cover

Thomas Galli

Weggesperrt

Warum Gefängnisse niemandem nützen

Inhalt

Mein Weg ins Gefängnis und wieder heraus

  1.Warum strafen wir?

  2.Wozu gibt es Gefängnisse?

  3.Keine Resozialisierung durch Haft

  4.Gefängnisse gefährden unsere Sicherheit

  5.Das Gefängnis schreckt kaum ab

  6.Vertrauen in Recht und Gesetz

  7.Schuld und Vergeltung: ein überholtes Prinzip

  8.Strafrechtliche Vergeltung von Schuld schadet uns allen

  9.Wir brauchen Verantwortung statt Schuld

10.Der christliche Hintergrund: Niemand ist ohne Schuld

11.Das Gefängnis nützt niemandem

12.Der Weg zur Strafe der Zukunft

13.Die Strafe der Zukunft

14.Die schwersten Fälle

Fortschritt ohne Gefängnis

Dank

Literatur

Anmerkungen

 

Für Lisa, David, Mathias und Lukas

Mein Weg ins Gefängnis und wieder heraus

Als mich die Reporterin von stern TV vor den Toren meiner Anstalt fragte, was ich denn mit den knapp 400 Gefangenen machen würde, wenn es nach mir ginge, antwortete ich: Ich würde alle freilassen. Als Journalistin freute sie sich über diese »steile These«, als Mensch hatte sie große Zweifel. Wie könnte man Derartiges verantworten? Was ist mit der Sicherheit der Allgemeinheit? Wäre das nicht ein Schlag ins Gesicht aller Kriminalitätsopfer?

Meine Tätigkeit im Strafvollzug hatte 2001 eher als Notlösung begonnen. Ich war nach Abschluss meines Jurastudiums beruflich unschlüssig und entschied mich nach kurzer Zeit als Anwalt für den Staatsdienst. Ein sicheres und gutes Gehalt und eine überschaubare Arbeitsbelastung waren meine Motivationen für die Bewerbung bei der Justiz. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten waren gut. Bei meiner Einstellung sagte man mir, dass ich die Beförderung zum Regierungsdirektor nur durch Suizid verhindern könne.

Ich war nie zuvor in einer Justizvollzugsanstalt gewesen und wusste nicht, dass dort überhaupt Juristen tätig waren. Über den Strafvollzug hatte ich mir keine großen Gedanken gemacht. Das strafrechtliche Studium bestand vor allem in der Einübung mathematischer Regeln. Wenn A so handelt, ergibt das den Straftatbestand B, der dann zur Rechtsfolge C von X Monaten oder Jahren Haft führt. Ich dachte, wie wohl die Mehrheit der Menschen: Gefängnisse braucht es nun einmal. So fing alles an. Ein tieferes Interesse, eine Leidenschaft für die Frage, wie man am sinnvollsten mit Kriminalität und Straffälligen umgeht, habe ich erst im Laufe der Jahre entwickelt.

Meine erste Stelle war die eines Abteilungsleiters in der bayerischen Justizvollzugsanstalt Amberg. Dort war ich zuständig für etwa 200 Inhaftierte des sogenannten Hauptbaus, in dem die Gefangenen vor allem in 8-Mann-Hafträumen untergebracht waren. Der Dienstag und Donnerstag jeder Woche waren für Disziplinarverfahren reserviert. Ein Großteil der Gefangenen hatte ein Drogenproblem und die Anstalt war ein riesiger Umschlagplatz für Rauschmittel. Die Insassen konsumierten fleißig vor allem Cannabis und Heroin und wir disziplinierten sie dafür. Für Heroin gab es Arrest. Das bedeutete bis zu vier Wochen Isolation in einem winzigen Raum, in dem sich nur ein Bett und eine Bibel befanden. Wer das überstanden hatte, musste sich erst einmal wieder einen Schuss setzen oder einen Joint rauchen.

Im Nachhinein betrachtet habe ich vor allem durch diese Disziplinarverfahren Schuld auf mich geladen. Der Arrest ist eine archaische und nicht zu rechtfertigende Behandlung von Menschen, insbesondere von Suchtkranken, die es eben gerade nicht in der Hand haben, ob sie Drogen konsumieren oder nicht. Dass der Mensch so nicht zu einem besseren wird, war für mich früh zu spüren. Auch nicht, wenn man ihn mit sieben anderen Straftätern und Drogenkonsumenten zusammen in einen Haftraum sperrt, den er nur verlassen darf, um mit den gleichen Menschen für einen Lohn von 13 Euro am Tag zu arbeiten oder Runden im Hof zu drehen. Je länger ich in Amberg tätig war, desto mehr Gefangene sah ich, die immer wieder eingeliefert wurden, weil sie kurz nach ihrer Entlassung erneut straffällig geworden waren. Es dauerte allerdings noch viele Jahre, bis ich dieses Gefühl, dass vieles »faul« ist im Strafvollzug, ernst nahm. Bis ich es in Worte fassen konnte und es zu einer Überzeugung wurde. Denn schließlich war das ja der Staat, der hier handelte, und diesen zu hinterfragen kostet viel mehr Kraft und Zeit, als ihm zu folgen.

»Resozialisierung« war eine Art Zauberwort, um uns Mitarbeitern und der Allgemeinheit das Gefängnis schmackhaft zu machen. Ich vergleiche das gern mit der Art, wie zum Beispiel der Hersteller eines Riegels, der angeblich viel Milch enthält, aber vor allem aus einer Menge schädlichem Zucker und Fett besteht, dessen Förderlichkeit für die Gesundheit betont.

