© 2020 Jannika Lehmann
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: |
978-3-347-04933-8 |
Hardcover: |
978-3-347-04934-5 |
e-Book: |
978-3-347-04935-2 |
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Playlist
Supergirl – Reamonn
Where I Belong – Sia Colour The Small One
Leichtes Gepäck – Silbermond
You And Me - Milow
Him & I – G-Eazy & Halsey
Imagination – Shawn Mendes
Über die Autorin
Jannika Lehmann wurde 2005 in Südbayern geboren und schrieb schon immer leidenschaftlich gerne. Nun hat sie ihren ersten eigenen Roman verfasst, für den sie auch im Urlaub am Meer bei dreißig Grad vor dem Laptop saß. Sie liebt das Fotografieren, das Reisen und besonders alles, was mit den Schreiben und Büchern zu tun hat. Weitere Informationen über Jannika Lehmann befinden sich auf ihrem Instagram Account (@jannika_lehmann).
Für diejenigen, die glaubten, ich schaffe das nicht.
Hier ist der Beweis für das, was ihr mir nicht zugetraut habt.
Prolog
Katy
Es gibt Menschen, die einfach nicht so sind wie andere. So wie ich. Manchmal frage ich mich, wieso ich auf dieser Welt bin, denn ich bin zwar sechzehn Jahre alt, aber ich kann noch nicht mal beim Bäcker ein Brot bestellen. Ich kann nicht sprechen. Genauer gesagt, ich könnte schon sprechen, wenn ich nicht totalen Mutismus hätte. Der totale Mutismus ist eine psychische Störung, wie es die Ärzte definieren, bei der man im Kindes- und Jugendalter stumm ist und meist erst nach oder manchmal in der Pubertät - möglicherweise durch tolle Erlebnisse - anfängt zu sprechen. Also kurz gesagt, ich habe eine Sprachbarriere. Man sieht mir meine Einschränkung nicht an, aber trotzdem ist sie wie ein großer Felsen in meinem Lebensweg. Sie hat dazu geführt, dass ich nicht zur Schule gehen kann und von klein auf die Gebärdensprach lernen musste.
Als ich nämlich sechs Jahre alt war, wurde ich wie jedes normale Kind eingeschult. Ich konnte mich zwar nicht melden und etwas sagen, allerdings meinten die Ärzte, ich könnte hören wie ein Luchs und hätte Augen wie ein Adler. Somit ging ich in eine gewöhnliche Grundschule für ganz normale Kinder in Minneapolis. Jedoch nur für die ersten drei Wochen, die meine schlimmsten drei Wochen meines Lebens waren. Die anderen Kinder waren so fies zu mir und machten sich über meine Einschränkung lustig, bezeichneten mich immer als ‚Behinderte‘ und stellten mir provozierende Fragen, die ich ihnen nicht beantworteten konnte. In Gebärdensprache antwortete ich nicht, da ich mich nur zum Gespött gemacht und sie sowieso keiner verstanden hätte. Als meine Eltern sahen, wie stark ich litt, entschieden sie sich, mich zu Hause privat unterrichten zu lassen.
Kapitel 1
Katy
„Sie wollten mit mir sprechen?“, sagte meine Mom zu meinem Privatlehrer, Mr. West im Wohnzimmer, nachdem ich mich in mein Zimmer zurückgezogen hatte.
„Ja, Ms Oram. Ich wollte ihnen nur mitteilen, dass ich seit einiger Zeit das Gefühl habe, dass Katy unglücklich ist. Haben Sie daran gedacht, dass die Zeit immer näher rückt, in der sie anfangen könnte zu sprechen?“
„Ja, habe ich, Mr. West. Katy hat im Vergleich zu gleichaltrigen Teenagern noch nicht viel in ihrem Leben erlebt. Mein Mann und ich überlegen deshalb umzuziehen. Vielleicht in eine schöne Gegend, in der sich Katy so richtig wohl fühlt und dort dann möglicherweise sogar anfängt zu sprechen. Allerdings sind wir noch ziemlich ratlos, welche Gegend wir als unsere neue Heimat bezeichnen könnten.“
„Also, da bin ich jetzt schon ein bisschen überrascht, aber dürfte ich ihnen als Katys Lehrer einen Tipp geben?“
„Natürlich dürfen Sie das. Deswegen habe ich ja auch das Gespräch mit ihnen gesucht“, meinte meine Mutter Bridgette zu meinem Lehrer.
