. Dient ein Ziel nur der Überwindung von Hindernissen, kann daraus keine echte Entwicklung entstehen. Wachstum ist mehr als die Abwesenheit von Hindernissen. Wachstum ist ein positiver Wert an sich.
Mit den Ansätzen der Positiven Psychologie können wir Coaching nicht nur lösungsorientiert, sondern wachstumsorientiert verstehen. Beide Aspekte ergänzen sich sinnvoll im ganzheitlichen Verständnis von Coaching. Dann kann ein Coach seinen Klient/innen nämlich zwei Überzeugungen vermitteln:
Probleme sind lösbar.
„Gemeinsam können wir die dafür nötigen Schritte betrachten und Stärken und Ressourcen dafür nutzbar machen. Und konstruktiv mit Hindernissen umgehen.“
Wachstum ist mehr als Problemlösen.
„Im Coaching wird es darum gehen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und so kognitive Erkenntnisse und emotionales Erleben zu verbinden. Daraus entstehen neue Einstellungen, und diese sind die Basis neuer Gewohnheiten.“
Coaching bedeutet dann weit mehr als nur Problemlösung. Es unterstützt die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und fördert das Aufblühen zu einer fully functioning person. Leider lässt sich dieser Ausdruck, der von Carl Rogers geprägt wurde, nur schlecht ins Deutsche übertragen, da dort das Wort „funktionieren“ einen eher negativen Beigeschmack hat. Fully functioning beschreibt volle psychische Leistungsfähigkeit – wobei „Leistung“ hier nicht „Arbeitsleistung“ bedeutet, sondern das ganzheitliche und persönlich sinnstiftende Nutzen des eigenen Potenzials.
Wie sich das in einem Coachingprozess umsetzen lässt, dafür finden Sie Anregungen in Teil II.
17 Nicht ganz klar ist, wer der Autor des Modells ist. Meist wird es Sir John Whitmore zugeschrieben, z. B. Whitmore (2010).
18 Das GROW-Modell ist im englischsprachigen Raum sehr verbreitet. In Deutschland kennt man ähnliche Modelle mit anderen Akronymen, zum Beispiel das POSITIV-Modell (Blickhan, C. 2015).
Wie in Kapitel 1 bereits dargestellt, gibt es zahlreiche Coachingausbildungen und entsprechende Zertifizierungen im deutschsprachigen Raum. Auch Ausbildungen in Positiver Psychologie, die durch Berufsverbände anerkannt sind, finden sich inzwischen mehr und mehr. Wie sieht es aber mit Ausbildungsgängen aus, die beides verbinden, Coaching und Positive Psychologie?
Der Deutschsprachige Dachverband für Positive Psychologie DACH-PP e.V. wurde 2013 als erster Berufsverband für die Anwendung der Positiven Psychologie gegründet. Ziel des gemeinnützigen Verbandes ist seitdem die Förderung der Positiven Psychologie im deutschsprachigen Raum, um sie einem breiten, auch nicht akademisch interessierten, Publikum zugänglich zu machen. Der DACH-PP e.V. versteht sich als Austauschplattform für Personen und Initiativen, die die Positive Psychologie in verschiedenen Feldern (wie z. B. Coaching, Psychotherapie und Beratung, Schule, Hochschule und Ausbildung oder Wirtschaft und Politik) einsetzen und anwenden wollen. Um die Qualität von Fort- und Ausbildungen im Bereich der Positiven Psychologie im deutschsprachigen Raum zu sichern, die ihren Schwerpunkt auf der Anwendung im praktischen Feld haben (z. B. Coaching, Beratung, Wirtschaft, Pädagogik), wurden Ausbildungsstufen mit Curricula und Kriterien für die Lehrbefähigung der Ausbilder entwickelt.
Die Ausbildung zum Zertifizierten Positive Psychology Coach DACH-PP ist eine der umfangreichsten Fortbildungen des Dachverbands. Die Teilnehmer/innen werden dazu befähigt, als Coach mit Schwerpunkt in Positiver Psychologie tätig zu sein. Die Ausbildung umfasst 34 Tage über mindestens ein Jahr, meist jedoch länger. Vermittelt werden neben fundierten Kenntnissen der Positiven Psychologie auch Coachingkompetenzen. Die Ausbildung beinhaltet Supervision und selbst organisierte Peergroups.
