wissen
Traian Suttles
Viren
Phänomen, Rätsel, Bedrohung
kurz & bündig verlag | Frankfurt a. M. | Basel
Viele andererseits hielten dafür, dass sich in gar keiner Weise irgend nur eine sicht- oder spürbare Wirkung zeigen werde. Derweil nun solche Diskussionen noch weitergingen, kam ihr Gegenstand schrittweis’ immer näher heran; sein scheinbarer Durchmesser wurde größer, und sein dumpfer Schimmer gewann an Glanz. Die Menschheit aber ward bleicher, da er kam. Alle irdischen Geschäfte ruhten.
Edgar Allan Poe: Die Unterredung zwischen Eiros und
Charmion (1839)
Einführung
Das vorliegende Buch entstand während einer Pandemie, von der jetzt schon feststeht, dass sie tiefe Spuren in der Gegenwartskultur hinterlassen hat und in die Geschichte eingehen wird. Nachdem Virologen jahrzehntelang einen Nachfolger des verheerenden Influenza-Erregers von 1918/19 befürchtet hatten, wurden sie Anfang 2020 von einem neuen Coronavirus überrascht – und mit ihnen die gesamte Weltbevölkerung.
Die allgemein verbreiteten Kenntnisse über Viren haben in diesen Krisenmonaten deutlich zugenommen. Pandemie-Podcasts und andere Informationsquellen erreichen hohe Zugriffszahlen; viel verbreiteter als je zuvor ist z. B. das Wissen, dass Viren keine Zellen sind und damit etwas grundsätzlich anderes als Bakterien oder andere zellulär gebaute Krankheitserreger, gegen die man Antibiotika einsetzen kann. Auch die Bedeutung des wissenschaftlichen Namens Corona, also das lateinische «Kranz» oder «Krone», werden viele Leser längst mit den Spike-«Strahlen» assoziieren, die diese behüllten Viren auf ihrer Oberfläche präsentieren – während sie gleichzeitig wissen, dass auch zahlreiche andere Viren so gebaut sind.
Die konkreten Herausforderungen der aktuellen Bedrohungslage drängen andere spannende Aspekte der Virologie eher in den Hintergrund – etwa die Entdeckungsgeschichte. Bei den Versuchen der Wissenschaftler und Politiker, die Krisenlage zu meistern, wird aber durchaus auf historisches Vorwissen zurückgegriffen, das dem interessierten Laien oft nur schwer und kaum komprimiert zugänglich ist.
Diese Lücke möchte das Buch schließen und das eigenartige Naturphänomen «Virus» aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten helfen. Dem geneigten Leser steht es dabei frei, die drei Teile in einer beliebigen Reihenfolge zu lesen. Wer Lust hat, kann gern mit dem zweiten, historischen Teil
beginnen oder sich erst dem multiperspektivisch angelegten dritten Teil zuwenden. Querverweise auf andere Kapitel sind eingefügt, so dass eine Orientierung über den Stoff auch bei dieser Leseweise gegeben ist.
Wie Sie es auch halten, wünschen wir Ihnen eine spannende Lektüre und viele neue Einblicke in die Welt der Viren.
Teil 1: Was sind Viren?
1) Viren – ein Schatten der Evolution
Nach allem, was wir heute wissen, kann man Viren als ein Epiphänomen der biologischen Evolution bezeichnen. Mit dieser stark vereinfachenden Formulierung jedenfalls lassen sich zwei lehrbuchkonforme Sichtweisen zusammenführen, die unsere Auffassung von Viren leiten. Erstens: Viren werden nach gängigen Definitionen nicht als Lebewesen eingestuft; ihre Existenz jedoch ist zwingend an die Existenz von Lebewesen gebunden. Zweitens: Viren durchlaufen seit langer Zeit eine Parallelevolution zu «normalen» Lebensformen, also zu solchen mit zellulärer Organisation. Sie selbst sind nicht zellulär aufgebaut und haben keinen Stoffwechsel, sind jedoch ständige – und dabei enorm erfolgreiche – Begleiter der durch Zellen und Stoffwechsel charakterisierten planetaren Lebewelt.