Tatsächlich gelebt wird der Resozialisierungsgedanke, dem eine dauerhafte Reduzierung des kriminellen Verhaltens der inhaftierten Straftäter zugrunde liegt, in deutschen Gefängnissen jedenfalls nicht. Er kann dort gar keinen Erfolg haben. Das Gefängnis und die dort Arbeitenden werden auch gar nicht daran gemessen, ob sie kriminelles Verhalten der Insassen auf Dauer reduzieren. Von den allermeisten Inhaftierten weiß man überhaupt nicht, was nach der Haft aus ihnen wird. Wenn man wissen will, ob eine Strafhaft für die Resozialisierung eines Verurteilten erfolgreich war, müsste man aber versuchen, das in Erfahrung zu bringen. Man will das aber nicht so genau wissen, da die vergleichsweise wenigen Daten, die es über Rückfälle entlassener Straftäter gibt, alles andere als vielversprechend sind. Faktisch wird das Gefängnis fast ausschließlich an der Sicherheit gemessen, die es der Bevölkerung verspricht, und sei diese Sicherheit noch so trügerisch. Solange jemand in Haft ist, darf kein Fehler passieren. Insbesondere kein Ausbruch. In den ersten Jahren meiner Anstellung in der JVA Amberg ist ein Inhaftierter ausgebrochen, indem er in nächtelanger Arbeit die Gitterstäbe seines Haftraumes durchgesägt hatte. Dieser grenzte an die Außenmauer des Gefängnisses, so dass er sich von dort in die Freiheit abseilen konnte. Ein Skandal, der die Anstalt unter enormen Druck setzte – obwohl der Gefangene in absehbarer Zeit ohnehin entlassen worden wäre und ohne schützende Mauern wieder unter uns leben sollte. Das Fenster dieses Raumes wurde zugemauert, so dass dort niemand mehr untergebracht werden konnte.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Arbeit, die in den Gefängnissen geleistet wird, ist in allen Bereichen sehr anspruchsvoll und die absolut überwiegende Mehrheit der dort Beschäftigten ist engagiert und kompetent. Aber was hilft es uns allen, wenn ein Straffälliger in Haft durch große Bemühungen der Beamten zum Beispiel einen Schul- oder Ausbildungsabschluss nachholt und nach seiner Entlassung als ehemaliger Gefangener doch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat? Was bringt es, wenn jemand, der immer wieder die Kontrolle über seine Aggressionen verliert und seine Partnerinnen schlägt, in Haft nicht weiter auffällig ist, weil er gar keine Möglichkeit hat, dort überhaupt eine Partnerschaft zu führen? Was hilft die Haft den Geschädigten von Vermögensstraftätern, die ihren Schaden nie ersetzt bekommen, weil Gefangene kaum etwas verdienen? Was hilft es den Opfern, wenn die Täter ihrer Verantwortung für die Taten allein dadurch gerecht werden, dass sie ihre Zeit im Gefängnis absitzen? Was hilft es der Allgemeinheit, wenn sich jemand – jeder Autonomie beraubt, aber auch jeder Verantwortung für das eigene Leben enthoben – einige Monate oder Jahre in Haft angepasst verhält und anschließend mit den Realitäten des Lebens in Freiheit völlig überfordert ist? Denn entlassen werden irgendwann fast alle Inhaftierten.

Es geht also nicht darum, die Menschen zu kritisieren, die im Strafvollzug arbeiten, oder die Arbeit, die sie dort leisten. Es geht darum, die Strukturen und die Rahmenbedingungen des Strafvollzugs zu hinterfragen, damit die Arbeit der Justizbediensteten möglichst erfolgreich sein kann.

Trügerische Sicherheit

Mit dem, was ich als schädliche Symbolwirkung des Gefängnisses bezeichnen würde, wurde ich während meiner siebenjährigen Tätigkeit als Abteilungsleiter in der Justizvollzugsanstalt Straubing konfrontiert – der Anstalt in Bayern mit der höchsten Sicherheitsstufe. Ein paar Hundert zu lebenslanger Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verurteilte Männer sind dort inhaftiert. Unter ihnen sind Menschen, die wahrscheinlich immer wieder andere töten, vergewaltigen oder quälen würden und die ich auf keinen Fall in Freiheit sehen wollte. Aber ist es damit getan, sie einzusperren und die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen? Dass es mindestens ebenso wichtig wäre, dafür Sorge zu tragen, dass in 20 Jahren nicht wieder jemand diese furchtbaren Dinge tut, ist vielen nicht bewusst. Jemand, der jetzt noch ein Kind ist. Im Zweifel übrigens ein Kind, dessen Bedürfnisse und Würde von klein auf missachtet und verletzt wurden, was nicht selten eine der Ursachen für Gewalttaten darstellt. Alle Welt ist schockiert und empört, wenn zum Beispiel ein Kind sexuell missbraucht und getötet wird. Dagegen muss etwas getan werden! Aber was wird wirklich getan? Der Täter kommt in Haft, wird dort über Jahrzehnte mit einem Aufwand von vielen Millionen verwahrt und therapiert und irgendwann entlassen, wenn er so alt ist, dass er kaum noch selbstständig gehen kann. Bei Weitem nicht jeder, der selbst in der Kindheit und Jugend Gewalt und Unrecht erlitten hat, wird irgendwann zum Straftäter. Aber bei fast allen Straffälligen ist in ihrer Biografie vieles schiefgelaufen. Das kann sie nicht entschuldigen, sollte den Staat aber zwingen, darüber nachzudenken, ob es nicht in vielen Fällen sinnvoller wäre, früher helfend zu intervenieren, als später nur zu strafen – mit einer höchst zweifelhaften Aussicht auf Erfolg.

Zwar sind schwere Übergriffe auf das Personal der Justizvollzugsanstalten zum Glück nicht an der Tagesordnung, wie etwa die furchtbare Geiselnahme und Vergewaltigung der Leiterin der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Straubing durch einen Inhaftierten, der eigentlich als erfolgreicher Teilnehmer der Therapie galt. Aber sie werfen in dramatischer Weise die Frage nach der Sinnhaftigkeit von vielem auf, was hinter den Gefängnismauern geschieht. Auch die Gewalt der Inhaftierten untereinander, wie etwa die Messerstecherei in der JVA Straubing in Kreisen der Russenmafia, die zu einem Toten und mehreren Schwerverletzten geführt hat, stellt immer wieder den Sinn von Gefängnissen in Frage. Denn sie dienen allein dem Zweck, möglichst viele Menschen in einer Anstalt kostengünstig bürokratisch zu verwalten. Die Eingesperrten sind fast ausschließlich Männer, zum Großteil junge Männer. Es ist unvermeidbar, dass in einem solchen Kontext Machtkämpfe, Aggressionen und Gewalt entstehen. Das wäre auch dann der Fall, wenn man einige Hundert rechtstreue Bürger in denselben Verhältnissen unterbringen würde.

Was also tun mit den Gefangenen meiner Anstalt, die im Durchschnitt zwischen ein und zwei Jahre Haft verbüßen und keine Mörder oder Schwerstverbrecher sind? Sie alternativlos freizulassen wäre keine gute Idee. Der Staat hat die Pflicht, das Mögliche zu tun, dass Einzelne anderen keinen Schaden zufügen. Er hat die Pflicht, dazu beizutragen, kriminelles Verhalten möglichst zu reduzieren. Und die Opfer von Straftaten haben ein Recht auf weitgehende Wiedergutmachung. Ohne staatliche Gewalt und ohne Zwang könnte unser Gemeinwesen nicht funktionieren. Dazu brauchen wir auch Strafen. Die Frage ist nur, wie wir strafen, was wir mit Strafen erreichen wollen und was wir mit diesen realistischerweise erreichen können. Wir müssen klug und sinnvoll strafen und dürfen uns weder von archaischen Impulsen leiten noch von Sonntagsreden beruhigen lassen.