Module:
Voraussetzung zur Zertifizierung nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung
Grundausbildung:
Coachingnachweise:
Abbildungen von Daniela Blickhan:
4.1, 7.3, 7.5, 8.1, 8.2, 8.3, 8.12, 8.13, 8.14, 8.15, 9.2, 10.1, 10.2, 10.3, 10.4, 10.5, 10.6 sowie „Healthy Mind Platter“
Abbildungen von Sasha Blickhan:
2.1, 3.1, 7.2, 7.4a+b, 8.4, 8.5, 8.6, 8.7, 8.8, 8.9a+b, 8.10, 8.11, 9.3, 9.4
Daniela Blickhan
Positive Psychologie im Coaching
Von der Lösungs- zur Wachstumsorientierung
Positive Psychologie und Coaching – eine ideale Verbindung
Coaching begleitet Veränderungsprozesse und unterstützt Menschen dabei, ihre Ziele zu erreichen. Positive Psychologie untersucht Faktoren des gelingenden Lebens: Was lässt Menschen „aufblühen“? Daniela Blickhan setzt die Positive Psychologie selbst seit mehr als zehn Jahren im Coaching und in der Ausbildung von Coaches ein. Ihr Resümee: Jeder Coach kann Positive Psychologie als Bereicherung in sein Repertoire aufnehmen.
Nach einer Zusammenfassung der für das Coaching relevanten Grundlagen der Positiven Psychologie geht es im 1. Teil um Fragen wie: Was bedeutet „positive Diagnostik“? Was sind „positive Interventionen“? Was charakterisiert einen „positiven Coachingprozess“? Im 2. Teil geht es darum, wie sich diese Grundlagen in einem Coachingprozess umsetzen lassen:
Dr. Daniela Blickhan, Dipl.-Psych., MSc, Lehrcoach DACH-PP, DVNLP, DCV und Lehrtrainerin DACH-PP, DVNLP, leitet seit 1991 das INNTAL INSTITUT und bildet Coaches, Trainer und Führungskräfte in Positiver Psychologie, NLP und Systemischem Coaching aus.
„Je früher der Mensch gewahr wird, dass es ein Handwerk, dass es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen kann, desto glücklicher ist er.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Dachte Goethe an Coaching, als er am 17. März 1832 diese Formulierung in einem Brief an Wilhelm von Humboldt wählte? Aus heutiger Sicht beschreibt er nämlich punktgenau und zutreffend, worum es im Coaching geht: das Potenzial, das in einem Menschen bereits angelegt ist, wachsen und sich entfalten zu lassen, um damit zu mehr Zufriedenheit, Wohlbefinden und – in Goethes Worten – Glück beizutragen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es laut Goethe ein Handwerk, eine Kunst. Ob er sich damals schon vorstellen konnte, dass einmal Menschen diese Kunst in den Mittelpunkt ihrer beruflichen Identität stellen und als Coaches1 ihren Lebensunterhalt damit verdienen würden? Und dass sich mit der Positiven Psychologie ein wissenschaftliches Forschungsgebiet entwickeln würde, das Glück und gelingendes Leben untersucht?
Coaching schien bis vor wenigen Jahren noch bestimmten Zielgruppen vorbehalten, zum Beispiel Leistungssportlern oder Führungskräften, heute ist es dagegen sehr weit verbreitet. „Ich bespreche das mal mit meinem Coach“ ist eine Aussage, die man inzwischen von den verschiedensten Menschen immer häufiger und selbstverständlicher im Alltag hört. Gibt man den Begriff „Coaching“ bei Google ein, so erscheinen sage und schreibe 1.730.000.000 Ergebnisse – weit mehr als eine Billion. Eine Internetsuche mit dem Begriff „Coachingausbildung“ erbrachte 2015 221.000 Ergebnisse und 2019 bereits 276.000. Mit dem Zusatz „Zertifikat“ ergaben sich 28.300 bzw. 38.100 Treffer; auch hier zeigt sich also eine steigende Tendenz. Der Markt für Coachingausbildungen ist groß und scheint weiter im Wachstum begriffen. Die Reglementierung bzw. Qualitätssicherung im deutschsprachigen Raum2 ist allerdings ausgesprochen gering. Seit 1999 wird die Ausbildung von Psychotherapeuten in Deutschland durch das Psychotherapeutengesetz geregelt, doch für den Bereich Coaching existieren bisher noch keine verpflichtenden gesetzlichen Richtlinien. Coach darf sich in Deutschland quasi jeder nennen.