Das Dasein der Lebewesen und das Dasein der Viren lassen sich kategorial unterscheiden, indem man eine Einteilung in Biosphäre und Virosphäre vornimmt. Der Biosphäre gehören einzellige und vielzellige Organismen an. Die Virosphäre hingegen umfasst nicht-zelluläre Entitäten, die in aller Regel viel kleiner sind als die kleinsten einzelligen Lebensformen. Die Grundbausteine, aus denen die Viren bestehen, sind auch in der Biosphäre von zentraler Bedeutung; es handelt sich um Proteine (umgangssprachlich Eiweiße) und Nukleinsäuren (Erbsubstanz). Doch für die Biosphäre ist deren ständige Zustandsveränderung (von räumlichen Verschiebungen bis zum Auf- und Abbau im Stoffwechselgeschehen) charakteristisch, während die Proteine und Nukleinsäuren der Viren gleichsam statisch daherkommen: Man findet bei ihnen keinerlei Stoffwechselvorgänge. Bedingt durch diesen scharfen Kontrast kann man Viren schwerlich als Lebewesen bezeichnen; eher handelt es sich um Mikropartikel, die darauf warten, mit dem Stoffwechselsystem lebender Zellen in Kontakt zu kommen. Nur wenn dies geschieht, haben Viren eine Chance, sich zu
vermehren: Sie benötigen bestimmte, innerhalb der Zellen ablaufende Stoffwechselreaktionen und deren Beschleuniger (Enzyme), um ihre eigene Vermehrung (Reproduktion) zu realisieren – ganz grundsätzlich etwa die Energie liefernden
Mechanismen, die jedem Stoffwechselgeschehen zugrunde liegen. Gelingt ihnen eine solche Vermehrung auf Kosten des Wirtes, können sie ihre Wirtszelle (beziehungsweise ihren Wirtsorganismus) wieder verlassen und auf den nächsten Durchgang warten: Ihre Existenz wechselt zwischen einer «passiven» (stoffwechselphysiologisch statischen) und einer «aktiven» Phase hin und her, wobei die aktive, wie geschildert, mit dem Kontakt zu einer geeigneten, angreifbaren Zelle eingeleitet wird. Sie sind als obligate Zellparasiten zu definieren, also ausnahmslos auf das Milieu einer Wirtszelle angewiesen, um eigene Nachfolgegenerationen hervorzubringen.
Doch wenn von «passiven» oder «wartenden» Viren und solchen, die beim Kontakt mit einer Wirtszelle «aktiv» werden und «angreifen», die Rede ist, bemerkt man schon die Schwierigkeiten, die sich bei der sprachlichen Beschreibung einstellen. In Texten, die das eigentümliche Dasein der Viren darlegen, ist es generell schwer zu vermeiden, sie als lebend oder quasi-lebendig darzustellen. Vor allem muss man Viren attestieren, dass sie gemessen an ihrer simplen Organisation eine ungeheuer effiziente Überlebensstrategie entwickelt haben – rein quantitativ übertreffen ihre Vertreter die der eigentlichen Biowelt bei weitem. Wenn man aber so den Überlebenserfolg der Viren beschreibt, bringt man sie auf sprachlicher Ebene in die Nähe normaler Lebensformen oder setzt sie letztlich mit solchen gleich. Sogar in Beschreibungen von Fachleuten wird man immer wieder Passagen finden, in denen Viren mehr oder minder direkt als Lebewesen, ja sogar als Organismen bezeichnet werden: Der temporäre Verzicht auf die strenge Trennung von Biosphäre und Virosphäre ist der Tatsache geschuldet, dass Viren sowohl ihrer Herkunft als auch ihrem Verhalten nach äußerst eng mit der Biosphäre assoziiert sind. Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass mit dem Wort
«Verhalten» ebenfalls ein unscharfer Begriff vorliegt, da das «Verhalten» von Viren irgendwo zwischen einem leblos-physikalischen Körper und einem Lebewesen angesiedelt ist. Zwar kann man begründet darauf bestehen, Viren als leblose Partikel anzusehen, aber die Leistungen, die sie im Sinne ihrer
Weiterexistenz und Verbreitung vollbringen, gehen über die Möglichkeiten beliebiger toter Staubpartikel hinaus.