„Im Erdkundeunterricht interessiert Katy sich sehr für die Gegend um New Orleans. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein denkbarer Ort für ihren Neuanfang sein könnte, sofern sie und ihr Mann das mit Ihrer Arbeit koordiniert bekommen.“
„Ich bin ihnen sehr dankbar für diesen Tipp. Über unsere Arbeit brauchen wir uns keine Gedanken machen. Das Einzige, was wir für unsere Arbeit brauchen, ist ein gut funktionierendes Internet, denn wir leiten unser Büro in Washington von zu Hause aus.“
Während meine Mutter mit meinem Lehrer im Wohnzimmer sprach, saß ich in meinem Zimmer, spielte Gitarre und hatte noch keine Ahnung was meine Eltern planten.
Als es an der Tür klopfte, wollte ich gerade ein selbst komponiertes Lied anspielen. Ich legte meine alte Gitarre, die mir meine Mutter einmal vom Flohmarkt mitgebracht hatte, neben mich, während sich die Tür meines dreißig Quadratmeter großen Zimmers öffnete und meine Eltern hereinkamen.
Sie wollten mir etwas Wichtiges mitteilen, das konnte ich ihnen ansehen:
„Wir finden, dass du für dein Alter noch nicht viel erlebt hast und deshalb haben wir uns etwas ganz Besonderes für dich überlegt. Wir werden die Stadt Minneapolis verlassen, in der du bisher dein ganzes Leben verbracht hast und werden umziehen.“
Auf einem Mal war ich hellwach, richtete mich auf, blickte in die freudestrahlenden Gesichter meiner Eltern und bemerkte, wie mir plötzlich heiß wurde. Ich wollte unbedingt wissen, welche Gegend sie für mich ausgewählt hatten. Ich hatte nicht sonderlich gute Verbindungen zu Minneapolis, somit war ich offen für Neues.
„Und wir haben uns nach langem Überlegen und sogar nach einem Gespräch mit deinem Lehrer für die Stadt, für die du dich - laut Mr. Westsehr interessierst, entschieden.“
Ich dachte fieberhaft nach, für welche Stadt ich mich angeblich interessieren sollte, denn eigentlich fand ich die ganze Welt sehr interessant.
„Naja … also … es ist die Stadt NEW
ORLEANS!!!“
Es dauerte ein paar Sekunden bis ich es begriffen hatte, dass wir in die Stadt meiner Träume ziehen würden.
Meine Eltern schauten mich erwartungsvoll an und schreckten überrascht zurück, als ich plötzlich aufsprang und wild durch mein Zimmer hüpfte und mich so sehr freute wie noch nie in meinem Leben. Erleichtert umarmten mich meinen Eltern, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte.
An diesem Abend konnte ich genauso schlecht schlafen wie in jenen Nächten der drei Wochen, in denen ich in der Grundschule war. Jedoch diesmal nicht aus Verzweiflung, sondern einfach aus purer Freude.
Kapitel 2
Katy
In schon drei Wochen würde ich in New Orleans wohnen. Bis dahin hatte ich noch einiges zu tun. Ich musste mein Zimmer ausmisten, aufräumen und den gesamten Inhalt in dreißig Kartons verstaut bekommen. So eine große Aufgabe hatte ich noch nie. Während des Aufräumens fand ich alte Tagebücher und las einen Eintrag, den ich mit zehn Jahren verfasst hatte:
Liebes Tagebuch,
heute habe ich wieder nicht viel erlebt, geschweige denn gemacht. Mr. West hat mir zwar etwas über die Landschaft in New Orleans erzählt. – wie schön sie sei und wie toll die historische Altstadt mit ihren zahlreichen Gebäuden im spanischen und französischen Kolonialstil sei. Jedoch frage ich mich, ob ich jemals dieses Haus ohne Sorgen und Ängste verlassen werde. Jeder Zeit könnte mich jemand auf der Straße ansprechen und ich könnte dieser Person nicht antworten. Eine Horrorvorstellung für mich und genau deshalb bleibe ich lieber Zuhause. In Büchern wird das Leben als so einfach geschildert, doch mir scheint es so, als wäre das Leben alles andere als leicht. Besonders mein Leben.