Was ist Coaching also?
Coaching lässt sich von der Psychotherapie dadurch abgrenzen, dass die Kunden keine Diagnosen psychischer Störungen tragen. Ein Coach begegnet seinem Klienten auf Augenhöhe und betrachtet ihn als handlungsfähigen Partner, der von einem Experten, nämlich dem Coach, Unterstützung bei der eigenverantwortlichen Lösung seiner Probleme und beim Erreichen seiner Ziele erhalten möchte. Klienten werden also nicht „behandelt“, sondern beraten. Daher werden sie nicht wie im medizinisch-therapeutischen Kontext als „Patienten“ (lat. patiens = erduldend, ertragend, ausharrend) bezeichnet, sondern als Klientinnen und Klienten. Immer öfter wird auch der Begriff Coachee verwendet, längst nicht nur in Business-Kontexten.
Sucht man nach einer Definition für Coaching, so fällt schnell auf, dass es keine einheitliche gibt, was angesichts der fehlenden Regelung des Coaching-Markts aber auch nicht weiter überrascht. Die Coaching-Berufsverbände haben jeweils eigene Definitionen. Einige Beispiele:
Coaching ist die professionelle Beratung, Begleitung und Unterstützung von Personen mit Führungs- / Steuerungsfunktionen und von Experten in Unternehmen / Organisationen. Zielsetzung von Coaching ist die Weiterentwicklung von individuellen oder kollektiven Lern- und Leistungsprozessen bzgl. primär beruflicher Anliegen. Als ergebnis- und lösungsorientierte Beratungsform dient Coaching der Steigerung und dem Erhalt der Leistungsfähigkeit. (…) Der Coach ermöglicht das Erkennen von Problemursachen und dient daher zur Identifikation und Lösung der zum Problem führenden Prozesse. Der Klient lernt so im Idealfall, seine Probleme eigenständig zu lösen, sein Verhalten / seine Einstellungen weiterzuentwickeln und effektive Ergebnisse zu erreichen. Ein grundsätzliches Merkmal des professionellen Coachings ist die Förderung der Selbstreflektion und -wahrnehmung und die selbstgesteuerte Erweiterung bzw. Verbesserung der Möglichkeiten des Klienten bzgl. Wahrnehmung, Erleben und Verhalten. (Deutscher Bundesverband Coaching e.V., 2019)
Klientenzentriertes professionelles Coaching ist lösungs-, potenzial- und zielorientierte, gleichberechtigte und partnerschaftliche Beratung und Begleitung von Menschen, unter Berücksichtigung der persönlich zu entwickelnden Fähigkeiten und Ziele des Klienten. Der gesunde Klient ist Auftragsgeber und vereinbart die Verwirklichung seiner beruflichen und / oder persönlichen Coaching-Ziele. Das Vorgehen hierbei ist immer vertraulich, autonom, partnerschaftlich und klientenorientiert. Professionelles Coaching beinhaltet u. U. auch die Aufarbeitung, Verarbeitung und Überwindung individueller Arbeits- und Lebens-Konflikte, „Missverständnisse und Verwechslungen“ in der Kommunikation, Ambivalenzen im Denken & Verhalten, Störungen in Emotion und Reaktion, Neuorientierung und Zufriedenheit für die Zukunft. Das Erarbeiten eines neuen beruflichen und / oder privaten Lebens und / oder die Entwicklung einer neuen Lebens-Biografie kann Bestandteil einer Neuorientierung im professionellen Coaching sein. Auf Wunsch des Klienten (Auftraggeber) kann nicht nur das berufliche, sondern auch das private soziale Umfeld (Familie, Partner, Bezugspersonen) diskret in das Coaching einbezogen werden. Coaching ist eine Dienstleistung. Es wird keine Heilbehandlung, keine juristische Beratung und keine Steuerberatung angeboten und / oder durchgeführt. (European Coaching Association, 2019)
Professionelles Coaching setzt ganz auf die Entwicklung individueller Lösungskompetenz beim Klienten.
Der Klient bestimmt das Ziel des Coachings. Der Coach verantwortet den Prozess, bei dem der Klient neue Erkenntnisse gewinnt und Handlungsalternativen entwickelt. Dabei wird dem Klienten die Wechselwirkung seines Handelns in und mit seinem Umfeld deutlich.