Entscheidend hierfür ist die schon erwähnte, auffällige Übereinstimmung mit dem zentralen Molekülarsenal sämtlicher Biozellen. Dreh- und Angelpunkt sind jene replizierbaren Makromoleküle, die wir als Erbsubstanz kennen: kettenartige Nukleinsäuren, in denen die Erbinformation für spezifische Proteine (Eiweißmoleküle) festgelegt ist. Bekanntlich dient das aktive Genom einer Zelle dazu, alle von ihr benötigten Proteine herzustellen, sei es Bausubstanz (Strukturproteine) oder enzymatische Stoffwechselbeschleuniger – hierzu sind die Erbinformationen tausender Gene notwendig. Viren hingegen transportieren nur einen winzigen Teil Erbsubstanz, und zwar genau den, den sie für ihre Selbstherstellung brauchen. Bestimmte Parvoviren zum Beispiel, die als Repräsentanten sehr kleiner Viren gelten, weisen weniger als fünf Gene auf.
Unter diesem Blickwinkel muten Viren wie kurze Stränge von Erbmaterial an, wie kleine molekulare Aggregate, deren geschichtliche Beziehung zu zellulärem Erbmaterial im Dunkel der Jahrmillionen verborgen liegt. Dass es so eine evolutive Beziehung geben muss, ist das Einzige, was man mit einiger Bestimmtheit sagen kann, denn sowohl Viren als auch Zellen nutzen denselben genetischen Code – Viren könnten den Zellstoffwechsel nicht für ihre Vermehrung nutzen, wäre ihr genetischer Code nicht mit dem des Wirtes identisch. Die (sehr) allgemeine Schlussfolgerung aus diesem Befund lautet, dass Viren und Biozellen einen gemeinsamen evolutiven Vorläufer hatten. An sich ist diese Aussage auch nicht zu kritisieren, aber nach dem heutigen Stand der Forschung müsste man sie als übermäßig simplifizierend einstufen – wir werden im nächsten Kapitel genauer erfahren, warum die Evolutionsgeschichte der Viren wohl komplizierter verlief.
Blendet man die Entstehungsgeschichte zunächst aus, lässt sich schon durch ihre Winzigkeit und ihren einfachen Aufbau erklären, warum Viren evolutiv so ungeheuer erfolgreich sind. Als extreme Reduktionsformen kann man sie als «Energiesparer» bezeichnen: Dank ihrer simplen Struktur sind sie vom Stoffwechsel der von ihnen befallenen Zellen schnell und in großer Zahl herstellbar, und zwar, indem ihre Erbsubstanz (das virale Genom) in der Wirtszelle massenhaft kopiert wird (es können bis zu hunderttausend Viruskopien in einer einzigen Wirtszelle angefertigt werden). Für diese «Kopierarbeit» im Dienste des eingedrungenen Virus kommen Zellen aller möglichen Lebewesen, egal ob Ein- oder Vielzeller, Pflanze oder Tier, infrage (auch wenn jede Virenart sich beim konkreten Befall ihrer Wirte bestimmte «Zielzellen» sucht, siehe nächstes Kapitel). Nach unserem Standardverständnis leben Viren nicht, sie «warten» auch nicht auf Opfer oder greifen diese an – erst recht nicht mit irgendwelchen Absichten. Aber sie erscheinen uns so, da sie weltweit verbreitet und strukturell optimiert sind, jeglichen Kontakt mit den ebenfalls global verbreiteten Lebewesen sofort für ihre Vermehrung zu nutzen.