Wie die Strafe der Zukunft aussehen sollte, beschreibe ich in diesem Buch. Neben meinen persönlichen Erfahrungen als Gefängnisdirektor und als Rechtsanwalt, mit Politikern und Journalisten haben mir auch die zahlreichen Diskussionen mit dem Publikum bei meinen Lesungen und Vorträgen gezeigt: Der Weg zu den Alternativen ist möglich und realistisch. Davon bin ich überzeugt. Es gibt vernünftigere Alternativen zum Gefängnis, wie wir es jetzt kennen.

Als ich also vor dem Gefängnis stand und sagte, dass ich die dort Inhaftierten freilassen würde, wurde mir selbst erst bewusst, dass ich nicht länger als Gefängnisdirektor tätig sein kann. Es ging nicht mehr nur um theoretische Fragen, es ging für mich darum, ob ich tatsächlich von dieser Haltung überzeugt war. Und das war und bin ich. Dann aber musste ich auch die Konsequenzen ziehen, um glaubwürdig zu sein. Ein Pfarrer muss aus der Kirche austreten, wenn er nicht mehr an Gott glaubt, sonst belügt er sich selbst und andere. Auch wollte ich nicht länger etwas tun, das ich letztlich für schädlich halte. Für Opfer, Gesellschaft und Täter. Für den Menschen. Daran ändern kann man innerhalb des Systems kaum etwas. Ich entschied mich, nun als Rechtsanwalt und Autor, für das zu kämpfen, was ich für richtig halte.

Hinter der Fassade

Wir alle wollen von Kriminalität verschont bleiben. Niemand möchte bestohlen, betrogen, vergewaltigt, verletzt oder gar getötet werden. Abhängig von Situation und Persönlichkeit haben wir sogar Angst vor solchen Straftaten. Sind wir selbst Opfer, verlangen wir die Wiedergutmachung des Schadens und entwickeln je nach Schwere der Tat ein Bedürfnis nach Rache und Strafe. Und selbst wenn wir nicht unmittelbar betroffen sind, empfinden wir vor allem bei schweren Straftaten Wut und Ärger. Unser Gerechtigkeitsgefühl verlangt auch dann nach Sanktionen, wenn wir weder Täter noch Opfer kennen oder die Tat weit entfernt geschah.

Als uns kurz vor Weihnachten 2018 die ersten Meldungen über eine Schießerei mitten in einer belebten Fußgängerzone der Wiener Innenstadt erreichten, bei der ein Mann einen anderen mit einem Kopfschuss tötete und einen weiteren schwer verletzte, ging es mir zunächst wie wohl den meisten: Ich war entsetzt und spürte das Verlangen nach einer schnellen Ergreifung des Täters, seiner Bestrafung und einer möglichst langen Inhaftierung in einem Gefängnis.1 Denn in unserer Vorstellung schützt uns dieses vor gefährlichen Menschen. Wir glauben, sie werden hinter Gittern menschenwürdig behandelt und auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereitet.

Nach und nach kamen immer mehr Informationen über die Gewalttat ans Licht. Die Opfer waren offenkundig führende Mafiamitglieder, die Tat war der Racheakt eines rivalisierenden Clans. Ich bin nicht dafür, dass Mafiamitglieder erschossen werden. Und dennoch: Mit diesem Wissen fand ich die Tat schon weit weniger beängstigend. Meine Wut und mein Strafbedürfnis sanken deutlich, ebenso mein Mitgefühl für die Opfer.

Ein und derselbe Vorgang löste also völlig unterschiedlich starke Emotionen und Bedürfnisse in mir aus. Unsere Wahrnehmung von Kriminalität, unsere Furcht vor Verbrechen, unsere Wut auf den Täter und unser Strafbedürfnis hängen also von unseren persönlichen Erfahrungen bzw. unserer Betroffenheit ab, aber auch ganz wesentlich von unserem Wissen über alle Details.

Kriminalität geht uns alle an

Das Opfer einer Straftat kann stärkere Wut auf den Täter verspüren als derjenige, der von dieser Straftat nur gehört oder gelesen hat. Wer glaubt, dass jeder Zweite irgendwann einmal beraubt wird, wird größere Sorge vor einem Raubüberfall haben als jemand, der weiß, dass die statistische Wahrscheinlichkeit viel geringer ist. Schließlich werden der Bestrafte und seine Angehörigen unser Strafrecht ganz anders beurteilen als diejenigen, die nie selbst strafrechtlich belangt worden sind.

Nicht wenige Menschen in Deutschland nehmen das Phänomen Kriminalität und das Gefängnis aus einer persönlich betroffenen Perspektive wahr. Etwa 64 000 Menschen sind derzeit in Deutschland in Haft (wenn man alle Formen der Inhaftierung wie Sicherungsverwahrung2, Untersuchungshaft, Jugendstrafhaft und Erzwingungshaft3 dazuzählt). Die allermeisten Straftäter werden jedoch zu einer Bewährungs- oder Geldstrafe verurteilt. 2018 wurden beispielsweise 77,3 Prozent aller Angeklagten zu einer Geldstrafe verurteilt.4 Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer von nicht aufgedeckten Straftaten sehr hoch ist. Es werden Millionen von Straftaten jedes Jahr begangen. Nur für einen geringen Teil dieser Taten werden Menschen inhaftiert.

Wenn man jedoch berücksichtigt, dass so gut wie alle Gefangenen Ehepartner und / oder Kinder haben, sind es immerhin einige Hunderttausend Menschen jedes Jahr, die von der eigenen Inhaftierung oder der eines Familienmitglieds betroffen sind.

Die Zahl der Opfer bzw. der durch Straftaten Geschädigten ist naturgegeben noch erheblich höher.5 So wurden für das Jahr 2018 insgesamt 1 025 241 Personen als Opfer schwererer Delikte von Körperverletzung bis Mord polizeilich erfasst.6 Im gleichen Jahr gab es 386 Mordopfer7 und wurden fast 64 000 Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert.8 Vor allem bei Letzteren kann man von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. Zudem müssen nahe Angehörige, insbesondere bei Tötungsdelikten, ebenfalls zu den Betroffenen gezählt werden.

Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017 des Bundeskriminalamts weist nach einer repräsentativen Umfrage unter Personen mit einem Alter von mindestens 16 Jahren aus, dass in den letzten fünf Jahren vor der Befragung 8,1 Prozent der Haushalte Opfer eines versuchten oder vollendeten Einbruchdiebstahls geworden sind.9 Hochgerechnet auf die über 41 Millionen Privathaushalte in Deutschland10 sind das insgesamt über 3,3 Millionen Fälle. 4,7 Prozent der befragten Personen gaben an, in den zwölf Monaten vor der Befragung Opfer eines Waren- oder Dienstleistungsbetruges geworden zu sein.11Nicht zuletzt verdienen Hunderttausende Menschen in Deutschland ihr Einkommen als Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Justizvollzugsbedienstete u. a. mit der Bekämpfung der Kriminalität. Auch sie nehmen das Thema als unmittelbar Betroffene wahr.

