Ingrid J. Parker hat viele Jahre an verschiedenen Universitäten Literatur unterrichtet, u. a. an der Norfolk State University in Virginia. Für eine ihrer Short Stories um Akitada, den Helden der vorliegenden Serie, erhielt sie 2000 den Shamus Award. Bei Aufbau Digital verfügbar sind die drei Romane »Tod am Rashomon Tor«, »Der Prinz von Sadoshima« und »Der Schatzmeister des Tenno« um den im Japan des 11. Jahrhunderts ermittelnden Justizbeamten Sugawara Akitada vor.
Irmhild und Otto Brandstädter, Jahrgang 1933 bzw. 1927, haben Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, waren im Sprachunterricht bzw. im Verlagswesen und kulturpolitischen Bereich tätig. Sie übertrugen Werke von Sean O’Casey, Jack London, John Hersey, Masuji Ibuse, Louisa May Alcott, Charles M. Doughty, John Keane, Joseph Caldwell sowie Historio-Krimis von Amy Myers, Ingrid Parker und Peter Tremayne ins Deutsche.
Ein außerordentlicher Ermittler mit einem besonderen Talent für das Aufdecken von Verbrechen - gebildet, klug, mutig und gerecht.
Japan im 11. Jahrhundert: An der Kaiserlichen Universität scheint einiges nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Sugawara Akitada, ein junger Justizbeamter, wird von seinem ehemaligen Professor gebeten, Nachforschungen anzustellen, bevor der Ruf der berühmten Bildungseinrichtung Schaden nimmt. Kaum hat Akitada aus Gründen der Tarnung an der Universität zu unterrichten begonnen, entdeckt man im Konfuziustempel die Leiche eines Professors. Auch der elfjährige Fürst Minamoto braucht Akitadas Hilfe: Sein Großvater ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden, angeblich ins Nirwana, sogar der Kaiser hat das bestätigt. Doch Akitada vermutet hinter dem »Wunder« ein grausames Verbrechen …
Der Auftakt einer überraschenden und außergewöhnlichen Krimiserie aus dem alten Japan.
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Tod am Rashomon Tor
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Irmhild und Otto Brandstädter
Inhaltsübersicht
Über Ingrid J. Parker
Informationen zum Buch
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Verzeichnis der handelnden Personen
Vorwort
Prolog: Rashomon
Kapitel 1: Die Glyzinien-Laube
Kapitel 2: Die Kaiserliche Universität
Kapitel 3: Kaninchen
Kapitel 4: Gelehrte und sonstige Gestalten
Kapitel 5: Tod im Frühlingsgarten
Kapitel 6: Die Kamo-Prozession
Kapitel 7: Das Weidenquartier
Kapitel 8: Der Dichterwettstreit
Kapitel 9: Tränennasse Ärmel
Kapitel 10: Drachenbauen
Kapitel 11: Tempelschändung
Kapitel 12: Im Haus des Schirmemachers
Kapitel 13: Ein Mönch fürstlichen Geblüts
Kapitel 14: Tor der Toten
Kapitel 15: Beklemmende Stimmung im Herrenhaus
Kapitel 16: Geröstete Walnüsse
Kapitel 17: Der Brokat-Obi
Kapitel 18: Die Freunde des Prinzen
Kapitel 19: Die Wahrheit im Innern
Kapitel 20: Schwelende Glut
Kapitel 21: Der Glyzinienzweig
Kapitel 22: Sturmwarnung
Kapitel 23: Neue Schößlinge
Historische Anmerkung
Impressum
HAUPTPERSONEN | |
---|---|
Sugawara Akitada |
Beamter im Ministerium der Justiz |
Seimei |
Gefolgsmann der Sugawaras und Akitadas Sekretär |
Tora |
Ehemals Straßenräuber, jetzt Diener Akitadas |
UNIVERSITÄTSANGEHÖRIGE | |
---|---|
Hirata |
Professor für Staat und Recht |
Tamako |
Seine Tochter |
Oe |
Professor für Chinesische Literatur |
Ono |
Assistent Oes |
Takahashi |
Professor für Mathmatik |
Tanabe |
Professor für Konfuzianische Studien |
Nishioka |
Assistent Tanabes |
Fujiwara |
Professor für Geschichte |
Sato |
Professor für Musik |
Sesshin |
Buddhistischer Mönch, Rektor der Universität |
Ishikawa |
Absolvent |
Fürst Minamoto |
Student, Enkelsohn des Prinzen Yoakira |
Nagai |
Student |
Okura |
Ein früherer Student |
WEITERE PERSONEN | |
---|---|
Fürstin Sugawara |
Mutter Akitadas |
Yoshiko und Akiko |
Schwestern Akitadas |