Ein denkbarer Nachteil ihrer extremen Kleinheit ist zwar, dass sie außerhalb ihrer Wirte recht instabil sind – wir kennen die betreffenden Angaben aus Krisenzeiten wie der Covid-19-Pandemie, etwa, dass sich das SARS-CoV2-Virus auf trockenen Flächen nur wenige Stunden zu halten vermag, bevor es zerfällt. Bei anderen Viren, die sich größenmäßig praktisch alle im erweiterten molekularen Bereich befinden (eine Länge von etwa hundert Atomen galt früher als grobes Richtmaß), ist es sehr ähnlich – sie sind empfindlich gegenüber Wärme und bestimmten chemischen Einflüssen. Besagte Fragilität und die daraus resultierenden massenhaften Verluste jedoch gleichen sie durch ihr lawinenartiges Reproduktionspotenzial aus, das überall zur Geltung kommen kann – und statistisch betrachtet zur Geltung kommen muss –, wo sich Lebewesen befinden. Viren sind also rein kategorial von der Biosphäre zu unterscheiden, aber bezüglich ihrer Vermehrungsstrategie tief in diese eingebettet und definitiv nicht von ihr zu trennen. Sie repräsentieren die kleinsten replizierbaren Einheiten, die die natürliche Evolution hervorgebracht hat, aber eben auch mutierbare Entitäten: Mit ihrer mutierbaren Erbsubstanz erhalten sie sich die Fähigkeit, im evolutiven Wettrennen mit ihren Wirten nie den Anschluss zu verlieren. Offenbar hat sich ein asymmetrisches Verhältnis etabliert – die Biosphäre würde leidlich gut ohne die Virosphäre auskommen, die Virosphäre jedoch kann keinesfalls ohne die Biosphäre existieren. Aus dem resultierenden evolutiven Dauerkampf werden Viren ganz sicher nicht als Verlierer hervorgehen, denn ihr Angebot an Wirten ist so breit, dass sie immer und überall zum Zuge kommen und z. B. uns Menschen durch unerwartetes «Überspringen» aus dem Tierreich schwer zu schaffen machen. Die vergleichsweise winzigen Genome der Viren evolvieren ebenso wie die großen Genome der «echten» Lebewesen, nur tun sie dies aufgrund ihrer enormen Vermehrungsrate und erheblichen Toleranz für Mutationen weitaus schneller. Die natürlichen Abwehrmechanismen ihrer Wirte vermögen sie daher mit schöner Regelmäßigkeit zu unterlaufen, so dass die (aus vielerlei Gründen naive) Wunschvorstellung einer virenfreien Welt gestrichen werden kann: Viren werden erst dann von der Erde verschwinden, wenn alles irdische Leben erloschen ist. Bis dahin bleiben sie der «ständige Begleiter» der organismischen Evolution, ihr gleichsam folgend wie ein Schatten. Ob Menschen es einmal schaffen können, künstliche Biosphären im Weltall zu errichten und Viren erfolgreich «außen vor» zu lassen, darf man bezweifeln, aber in der Theorie wäre dies wohl die einzige – sehr vage – Hoffnung, Viren jemals wieder loszuwerden. Bis dahin gilt, dass sie uns immer und überall begegnen und wir ihren evolutiven Erfolg zu spüren bekommen, indem wir an ihnen erkranken – oder sogar sterben.
