Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Seine Brenner-Krimis erschienen ab 1996 in acht Bänden. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt sein Roman Junger Mann (2018). Wolf Haas lebt in Wien.
Literaturbeilage Herr Haas, ich habe lange hin und her überlegt, wo ich anfangen soll.
Wolf Haas Ja, ich auch.
Literaturbeilage Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich nicht mit dem Ende beginnen, sondern –
Wolf Haas Mit dem Ende beginne ich streng genommen ja auch nicht. Sondern mit dem ersten Kuss.
Literaturbeilage Aber es ist doch ürgendwie das Ergebnis der Geschichte, die Sie erzählen. Oder meinetwegen der Zielpunkt, auf den alles zusteuert. Streng chronologisch gesehen würde das an den Schluss der Geschichte gehören. Ihr Held hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss hingearbeitet. Und am Ende kriegt er ihn endlich. Aber Sie schildern diese Szene nicht am Schluss, sondern ziehen sie an den Anfang vor.
Wolf Haas Ich hätte ein paar Anfänge gehabt, die mir eigentlich besser gefallen haben. Mein Problem war aber weniger der Anfang, also wie fang ich an, sondern wo tu ich den Kuss hin. Man kann ja den nicht hinten, wo er fällig ist sozusagen. Das ist ja unerträglich. Wenn einer fünfzehn Jahre auf einen Kuss gewartet hat, oder wie Sie sagen, hingearbeitet, und dann kriegt er ihn, wie will man das beschreiben.
Literaturbeilage Ich hab mich beim Lesen auch mal kurz gefragt, ob der vorgezogene Schluss vielleicht eine Art Kampfansage an die Rezensenten ist.
Wolf Haas So weit kammert’s no!
Literaturbeilage Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird.
Wolf Haas Deshalb schreib ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man schon vorher alles weiß. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren.
Literaturbeilage Gut, dann bleiben wir mal beim »Kleingedruckten«, wie Sie es nennen. Diesen ersten Kuss zu Beginn des Buches beschreiben Sie ja würklich sehr detailliert. Um nicht zu sagen akribisch.
Wolf Haas Streng genommen ist es ja nicht der erste Kuss, sondern der Kuss, bei dem die beiden vor fünfzehn Jahren unterbrochen worden sind.
Literaturbeilage Ja richtig.
Wolf Haas Weil Sie gerade »akribisch« sagen.
Literaturbeilage Diese akribische oder fast pedantische Art, mit der Ihr Ich-Erzähler seinen endlich errungenen Kuss beschreibt, charakterisiert ihn ja schon auf der ersten Seite sehr treffend.
Wolf Haas Ja ich weiß nicht. Das hab ich jetzt schon öfter gehört, dieses Lob sozusagen, dass einem Herr Kowalski gleich so vertraut wird durch die Art, wie er den Kuss beschreibt. Wenn das so rüberkommt, soll’s mir recht sein.
Literaturbeilage Er beschreibt den Kuss, auf den er fünfzehn Jahre gewartet hat, nicht gerade sonderlich romantisch oder so. Sondern fast technokratisch.
Wolf Haas Ich würde nicht unbedingt sagen »technokratisch«.
Literaturbeilage Oder sachlich?
Wolf Haas Ich bin mir da nicht so sicher. Das ist immer ein bisschen schwierig, finde ich, wenn man als Autor für eine Stelle besonders gelobt wird.
Literaturbeilage Sie werden nicht gern gelobt?
Wolf Haas Doch natürlich! Aber wenn man eben sozusagen für das Falsche gelobt wird. Ich finde ja nicht unbedingt, dass mit dem Kuss die Person schon auf der ersten Seite so toll charakterisiert wird. Ein Kritiker schreibt vom anderen ab, und dann heißt es überall, der küsst schon auf der ersten Seite so technokratisch und sachlich. Aha, und er ist ja auch Ingenieur, das ist typisch ingenieurhaft, wie der küsst sozusagen. Und dann hat er fünfzehn Jahre auf den Kuss hingearbeitet, das hat ja auch so was Akribisches und Verklemmtes, und das hat uns der Autor alles schon in den Kuss auf der ersten Seite hineinversteckt. Gutes literarisches Kusshandwerk sozusagen.
Literaturbeilage Wie ist es denn für Sie? Nicht sachlich, nicht technokratisch –
Wolf Haas Also wenn man das schon irgendwie klassifizieren muss, würde ich am ehesten sagen: leidenschaftlich!
Literaturbeilage Was? Entschuldigen Sie, aber »leidenschaftlich« wäre würklich das Letzte gewesen, wie ich die Beschreibung dieses Kusses genannt hätte.
Wolf Haas Also er hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss gewartet! Und dann kriegt er ihn endlich! Wenn das nicht romantisch ist, dann weiß ich nicht.
Literaturbeilage Aber Sie beschreiben es ja nicht so aufgeregt, wie Sie mir das jetzt vor Augen halten. Sondern im Gegenteil. Der erste Satz Ihres Buches lautet: »Geht man vom äußeren Augenwinkel einen Zentimeter nach unten, kommt man zum Backenknochen.«
Wolf Haas Ja und?
