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Mami Bestseller
– 59 –

Auch ein Lausbub braucht viel Liebe

… und seine Mutter ebenfalls!

Birke May-Bergen

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-535-8

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»Michael Voß schlug den Kragen seines dunkelblauen Mantels hoch, als er das Flughafengebäude verlassen hatte. Es schneite heftig. Dicke Flocken wirbelten bis in die Hochgarage hinein, wo er seinen Wagen abgestellt hatte.

Mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte er fest, daß es kurz vor neunzehn Uhr war. Mit zwei Stunden Verspätung war er gerade gelandet – und das wegen eines ausgerechnet Heiligabend drohenden Bombenanschlages!

Obwohl es sich um falschen Alarm gehandelt hatte, war Michael nicht in weihnachtlicher Stimmung. Er hatte vor zwei Tagen Schwester, Schwager und Nichte bei einem Hotelbrand in London verloren. Noch konnte er es nicht fassen, daß die drei nicht mehr lebten, die von ihrem Wohnsitz in USA aus doch nur eine Europatour hatten machen wollen.

Während Michael mit dem Aufzug zum vorletzten Parkdeck hinauffuhr, verspürte er das absurde Verlangen, endlos weiter emporzugleiten, um irgendwo aus dem schneeträchtigen Himmel seine einzigen Verwandten auf die Erde zurückzuholen. Er haderte mit dem Schicksal, das ihm liebe Menschen entrissen hatte und wie zum Hohn anbot, was sie an Materiellem zurückließen. Für ihn war es kein Trost, ihren Anteil an einer Ölraffinerie zu erben und dadurch finanziell abgesichert zu sein. Er fühlte sich bestraft und trotz des beträchtlichen Erbes arm.

Tagelang hatte Michael sich keinen lauten Schmerz erlaubt. Auch jetzt drängte er die Tränen zurück und den Seufzer, mit dem sich sein schweres Herz Erleichterung verschaffen wollte. Sein Blick glitt umhersuchend und wie darauf hoffend, daß die letzten Tage nur ein Alptraum gewesen waren.

Und dann stutzte er, weil die Scheiben des neben seinem Auto geparkten Fahrzeuges beschlagen waren. Er stellte den Koffer ab, um den Nachbarwagen näher in Augenschein zu nehmen. Während er sich ruckartig bückte, stieß er mit dem Schlüsselbund gegen die hintere Tür. Er spürte es mehr, als es deutlich zu sehen, daß sich im Innern des Fahrzeuges etwas rührte.

»Hallo, ist da jemand?« rief er, mehr verblüfft als besorgt.

Jetzt kam etwas schattenhaft dem Seitenfenster näher. Es war das helle Oval eines kleinen Gesichtes.

Ein Kind? Diese Vermutung durchfuhr ihn wie ein Stromstoß. Ein Kind Heiligabend allein – und dazu noch im Auto auf einem Parkdeck? Michael wurde plötzlich ärgerlich. Was sich in den letzten Tagen in ihm angestaut hatte, machte sich nun durch die scharfe Aufforderung Luft:

»Komm sofort heraus!«

Das kleine Gesicht wich von der Scheibe zurück. Dann knackte es, als würde der Wagen von innen entriegelt – und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet.

»Sind Sie auch mit dem Flugzeug von Bombay über Paris hierhergekommen?« fragte eine rauhe Kinderstimme.

Alles andere hatte Michael zu hören erwartet, aber das nicht. Er öffnete die Wagentür, bis sie gegen sein Auto stieß. Im Licht der Innenbeleuchtung sah er einen etwa sieben Jahre alten Jungen im Fond kauern, der sich in die Hände blies und trotz der winterlichen Kleidung einen verfrorenen Eindruck machte.

»Wie bist du in den Wagen gelangt?« erkundigte sich Michael eine Spur sanfter.

»Mit dem Zweitschlüssel.«

»Und wem gehört er?«

»Meiner Ma – wie das Auto.«

»Und wo befindet sich deine Ma?«

»Sagte ich doch – in Bombay. Aber keiner weiß, wann das Flugzeug endlich eintrifft, mit dem Ma heimkommen will.«

In Bombay? Die Mutter dieses vor Kälte zitternden Jungen war in Indien – in einem Land, wo die Pest ausgebrochen und Tausende von Menschen auf der Flucht vor dieser tödlichen Krankheit waren?

»Soviel mir bekannt ist«, sagte Michael, »wird heute keine Maschine mehr landen. Heftige Schneefälle haben den Flugverkehr teilweise lahmgelegt. Gerade in Paris soll es deswegen zu einem Chaos auf den Straßen gekommen sein.«

»Wer sagt das?« fragte der Junge, der nun ausgestiegen war. Er hatte Sommersprossen auf der Nase und sah wie ein richtiger Lausbub aus. Doch in seinen Augen waren Zweifel und Traurigkeit.

»Während des Fluges von London bis hierher habe ich laufend Nachrichten gehört.«

»Ja – dann wird Ma wohl morgen erst kommen.«

Oder überhaupt nicht, schien in Michael eine Stimme zu raunen, und es rann ihm kalt über den Rücken.