Coaching ist als strukturierter Dialog zeitlich begrenzt und auf die Ziele und Bedürfnisse des Klienten zugeschnitten.
Der Erfolg von Coaching ist messbar und überprüfbar, da zu Beginn des Prozesses gemeinsam die Kriterien der Zielerreichung festgelegt werden. (Deutscher Verband für Coaching und Training e.V. [dvct], 2019)
Wo arbeiten Coaches eigentlich?
Coaches sind beispielweise im Bereich Karriereberatung, Rhetorik, Politik oder im Leistungssport tätig – oder in der Persönlichkeitsentwicklung, dann nennen sie sich üblicherweise Life Coach. Auch von Führungskräften in der Wirtschaft wird heutzutage Coachingkompetenz erwartet, und eines der englischsprachigen Standardwerke verbindet in seinem Untertitel explizit Coaching mit Führung: Coaching for performance: Growing human potential and purpose: the principles and practice of coaching and leadership (Whitmore 2010). Teilnehmende an Coachingausbildungen kommen also aus ganz verschiedenen Feldern und mit unterschiedlichen Vorkenntnissen, Praxiserfahrung und Erwartungen. Führungskräfte aus der Wirtschaft möchten ihre berufliche Kompetenz erweitern, Berater oder Trainer wollen sich qualifizieren, um Coaching als externe Dienstleistung für Firmen erbringen zu können. Ein weiterer, kleinerer Anteil der Teilnehmenden kommt mit dem primären Interesse an persönlicher Weiterentwicklung und möchte die erworbene Coachingkompetenz zunächst einmal für das eigene Selbstcoaching und Selbstmanagement einsetzen, bevor sie sich entscheiden, ob sie andere Menschen professionell coachen möchten. Auch für Psychotherapeuten und Ärzte wird Coaching zunehmend attraktiv, da Coaching eine Psychotherapie sinnvoll ergänzen kann (vgl. z. B. Joseph & Linley 2011). Ärzte können sich so ein zusätzliches Arbeitsfeld erschließen und müssen sich bei der Abrechnung von Coaching nicht an Vorgaben ihrer Gebührenordnung orientieren.
Auf welcher Grundlage steht Coaching?
Wie wissenschaftlich ist Coaching heute?
Bereits 2006 wurde von wissenschaftlich orientierten Psychologen wie Alex Linley, Vorreiter aus England für die Verbindung von Positiver Psychologie und Coaching, die Frage gestellt, ob die empirische Forschung im Bereich Coaching denn ausreichend sei, gerade angesichts seines schnell wachsenden Markts:
Das bemerkenswerte Wachstum im Feld Coaching hat bisher noch keine vergleichbare Entsprechung in der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Forschung gefunden. Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen, darunter die relative Schnelligkeit dieses Wachstums im Vergleich zur Schnelligkeit der Forschung, die Verortung von Coaching an der Schnittstelle zwischen Business-Beratung und angewandter Psychologie, und unterschiedliche Anforderungen, die Coaches selbst vor die Wahl stellen, entweder Coach oder Forscher zu sein (Linley 2006, S. 1, Übersetzung Sasha Blickhan).
Linley charakterisiert diese erste Generation im Coaching dadurch, dass „Coaching-Gurus“ zunächst speziell im Business-Bereich Aufmerksamkeit für Coaching generierten, im Lauf der Zeit jedoch zunehmend in ihren eigenen „geschlossenen Systemen“ stecken blieben. Coaching der zweiten Generation orientiert sich seiner Ansicht nach heute deutlich stärker an psychologischen Modellen und Prinzipien und damit insgesamt mehr und mehr an empirischer Forschung. Dafür sprechen mittlerweile weitere Fakten:
Coaching zeigt sich also inzwischen als ernst zu nehmendes Anwendungsgebiet der Psychologie. Besonders vielversprechend scheint seine Verbindung mit der Positiven Psychologie, die Coaching ideal ergänzen und bereichern kann, sowohl theoretisch als auch praktisch.
Positive Psychologie ist die Wissenschaft des gelingenden Lebens und Arbeitens.