Literaturbeilage Dann sagt Ihr Erzähler zum ersten Mal »Ich«.
Wolf Haas Aha.
Literaturbeilage Und zwar, um im zweiten Satz die Präzisierung vorzunehmen: »Genauer gesagt beziehe ich mich auf die linke Gesichtshälfte. Auf den äußeren Winkel des linken Auges. Geht man von hier einen Zentimeter nach unten, kommt man zum linken Backenknochen.«
Wolf Haas Und jetzt kommt’s aber! Da hat Anni ihn hingeküsst!
Literaturbeilage Noch nicht ganz, man muss erst noch einen Zentimeter weitergehen. Er sagt: »Und dann in gerader Linie weiter, noch einen Zentimeter. Dort hat Anni mich hingeküsst.«
Wolf Haas Ich verstehe natürlich schon, wie die Leute darauf kommen, zu sagen, sein Charakter, akribisch und pedantisch. Wenn einer einen Kuss so geometrisch beschreibt, in gerader Linie und so weiter. Aber er sagt ja auch: Ich spüre ihn noch genau. Die Stelle ist so wichtig, weil er den Kuss da noch spürt! Nach Stunden! Er hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss hingearbeitet. Und jetzt ist es schon wieder ein paar Stunden her, dass Anni sich von ihm verabschiedet hat. Also nur bis morgen verabschiedet, aber das weiß man ja als Leser an der Stelle noch nicht. Man weiß jetzt einmal nur, dass sie weg ist. Aber der Kuss ist noch da!
Literaturbeilage Man weiß nur, dass sie »Pfürti« gesagt hat.
Wolf Haas Ja, sie hat »Pfiati« gesagt und ihm den Kuss auf die Wange gegeben. Und jetzt, wo er schon wieder ein paar Stunden allein ist, spürt er den Kuss immer noch. Er brennt auf der Wange.
Literaturbeilage Zwei Zentimeter unter dem linken Auge.
Wolf Haas Aber er hat panische Angst, dass der Kuss, nachdem er fünfzehn Jahre darauf gewartet hat, wieder verblassen oder gar verschwinden könnte. Er will, dass es anhält, darum versucht er, das Gefühl zu sichern. Er braucht diese exakte Beschreibung, also einen Zentimeter in gerader Linie, um sich selbst zu versichern, wo genau er ihn spürt. Das ersetzt ja nicht das Gefühl, sondern er will eben den Kuss beschützen sozusagen.
Literaturbeilage Bis er Anni morgen wieder sieht.
Wolf Haas Versprochen hat sie es jedenfalls. Morgen komme ich wieder, hat sie gesagt nach dem Kuss. Er wagt es kaum, sich zu bewegen, weil er Angst hat, dass er bei einer unachtsamen Bewegung den Kuss verliert.
Literaturbeilage He is making the most of it.
Wolf Haas So sehe ich das eigentlich. Nur darum beschreibt er den Vorgang ja auch so, wie dann immer betont wurde, »akribisch«.
Literaturbeilage Weil Anni sonst nichts mit ihm gemacht hat.
Wolf Haas So kann man das nicht sagen. Also jetzt sind Sie technokratisch.
Literaturbeilage Wieso ich?
Wolf Haas Wenn Sie da »etwas machen« sagen. Das klingt ja fast ein bisschen pornografisch. »Machen wir was« und so. Sehen Sie, wenn die beiden »etwas machen« würden, dann wäre er nicht verklemmt und pedantisch, aber über Nacht einen Kuss konservieren, damit der nicht gleich wieder weggeht, damit der Kuss da bleibt, wo sie ihn raufgegeben hat, das ist dann gleich »akribischer Charakter« oder so.
Literaturbeilage Jetzt drehen Sie mir aber das Wort im Mund um. Dieses »etwas machen« war doch nicht ürgendwie pornografisch oder so gemeint.
Wolf Haas Es stimmt natürlich, sie hat ja wirklich nicht viel gemacht. Kuss auf die Wange und ciao. Bevor sie gegangen ist, hat sie ihm allerdings noch mit einem verlegenen Lächeln den Lippenstift weggewischt.
Literaturbeilage »Drei sehr schnelle Wischbewegungen von außen nach innen, also von Ohr nach Nase, parallel zur gedachten Verlängerung meiner linken Augenbraue«, erzählt uns Herr Kowalski.
Wolf Haas Aber er betont, dass sie damit nicht den Kuss weggewischt hat, sondern nur den Lippenstift.
Literaturbeilage Den Kuss habe sie sogar einmassiert.
Wolf Haas (lacht) Ja, das ist eigentlich meine Lieblingsstelle im ganzen Buch. Dieses Lippenstiftweggewischtkriegen, das hat schon was. Das kennt man als Mann so gut. Das hat schon was sehr sehr – Ambivalentes. Diese Mischung aus Zärtlichkeit und Herablassung.