2) Evolution der Virodiversität – eine unaufhaltsame Erfolgsgeschichte
Da die Evolutionsgeschichte der Viren sich über einen extrem langen Zeitraum erstreckt – je nach Modell könnte ihre Entstehungszeit mehrere Milliarden Jahre zurückliegen – ist es wenig überraschend, dass sich eine beachtliche Vielfalt ausgebildet hat. Trotzdem kann man diese «Virodiversität», also Mannigfaltigkeit der Viren, in relativ einfache Haupttypen unterteilen. Einmal ist dies anhand der Erbsubstanz möglich: Viren können entweder DNA oder RNA als Erbmaterial verwenden – zwei Sorten von Nukleinsäuren, wie sie auch in Zellen zum Einsatz kommen –, um die genetische Information auf geordnetem Wege (nämlich von genomischer DNA via «abgeschickter» Boten-RNA) in Proteinbausteine zu übertragen. Eine andere simple Möglichkeit der Klassifizierung liefert die Frage, wie diese virale Erbsubstanz, also das Virengenom, «verpackt» ist. Normalerweise befindet sich das virale Genom in einer oder mehreren «Umverpackungen», die aus Proteinen bestehen. Ein solcher Proteinmantel wird als Capsid bezeichnet. Das Capsid bildet in seinem Inneren einen Stauraum, der neben dem zwingend benötigten viralen Erbgut auch katalytisch wirksame Proteine (Enzyme) beherbergen kann: In der Regel helfen diese Enzyme dann bei der Erbgutvermehrung, sobald das Eindringen in eine Wirtszelle gelungen ist.
Trotz der Proteinumhüllung nennt man solche Viren aber nicht «Hüllviren». Ein Hüllvirus weist zusätzlich zum Capsid eine weitere Außenumgrenzung auf, die aus einer Lipiddoppelschicht besteht: einer feinen Membran aus Fettsäuren, die man genau so von der äußeren Umgrenzung sämtlicher Zellen kennt. Dieser Virentyp ist also, was man als sehr bemerkenswert bezeichnen muss, mit einer Zellmembran ausgestattet. Wie Hüllviren zu diesem charakteristischen Bestandteil kommen, werden wir in den beiden nächsten Kapiteln erfahren; vorerst sei festgehalten, dass die Übereinstimmung dieser «Virenmembran» mit einer Zellmembran sich auf weitere Details erstreckt. Vor allem sind spezielle Proteine (normalerweise Glykoproteine, also Eiweiße mit Zuckerseitenketten) in diese Lipiddoppelschicht integriert – es handelt sich um jene keulen- oder saugnapfähnlichen Fortsätze, wie man sie aus massenmedial verbreiteten Abbildungen bestimmter Hüllviren verinnerlicht hat (das in dieser Hinsicht lange Zeit populärste Virus, HIV1, wurde neuerdings von SARS-CoV2 überholt). Jene meist «Spikes» genannten Proteinfortsätze – der Fachbegriff lautet Peplomere – spielen bei der Interaktion mit der Wirtszelle eine entscheidende Rolle. Generell kann man sagen, dass beide Bautypen von Viren mittels Proteinbestandteilen den Kontakt zur Wirtszelle herstellen: die «einfachen» Viren mit Proteinen des Capsids (manchmal auch mittels spezieller Vertiefungen auf der Proteinaußenfläche), die Hüllviren mit den aus der Membran herausragenden Proteinspikes. Diese für die virale Invasionsstrategie entscheidenden Außenproteine und Oberflächenstrukturen hat man anschaulich als Türöffner bezeichnet, derer sich die Viren bedienen, um ins Zellinnere zu gelangen, und tatsächlich spielen Schlüssel-Schloss-Mechanismen eine Rolle: In der Zellmembran der Wirtszelle müssen bestimmte Rezeptorproteine auf die «Türöffner-Proteine» der angedockten Viren reagieren. Nur wenn dies der Fall ist, wird das Eindringen durch die Zellmembran möglich. Da die äußere Rezeptorzusammensetzung von Zellen insgesamt sehr verschieden ausfällt, wird auch verständlich, warum Viren nicht in jede beliebige Zelle gelangen können: Jede Virussorte ist auf bestimmte Zelltypen spezialisiert, in grundsätzlicher Abhängigkeit von den genannten Schlüssel-Schloss-Mechanismen (fachsprachlich Ligand-Rezeptor-Reaktionen). Nur bei Zielrezeptoren, die auf vielerlei Zelltypen anzutreffen sind, kann ein Virus sich eher unspezifisch verhalten und alle betreffenden Zelltypen invadieren.