So antworte ich seit Jahren auf dazu gestellte Fragen oder beginne damit Vorträge und Seminare. Meist führt diese Antwort3 zu einem verstehenden Kopfnicken, häufig auch zu interessierten Nachfragen, was denn ein „gelingendes Leben“ sei. Und immer wieder zu der schmunzelnden Frage, ob es denn auch eine „negative Psychologie“ gebe. Gleich vorweggenommen: Nein, die gibt es nicht. Niemals sollte der Begriff einer „positiven Psychologie“ die Existenz einer „negativen Psychologie“ implizieren oder die bestehende Psychologie gar als „negativ“ abwerten. Positive Psychologie (ab jetzt mit PP abgekürzt) wollte von Anfang an als notwendige und sinnvolle Ergänzung der klassischen Psychologie verstanden werden, als eine, die hoffentlich bald vollständig in die Psychologie integriert sein wird (Peterson 2006).
Christopher Peterson, charismatischer Mitbegründer der PP, formuliert es so: „PP ist eine Wissenschaft, keine recycelte Version des positiven Denkens.“ Die PP richtet sich an alle Menschen, denn jeder trägt in sich das Potenzial zu einem erfüllenden, gelingenden Leben. Das umfasst sowohl klinische als auch nicht-klinische Zielgruppen, Patienten und Klienten gleichermaßen. Um auch hier wieder Christopher Peterson zu zitieren: „Was das Leben lebenswert macht, das ist kein psychologischer Prozess. Es ist Arbeit, Liebe und Spiel (work, love and play; Peterson 2013).“4
Warum brauchen wir die Positive Psychologie heute mehr denn je?
Weltweit stehen heute Depressionen in Ländern mit mittlerem oder hohem Einkommen an erster Stelle der sogenannten Krankheitslast (World Health Organisation [WHO] 2013). Psychische Gründe rangierten 2019 an zweiter Stelle bei den Gründen für berufliche Fehlzeiten und sollten laut WHO bald auf Platz eins zu finden sein. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich stehen wir deshalb vor der Aufgabe, wirksame Methoden zu entwickeln und flächendeckend einzusetzen, damit mehr Menschen ein gelingendes Leben führen können. Doch eine bloße Reduktion depressiver Symptome reicht dafür nicht aus, und das ist bereits eine der Kernaussagen der Positiven Psychologie: Es genügt nicht, Menschen von „minus 5“ auf „null“ zu verhelfen. Wir müssen Menschen vielmehr dabei unterstützen, in den Bereich von „plus 5“ oder „plus 10“ zu kommen – und zwar unabhängig davon, ob sie eine psychische Diagnose tragen und damit eine klinische Zielgruppe sind oder ob sie einer nicht-klinischen Zielgruppe angehören und damit potenzielle Klient/innen für Coaches sind. Und nachdem auch in hoch entwickelten Ländern wie Deutschland nur ein Bruchteil der Betroffenen auch tatsächlich professionelle Unterstützung durch Therapeuten erhält, wenden sie sich immer öfter auch an Coaches, um Hilfe zu erhalten.
Wo liegen die Wurzeln der Positiven Psychologie?
Der amerikanische Psychologieprofessor Martin Seligman wurde 1998 zum Präsidenten der Amerikanischen Psychologenvereinigung (APA) gewählt, was für amerikanische Psychologen eine der höchstmöglichen Ehrungen darstellt. In seiner Antrittsrede forderte er, dass sich die Psychologie wieder auf ihr „Geburtsrecht“ besinnen und sich mit der Erforschung positiver Emotionen, positiver Eigenschaften und positiver organisationaler bzw. gesellschaftlicher Rahmenbedingungen befassen solle. Statt weiterhin vorwiegend auf Defizite und Krankheit zu blicken, wie das in der klinischen Psychologie seit dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, sollten Psychologen sich nun wieder darauf fokussieren, was das Leben lebenswert macht, und die Voraussetzungen für ein solches Leben schaffen. Seligman prägte damit die Positive Psychologie als neuen Forschungszweig der akademischen Psychologie.