Literaturbeilage Da bin ich ja richtig froh, dass ich keinen Lippenstift trage. Er sagt auch noch: Schnelle Wischbewegungen, das klinge fast aggressiv.
Wolf Haas Diesen Verdacht äußert er aber nur, um ihn sofort zu entkräften und von sich zu weisen. Annis Geste sei das Gegenteil von aggressiv gewesen.
Literaturbeilage Er sagt: »Bei der schnellen Wischbewegung kommt es immer auf das Wie an! Und es kommt immer auf das Wer an! Und es kommt immer auf das verlegene Lachen an! Und es kommt immer auf das Morgen besuch ich dich wieder an.«
Wolf Haas Ja, und dann beginnt eigentlich die Geschichte. Der Kuss war ja nur so eine Art Vorspann.
Literaturbeilage Und das bringt mich jetzt endlich zu meinem Anfang.
Wolf Haas Also das hat jetzt noch gar nicht gegolten?
Literaturbeilage Noch nicht so ganz. Ich möchte eigentlich mit einer anderen Frage beginnen. Wir wissen, wie der Roman beginnt. Was mich interessieren würde: Wie hat für Sie persönlich die ganze Geschichte begonnen? Wann waren Sie zum ersten Mal überhaupt konfrontiert damit? Wie sind Sie auf die Geschichte gestoßen?
Wolf Haas Das ist ganz einfach zu beantworten. Ich habe Herrn Kowalski zum ersten Mal bei seinem Fernsehauftritt gesehen.
Literaturbeilage Also bevor Sie ürgendwas von Anni wussten.
Wolf Haas Weder von Anni noch von ihm wusste ich irgendwas. Es war einfach nur normales Fernsehen. Ich hab ja keinen Fernsehapparat, weil ich wirklich zur Fernsehsucht neige. Wenn ich einen hab, schau ich jeden Blödsinn. Aber das Verschenken des Apparats hat auch nur dazu geführt, dass ich mich bei meinen Freunden zum Fernsehen einlade. Und wenn ich bei meiner Freundin bin, sitze ich auch dauernd vorm Fernseher. Dann gibt’s natürlich Streit, weil sie nicht einsieht, dass ich mir Sachen wie Wetten, dass …? anschau.
Literaturbeilage Das tun Sie tatsächlich?
Wolf Haas Ja, ich muss zugeben, dass mir das wirklich großes Vergnügen bereitet. Ich schau das einfach gern.
Literaturbeilage Und bei Wetten, dass …? ist dann dieser Kandidat aufgetreten, der vor fünfzehn Jahren zuletzt in seinem östreichischen Urlaubsort war.
Wolf Haas »Sein« Urlaubsort ist etwas übertrieben. Seine Eltern sind da eben jedes Jahr hingefahren. Damals war er noch ein Kind. Also der ist eigentlich von seiner Geburt an Sommer für Sommer da hingekarrt worden. Bis er fünfzehn war.
Literaturbeilage Vor fünfzehn Jahren und mit fünfzehn Jahren war er zuletzt dort.
Wolf Haas Ja richtig. Ich hab schon überlegt, sein Alter etwas zu verändern, damit das nicht irgendwie verwirrend wird. Vor fünfzehn Jahren und mit fünfzehn Jahren. Er war ja zu dem Zeitpunkt, wo er als Wettkandidat im Fernsehen aufgetreten ist, dreißig. Das wusste ich da natürlich alles noch nicht so genau.
Literaturbeilage Sie waren gleich von ihm fasziniert?
Wolf Haas Nein, von ihm eigentlich gar nicht. Nur von der Wette. Er war ja als Person eher unscheinbar. Also wirklich das Gegenteil von einem faszinierenden oder charismatischen Typen oder so. Ein eher blasser Typ, das muss man schon ehrlich sagen!
Literaturbeilage Blass ist er im wahrsten Sinne des Wortes.
Wolf Haas Ja, ein bisschen farblos. Man möchte fast sagen: Nicht einmal rote Haare hat er. Seinem Hauttyp entsprechend könnte er die nämlich durchaus haben.
Literaturbeilage Jetzt sind Sie aber sehr böse.
Wolf Haas Ich mein’s nicht böse. Mir gefällt das Blasse ja. Im Fernsehen hat man das gar nicht so gesehen, wegen der Schminke. Aber komischerweise hat man’s trotzdem gesehen irgendwie.
Literaturbeilage Seine Ausstrahlung.
Wolf Haas Seine ganze Körpersprache ist so. Einerseits wirkt er viel älter als dreißig. Und gleichzeitig auch irgendwie kindlich. Vielleicht hat das sogar den Effekt der Wette verstärkt. Bei seiner Wette hatte ich gleich den Eindruck, dass eine irre Geschichte dahinterstecken muss.
Literaturbeilage Es kam Ihnen gleich verdächtig vor, dass jemand das Wetter in seinem Urlaubsort studiert?