Das AIDS-Virus HIV1 in modellhafter Darstellung. Das Erbgut in seinem Inneren (blaue Stränge) besteht aus zwei identischen einsträngigen RNA-Genomen. AIDS-Viren sind Retroviren: Sie lassen ihr RNA-Genom in DNA übersetzen, sobald sie in eine Wirtszelle eingedrungen sind. Hierfür bringen sie das Enzym Reverse Transkriptase mit (hellgrün im Modell), das in den Wirtszellen nicht vorhanden ist.
Wenn man vom enormen evolutiven Erfolg der Viren redet, ist einerseits ihre Befähigung zur «flexiblen Antwort» gemeint – sie können durch äußerst zahlreiche Variationen ihrer Außenproteine und ihrer eigenen Enzymausstattung immer wieder auf Abwehrmaßnahmen ihrer Wirte reagieren. Andererseits geht es bei ihrer evolutiven Erfolgsgeschichte natürlich auch um ihre Herkunft. Hierzu legte man verschiedenste Modelle vor; einige davon muten recht fantasievoll an: etwa die Vorstellung, dass sie von Kometen auf die Erde eingeschleppt wurden (was leider unerklärt lässt, ob oder wie sie im Kometenmaterial entstanden). Bevor wir einige grundsätzliche Gedanken zur höchst geheimnisvollen Evolutionsgeschichte der Viren vorstellen, sei noch kurz der Sammelbegriff «Virus» als solcher hinterfragt. Bisher haben wir nur festgehalten, dass Viren stoffwechselphysiologisch inaktive Partikel sind, die erst nach dem Eintreten in eine geeignete Wirtszelle ihr Erbgut vermehren und neue Viruspartikel erzeugen. Wenn man wollte, könnte man den Begriff Virus auch eingeschränkter gebrauchen und nur für solche zellparasitischen Partikel verwenden, die Eukaryoten befallen, also Zellen mit einem Zellkern. Eine andere bedeutende Gruppe von Zellparasiten wären dann die Bakteriophagen: Wie ihr Name schon sagt, attackieren diese ausschließlich Bakterien, also eine besondere Gruppe von Einzellern, die keinen Zellkern aufweisen (und daher als Prokaryoten klassifiziert werden). Es ist jedoch nicht unüblich, beide Typen als Viren zu bezeichnen (Spezielleres zu Bakteriophagen siehe in den beiden nächsten Kapiteln). Ihre Vermehrungsstrategie jedenfalls ist identisch, weshalb wir uns jetzt der Frage zuwenden wollen, wie es im Laufe der Evolution zur Entstehung solch seltsamer, «leblos» erscheinender Zellparasiten kommen konnte.
Zur Evolutionsgeschichte der Viren gibt es im Wesentlichen drei Erklärungen, die im Detail aber modifizierbar sind. Nach der einen Theorie handelt es sich um sehr alte, replikationsfähige Vorstufen zellulär organisierten Lebens beziehungsweise um einen «parallel» laufenden Evolutionszweig, in dem diese Replikationsfähigkeit vielleicht früher entstand als bei den direkten Vorläufern der ersten Zellen. Replikation bedeutet, dass diese Ur-Viren ihr Erbgut vermehren konnten und damit auch ihre Proteinbestandteile, deren Information ja im Erbgut enthalten ist. Sie sollen demnach ein Genom aus RNA (das gebräuchliche, englische Kürzel für Ribonukleinsäure) oder DNA (Desoxyribonukleinsäure) gehabt haben und in der
Lage gewesen sein, diese Erbinformation für den Bau neuer
Viren einsetzen zu können, ohne hierfür Wirtszellen zu benötigen.