Deine Katy
Ganz plötzlich hatte ich so große Lust, endlich viel zu erleben und freute mich auf meinem neuen Lebensabschnitt in New Orleans. Ich wollte mit den Ängsten und Sorgen der Vergangenheit abschließen und einfach auf mich zukommen lassen, was die Zukunft so bringen würde. Ausgelassen legte ich mich mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf den Fußboden und begann mir auszumalen, was ich alles in meiner neuen Heimat machen könnte und dass mir dort vielleicht sogar neue Ideen für ein neues Lied einfallen würden. Ich hoffte nämlich insgeheim, dass ich irgendwann mit meinen selbst komponierten Liedern berühmt werden würde. Vielleicht hatte ich diesen Traum, um den anderen Kindern aus den drei Wochen Grundschulzeit zu zeigen, dass sie mit ihrer Behauptung, ich sei ‚behindert‘, nicht Recht hatten.
***
Die drei Wochen bis zum Umzug vergingen so schnell, dass ich sehr überrascht war, als mich meine Eltern eines Morgens so weckten:
„Guten Morgen Katy. Ich hoffe, du hast die letzte Nacht in diesem Bett, in diesem Haus und in dieser Stadt noch mal so richtig genossen!“
Ich rieb mir verschlafen die Augen, richtete mich in meinem Bett auf und wunderte mich sehr über diese feierliche Morgenbegrüßung, als meine Eltern hinzufügten: „Heute ist dein großer Tag, Katy! Komm, steh auf! New Orleans wartet auf dich!“
Ich stand blitzschnell auf und gab meinen Eltern mit Hilfe der Gebärdensprache zu verstehen, dass ich mich schnell umziehen würde. Meinen Eltern verließen beide mein Zimmer (oder sollte ich schon sagen mein ehemaliges Zimmer?!). Ich zog mich schnell an, lief durch meinen fast leeren Raum (nur mein Bett und ein paar Schränke standen noch darin) und durch das komplett leere Haus nach draußen. Naja, nicht ganz leer, wir waren ja immer noch in Amerika, wo man ein Haus, das nicht eingerichtet war, nicht verkaufen konnte. Draußen wartete schon Mr. West auf mich, der in Minneapolis blieb. Ich ging auf ihn zu und merkte wie sich ein kleiner Kloß in meinem Hals festsetzte. Ich war deshalb sehr irritiert, denn ich dachte, es würde mir nichts ausmachen ihn hier zurückzulassen. Er war ja schließlich nur mein Lehrer gewesen. Also umarmte ich ihn und gebärdete, dass ich ihm auf jeden Fall schreiben werde, dabei kullerten mir unwillkürlich Tränen über beide Wangen.
Mit dem Ärmel wischte ich sie schnell beiseite, setzte mich schon mal ins Auto und versuchte nach vorne zu blicken. Um mich abzulenken, versuchte ich mich schon mal auf eine achtzehnstündige Autofahrt einzustellen. Als Mr. West jedoch wie gelähmt in sein Auto stieg, spürte auch ich, dass so ein Abschied schwerer war, als ich je gedacht hätte. Nachdem ich Mr. West lange nachgeschaut hatte, als er mit dem Auto langsam die Straße hinunterfuhr, drehten sich meine Gedanken um sehr viele schöne Erlebnisse mit ihm. Diesen Abschiedsmoment erlebte ich ungeahnt heftig und wie in Zeitlupe.
Wenig später kamen meine Eltern ins Auto und unsere - beziehungsweise meine - erste große Reise begann. Wir fuhren langsam an unserem alten Haus vorbei, aus der Straße heraus und auf dem schnellsten Weg auf einem Highway.
Erst als alle Häuser der Stadt hinter uns lagen, gelang es mir, wirklich nach vorne zu blicken, nicht nur durch die Windschutzscheibe. Wir frühstückten im Auto Sandwiches, die wir als Abschiedsgeschenk von Mr. West bekommen hatten.