Wolf Haas Was heißt das Wetter in seinem Urlaubsort! Der Typ lebt im Ruhrgebiet und weiß von jedem einzelnen Tag der vergangenen fünfzehn Jahre das Wetter in einem österreichischen Bergdorf. Obwohl er in all diesen Jahren nicht mehr dort gewesen ist.
Literaturbeilage Ja gut, aber in dieser Sendung gibt es ja viele obskure Wetten.
Wolf Haas Das stimmt schon. Ich hätte auch keinen Verdacht geschöpft, wenn er von seiner eigenen Gegend das Wetter der vergangenen fünfzehn Jahre gewusst hätte. Wobei ich sagen muss, dass ich das schon grundsätzlich ganz wunderbar gefunden habe. Dass sich einer mit dem Wetter der Vergangenheit beschäftigt. Gerade das Wetter ist ja so ein Thema, wo uns immer nur zu interessieren hat, wie es morgen wird.
Literaturbeilage Immer tüchtig zukunftsorientiert.
Wolf Haas Aber wie war das Wetter gestern, oder vor fünfzehn Jahren? Das interessiert im Grunde kein Schwein. Außer um es mit der Gegenwart zu vergleichen. Also für Apokalypse-Freaks, dass alles untergeht und so. Oder es ist im Zusammenhang mit einem historischen Ereignis von Belang, die Temperaturen bei irgendeinem Feldzug oder die Schweißflecken, als Kennedy erschossen wurde.
Literaturbeilage Trotzdem. Die Leidenschaft für das vergangene Wetter allein war es noch nicht, was Ihr Interesse geweckt hat.
Wolf Haas Das allein hätte mich vielleicht begeistert. Aber eben nicht länger als – ein paar Minuten vielleicht. Eventuell solange die Sendung dauert, oder maximal bis zum nächsten Tag, wo man noch einmal mit wem darüber reden kann.
Literaturbeilage Entscheidend für Sie war, dass es ein östreichischer Urlaubsort war?
Wolf Haas Nein, das war mir völlig egal! Im Gegenteil. Diese Österreichthematik hängt mir schon von Wien bis Bregenz zum Hals heraus.
Literaturbeilage Wo liegt Bregenz?
Wolf Haas In der Schweiz.
Literaturbeilage Also was war dann für Sie das Entscheidende?
Wolf Haas Mich hat fasziniert, dass es der Urlaubsort seiner Kindheit war. Dazu muss ich sagen, dass ich selbst aus so einem Touristenkaff stamme. Ich kenne das so gut. Diese Liebesgeschichten, wenn man es so nennen darf, die sich zwischen Touristen und Einheimischen anbahnen. Besonders wenn jemand jedes Jahr in denselben Ort kommt. Die regelmäßige Wiederholung. Jeden Sommer ein paar Wochen. Das hat was Erotisches, das Warten, das Sehnen, das Träumen. Bei Kindern kommen dann noch die Entwicklungssprünge dazu, wenn man sich immer in so großen Abständen sieht.
Literaturbeilage Haben Sie gleich geahnt, dass eine Liebesgeschichte dahintersteckt? Bei der Sendung hat er darüber ja kein Wort verloren.
Wolf Haas Ich habe es gehofft, sagen wir so.
Literaturbeilage Haben Sie auch selbst schon mal so was erlebt?
Wolf Haas Leider nicht. Ich habe mich ja im Verdacht, dass ich gerade deshalb so auf diese Geschichte angesprungen bin. Aus Neid sozusagen. Oder als Kompensation, was weiß ich. Das ist ja schon eine wichtige Triebfeder fürs Bücherschreiben. Dass man selbst nichts erlebt.
Literaturbeilage Aber Sie waren dann ja ziemlich tatkräftig. Immerhin sind Sie gleich ins Ruhrgebiet gefahren, um den Mann zu treffen.
Wolf Haas Na ja, »gleich« ist übertrieben. Aber ich muss zugeben, für meine Verhältnisse war ich erstaunlich aktiv. Obwohl ich so etwas normalerweise ewig vor mir herschiebe, hab ich gleich am nächsten Morgen bei der ZDF-Redaktion angerufen. Im Nachhinein wundert mich wirklich, dass ich da schon so zielstrebig war. Wo ich noch gar nichts wusste!
Literaturbeilage Sie haben die romantische Geschichte gewittert.
Wolf Haas Anders kann ich es mir eigentlich auch nicht erklären. Der Anruf beim ZDF war natürlich sinnlos.
Literaturbeilage Da rufen wahrscheinlich viele an.
Wolf Haas Die waren zwar freundlich, aber die Adresse haben sie natürlich nicht rausgerückt.
Literaturbeilage Klar, Datenschutz.
Wolf Haas Sie haben mir angeboten, dass sie dem Wettkönig Kowalski meine Telefonnummer weitergeben. Er ist ja sogar Wettkönig geworden an dem Abend. Vielleicht haben die das sogar getan und ihm die Nummer gemailt oder was. Ich war ja wahnsinnig charmant am Telefon.
Literaturbeilage Aber er hat nicht zurückgerufen?