Positive Psychologie als empirische Wissenschaft begann also formal mit dieser Ansprache vor der Amerikanischen Psychologen-Vereinigung im Jahr 1998 und Martin Seligman gilt entsprechend bei vielen Menschen, auch Fachleuten, als Begründer bzw. „Vater der Positiven Psychologie“. Die Ursprünge der PP reichen aber viel weiter zurück. Anfänge ihrer Forschungsfragen finden sich bereits bei den antiken Philosophen, zum Beispiel bei Aristoteles mit seinen Werken über Themen wie Glück, Sinnhaftigkeit und Tugend. Den bekannten Psychologen Abraham Maslow bezeichne ich gerne als „Großvater der Positiven Psychologie“, da er bereits im Jahr 1954 den Begriff Positive Psychologie prägte, als er das letzte Kapitel seines Buchs „Motivation und Persönlichkeit“ mit den Worten „Towards a Positive Psychology“ überschrieb. Maslow forderte bereits damals, die Psychologie müsse positiver und weniger negativ werden. Sie solle „keine Furcht haben vor den höheren Möglichkeiten der menschlichen Existenz“ (Maslow 1965, S. 27). Dem hätte auch Viktor Frankl zugestimmt, der zu einer ähnlichen Zeit bereits eine „Höhenpsychologie“ in Ergänzung zur damals vorherrschenden Tiefenpsychologie forderte. Carl Rogers, der Begründer der klientenzentrierten Gesprächsführung und -therapie, wäre neben Abraham Maslow und Viktor Frankl der dritte „Großvater der PP“, da er stets betonte, wie prinzipiell positiv und entwicklungsfähig jeder Mensch sei. Mit seinem Konzept der fully functioning person5 nahm Rogers 50 Jahre vor der Begründung der empirischen Positiven Psychologie durch Seligman und seine Kollegen bereits Aufblühen (Flourishing) als Kernkonzept der Positiven Psychologie vorweg.
Die Positive Psychologie ist eine Wissenschaft mit weit zurückreichenden Wurzeln und zahlreichen großen Vordenkern. Inzwischen zählt sie zu den am schnellsten wachsenden Forschungsgebieten innerhalb der Psychologie. Kurz gesagt geht es bei der PP um die wissenschaftliche Betrachtung dessen, was das Leben lebenswert macht. Dazu gehören sowohl Stärken, die es zu erkennen und zu fördern gilt, als auch Schwächen bzw. Widrigkeiten, mit denen es konstruktiv umzugehen gilt. Im Englischen lässt sich das sehr prägnant formulieren: Positive Psychologie ist the science of what goes right in life – die Wissenschaft davon, was im Leben gut läuft. PP befasst sich also auf wissenschaftlicher Grundlage mit dem, was uns stärkt und woran wir wachsen können – und damit ist sie eine ideale Grundlage für Coaching, sowohl im Hinblick auf Konzepte und Theorien als auch auf Interventionen und deren Umsetzung in einem Beratungsprozess.
„Coaching ist eine Tätigkeit auf der Suche nach Rückgrat (backbone), genauer gesagt zweifachem Rückgrat: ein wissenschaftliches, evidenzbasiertes Rückgrat und ein theoretisches. Ich glaube, das neue Feld der Positiven Psychologie bietet dieses doppelte Rückgrat. Positive Psychologie kann dem Coaching einen abgesteckten Raum für die Anwendung bieten, mit Interventionen und Messverfahren, die funktionieren, und mit einer Vorstellung von angemessenen Qualifikationen, um Coach zu sein.“ (Seligman 2007, S. 266, Übers. D.B.)6
Mit diesen Worten beschrieb Martin Seligman im Jahr 2007 den Stellenwert der PP für den Bereich des Coaching. Er betrachtete Coaching damals noch als einen relativ neuen Ansatz, der noch nicht auf eigenen Beinen stehen könne, geschweige denn eine empirische Grundlage habe. An anderer Stelle nennt Seligman Coaching in einem Atemzug mit esoterischen Praktiken. Die PP könne seiner Meinung dem Coaching wesentliche Impulse für Theoriebildung und Evidenzbasierung geben. Seitdem hat sich das Feld des Coaching aber ganz wesentlich professionalisiert und auch akademisiert. Weltweit entstehen Coaching-Studiengänge und es arbeiten entsprechende Forschungsgruppen. Zwei der führenden Coaches der Positiven Psychologie, Suzy Green (Australien) und Stephen Palmer (England), betonen in ihrem 2018 erschienenen Buch Positive Psychology Coaching in Practice, dass genau diese Brücke zwischen Wissenschaft und Forschung nun immer stärker werde, weil sich Anwender an der Forschung orientieren und diese in ihre Praxis einbeziehen, und Forscher wiederum mehr die Wirkung ihrer Studien für die Anwendung in den Blick nehmen.
Die Positive Psychologie als wissenschaftlich basierter Ansatz ist deshalb eine ideale Basis für modernes, ganzheitlich verstandenes Coaching.