Ich war sehr gespannt auf die neue Stadt, die irgendwie - trotz der vielen Erzählungen von Mr. West - sehr unbekannt war.
Ich starrte aus dem Fenster und bemerkte, dass ich immer nervöser wurde, je näher wir Richtung New Orleans fuhren.
Ich hatte mir fest vorgenommen, die ganze Autofahrt wach zu bleiben, denn wir würden ja erst in der Nacht die Stadt meiner Träume erreichen. Nach einigen Stunden angestrengten, neugierigen Schauens wurden meine Augen jedoch so schwer, dass sie wohl zugefallen sein mussten. Im Nachhinein ärgerte ich mich, dass ich mir heute früh keinen Latte Macchiato gegönnt hatte, um mich wachzuhalten. Somit verschlief ich den besonderen Moment, als wir New Orleans endlich erreichten.
***
Als ich aufwachte, erschrak ich sehr, denn ich lag in einem fremden Bett und es war hell. Ich stand auf, sah aus dem Fenster und konnte nicht glauben, was ich sah. Von dem Zimmer aus, in dem ich mich befand, konnte man auf den Mississippi River blicken. Ein Blick an der Hausfassade entlang verriet mir, dass ich mich im zweiten Stock befinden musste. Außerdem berührten ein paar Äste einer Palme die große Glasscheibe. Vögelchen hüpften auf diesem wunderbaren Baum auf und ab, als wäre es ein Trampolin. Als ich meinen Blick nach rechts wendete, blendeten mich die Sonnenstrahlen. Erst jetzt nahm ich war, wie grell die Sonne hier schien. Als ich all das sah, fühlte es sich an, als würde ein totgeglaubter Teil meines Herzes wiedererwachen, denn ich hatte gar nicht mehr gewusst, dass ich mich so innig freuen konnte. Tatsächlich, ich stand in unserem neuen Haus in New Orleans in der Berkeley Street. Ich schaute an mir herunter und stellte fest, dass ich einen Schlafanzug trug. Ich konnte mich zwar nicht erinnern, wie er an meinen Körper gekommen war, doch wollte ich mich mit diesem Gedanken gerade nicht aufhalten. Ich zog mich schnell um, kickte mein Schlaf-T-Shirt mit dem Fuß in die eine Ecke des Zimmers, die Hose flog hinterher. Das mit der Ordnung klappte ja schon super in meinem neuen Reich, dachte ich zynisch. Aber egal! Ich streifte mir mein sonnengelbes Sommerkleid über, das ich aus einem Karton fischte und erkundete unser neues Haus. Es schien mir so, als wäre es deutlich größer als unser altes Haus in Minneapolis, wofür meine Eltern erstaunlich schnell einen Käufer gefunden hatten. Ich fand schließlich meine Eltern im Wohnzimmer im Erdgeschoss wieder. Ich fragte sie mit Hilfe der Gebärdensprache, was heute Nacht noch alles passiert war.
„Guten Morgen erstmal, liebe Katy. Wir sind um zwei Uhr mitten in der Nacht hier angekommen und da die Männer mit dem Umzugswagen schon früher hier ankamen, waren sie so nett und haben alle einhundertneunzig Umzugskartons ins Haus getragen. Wir haben dich dann geweckt, du wurdest aber nicht richtig wach und bist gleich zu Bett gegangen“, erklärte mir meine Mom mit ruhiger Stimme.
Ich war entsetzt! Ich war wach gewesen, wusste aber nichts mehr? Peinlich.
Also manchmal fragte ich mich ernsthaft, ob die Kinder aus der Grundschule doch Recht hatten, wenn sie behaupteten, dass ich behindert wäre. Ich verdrängte diesen Gedanken jedoch schnell wieder und begann das von meinen Eltern liebevoll zusammengestellte Frühstück zu genießen.