»Hier kannst du auf keinen Fall bleiben«, bestimmte er. »Ein Parkdeck ist kein Warteraum. Wenn es weiterhin so heftig schneit, wird kein Fahrzeug mehr aus dieser Garage herauskommen. Außerdem hat ein kleiner Junge allein hier nichts zu suchen.«

»Bringst du mich jetzt zur Polizei?« Das klang nicht ängstlich, sondern trotzig.

»Den Hütern des Gesetzes sollte man heute Ruhe gönnen«, erwiderte Michael. Nachträglich stieg in ihm jedoch der Groll auf die Bobbies hoch, die so getan hatten, als wollte man nicht nur London, sondern den Rest des ehemaligen Weltreiches in die Luft sprengen.

»Ich warte schon zwei Tage auf meine Ma«, verriet der Junge.

»Zwei Tage?« wiederholte Mi­chael entsetzt. »Und keiner hat dich entdeckt, sich um dich gekümmert?«

»Ich bin doch kein Baby mehr.«

Michael antwortete nicht sofort. Er dachte an seine tote Nichte, um die er sich nie mehr würde kümmern können, an seine Schwester, an den Schwager, der ihm ein Freund gewesen – und seufzte nun doch laut.

»Bin ich dir auch schon lästig?« fragte der Junge. Das verriet mehr, als Michael von dem fremden Kind wissen wollte.

»Hier kannst du auf keinen Fall bleiben«, wiederholte er, und fühlte sich sekundenlang hilflos.

»Ich wohne aber zu weit entfernt, um nach Hause zu gehen. Inzwischen könnte Ma doch ankommen und nach mir suchen.«

»Weiß sie denn, daß du sie abholen willst?«

»Sie weiß alles«, erwiderte der Junge ausweichend.

Michael, dem es allmählich ungemütlich wurde, machte nun den Vorschlag: »Wir werden eine Nachricht für deine Ma hinterlassen und dazu meine Telefonnummer. Dann kann sie dich sofort erreichen, wenn sie gelandet ist.«

»Super«, sagte der Junge. Er kletterte aus dem Fond und blickte dann so erwartungsvoll zu Michael hoch, daß dieser ganz gegen seinen Willen sagte:

»Falls deine Ma sich bis morgen nicht melden sollte, bringe ich dich nach Hause. Während ich jetzt mein Gepäck im Kofferraum verstaue, kannst du euren Wagen abschließen.«

Ohne Widerspruch tat der Junge, wie ihm geheißen. Dann stellte er sich neben Michael und blickte schweigend zu ihm hoch.

»Wie heißt du?« erkundigte sich Michael.

»Lars – und du?«

»Michael.«

Der Junge schniefte, bevor er forderte: »Laß uns schnell dafür sorgen, daß die vom Flughafen wissen, wo meine Ma mich erreichen kann.«

Michael nickte, jedoch mit gemischten Gefühlen. Sich Heilig­abend ein Kind aufzubürden, war das letzte, was er sich wünschte. Dennoch fühlte er sich von dem Blick der blauen Augen so seltsam angerührt, daß er alle Bedenken von sich schob.

»Ich lasse mich über mein Autotelefon mit der Flughafeninformation verbinden«, erklärte er. »Das geht schneller und bringt uns eher nach Hause.«

Lars nickte; zeigte weder Staunen noch Neugier, als der große, dunkelhaarige Mann neben ihm telefonierte. Er legte den Sicherheitsgurt an, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und fragte, nachdem sie die Hauptstraße erreicht hatten:

»Wo wohnst du?«

»Im obersten Stock eines Bürohauses. Von dort aus hat man an klaren Tagen eine herrliche Aussicht über die Stadt und den Strom.«

»Super«, sagte Lars wieder. Dann gähnte er, legte den Kopf zurück und schloß die Augen.

Michael, zuvor noch müde, war jedoch hellwach und innerlich aufgewühlt. Er hatte es zwar geschickt überspielt, was ihm die Dame an der Information mitteilte, aber wegzudenken war es nicht. Die Maschine aus Indien war nämlich kurz nach dem Start vom Radarschirm verschwunden. Das konnte alles mögliche bedeuten – doch auf keinen Fall etwas Erfreuliches für den Jungen.

Es schneite noch immer heftig. Die Scheibenwischer konnten die weiße Masse kaum beiseite schaffen. Bald schon bildete sich ein heller Rahmen um die Windschutzscheibe, und die Sicht wurde so immer mehr eingeschränkt.

Michael mußte sich ganz auf das Fahren konzentrieren. Die Trauer um drei Tote wie auch die Sorgen des Jungen wegen rückten vor­übergehend in den Hintergrund. –

Diesmal brauchte er für die Strecke das Doppelte an Zeit. Nur wenige Fahrzeuge begegneten ihm unterwegs. Hin und wieder sah er eins am Straßenrand stehen und Menschen, die es vorzogen, zu Fuß heimwärts zu stapfen. Nur auf einer großen Kreuzung blinkten die orangenfarbenen Scheinwerfer eines Räumfahrzeuges. Sämtliche Hinweisschilder waren von einer Schneeschicht bedeckt. Als Michael das Bürohaus endlich schemenhaft aus dem Flockenwirbel auftauchen sah, atmete er unwillkürlich auf.