Einladung, genauer hinzusehen

Die Mehrheit der Deutschen kennt Kriminalität jedoch nur aus den Medien, und manch einer mag einwenden, dass sich mit Fragen unseres Rechtssystems doch Expertinnen und Experten in Justiz, Politik und Wissenschaft beschäftigen mögen. Kriminalität ist jedoch nicht nur angesichts der großen Zahl an Tätern und Opfern ein gesellschaftlich höchst relevantes Thema, sondern auch, weil sie unsere stärksten Emotionen, individuell wie kollektiv, hervorruft. Unsere Angst und Wut, unser Hass und Mitgefühl sind es, die die härteste staatliche Gewalt gegenüber Individuen legitimieren. Sie soll der Gerechtigkeit dienen.

Kriminalität betrifft uns alle, denn wir alle können potenzielle Opfer sein und womöglich sogar potenzielle Täter. Niemand ist davor gefeit, unter bestimmten Umständen auch straffällig zu werden. Und zu guter Letzt sind wir alle Strafende. Wir haben unser Bedürfnis nach Strafe lediglich an den Staat delegiert.

Unser Recht ist der Versuch, einen möglichst gerechten Ausgleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu finden. Dabei folgt es keinen Naturgesetzen wie in der Medizin, der Physik oder der Biologie. Was wir als eine Straftat definieren und welche Folgen diese für den Täter haben soll, entscheiden wir als Gesellschaft immer wieder neu.

Unser Strafrecht ist geprägt von dem Wunsch, dem mutmaßlichen Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit zu entsprechen. Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen. Nichts bedarf so sehr der demokratischen Legitimation, Kontrolle und Mitwirkung wie das Strafrecht.

Doch Strafen haben keine Berechtigung per se. Sie dienen der Reduzierung von Gewalt und Konflikten innerhalb einer Gemeinschaft, müssen aber auch vermittelt werden können. Die Erklärung, ein Fall habe juristisch seine Richtigkeit, reicht dabei nicht aus. In dem Maße, in dem das Strafrecht von einer Mehrheit nicht mehr als sinnvoll und gerecht empfunden wird, verliert es seine Berechtigung.

Heute wird eine Mehrheit unsere Art zu strafen, insbesondere die Gefängnishaft, noch für sinnvoll, notwendig und gerecht halten. Was aber, wenn sie mehr über die Gründe für Straftaten, über die Realität von Haftanstalten und ihre Folgen wüsste? Ich möchte daher einladen, genauer hinzusehen: auf Täter und Opfer, auf Kriminalität und Gefängnisse. Und auf uns.

1.Warum strafen wir?

Jemanden zu bestrafen heißt, ihm ein Übel, manchmal einen Schmerz, zumindest aber einen spürbaren Nachteil zuzufügen, weil er anderen ein Leid oder einen Schaden zugefügt oder grundlegende Regeln der Gemeinschaft gebrochen hat. Staatliche Strafe, insbesondere in Form einer Gefängnishaft, ist Gewalt. Warum tun wir das?

Von der Rache zur Strafe

Unserer Art zu strafen liegen individuelle und kollektive Bedürfnisse zugrunde. Insbesondere ein archaisches Rachebedürfnis prägt nach wie vor unsere Strafen, wenn auch in modifizierter Form.

Ein inhaftierter Albaner erzählte mir vor Jahren einiges über die in seiner Heimatregion noch immer praktizierte Blutrache. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er alle Regeln, von denen er mir erzählte, im Detail tatsächlich besser kannte als ein durchschnittlicher deutscher Bürger das Grundgesetz oder Strafgesetzbuch. Es beeindruckte mich jedoch sehr, dass auch diese Blutrache offenbar festen Regeln folgte und nicht die ungezügelte, maßlose, oft tödliche Aggression und Gewalt war, für die ich sie bis dahin gehalten hatte. Der Gefangene war der einzige männliche Überlebende seiner Familie. Sein Vater war schon vor vielen Jahren von einem benachbarten Clan im Streit um ein Stück Ackerland ermordet worden.

Der Bruder des Inhaftierten hatte die Regeln der Blutrache offenbar falsch ausgelegt und zwei männliche Mitglieder der verfeindeten Familie getötet, um seinen Vater zu rächen. Die andere Familie wollte daher den Bruder töten, der jedoch kurz darauf bei einem selbst verschuldeten Motorradunfall starb. Nun wurde der Gefangene zum Ziel der Blutrache. Seine Mutter und seine drei Schwestern waren außer Gefahr. Frauen hatten in den ländlichen Strukturen kaum Rechte, blieben dafür aber nach den Regeln der Blutrache weitgehend geschützt. Im Kern ging es um die Ehre, die wiederhergestellt werden sollte, und Frauen zu töten galt als ehrlos.

Aber auch der Albaner selbst war nicht völlig schutzlos. Er durfte nicht in seinem bzw. in dem Haus seiner Familie angegriffen werden. Und daran hielt sich die gegnerische Partei, elf Jahre lang. Interessanterweise diente diese Regel, wie er mir erzählte, auch der Entlastung derjenigen, die Blutrache üben mussten, um ihre öffentliche Ehre wiederherzustellen. Es gab bestimmte Tage wie den Ostersonntag, an denen sie von dieser Pflicht befreit waren, und eben bestimmte Orte wie das Zuhause. Elf Jahre lang also verließ der Albaner fast nie das Haus, in dem er zusammen mit seiner Mutter und den Schwestern wohnte. Das war eine immense Belastung nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie, der er als Arbeitskraft auf den Feldern fehlte. Auch für die gegnerische Familie war die Blutrache eine große Belastung, sie musste das Haus des Albaners durchgehend im Auge behalten. Wenn er von anderen Bewohnern der Gegend außerhalb seines Hauses gesehen worden wäre, hätte das die Ehre der Familie, die zur Blutrache verpflichtet war, weiter befleckt. Nach elf Jahren aber hielt es der Albaner nicht mehr aus. Er floh mithilfe der albanischen Mafia nach Deutschland, wo er mit falscher Identität dabei half, mit dem Betreiben einer Pizzeria Geld zu waschen, bis er schließlich ertappt und inhaftiert wurde.

Ich wurde durch diesen Gefangenen mit einem für uns archaisch wirkenden Bedürfnis nach Rache konfrontiert. In Gebieten wie dem, aus dem der inhaftierte Albaner stammte, gilt noch das alttestamentarische Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Die Ehre, die nur durch Rache wiederhergestellt werden kann, soll als ein soziales Konstrukt nicht nur das individuell verletzte Selbstwertgefühl wieder stärken, sondern auch ein möglichst ausgeglichenes Miteinander der Gemeinschaft fördern und ein zu großes Machtgefälle zwischen den einzelnen Familienverbänden verhindern helfen. Wenn eine Familie etwa eine wichtige männliche Arbeitskraft durch Mord verliert, könnte die Familie des Mörders auf Dauer eine Vorherrschaft ausbauen, würde ihr nicht ebenfalls eine Arbeitskraft genommen. Auch werden Familien, die sich rächen, wohl weniger oft angegriffen. Rache hat dann vor allem eine abschreckende Wirkung.