Fürst Sakanoue |
Fürst Minamotos Vormund |
Kobe |
Hauptmann der Stadtwache |
Omaki |
Lautenspielerin im Weidenquartier |
Frau Hishiya |
Stiefmutter Omakis |
Herr Hishiya |
Vater Omakis, Schirmemacher |
Tantchen |
Wirtin des Gasthauses »Zur Weide« |
Madame Sakaki |
Eine begabte Unterhaltungskünstlerin |
Michiko |
Toras Freundin |
Kurata |
Ein Seidenhändler und Stammgast in der »Weide« |
Hitomaro |
Ein Schwertkämpfer |
Genba |
Ein ehemaliger Sumo-Ringer |
Die Fürsten Abe, Yanagida, Ono und Shinoda |
Freunde des Prinzen Yoakira |
Kinsue |
Kutscher des Prinzen Yoakira |
Umakai |
Ein Bettler |
Saburo |
Diener Professor Hiratas |
Tod am Rashomon Tor ist die Geschichte von Sugawara Akitada, einem fiktiven unteren Regierungsangestellten im Japan des 11. Jahrhunderts. Zur Zeit der Romanhandlung ist er fast dreißig Jahre alt und zum Bedauern seiner Mutter nicht verheiratet. In seiner Laufbahn im Justizministerium hat er es auch nicht weit gebracht. Dafür hat er aber ein besonderes Talent für das Aufdecken von Verbrechen und ein ausgesprochenes Interesse an derartigen Fällen, und das wiederum hat zu Freundschaften und Anerkennung in höchst unterschiedlichen Kreisen geführt.
Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Gewisse historische Fakten über die Hauptstadt Heian Kyo (dem heutigen Kyoto) hingegen, über das Universitätssystem, die Rechtsprechung, über Sitten und Auffassungen im 11. Jahrhundert sind bewußt und erst nach gewissenhaften Forschungen in die Handlung einbezogen. Akitada umwirbt ein junges Mädchen, das sich seinen Wünschen gegenüber zögernd verhält, und ist im Verlauf der Geschehnisse mit der Aufklärung einer ganzen Serie von mysteriösen Vorkommnissen befaßt.
Eine historische Betrachtung am Schluß des Buches bietet weitere Informationen zu damaligen Verhältnissen.
Der Leiche fehlte der Kopf. Man hatte sich ihrer in einer dunklen Ecke entledigt; nur dank des fahlen Mondlichts, das durch die hölzernen Fensterläden drang, konnte man in der Dunkelheit die vergleichsweise hellen Umrisse des entblößten Körpers erkennen.
In dem trostlosen Grau bewegte sich ein Schatten, und eine heisere Stimme krächzte: »Versuch, den Kopf zu finden!«
»Was nützt uns der?« grunzte eine andere Stimme zurück, und aus dem einen Schatten wurden plötzlich zwei. »Der ist nur noch gut für die Ratten.« Dann kam es kichernd: »Oder für hungrige Gespenster. Spielen vielleicht Ball damit.«
»Dämlack!« Die eine Gestalt drehte sich ein wenig, und wie in einer Momentaufnahme war im Mondschein verfilztes weißes Haar in wirrem Durcheinander zu erkennen. Es war eine Frau, die wie ein Dämon über der Leiche kauerte und sich mit hastigen Bewegungen irgendwelche weißen Stoffbahnen in das eigene Lumpengewand stopfte. »Ich brauch das Haar.«
»Bist du blind? Das ist doch ein Mann!« protestierte ihr Partner. »Der gibt nicht genug Haar her, das bringt nichts.« Er betrachtete die Leiche eingehender. »Außerdem war der alt.«
»Muß aber gut genährt gewesen sein.« Sie kniff dem leblosen Körper in den Bauch und betatschte seinen Hintern. »Fühl mal! Die Haut ist weich wie Seide.«
»Findest du? Und was hat er davon gehabt? War ’n armer Bettler, aus und tot.«
»Bettler?« höhnte das Weib. »Faß mal seine Füße an. Glaubst du, die mußten jemals laufen? Sehen nicht danach aus. Sind in Kutschen und feinen Sänften gereist, wetten? Also los jetzt, such den Kopf. Der hat bestimmt langes Haar, fein säuberlich oben zusammengebunden. Bringt uns mindestens zehn Kupfermünzen. Was feine Leute sind, die schneiden ihr Haar nicht kurz wie du und ich. Bei den Frauen von denen ist das Haar so lang, daß sie drauftreten. Ich gäb was drum, wir würden so eine finden.«
Der Mann kicherte. »Ich auch. Ich weiß, was ich mit der machen tät.« Er leckte sich vielsagend die Lippen.