»Wir sind gleich da, Lars«, sagte er.

Der Junge beugte sich nach vorn und starrte durch die Scheibe. Er sah nur ein großes Gebäude, das sich wie ein eckiger Finger gen Himmel streckte, und fragte:

»Ist das deine Wohnung, wo überall Licht brennt?«

»Ja, die Frau vom Hausmeister wird es eingeschaltet haben. Sie weiß, daß ich heute zurückkehre«, erklärte Michael – und setzte in Gedanken hinzu: … und meine Ruhe haben wollte. Dabei ahnte er nicht, daß ihm an diesem Abend noch eine zweite Bescherung besonderer Art zuteil werden würde.

*

Hoher Schnee hatte auch die Einfahrt in die Tiefgarage des Bürohauses erschwert. Michael unterdrückte einen Fluch, als er dann feststellte, daß der Aufzug außer Betrieb war. Ans Treppensteigen nicht mehr gewöhnt und dazu noch den Koffer tragend, geriet er bald außer Atem.

»Kannst du nicht schneller gehen?« fragte Lars, der hinter ihm ging. »Ich muß nämlich mal.«

»Dann lauf voraus – die Besuchertoilette befindet sich hinter der ersten Tür links«, sagte Michael und gab ihm die Wohnungsschlüssel.

Lars setzte seine pralle große Schultertasche ab und war im Nu nicht mehr zu sehen.

»Das auch noch!« murrte Michael, während er sich bückte, um sich zusätzlich mit Gepäck zu belasten.

Lars wunderte sich nicht, als er die Tür im obersten Stockwerk offenstehen sah.

»Wir sind da!« rief er und trat ungeniert ein. Dann jedoch stutzte er. Der Raum, in dem er sich befand, war sehr groß, aber spärlich möbliert. Mitten darin rekelte sich auf einer grauen Ledercouch ein rothaariges weibliches Wesen, das einen hautengen Samtanzug im Leopardenmuster trug.

»Bist du die Frau vom Hausmeister?« fragte er über die Maßen erstaunt.

»Was willst du hier? Wer bist du?« fauchte sie ihn an und richtete sich langsam auf.

»Ich heiße Lars Johannsen – und wie heißt du?« gab er unbefangen zurück, während er sie interessiert musterte.

»Mach, daß du hinauskommst!« forderte sie ihn wütend auf. »Und laß es dir nicht noch einmal einfallen, mich mit einer Hausmeisterfrau zu vergleichen.«

»Wohnst du auch hier?« wollte Lars wissen.

»Ich zähle bis drei. Wenn du dann nicht verschwunden bist, rufe ich die Polizei!« drohte sie.

Lars, der vom Treppenhaus her ein Geräusch vernommen hatte, drehte sich um. Im selben Augenblick erschien Michael Voß keuchend und schwitzend in der Tür.

»Mike, hast du diesen Bengel mitgebracht?« fragte die Rothaarige unüberhörbar entrüstet.

»Warum sagt sie Meik zu dir?« Mit dieser Frage wandte sich Lars an den Mann, der Koffer und Tasche abgestellt hatte und sich nun mit einem Taschentuch über die Stirn wischte.

»Das ist die englische Kurzform für Michael«, erklärte dieser.

»Aber du bist doch ein Deutscher – oder?«

Jetzt schnellte die Rothaarige wie gestochen hoch. »Da warte ich stundenlang auf dich«, kreischte sie, »und du entschuldigst dich nicht mal.«

»Du läßt mich ja weder zu Atem noch zu Wort kommen, Karlotta«, erwiderte Michael ruhig. Er schloß die Tür und sagte zu Lars: »Ich dachte, du müßtest dringend zur Toilette?«

»Das habe ich ganz vergessen, als ich sie sah«, gestand der Junge, mit einer Kopfbewegung zu Karlotta hin.

Sekunden verschwand er hinter der ersten Tür zur Linken, während Michael den Mantel auszog und ihn in den eingebauten Wandschrank hängte.

»Ich warte noch immer auf eine Erklärung, auf deine Entschuldigung«, sagte Karlotta in herausforderndem Ton.

»Ich hatte keine Ahnung, daß du hier auf mich warten würdest. Wie bist du überhaupt hereingekommen?«

»Mit dem Zweitschlüssel des Hausmeisters.«

»Schon wieder ein Zweitschlüssel«, murmelte er vor sich hin. »Das scheint mich heute wie ein Alptraum zu verfolgen.«

»Der Alptraum bist du«, entgegnete sie. »Verreist einfach, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen – kündigst von London aus deine Rückkehr für heute nachmittag an – und erscheinst zur Krönung des Ganzen auch noch mit einem frechen Jungen, den du wahrscheinlich von der Straße aufgelesen hast.«