1 Die gendergerechte sprachliche Darstellung für Coaches und ihre Kund/innen stellt eine Herausforderung dar. Auch wenn mir der Begriff „die Coachin“ inzwischen mehrfach begegnet ist, so halte ich ihn nicht für sinnvoll. Coach ist ein englischer Begriff und als solcher genderneutral. Zwischen maskuliner, femininer und weiterer Genderform zu differenzieren ist im Deutschen sinnvoll, bei einem englischen Wort halte ich das aber für zu umständlich.
Ich werde in diesem Buch häufig die männliche Form verwenden und bitte alle Leserinnen, sich davon gleichermaßen angesprochen zu fühlen. Aus Gründen der Prägnanz und Lesbarkeit verzichte ich auf Mehrfachnennungen wie „die Klientinnen und Klienten“.
2 Ich beziehe mich in diesem Buch auf den Coaching-Markt in Deutschland. In anderen deutschsprachigen Ländern sind die Regelungen abweichend. So ist für Coaching in Österreich beispielsweise eine Anerkennung als Lebens- und Sozialberater vorgeschrieben. Diese Ausbildung ist umfangreicher als der deutsche Heilpraktiker für Psychotherapie.
3 Das Forschungsgebiet der Positiven Psychologie wird an anderer Stelle ausführlich beschrieben (Blickhan 2018), sodass die Darstellung hier eher kurz gehalten wird.
4 Damit steht Peterson übrigens in interessanter Gesellschaft, denn bereits Sigmund Freud beschrieb es als Ziel der Psychoanalyse, „arbeitsfähig, liebesfähig und genussfähig“ zu werden.
5 Leider lässt sich fully functioning nur schlecht direkt ins Deutsche übertragen, da hier das Wort „funktionieren“ einen eher negativen Beigeschmack hat. Fully functioning beschreibt dagegen volle psychische Leistungsfähigkeit – wobei „Leistung“ hier nicht „Arbeitsleistung“ bedeutet, sondern das ganzheitliche und persönlich sinnstiftende Nutzen des eigenen Potenzials.
6 Im Original lautet dieser Abschnitt folgendermaßen: „Coaching is a practice in search of a backbone, two backbones actually: a scientific, evidence-based backbone and a theoretical backbone. I believe that the new discipline of positive psychology provides both those backbones. Positive psychology can provide coaching with a delimited scope of practice, with interventions and measurements that work, and with a view of adequate qualifications to be a coach.“
Jeder Coach arbeitet mit der menschlichen Psyche und damit mit emotionalen, kognitiven und motivationalen Prozessen. Dem zugrunde liegt immer auch eine – zumindest implizite – Vorstellung davon, wie diese Prozesse funktionieren und miteinander zusammenhängen. Menschen haben unterschiedliche Auffassungen davon, was unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmt, und damit verbunden auch unterschiedliche Menschenbilder, die sich auf den Umgang mit sich selbst und anderen auswirken. Wer hinter allem unterdrückte unbewusste Triebe vermutet, wird das Verhalten und die Aussagen von Menschen (auch von Klienten) anders interpretieren als jemand, der davon ausgeht, dass Menschen prinzipiell reflexionsfähig, ehrlich und wachstums- oder werteorientiert sind.
Sowohl im Coaching als auch für den guten Umgang mit sich selbst lohnt es sich zu wissen, womit man es zu tun hat. Es ist also hilfreich, sich ein Bild von der menschlichen Psyche und den Verarbeitungsprozessen im menschlichen Gehirn zu machen, das einerseits zur empirischen Realität passt und andererseits einen konstruktiven Umgang mit diesen Prozessen ermöglicht. Im Coaching kann das sowohl für das Verstehen und Einordnen von Beobachtungen hilfreich sein als auch für die Psychoedukation: Auch Klienten können davon profitieren, sich eine konstruktive und handhabbare Vorstellung von ihrer Psyche zu machen.
In diesem Kapitel wird im Zusammenhang mit verschiedenen historischen und laienpsychologischen Vorstellungen von der Psyche ein Modell betrachtet, das die Verschiedenartigkeit und das Zusammenspiel von automatischen (automatic) und kontrollierten (controlled) Prozessen im Denken, Fühlen und Handeln auf wissenschaftlich anschlussfähige Weise begreifbar und anschaulich macht (Kahneman 2011a).