Rache kann in gesellschaftlichen Strukturen ohne eine funktionierende Justiz auch zur individuellen Pflicht werden, die den Rächer belastet. Wir gehen davon aus, dass es uns besser geht, wenn wir Rache genommen haben. Tatsächlich scheint es denjenigen, die tatsächlich Rache nehmen, danach nicht selten schlechter als zuvor zu gehen. So kommt der Rechtswissenschaftler Tobias Andrissek zu dem Schluss: »Das direkte Ausleben persönlicher Aggressionsgefühle wirkt entgegen landläufiger Meinung so gut wie der Versuch, ein Feuer mit Benzin zu löschen.«12 Wenn die Rache dem Täter allerdings erfolgreich eine Lektion erteilt und ihm verdeutlicht, dass sein Verhalten ungebührlich war, kann das die Zufriedenheit des Rächenden fördern.13

Das Bedürfnis, uns zu rächen, ist im Laufe der Jahrhunderte zu einem Bedürfnis nach Bestrafung geworden, die weniger blutig und maßlos ist, delegiert werden kann und nach festen Regeln abläuft. Wir haben allerdings nicht nur dann einen dringenden Wunsch nach Bestrafung, wenn wir selbst oder ein uns nahestehender Mensch verletzt worden sind. Auch wenn wir erfahren, dass ein Dritter verletzt wurde, wollen wir den Täter bestraft wissen. Intuitiv und damit vor allen rationalen Erwägungen fühlen wir den Wunsch in uns aufkommen, dem Täter ein Leid zuzufügen, dessen Maß sich an dem bemisst, was er dem anderen angetan hat. Dieses Vergeltungsbedürfnis kennen sicher viele von uns.

Wer kann von sich sagen, noch nie das Bedürfnis verspürt zu haben, jemandem ein Leid zuzufügen, der einen selbst oder einen anderen verletzt oder geschädigt hat – nicht nur als Abwehr der Tat, sondern auch, wenn der Angriff schon länger zurückliegt? Psychologisch ist unser Wunsch, Gerechtigkeit durch Vergeltung zu schaffen, nachvollziehbar, wie die Sozialpsychologen Mario Gollwitzer und Michael Wenzel überzeugend formulieren: »Sowohl eine positive Selbstachtung (…) als auch das Erleben von Sicherheit, Kontrollierbarkeit und Vorhersehbarkeit sind Voraussetzungen (…) für die Bereitschaft, soziale Beziehungen einzugehen. Opfer eines Vergehens zu werden bedroht unser Selbstachtungs- und unser Sicherheitsbedürfnis: Vergeltung ist ein Versuch, mit dieser Bedrohung umzugehen.«14

Und seien wir ehrlich: Wünschen wir uns nicht oft, dass es jemandem, der etwas Schlechtes getan hat, selbst auch schlecht gehen soll? Tief in uns empfinden wir es als ein Gebot der Gerechtigkeit, Menschen, die betrogen, gestohlen oder getötet haben und damit grundlegende soziale Regeln gebrochen haben, zu bestrafen. Auch dies ist gut nachvollziehbar. In einem solchen Normbruch liegt oft auch ein Angriff auf das Wertefundament unserer Gesellschaft und die Gefahr einer Destabilisierung der sozialen Ordnung.15 Darunter hätten dann alle Mitglieder einer Gesellschaft zu leiden.

Vergeltungsbedürfnis: angeboren oder erlernt?

Unser Vergeltungsbedürfnis ist wohl zum Teil von Geburt an in uns angelegt und vorläufiges Ergebnis einer evolutionären Entwicklung. Die Psychoanalytiker Tomas Böhm und Suzanne Kaplan sprechen von einem »evolutionspsychologischen Schatten«, einem Erbe unserer Vorfahren, das uns zu Rächern macht.16 Möglicherweise haben sich Gruppen von Menschen durchgesetzt, die weniger oft von anderen angegriffen und getötet wurden, weil sie sich gerächt und damit auch künftige Angreifer abgeschreckt haben. Auch ist es gut denkbar, dass Gruppen, die eine bessere und stärkere Kooperation untereinander mit Strafen durchgesetzt haben, evolutionäre Vorteile hatten.17

So berichtet der Neurowissenschaftler Nikolaus Steinbeis über eine u. a. von ihm durchgeführte Studie mit Kindern und Schimpansen: »Was wir relativ klar sehen konnten, ist, dass sowohl die Schimpansen als auch die sechsjährigen Kinder bereit sind, Kosten auf sich zu nehmen, um Bestrafung weiter zu beobachten, wenn sie das für gerecht oder entsprechend empfinden. Und das ist für uns ein Indiz, dass die Wurzeln dieser Bereitschaft, Bestrafung zu sehen, relativ weit zurückgehen. Und da geht es gar nicht mal darum, ob das schlussendlich bestraft wird oder nicht, sondern einfach nur um die Möglichkeit, dass bestraft werden könnte. Und allein diese Möglichkeit führt dazu, dass Menschen eine größere Bereitwilligkeit haben, miteinander zu kooperieren.«18

Bei manchen Straftaten nehmen wir mehr oder weniger bewusst an, dass der Regelbrecher von seiner Tat profitiert hat und man ihm deshalb auch etwas wegnehmen muss. Bei Eigentums- oder Vermögensdelikten leuchtet dies unmittelbar ein. Auch bei einer Körperverletzung kann sich der Täter die Freiheit genommen haben, seine Aggressionen derart auszuleben. Da wir uns dies in der Regel versagen, wollen wir dem Täter im Gegenzug die Freiheit auf Zeit entziehen. Eine psychologische Triebkraft des Strafbedürfnisses ist daher neben der Wut und der Angst auch der Neid.

Stellen wir uns vor, wir würden von einem Kampfhund angefallen und schmerzhaft ins Bein gebissen. Das in einem durch einen solchen Angriff aktivierte Verteidigungs- und Aggressionspotenzial würde noch einige Zeit nachhallen, auch wenn der Angriff bereits vorüber ist. Tage oder Wochen nach dem Vorfall hätte man jedoch wohl kein allzu großes Bedürfnis mehr danach, den Hund zu bestrafen. Es ist eben ein Tier, das allein von seinen Instinkten geleitet wird. Ganz anders wäre das, wenn uns ein anderer Mensch, zum Beispiel mit einem Messer, schmerzhaft verletzt. Auch wenn der Angriff längst vorüber und die körperliche Wunde verheilt wäre, hätte man wohl für längere Zeit noch das Bedürfnis, dass dieser Mensch bestraft wird.