Kapitel 3
Katy
Doch schon bald merkte ich, dass in der neuen Heimat nicht alles perfekt war, sofern es überhaupt ein ‚perfekt‘ gab. Nach einer Woche in New Orleans konfrontierten mich meine Eltern mit etwas für mich sehr Belastendem. Sie meinten, es wäre an der Zeit, dass ich endlich in eine richtige Schule ging. In eine richtige Schule mit Mitschülern und so, um später studieren zu können. Bis jetzt war die neue Heimat für mich eine sehr positive schöne Umstellung gewesen, doch als mir das meine Eltern mitteilten, fühlte es sich so an, als würde mir jemand mit der flachen Hand ins Gesicht schlagen und all die negativen Erinnerungen an meine kurze Grundschulzeit kamen in mir hoch.
Ich ließ mich jedoch auf die Idee meiner Eltern ein. Ich hoffte nämlich, in der Schule vielleicht endlich Freunde zu finden, denn diese Möglichkeit wurde mir durch den Privatunterricht in meiner Vergangenheit nicht geboten.
Schneller als ich gucken konnte, waren die Sommerferien vorbei und der erste Schultag rückte näher.
Ich hatte mir noch keine Gedanken gemacht, wie ich mich verhalten sollte, wenn mich Mitschüler ansprechen würden. Allerdings hatte ich dazu auch keine Zeit mehr.
Eines Montagmorgens weckte mich meine Mutter und schmiss mich wortwörtlich aus dem Bett. Genauer gesagt musste sie das tun, denn ich war wirklich ein richtiger Morgenmuffel.
Nach dem Frühstück brachte sie mich mit dem Auto zur Schule. Vor dem großen unbekannten Schulgebäude hielt sie an und ich stieg aus. Allerdings ließ ich die Autotür noch offenstehen, denn meine Mutter blieb zu meiner Verwunderung sitzen. Ich schaute sie auffordernd an und hoffte, sie würde das Auto abstellen und ebenfalls aussteigen. Die Gebärdensprache wollte ich hier keines Falls anwenden aus Angst, ich könnte beobachtet werden. Denn, wenn mich jemand aus der Ferne so reden sehen würde, entstünden vielleicht gleich Vorurteile gegen mich.
Meine Mutter verstand zum Glück, was ich wollte, blieb aber sitzen und meinte: „Katy, du bist sechszehn Jahre alt. Es wird Zeit, dass du endlich selbstständig wirst. Viel Spaß in der Schule.“
Ich war wütend und ihre Worte hallten in meinem Kopf. Endlich selbstständig! Das war doch die Höhe! Ich hatte doch nicht die gleichen Bedingungen, wie andere, um selbstständig zu werden. Wie sollte ich mich allein in der Schule zurechtfinden, wenn ich noch nie dort gewesen war? Einen anderen Schüler ansprechen und fragen, wo sich die Räume befanden, war nicht möglich. Ich hatte mich noch nie so hilflos gefühlt.
Ich schmiss die Autotür mit voller Kraft zu und stapfte in Richtung Schuleingang. Na wenigstens wusste ich wie das Schulsystem an einer Highschool funktionierte, dank Mr. West, der mir immer über Gott und die Welt erzählt hatte.
Ich erreichte das Gebäude und betrat es. Ich war sehr früh dran und es hielten sich nur vereinzelt Schüler im Eingangsbereich auf. Es roch irgendwie muffelig und mir war plötzlich ganz schlecht. Ich ging ungefähr zehn Meter in die große Eingangshalle rein und war so erleichtert, als ich in der Mitte des Eingangsbereichs Tafeln entdeckte, an die Aushänge gepinnt waren. Zum Glück war Schuljahresbeginn und auf den Blättern stand in welchem Klasseraum sich jeder Schüler einfinden sollte, um sich dann bald für seine Kurse eintragen zu können. Ich ging also auf diese Tafeln zu und fand auch schon nach wenigen Sekunden Suchzeit diese wichtigen Informationen, die neben meinem Namen auf eines der vielen Blätter gedruckt worden war:
Katy Oram / Gruppe Senior / Raum 204
Nachdem ich diese Informationen mit dem Handy abfotografiert hatte, machte ich eine schwungvolle neunzig Grad Drehung, während ich noch weiter auf mein Handy starrte. Dabei stieß ich gegen einen gutaussehenden jungen Kerl, der anscheinend die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, während ich die Informationen abfotografiert hatte. Ich stolperte circa einen Meter rückwärts von dem jungen Mann weg und versuchte mich bei ihm mit einem unsicheren Lächeln zu entschuldigen. Oh mein Gott, etwa ein Highschool Bad Boy, war mein hirnrissiger Gedanke nach dem ersten Schock, was mir kurzdarauf unsagbar peinlich war, obwohl ich den Gedanken natürlich nicht ausgesprochen hatte. Es war eine dieser berühmt berüchtigten Situationen, in denen man am liebsten im Erdboden versinken würde. Deshalb rannte ich schnell an dem Typ vorbei in Richtung Treppenaufgang, wo es zu den oberen Stockwerken ging, während er immer noch wie eine stattliche Säule dastand und mir verdutzt nachsah. Ich rettete mich auf die unterste Stufe der Treppe und war dank der seitlichen Treppenmauer von seinem Blick geschützt. Ich atmete drei Mal tief ein und aus. Denn wie heißt es so schön? Alle guten Dinge sind drei!