Wolf Haas Seltsamerweise bin ich erst nach dem Anruf bei der Redakteurin auf das Naheliegendste verfallen.
Literaturbeilage Sie haben ins Telefonbuch geguckt.
Wolf Haas Genau! In letzter Zeit geht das ja alles viel leichter. Früher musste man zur Wiener Hauptpost rein und einen widerwilligen Beamten bitten, dass er einem ein Telefonbuch fürs Ruhrgebiet gibt. Oder die Dame bei der Telefonauskunft hat einen zur Schnecke gemacht. Mein Problem war ja auch, dass ich mich nicht genau erinnerte, aus welcher Stadt im Ruhrgebiet er war. Also war’s jetzt Dortmund oder Bochum oder Gelsenkirchen? Sie dürfen nicht vergessen, dass das für mich als Österreicher alles irgendwie gleich klingt, das ist für uns ja einfach alles Ruhrpott.
Literaturbeilage Für uns eigentlich auch.
Wolf Haas Die Namen kennt man im Grunde nur von Fußballmannschaften.
Literaturbeilage Sind Sie Fußballfan?
Wolf Haas Eigentlich überhaupt nicht. Aber dadurch, dass Riemer so ein wahnsinniger Fan von Schalke 04 ist, hab ich da auch ein bisschen Feuer gefangen.
Literaturbeilage Riemer, das ist Wettkönig Kowalskis Freund und Arbeitskollege, den Sie dann als Erstes getroffen haben.
Wolf Haas Ja, also um das noch schnell zu beenden. Ich gebe einfach den Namen im Computertelefonbuch ein. In Österreich heißt die Netzadresse www.etb.at, also »etb« steht für elektronisches Telefonbuch.
Literaturbeilage Und was bedeutet »at«?
Wolf Haas Österreich. Austria.
Literaturbeilage Ach ja, klar. Ich bin doof.
Wolf Haas Mir ist es genauso gegangen. In Deutschland hatte ich noch nie gesucht. Und »etb« gibt’s da nicht. Ich gebe also auf gut Glück www.telefonbuch.de ein, und –
Literaturbeilage Volltreffer beim ersten Versuch!
Wolf Haas Kowalski gibt es zwar jede Menge im Ruhrgebiet.
Literaturbeilage Ja klar, die Nachfahren der polnischen Bergarbeiter. Da heißt ja jeder ürgendwie Schimanski oder Kowalski.
Wolf Haas Zum Glück hat er so einen auffälligen Vornamen.
Literaturbeilage Sein Vorname kommt ja im ganzen Buch gar nicht vor. Dadurch, dass er selbst der Erzähler der Geschichte ist.
Wolf Haas Gottseidank! Mit einem Deutschen namens Vittorio hätte ich mir schon schwer getan. Erstens klingt es saublöd. Und zweitens hätte dann alles viel zu gut zusammengepasst.
Literaturbeilage Weil Anni einen italienischen Nachnamen hat.
Wolf Haas Ja, Bonati. Es gibt bei uns einige italienische Familiennamen, besonders in Westösterreich. Aber was ich damals nicht wusste: im Ruhrgebiet eben auch! Weil es ja nicht nur polnische, sondern auch italienische Grubenarbeiter im Ruhrgebiet gegeben hat.
Literaturbeilage Allerdings erklärt sich damit nicht ein italienischer Vorname. Ich muss zugeben, Vittorio wäre mir im Roman auch etwas too much gewesen.
Wolf Haas Das war eben, weil seine Mutter vor der Hochzeit einen italienischen Familiennamen hatte. Aber ich vergesse den Namen immer, wie die früher geheißen hat.
Literaturbeilage Sie schreiben, dass sie sich ürgendwie als was Besseres gefühlt hat mit ihrem italienischen Namen gegenüber dem Kowalski ihres Mannes. Dass da so eine Rivalität lief zwischen den beiden. Sie sagt auch einmal zu Frau Bonati, sie würde sie um ihren Familiennamen beneiden.
Wolf Haas Jedenfalls hat sie ihren italienischen Namen bei der Hochzeit aufgegeben, und das musste eben dann der Sohn büßen.
Literaturbeilage Also ich finde Vittorio eigentlich sehr schön.
Wolf Haas Mir hat’s jedenfalls sehr geholfen. Und ein paar Sekunden nachdem ich den Namen eingegeben hatte, hab ich Telefonnummer und Adresse von dem auf dem Bildschirm. Es war weder Bochum noch Dortmund noch Gelsenkirchen. Es war Essen Kupferdreh. An Essen hatte ich überhaupt nicht gedacht.
Literaturbeilage Na ja. Die haben auch keine gute Fußballmannschaft.
Wolf Haas Gibt’s nicht so was wie Rot-Weiss Essen?
Literaturbeilage Da dürfen Sie mich nicht fragen. Aber ich glaub, die sind längst nur noch Kreisliga oder so.