Gemessen am gegenwärtigen Befund, ist diese Theorie problematisch, da alle heute bekannten Viren ausnahmslos auf Zellen angewiesen sind, um deren Stoffwechsel in parasitischer Manier für ihre eigenen Vermehrungszwecke zu nutzen. Wenn Viren also vor den ersten Zellen entstanden, muss ihr damaliger Vermehrungszyklus vollkommen anders abgelaufen sein als in der Gegenwart. Ganz allgemein kann man diese Theorie so wiedergeben, dass in bestimmten Bereichen des damaligen «Urmeeres» – wohl eher ein kleiner und flacher Randbereich beziehungsweise dort befindliche poröse Gesteinsoberflächen – die Konzentration bestimmter Makromoleküle so stark anstieg, dass Nukleinsäuren und Proteine in ein ähnliches Wechselspiel traten, wie wir es heute noch aus dem Zellinneren kennen. Durch gegenseitigen Kontakt etablierten sich autokatalytische (von selbst ablaufende) Replikationsmechanismen, und die frühesten Viren gehörten zu solchen RNA- oder DNA-Molekülen, die sich mittels bestimmter Hilfsproteine zu vermehren begannen. Dann aber könnte, mit der Evolution der ersten Zellen, eine Verknappung jener Proteine eingetreten sein, die die Frühviren für ihren Vermehrungszyklus brauchten. Viren standen an diesem Punkt vor dem Aussterben, doch bestimmte Mutanten erlangten die Fähigkeit, in
Zellen einzudringen und dort ihre Vermehrungsaktivitäten weiterzuführen. Nur diese sich immer weiter spezialisierenden Zellparasiten überlebten; alle anderen Frühviren hingegen mussten mangels Erfolg von der Evolutionsbühne abtreten.
Solche und ähnliche Theorien, in denen Viren als eine Art «Proto-Leben» betrachtet werden, das sich später an den Erfolg «echter» Lebensformen anhängte, erfahren heute mehrheitlich Ablehnung. Das deutlich favorisierte Evolutionsmodell lautet, dass es sich bei Viren um Ausgliederungs- beziehungsweise Verlustphänomene handelt, also um ehemalige Bestandteile von Zellen, die sich schrittweise aus dem Stoffwechselgeschehen emanzipierten. Aber auch ein drittes Erklärungsmodell steht schon längere Zeit im Raum: Komplette Zellen könnten eine so starke evolutive Vereinfachung erfahren haben, dass sie am Ende dieser vielen «Abbaustufen» die gegenwärtig anzutreffende Organisationsform der Viren erreichten. Alle drei Erklärungsmodelle sind schon seit den 1940er-Jahren in der Fachliteratur präsent.
Die kleinsten bekannten Viren kann man als die kleinsten replizierbaren Einheiten betrachten, die die natürliche Evolution hervorgebracht hat – also als «maximal-ökonomische» Replikatoren. Doch möglicherweise waren auch ihre evolutiven Vorläufer nicht viel größer, etwa wenn es sich um kleine RNA- oder DNA-Bestandteile handelte, wie man sie bis heute aus dem ganz normalen Zellstoffwechsel kennt. Freie RNA zum Beispiel vermittelt als obligates Botenmolekül zwischen der DNA-Erbinformation und den Ribosomen, also den Stätten der Proteinsynthese. Diese Boten-RNA ist nur einer von mehreren Kandidaten, die hinsichtlich der Ursprünge eines späteren Zellparasitismus auf der Verdächtigenliste der Evolutionsbiologen stehen. Beispielsweise werden aus der Boten-RNA höherer Organismen unbrauchbare Bestandteile (sogenannte Introns) herausgeschnitten; sie könnten ebenfalls eine Vorläuferrolle gespielt haben, speziell für sogenannte Viroide (einen bestimmten Typ von Pflanzenviren, vergleiche das nächste Kapitel).
Unter den kurzen DNA-Bestandteilen des Zellinneren wären einerseits Transposons zu nennen, also Abschnitte des Erbgutes von Bakterien und höheren Lebewesen, die ihre räumliche Position im Genom ändern und während dieser «Verschiebungen» nicht nur als freie DNADNADNA