Viele Menschen differenzieren intuitiv zwischen Denken und Fühlen, also zwischen eher kognitiven, auch sprachlich repräsentierbaren, und eher emotionalen Formen der Verarbeitung. Beide sind Teil des menschlichen Erlebens und der Art und Weise, wie wir mit Informationen, Eindrücken und Erfahrungen umgehen. Die meisten psychologischen und praktischen Modelle der Psyche sind sich einig, dass Denken, Fühlen und Handeln einander beeinflussen und dass sie zwar eng miteinander zusammenhängen, aber voneinander unterscheidbar sind.
Viele Modelle der menschlichen Psyche in der wissenschaftlichen und der angewandten Psychologie, in der Philosophie und auch in der persönlichen Vorstellung Einzelner treffen noch weitere Unterscheidungen innerhalb psychischer Vorgänge (und zum Teil sehr komplexe Vorannahmen, wie sie miteinander in Beziehung stehen):
Die Kategorien in der linken und rechten Spalte überschneiden sich zwar teilweise, sind aber nicht deckungsgleich: Nicht jeder, der zwischen Denken und Fühlen unterscheidet, hält Gefühle für irrational oder für instinktiv vorbestimmt. Verschiedene Menschen (und Coaches) finden manche Unterscheidungen richtiger, hilfreicher oder sinnvoller als andere. Davon könnten einige je nach Kontext auch kontraproduktiv sein, zum Beispiel im Coaching, während andere vielleicht eine hilfreiche Einordnung des eigenen Erlebens ermöglichen.
Gerne wird einer solchen deskriptiven Unterscheidung von Verarbeitungsprozessen auch gleich eine Wertung beigefügt, nach der manche psychischen Vorgänge als höher entwickelt oder komplexer und andere als schlichter oder niedriger eingestuft werden. Philosophen, Psychologieanwender und Laien ergreifen dann oft mehr oder weniger ausdrücklich Partei für eine Spalte: Rationalisten wie Kant und Platon betonen die Bedeutung der Vernunft, die unvernünftige Impulse zügeln und steuern soll, während manche Verfechter der Intuition Menschen dazu raten, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und sich nicht von gesellschaftlich überformten Denkmustern und Überzeugungen beirren zu lassen. Wer an das sogenannte Unbewusste glaubt, spricht ihm oft eine ungeahnte Macht zu. Wer den Menschen für das einzig vernunftbegabte Lebewesen hält, mahnt ihn, sich seines Verstandes zu bedienen (ein berühmter Leitspruch von Kant) und sich nicht auf das Niveau anderer Tiere hinabzubegeben.
Platon bietet (im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, daher ohne empirische Grundlage) für das Zusammenspiel verschiedener Prozesse in der menschlichen Psyche die Metapher eines Wagenlenkers an, anhand dessen Sokrates im Phaedrus-Dialog das Phänomen der Liebe erläutert. Der Lenker hat die Aufgabe, zwei geflügelte Pferde zu steuern. Ein Pferd versinnbildlicht Emotionen und Verhaltenstendenzen, die den Zielen des Verstandes gut entsprechen oder sich leicht dafür einspannen lassen, wie Ehrgeiz, Bescheidenheit und Tapferkeit. (In Platons aus heutiger Sicht etwas zweifelhafter Metaphorik ist dieses Pferd außerdem weiß, von gutem Wuchs und tadelloser Züchtung.) Das andere Pferd ist störrisch, sprunghaft und nur mit Peitschenhieben und Sporen zu bändigen. Es steht für Impulse wie Stolz und Faulheit (und ist bei Platon krummbeinig, schwerhörig und breitnasig mit dunklem Fell und trüben Augen).
Der Wagenlenker entspricht in der Metapher in etwa dem bewussten, reflektierten Verstand oder dem expliziten Ich, mit dem sich der Mensch typischerweise am leichtesten direkt identifizieren kann, dessen Aufgabe aber in Platons Darstellung in erster Linie im Umgang mit den Pferden besteht. Ohne deren Antrieb kommt der Wagen sprichwörtlich nicht voran. Damit übernimmt der Wagenlenker die Rolle, die auch der schottische Philosoph David Hume (in seiner Abhandlung über die menschliche Natur, 1739) im 18. Jahrhundert dem Verstand zuspricht, als „Diener der Leidenschaften“, auf deren Motivation jede rationale Überlegung angewiesen ist.