Wolf Haas Jedenfalls ruf ich den an, und natürlich komme ich zum Anrufbeantworter. Aber es war eindeutig seine Stimme! Er hat so eine ganz eigene Stimme. Ich finde ja, dass die Stimme unglaublich viel über den Charakter eines Menschen aussagt. Meistens mehr als das, was ein Mensch mit dieser Stimme sagt.
Literaturbeilage Kann ich mich jetzt gar nicht erinnern, dass das im Buch so rübergekommen ist mit seiner charakteristischen Stimme.
Wolf Haas Das kommt auch nicht vor. Das geht ja schlecht, wenn der Held seine Geschichte selbst erzählt.
Literaturbeilage Klar, da kann er nicht gut über seine eigene Stimme reflektieren.
Wolf Haas Aber vielleicht hätte ich es auch sonst weggelassen. Ich finde es sehr schwierig, eine Stimme zu beschreiben. Sehr extreme Stimmen kann man noch mit Worten charakterisieren, schrill, sonor et cetera. Darum haben Romanfiguren immer schrille oder sonore oder näselnde oder sonst irgendwie auffällige Stimmen, weil es Begriffe dafür gibt.
Literaturbeilage Fistelstimmen.
Wolf Haas Genau. Aber Herr Kowalski hat eine absolut durchschnittliche Stimmlage. Das wäre schwer, dem was anzudichten. Das Charakteristische ist eher sein Tonfall als seine Stimme an sich. Der Tonfall ist irgendwie, wie soll ich sagen.
Literaturbeilage Verklemmt?
Wolf Haas Würde ich nicht so hart sagen.
Literaturbeilage Gehemmt?
Wolf Haas Irgendwie irreal. Widersprüchlich in sich. Ich bin froh, dass ich das nicht im Buch rüberbringen musste. An so was kann man sich als Autor echt die Zähne ausbeißen.
Literaturbeilage Einen Tonfall hat das Buch selbst natürlich schon. Das Widersprüchliche hat sich mir schon sehr stark vermittelt. Für mich hatte das etwas von einer fast kindlichen Ernsthaftigkeit.
Wolf Haas Das passt jedenfalls nicht schlecht für die Art, wie er seinen Anrufbeantworter besprochen hat. Als hätte er sich vorher noch seinen Konfirmationsanzug angezogen und sich frisch gekämmt, bevor er die Ansage gesprochen hat. »Dies ist der automatische Anrufbeantworter von Vittorio Kowalski. Leider kann ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegennehmen. Wenn Sie mir Ihre Nummer hinterlassen, rufe ich Sie gern zurück.«
Literaturbeilage Sie können es auswendig.
Wolf Haas Ich hab’s ziemlich oft probiert. Aber nach zwei Wochen hab ich’s eingesehen, dass das so nichts wird, und bin einfach auf gut Glück hinaufgefahren.
Literaturbeilage Hinauf? Von Östreich ins Ruhrgebiet fährt man doch runter!
Wolf Haas Bei uns geht das mehr nach der Landkarte. In den Norden fahren wir »hinauf«, auch wenn’s hinuntergeht.
Literaturbeilage Na gut, Sie sind also nach Essen »hinaufgefahren«.
Wolf Haas So weit bin ich an einem Tag überhaupt noch nie mit dem Auto gefahren. Aber ich kann’s wenigstens von der Steuer absetzen. Darum bin ich schon froh, dass die Hauptfigur meines Romans aus einer weit entfernten Gegend stammt.
Literaturbeilage Die langen Autofahrten haben ja auch in Vittorio Kowalskis Leben und Lieben eine wichtige Rolle gespielt. Warum lachen Sie? Über mein pathetisches »Leben und Lieben«?
Wolf Haas Entschuldigung, ich lache nicht über Sie. Sondern weil ich innerlich automatisch zum Dreifach-Jackpot aufgestockt habe: »Leben und Lieben und Leiden«.
Literaturbeilage Das passt doch auch. Gerade auf der Autobahn hat er als Kind viel gelitten.
Wolf Haas Das wusste ich da allerdings noch nicht. Für mich war die Fahrt ganz erträglich, ich musste sowieso mein neues Hörbuch Korrektur hören, und das mach ich im Auto am liebsten. Für ihn als Kind aber waren die langen Autofahrten ein Horror.
Literaturbeilage Ich finde, das sind mit die stärksten Stellen in Ihrem Roman. Diese quälend langen Urlaubsfahrten. Und wie sich eben für ein Kind die Zeit noch viel unendlicher und quälender dehnt als für einen Erwachsenen.
Wolf Haas Ich erinnere mich noch gut an seine Schilderungen. Wie er da Sommer für Sommer in den Urlaub gekarrt wurde. Das Auto vollgestopft bis auf den letzten Winkel. Und irgendwo auf der Rückbank zwischen Kühltaschen, Rucksäcken, Campingliegen der kleine Junge, der die Kilometer zählt.
Literaturbeilage Es ist würklich schrecklich, das zu lesen. Ich muss schon sagen, da wurden Erinnerungen wach!
Wolf Haas Haben Sie das auch gemacht? Kilometer runterzählen?