Zu einem guten Teil sind Rache und Vergeltung jedoch sozial erlernt19 und abhängig von kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit20 und moralischen oder religiösen Wertungen über »gut« und »schlecht«. Das betrifft die Frage, welche Handlungen eine Gemeinschaft bestrafen will. In über 50 Ländern, vorwiegend in Afrika, dem Nahen Osten und Asien, wird zum Beispiel Homosexualität noch immer bestraft. Der Besitz auch von harten Drogen (wie etwa Heroin) zum Eigengebrauch ist in Portugal keine Straftat, während selbst der Besitz kleinster Mengen in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit dem Tode bestraft werden kann.

Aber auch die Frage, wie Vergeltung erfolgt, ist zum großen Teil sozial erlernt. Das reicht von der Leistung eines materiellen Ersatzes für das Opfer bei indigenen Völkern bis hin zur Vollstreckung der Todesstrafe in den USA. In einigen islamischen Stammesgesellschaften war es Brauch, dass – zum Ausgleich bei Tötungsdelikten – die Familie des Täters eines ihrer Mädchen an einen der nächsten Verwandten des Opfers gab, um einen Sohn zu gebären, der den Verlust des Menschenlebens aufheben sollte.21 Wir sollten uns daher bewusst machen, dass unser Bedürfnis, Menschen zur Strafe in Gefängnisse zu sperren, nicht naturgegeben, sondern erlernt ist. Wir könnten unseren derzeitigen Vergeltungsbedürfnissen also auch ganz andere Inhalte geben – wenn uns bessere einfielen.

Das Beispiel des Mordes in der Wiener Innenstadt liefert uns noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Die meisten von uns wären wohl deutlich empörter, wenn die Opfer keine Mitglieder der Mafia, sondern unbeteiligte Passanten gewesen wären. Warum ist das so? Schließlich ist es doch in beiden Fällen Mord? Hierbei spielt unser Mitgefühl mit den Opfern eine wichtige Rolle. Mafiamitglieder hält man selbst für Täter und verspürt daher weniger Anteilnahme.

Viel stärker aber wirkt aus meiner Sicht die teilweise bewusste und wohl auch unbewusste Angst davor, es hätte auch uns selbst treffen können. Man ist zwar kein Mitglied einer kriminellen Organisation, aber man ist durchaus auch Passant in der Innenstadt. Psychologisch betrachtet ist es diese Angst, die sich in Wut auf den Täter verwandelt. Instinktiv wollen wir alles tun, auch mit Gewalt, damit er uns nicht auch angreifen kann.

Diese Wut ist deutlich größer, wenn einem nach unserem Verständnis Unschuldigen Schaden zugefügt worden ist. Jemandem, der sich selbst an die Regeln gehalten hat. Jemandem, der sich verhält, wie wir selbst es tun. Wenn wir also etwas so Schreckliches wie die eigene Ermordung nicht verhindern können, nicht einmal, wenn wir selbst alle Regeln beachten, werden wir mit zutiefst ängstigender Machtlosigkeit und Willkür konfrontiert. Daher empfinden wir es als weit weniger schockierend und bedrohlich, wenn jemand geschädigt oder sogar getötet wird, der aus unserer Sicht selbst schuldig ist. Unsere Empfindung für das Opfer hängt auch ganz entscheidend davon ab, ob es aus unserem eigenen oder einem anderen Milieu stammt. Wer beispielsweise nichts mit Rockern zu tun hat, entwickelt weniger Angst, Wut und Strafbedürfnis bei Gewalttaten in deren Umfeld. Auch das zeigt den sozialen Sinn der Vergeltung. Sie soll die Einhaltung von Regeln durchsetzen, die uns schützen und an die wir uns umgekehrt selbst halten. Gleichzeitig erklärt es, warum wir wenig Mitgefühl mit Straffälligen haben. Sie haben etwas getan, was wir unserer Meinung nach nicht tun würden.

Unser Bedürfnis danach, dass jemand einen Schaden erleidet, der uns oder einem Dritten größeren Schaden zugefügt hat oder sich ganz allgemein die Freiheit herausgenommen hat, grundlegende Regeln zu überschreiten, an die wir uns halten, hängt also sehr von unserer kulturellen Prägung, unserem individuellen Wissen sowie der individuellen und potenziellen Betroffenheit ab.

Die albanische Blutrache hat also mehr mit uns und unserem Bedürfnis nach Strafe zu tun, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Zwar ist das individuelle Ausleben von Rachegelüsten in unserer Gesellschaft nicht mehr rechtmäßig, aber das emotionale Gefühl der Rache in uns selbst ist damit längst nicht verschwunden. Im Individuum lebt das Bedürfnis nach ihr fort. Nicht zuletzt ist Rache das Motiv vieler Straftaten. Rache am konkreten Opfer oder Rache an der Gesellschaft im Allgemeinen.

Als Gemeinschaft haben wir die Bestrafung als Vergeltung von begangenem Unrecht an die Gerichte delegiert. Das archaische »Auge um Auge, Zahn um Zahn«-Prinzip der Rache ist abgeschafft, aber auch die Todesstrafe für alle Kapitalverbrechen. In seiner Verpflichtung zu den Menschenrechten verbietet sich der Gesetzgeber, selbst Menschen das Leben zu nehmen. Dennoch geht es im Kern unserer Strafen darum, dem Täter ein Übel zuzufügen. Die Höhe dieses Übels bemisst sich wesentlich nach der Schwere des Unrechts, das er begangen hat.

Seit der Übernahme der Bestrafung durch den Staat trat die symbolische, kommunikative und pädagogische Funktion des Strafens immer stärker in den Vordergrund. Strafe ist nicht nur die Ausübung von Aggression oder Gewalt. Sie soll dem Bestraften verdeutlichen, dass sein Verhalten falsch war und nicht wieder vorkommen darf. Und sie soll darüber hinaus öffentlich zum Ausdruck bringen, was diejenigen zu erwarten haben, die bestimmte Regeln brechen.

2.Wozu gibt es Gefängnisse?

Bis ins 16. Jahrhundert hinein wurden Menschen vor allem eingesperrt, um sie körperlich zu bestrafen, zu foltern oder hinzurichten. Geschlossene Anstalten mit einer größeren Zahl von Insassen waren zunächst Spinn- und Arbeitshäuser für arme Menschen, Bettler, Vagabunden und dergleichen. Das Zuchthaus, Vorgänger unserer heutigen Gefängnisse, entstand zwecks Disziplinierung zur Arbeit und Unterbringung von Armen. 1595 wurde in Amsterdam ein erstes »Tuchthuis« (Zuchthaus) errichtet, zwei Jahre später ein »Spinhuis« (Haus für Spinn- und Näharbeiten) für Frauen.22 Auf die Idee, den Freiheitsentzug selbst als Form von Strafe zu verwenden, ist man erst im Laufe der Zeit gekommen.