Als ich mich beruhigt hatte und wieder einigermaßen klar denken konnte, lugte ich vorsichtig über die Mauer, um festzustellen, ob der gutaussehende Typ verschwunden war. Die Luft war rein und ich machte ich mich auf die Suche nach meinem Raum, den ich unerwartet schnell fand und betrat. Es waren schon einige Schülerinnen und Schüler vor mir in dem Klassenraum, die mich nicht beachteten, als ich mich in der letzten Reihe auf einem gelben Stuhl niederließ.
Ich vermutete, dass sich die anderen Schüler schon kannten, weil sie ein belebtes Gespräch führten. Ich sah mich kurz in dem Raum um und als sich die Tür öffnete, blickte ich neugierig zur Tür. Wer kam da zur Tür herein? Genau der Typ, mit dem ich gerade erst zusammengestoßen war! Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben. Das durfte doch nicht wahr sein! Er erkannte mich offensichtlich sofort und ging auf mich zu. Mein erster Gedanke war: Scheiße! Nimmt denn die Peinlichkeit gar kein Ende? Wieso hatte er überhaupt im Eingang so nah hinter mir gestanden? Er war bestimmt der Bad Boy der Schule, auf den alle Mädchen total abfuhren. Allerdings ermahnte ich mich selbst, dass dies ja schließlich ein Vorurteil gegen ihn war. Da ich es schließlich auch nicht mochte, dass andere Vorurteile gegen mich hatten, konzentrierte ich mich darauf, den Gedanken wieder fallen zu lassen. Er setzte sich zunächst wortlos neben mich und ich spürte, dass mein Gesicht rot anlief. Er ließ sich jedoch nicht davon beirren, sofern er es überhaupt bemerkte, wovon ich jedoch leider stark ausging.
Er sprach mich an: „Hi, ich bin Levi. Die Sache von vorhin braucht dir nicht peinlich zu sein. Aber eins würde mich schon interessieren: Wie heißt du eigentlich?“ Er lächelte verschmitzt. Und scheiße, er sah dabei so verdammt gut aus.
Mir war jetzt zum zweiten Mal an diesem Tag total schlecht und zudem hatte ich nun auch noch ganz verschwitzte Hände. Ich starrte Levi einfach nur fassungslos an, denn ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen würden. Außerdem verstärkte sich die Übelkeit noch, als mir einfiel, dass ich ihm gar nicht antworten konnte. Ich wusste mir zu meinem Glück zu helfen und begann schließlich hastig in meiner Tasche nach einem Stift und Papier zu suchen. Als ich alles gefunden hatte, kritzelte ich schnell eine Antwort drauf, damit er mich hoffentlich nicht in eine unangenehme Situation brachte und die anderen etwas über meine Einschränkung erfuhren:
Levi nickte überrascht und fügte hinzu: „Glaub ja nicht, dass ich mich deshalb woanders hinsetze.“ Er zwinkerte mir zu. Ich verstand das, was er gesagt hatte, einfach mal als ein positives Zeichen und lächelte schüchtern. In meinem Innersten überlegte ich, was Levi nun wohl über mich dachte. Allerdings hatte ich dazu nicht wahnsinnig viel Zeit, denn einen Augenblick später kamen die restlichen Schüler mit einem Lehrer in den Raum.