Literaturbeilage Das Zählen nicht. Aber diese Beklemmungen, diese unendlich langen Urlaubsfahrten in den Süden, daran kann ich mich noch gut erinnern. Und vorne die streitenden Eltern, genau wie Sie es bei den Kowalskis schildern. Der Blick auf die Hinterköpfe und schwitzenden Nacken der Eltern. Ich glaub, das ist ein kollektives Trauma einer ganzen Generation! Aber Kilometer runtergezählt wie Vittorio hab ich nicht unbedingt, also auf keinen Fall in dieser Besessenheit. Ich hab mich eher in Traumwelten geflüchtet.
Wolf Haas Jedes Kind entwickelt so seine eigene Überlebensstrategie. Bei ihm war’s eben das Zählen. Das Umrechnen der Kilometer in Stunden und Minuten. Im Lauf der Jahre sind seine Berechnungen so gut geworden, dass er oft schon auf der Höhe von Frankfurt die Ankunftszeit in Farmach auf zehn Minuten genau voraussagen konnte.
Literaturbeilage Wie heute in den Flugzeugen, wo einem die Computerbildschirme anzeigen: Noch fünf Stunden und 47 Minuten bis zur Landung auf dem »JFK«.
Wolf Haas Für mich war das natürlich sehr reizvoll. An sich gibt’s ja nichts Langweiligeres als so eine Urlaubsfahrt. Also für einen Romananfang ist das alles andere als ideal. Und durch das Runterzählen hat man dauernd das Gefühl, da kommt jetzt mal was. Und es kommt aber nichts! (lacht)
Literaturbeilage Man hat ja fast den Eindruck, dass er in der Hitze und in der quälenden Langeweile zu halluzinieren anfängt.
Wolf Haas Was meinen Sie jetzt?
Literaturbeilage Zum Beispiel die Luftmatratze hinten im Auto.
Wolf Haas Da wurde mir ja zum Teil vorgeworfen, ich hätte mich etwas zu sehr verkünstelt mit der Luftmatratze.
Literaturbeilage Ein Kritiker hat sogar gekalauert, Sie hätten diese Metapher etwas zu sehr aufgeblasen.
Wolf Haas Ja haha. Dabei ist’s gar keine Metapher.
Literaturbeilage Ich hatte beim Lesen schon etwas den Eindruck, hier spricht nicht mehr unbedingt Herr Kowalski, der bis hierher so schön beflissen und ernsthaft erzählt hat. Also wie die Familie Jahr für Jahr immer wieder dieselbe Strecke »runterfährt«. Immer wieder dieselben Stationen. Da leidet man ja würklich mit dem Kind mit! In der extremen Hitze! Aber bei der Luftmatratze wird’s vielleicht eine Spur too much.
Wolf Haas Darum geht’s doch! Ihm war es auch zu viel.
Literaturbeilage Aber man kriegt da beim Lesen das Gefühl, jetzt mischt sich der Autor ein und versucht, mir durch besonders kunstvolle Metaphorik zu vermitteln, wie eng und quälend es für den Jungen auf dem Rücksitz war. In den ersten Jahren war der doch noch ganz klein, die Wahrnehmung scheint ürgendwie zu raffiniert für einen kleinen Jungen.
Wolf Haas Ja sehen Sie, und genau das ist so ziemlich die einzige Stelle, die ich wortwörtlich von seinen Erzählungen übernommen habe. Es hat mir einfach so gut gefallen, wie erbittert er nach all den Jahren noch die Gepäckstücke aufgezählt hat, mit denen er seinen Platz in den verschiedenen Autos seines Vaters teilen musste. Also ganz am Anfang war das ja sogar noch ein alter VW Käfer, und dann ging’s herauf, den üblichen Weg eben, Opel Kadett, VW Golf und so weiter.
Literaturbeilage Die Automarken haben Sie aber gar nicht erwähnt.
Wolf Haas Da hab ich lang herumgeschissen. Es gab natürlich Rohversionen, wo ich das alles drinnen hatte. Dann hab ich das aber alles rausgestrichen. Ich wollte verhindern, dass es so ein modisches Marken-Archäologiebuch wird. Mir ist das unsympathisch, dieser Hang der jungen Leute, die schon als Dreißigjährige auf ihr bisschen »damals« zurückblicken, und »Weißt du noch, welche Mode damals war«, das ist doch lächerlich. Jedenfalls – wo war ich?
Literaturbeilage Luftmatratze.
Wolf Haas Ja, die Luftmatratzenstelle. Er hat mir eben erzählt, dass da seine zusammengepresste Luftmatratze ihren Stammplatz im Auto hatte, neben seinen Beinen, hinter die Rücklehne des Beifahrersitzes gestopft. Ich hab mich noch gewundert, warum er dabei das Gesicht so verzieht, als würde er gleich zu weinen anfangen. Aber das war eben der vorauseilende Gesichtsausdruck sozusagen, der sich erst erklärte, als er dann den bestialischen Gummigeruch der Luftmatratze beklagt hat. Damals hatten die noch keine Klimaanlage im Auto. Jetzt sag ich auch »damals«, sehen Sie, das wollte ich eben nicht im Buch haben, diese Retro-Sentimentalität, dieses ewige »damals«.