1608 wurde in Bremen das erste Zuchthaus in Deutschland eröffnet, weitere folgten.23 Diese Zuchthäuser verwandelten sich zunehmend in Gefängnisse, in denen nur noch Straftäter untergebracht wurden. Die Freiheitsstrafe löste so schrittweise drastischere Formen von Strafe, wie etwa körperliche Strafen oder die Todesstrafe, ab. Das Gefängnis hat es also nicht schon immer gegeben, wir haben es vor einigen Jahrhunderten erfunden, könnten aber auch andere Formen der Strafe finden.

Das gilt umso mehr, wenn man sich bewusst macht, dass die ursprüngliche Idee, eine große Anzahl von Straftätern in einer geschlossenen Anstalt einzusperren, nicht der mehr oder weniger analytischen Überlegung folgte, wie man Kriminalität am besten reduzieren könnte. Die Freiheitsstrafe in Einrichtungen zu vollziehen, in denen man Hunderte von Menschen unterbringen kann, hatte und hat auch heute noch vor allem finanzielle Gründe. Eine Vielzahl von Menschen kann so kostengünstig bürokratisch verwaltet werden. Und die Anstalten an sich gab es bereits, sie mussten im Laufe der Zeit nur anders definiert werden. Dieser Prozess der Umwidmung ist, wenn man so will, noch immer nicht beendet. Es werden auch heute noch weitere rechtliche Begründungen gefunden, warum man Menschen einsperrt, wie etwa die Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber oder die Sicherungsverwahrung von Schwerstkriminellen. So werden aufgrund einer besonderen Situation oder Stimmung in der Öffentlichkeit andere Ziele betont, die der Staat mit den Gefängnissen erreichen will. Mal ist es die Sicherheit der Allgemeinheit, mal die Resozialisierung der Inhaftierten und mal müssen die Gefangenen angeblich erst einmal lernen zu arbeiten. In den meisten Bundesländern gibt es daher noch immer die durch Art. 12 Abs. 3 GG legitimierte Zwangsarbeit im Strafvollzug.

Dass man Gefängnisse auch heute noch braucht, denken die allermeisten Menschen. Wenn ich bei Vorträgen oder Diskussionen danach frage, warum wir sie brauchen, erhalte ich ganz unterschiedliche Antworten.

Manche sagen ganz allgemein: Strafe muss sein. Oder: Was Recht ist, muss Recht bleiben. Andere weisen auf die Sicherheit der Allgemeinheit hin, auf die Abschreckungswirkung von Gefängnissen und darauf, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen würden, wenn der Staat es nicht täte. Fast immer wird noch ergänzt, dass man es den Opfern schuldig sei und die Gefangenen in den Gefängnissen ja auch resozialisiert würden.

Damit sind alle Gründe genannt, aus denen auch unser Staat ganz offiziell Menschen mit Freiheitsentzug bestraft. Wobei nicht selten verschämt verschwiegen wird, dass es im Kern der Freiheitsstrafe nach wie vor um Vergeltung geht. Der Täter soll ein Übel erleiden, weil er jemand anderem oder unserer Gesellschaft ein Übel zugefügt hat. Diese gesetzliche Form der Rache findet bei nicht wenigen Menschen Zustimmung. Einigen geht sie sogar nicht weit genug; sie empfinden unsere Umsetzung der Freiheitsstrafe als nicht hart genug. Das spiegelt sich in der immer wieder anzutreffenden Haltung, den Inhaftierten ginge es im Gefängnis im Prinzip besser als in Freiheit.

Doch immer mehr aufgeklärte und zivilisierte Menschen nehmen Abstand von einer rächenden Strafe. So wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker die positiven Strafzwecke betont. Die Haft sollte die Inhaftierten zu »besseren« Menschen machen und die Sicherheit der Allgemeinheit vergrößern.

Insbesondere der Begriff der Resozialisierung hat dazu beigetragen, dass das Gefängnis auch in humanistisch und liberal eingestellten Kreisen einen guten Ruf genießt. So warf mir bei einer Podiumsdiskussion ein amtierender Landesjustizminister vor, dass ich mit dem Hinweis auf den Vergeltungscharakter der Freiheitsstrafe meiner Zeit weit hinterher sei. Man hätte diesen bereits in den 1970er Jahren zugunsten des Resozialisierungsgedankens aufgegeben. Ich musste ihm entgegnen, dass dies zwar gut klingt, aber nicht den Tatsachen entspricht. Ob und wie lange jemand zur Strafe eingesperrt wird, orientiert sich eben nach wie vor im Wesentlichen an dem Maß der Schuld, die der Täter auf sich geladen hat. Bei der Strafzumessung spielt es kaum eine Rolle, ob der Freiheitsentzug resozialisierungsförderlich ist. Resozialisierung ist das neue und schönere Kleid, das man dem Strafvollzug anstelle des in die Jahre gekommenen grauen Umhangs der Vergeltung verpasst hat. Nach wie vor gilt, was der Soziologe Michel Foucault erkannt hat: »… vollzieht sich die theoretische Selbstverleugnung: das Wesentliche der Strafe, welche die Richter auferlegen, besteht nicht in der Bestrafung, sondern in dem Versuch zu bessern, zu erziehen, zu ›heilen‹. Eine Technik der Verbesserung verdrängt in der Strafe die eigentliche Sühne des Bösen und befreit die Behörden von dem lästigen Geschäft des Züchtigens«.24

Der Soziologe und Sozialpädagoge Klaus Roggenthin spricht von einer systematischen Verschleierung und Beschönigung des wahren Charakters unseres heutigen Strafvollzuges: »Trotzdem scheint es darüber hinaus erforderlich zu sein, die hässlichen Konsequenzen, die die Akzeptanz dieser Gefängnislogik mit sich bringt, durch hübschere oder neutrale Begriffe zu stützen. So ist im behördlichen Sprachgebrauch in Deutschland eher selten die Rede vom Gefängnis und vom Gefangenen, stattdessen zieht man es vor, von der Justizvollzugsanstalt und dem Insassen zu sprechen. Aus Zellen werden Hafträume. Die ehemaligen Wärter oder Schließer sind nunmehr Vollzugsbeamte bzw. Bedienstete. Die gefürchteten Beruhigungszellen, also jene nur rudimentär ausgestatteten Zellen, in die Gefangene gebracht werden, die Gewalt gegen sich selbst oder andere ausüben, heißen nun bgH, also »besonders gesicherte Hafträume«. Diese Neutralisierung oder Beschönigung von Personen oder Dingen, die mit dem Gefängnis zu tun haben, findet sich in vielen Sprachen. So heißt beispielsweise das Gefängniswesen in Dänemark »kriminalforsorgen«, also Kriminalfürsorge, was wohl bewusst den sozialen und nicht den strafenden Aspekt dieser Institution hervorhebt.«25Zwar ist es rechtswissenschaftlich herrschende Meinung, dass sich das Ziel von Strafen nicht in der Vergeltung erschöpfen darf, sondern dass es vielmehr auch darum gehen muss, künftige Straftaten zu reduzieren. Doch das, was Strafe theoretisch erreichen soll, ist nicht identisch mit dem, was sie tatsächlich bewirkt. Es wird noch darauf zurückzukommen sein, inwieweit sich der Charakter der Freiheitsstrafe auch inhaltlich verändert hat.