Literaturbeilage Keine Klimaanlage ist noch nicht unbedingt Retro-Kitsch.
Wolf Haas Klimaanlagen sind überhaupt so ein Thema für mich. Ich hab ja als Werbetexter für Mazda viel über Klimaanlagen geschrieben. Das ist mein Thema sozusagen. »Klimaanlage inklusive« war der große Hit damals.
Literaturbeilage »Damals«!
Wolf Haas Ja furchtbar! Jetzt fang ich auch schon so an. Jedenfalls war die Hitze im Auto schuld, dass die Luftmatratze fast geschmolzen ist –
Literaturbeilage Ich kann mir gut vorstellen, dass der Junge unter dem Gummigeruch litt. Aber »bestialischer Gummigestank«?
Wolf Haas Das waren seine Worte! Bestialischer Gummigestank! Und dieser zurückhaltende Herr Kowalski, das ist wahrlich niemand, der zu großen Worten greift, der sagt nicht »bestialisch«, wenn er nur meint »ein bisschen unangenehm«. Er muss wirklich gelitten haben unter dem Gestank. Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Gummizeug in so einer kochenden Autozelle wirklich Dämpfe abgibt, die nicht ganz ungiftig sind.
Literaturbeilage Die Luftmatratze als solche ist natürlich auch so ein Gerät, das eine ganze Welt abruft.
Wolf Haas Ja eben. Das ist ein gefährliches Ding. Ich musste da dauernd streichen und mich einbremsen. Ich hab mich selber gewundert, wie aufdringlich die Dinger eigentlich sind. Allein dieser irre Gegensatz, was eine aufgepumpte Luftmatratze am See bedeutet, so herrlich, das Paddeln, die Sonne, das Wasser, die gute Luft, und was daraus wird, wenn sie einem im heißen, stinkenden Auto den Atem raubt.
Literaturbeilage Passagenweise würkt das ja fast wie so eine Sniffdroge.
Wolf Haas Ganz genau! Und dann sagt er auch noch, er hat sich als Kind immer vorgestellt, im Auto verwendet die Luftmatratze die ihr rechtmäßig zur Aufplusterung zustehende Luft, um diesen Geruch zu erzeugen. Also er hat das noch viel besser gesagt. Es hat in seiner Version wirklich so geklungen, als wäre die Luftmatratze ein krankes Lebewesen, ein verendender Organismus, der sich nicht ausdehnen darf. Die Luftmatratze braucht die ganze Luft zum Überleben ihres Krisenzustandes da hinter dem Beifahrersitz.
Literaturbeilage Hinter dem Beifahrersitz. Das betonen Sie auch im Buch so. Auf dem Beifahrersitz saß ja immer die Mutter.
Wolf Haas Ja, die hatte keinen Führerschein. Das hat mich auch immer gewundert, weil sie ja sonst eine sehr moderne Frau war.
Literaturbeilage Wahrscheinlich ihr Asthma!
Wolf Haas (lacht)
Literaturbeilage Der Vater dagegen war um einiges älter.
Wolf Haas Der ist schon auf die vierzig zugegangen, als Vittorio auf die Welt kam.
Literaturbeilage Ich wollte aber noch etwas dazu sagen, dass die zusammengepresste Luftmatratze hinter dem Beifahrersitz steckt. Wieso betonen Sie das im Buch so?
Wolf Haas Na ja, das hat er mir so erzählt. Weil seine Mutter größer war als sein Vater. Ich fand das irgendwie ein interessantes Detail. Die Vorfahren des Vaters waren Bergmänner, Wettersteiger, die mussten klein sein. Die Mutter war jünger und größer.
Literaturbeilage Obwohl sie von Italienern abstammt.
Wolf Haas Ja seltsam. Aber sie war ja auch nicht gerade eine Riesin oder so. Nur eben groß genug, dass der Sohn hinter dem Fahrersitz mehr Platz hatte. Und deshalb war der Platz für die Luftmatratze eben hinter dem Beifahrersitz. Ich finde nicht, dass ich das so betone. Aber wieso betonen Sie das so, dass ich das angeblich so betone?
Literaturbeilage Ich betone es nicht. Ich frage mich nur, wie sehr Sie hier die phallische Symbolik der Luftmatratze –
Wolf Haas Wie bitte?
Literaturbeilage Das drängt sich doch auf. Die Luftmatratze, die darunter leidet, dass sie sich nicht in ihrer ganzen Größe ausbreiten darf, weil sie hinter dem Muttersitz eingeklemmt ist.
Wolf Haas Sie werden es nicht glauben. Mir wäre das nicht im Traum – also, das ist ja wirklich.
Literaturbeilage Ja?
Wolf Haas Für mich sind Luftmatratzen einfach irgendwie geile Geräte.
Literaturbeilage Na ja, das ist jetzt nicht gerade das stärkste Gegenargument.
Wolf Haas