Außer zur Strafe gibt es weitere gesetzliche Gründe, Menschen die Freiheit zu entziehen. Bei der Sicherungsverwahrung, die ebenfalls in Haftanstalten vollzogen wird, geht es um die Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern, die ihre Strafe bereits verbüßt haben. Und es gibt diejenigen, die eingesperrt und vor allem zur Verhinderung einer Flucht in Untersuchungshaft genommen werden, damit überhaupt ein Strafverfahren gegen sie eröffnet werden kann. Auf die zwangsweise Unterbringung in psychiatrischen Anstalten und andere Formen des Freiheitsentzuges kann hier nicht näher eingegangen werden. Auch spreche ich hauptsächlich von der Freiheitsstrafe für Erwachsene.

Das Gefängnis in Zahlen

Derzeit gibt es in Deutschland insgesamt 179 Justizvollzugsanstalten. Zum Stichtag 31. März 2018 verbüßten 50 957 Menschen eine Gefängnisstrafe, knapp sechs Prozent der Inhaftierten sind Frauen.26

Jährlich werden etwa 50 000 Menschen, die zu einer Geldstrafe verurteilt worden sind und diese nicht bezahlen können, zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert.27Nur gut elf Prozent der Gefangenen haben eine zu erwartende Haftdauer von mehr als fünf Jahren. Etwa 20 Prozent erwarten eine Haftdauer zwischen zwei und fünf Jahren. Fast 30 Prozent der Insassen sind unter 30 Jahre alt, nur gut vier Prozent über 60 Jahre. Fast jeder dritte Inhaftierte hat inzwischen eine ausländische Staatsbürgerschaft. Und über 70 Prozent aller Inhaftierten sind vorbestraft.28

Bei den der Freiheitsstrafe zugrunde liegenden Delikten stehen Diebstahl und Unterschlagung an erster Stelle, gefolgt von Betrug und Untreue.29 Insgesamt machen Eigentums- und Vermögensdelikte zwischen 40 und 50 Prozent aus. Wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind gut sechs Prozent, wegen Straftaten gegen das Leben gut sieben Prozent der Strafgefangenen in Haft.30

Mit einer Rate von 70 bis 80 Gefangenen pro 100 000 Einwohnern gehört Deutschland im weltweiten Vergleich zu den Ländern, in denen am wenigsten Menschen inhaftiert werden.31 In den USA ist die Gefangenenrate fast zehnmal so hoch. Es gibt jedoch auch Länder, in denen noch deutlich weniger Menschen als in Deutschland inhaftiert werden. In Finnland sind dies beispielsweise 57, in Schweden 55 und in Island 45 pro 100 000 Einwohner.32

In einer Anstalt sind in der Regel einige Hundert Inhaftierte untergebracht, teilweise auch über tausend. Die Unterbringung erfolgt vor allem in Einzelhafträumen, die in der Regel ca. neun Quadratmeter groß sind. Viele Anstalten verfügen jedoch nicht über eine ausreichende Zahl von Einzelhaftplätzen, so dass Gefangene auch zu zweit oder mehreren untergebracht werden müssen.

Der Personalschlüssel unterscheidet sich sowohl in den Bundesländern als auch in den einzelnen Anstalten. Durchschnittlich kommt auf 2 bis 2,5 Gefangene ein Justizbediensteter. Das klingt nach sehr viel, ist aber vor allem sehr teuer. Es wird noch darauf einzugehen sein, mit welchen Tätigkeiten das Justizpersonal hauptsächlich beschäftigt ist.

3.Keine Resozialisierung durch Haft

Eines der Ziele unseres Strafvollzuges ist die Resozialisierung der Gefangenen. Seit der Föderalismusreform 2006 ist es Sache der Länder, die konkrete Gestaltung des Strafvollzuges gesetzlich zu regeln. Der anfänglich befürchtete sogenannte »Wettbewerb der Schäbigkeit«33, dass die Bundesländer nun versuchen würden, sich in der repressiven und harten Behandlung von Gefangenen und im »Kaputtsparen« des Justizvollzuges gegenseitig zu übertreffen, ist nicht eingetreten. Grundsätzlich verändert hat sich der Strafvollzug allerdings mit dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder auch nicht. Traditionell gibt es Unterschiede in der finanziellen Ausstattung der Anstalten. Die Gefängnisse von Bundesländern wie Bayern, die über größere finanzielle Ressourcen verfügen, sind oft baulich in einem besseren Zustand als die in den östlichen Bundesländern. Auch in der Bezahlung der Mitarbeiter gibt es Unterschiede. So werden beispielsweise in Bayern sogenannte Fachdienste (vor allem Sozialarbeiter und Psychologen), anders als in Sachsen, grundsätzlich verbeamtet.

Für einen Inhaftierten macht es einen spürbaren Unterschied, in welchem Bundesland er in Haft muss.34 Der Anteil der Gefangenen, die nicht in der geschlossenen Anstalt, sondern in Gebäuden außerhalb der Gefängnismauern in einen offenen Vollzug mit deutlich höherer Bewegungsfreiheit verlegt wurden, lag 2016 beispielsweise in Berlin bei 31,1 Prozent, in Bayern dagegen lediglich bei 6,5 Prozent.35

Auch die Rechte der Gefangenen, mit Menschen außerhalb der Anstalten zu kommunizieren, sind in den Bundesländern sehr unterschiedlich ausgestaltet. Teils haben die Gefangenen Telefone in ihrem Haftraum, teils gibt es Kartentelefone auf den Stationen, zum Teil dürfen die Gefangenen auch nur in seltenen Ausnahmefällen und unter Aufsicht eines Beamten telefonieren.36Von diesen Unterschieden abgesehen soll der Vollzug der Freiheitsstrafe nach allen Landesjustizvollzugsgesetzen die Gefangenen befähigen, ihr künftiges Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen. Leider funktioniert das in der Realität nicht – und es kann auch gar nicht funktionieren. Wie und warum eine Resozialisierung oft fehlschlägt, zeigt besonders drastisch der Fall des Gefangenen Kroht.37

»