Die Alte versetzte ihm einen Knuff.
»Autsch! Du altes Aas«, fluchte er und gab ihr derb eins zurück. Im Handumdrehen balgten sie sich wie zwei ausgehungerte Katzen. Er ließ als erster von ihr ab und trat ein paar Schritte zurück.
Sie strich sich den Rock glatt, prüfte, ob ihre Beute nicht verrutscht war, und erklärte unwirsch: »Wir müssen hier raus, ehe die vom Stadtamt kommen. Also los, such den Kopf. Er kann nicht weit sein. Ist vielleicht hinter die Lumpen dort gerollt.«
»Von wegen Lumpen«, murrte der Mann und stieß mit dem Fuß gegen das Bündel. »Das ist auch ’ne Leiche.«
»Wie? Was? Laß mich sehen.« Sie hastete zu ihm, beäugte den Fund und richtete sich enttäuscht auf. »Bloß so ’n altes Weib. Nichts Brauchbares dran an der. Ist glatt verhungert, so wie die aussieht. Und langes Haar hat die schon längst nicht mehr gehabt. Also los, wo ist der Kopf?«
»Ich sag dir doch, der ist nirgendwo«, winselte der Mann und stocherte in allen Ecken herum.
Sie wütete. »Der Ort hier ist auch nicht mehr das, was er mal war. Nicht mal mehr die Leichen sind ganz. Glaubst du, die Leichenkutscher holen die Wache?«
»Nö«, meinte ihr Kumpan. »Macht den faulen Hunden viel zu viel Arbeit. Bist du soweit?«
»Denke schon.« Sie sah sich um. »Nur zwei heute?«
»Ja. Hat’s was gebracht?«
»Ein Lendentuch und Socken«, murmelte sie und tastete insgeheim nach der feinen Seide, aus der die Unterwäsche des Toten gewesen war und die sie zwischen den welken Brüsten versteckt hielt. »Könnt’ wetten, irgendein Schuft hat sich mit dem Kopf und den anderen Kleidungsstücken dünne gemacht. Komm, wir müssen raus hier.« Sie schlurfte los.
»Möchte wissen, wer der Alte war«, sagte der Mann, und beide stiegen die Treppe hinunter.
»Was kümmert’s dich?« gab sie barsch zurück. Unten angelangt spähten sie im Schutz einer der großen Säulen vorsichtig auf die Straße. »Wär’ der noch am Leben, würde er sich den feuchten Kehricht um dich oder mich scheren. So aber kriegen wir für seine Socken was zu essen, und sein Lendenschurz ist bestimmt einen billigen Reiswein wert. Am Ende gibt’s doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt.«
Akitada streckte sich hoch und reckte müde den langen schlaksigen Oberkörper. Es war ein herrlicher Frühlingstag, und an dem hatte er die schönsten Stunden in seiner Amtsstube im Justizministerium über verstaubten Akten gehockt. Seufzend reinigte er den Schreibpinsel und griff nach dem Siegel.
Auf der anderen Seite des Raumes saß Seimei, sein Sekretär, und erhob sich jetzt. Beflissen fragte er: »Soll ich als nächstes den Fall Ise-Schrein gegen Fürst Tomo bringen?«
Seimei war über sechzig und wirkte gebrechlich; er hatte fast weißes Haar und einen spärlichen Schnurrbart und Spitzbart. Es war nicht das erste Mal, daß Akitada erstaunt feststellte, daß sein alter Freund förmlich aufblühte bei dieser langweiligen Arbeit. Von den Hausdienern der Familie Sugawara war er der einzige, der noch geblieben war. Er hatte es in dem Haushalt auf Grund seines Fleißes und ermutigt von Akitadas Vater bis zum Verwalter und Schreiber gebracht. Als sein Herr und Meister starb und ein traurig dezimiertes Vermögen, eine Witwe, zwei Töchter und einen minderjährigen Sohn hinterließ, kümmerte sich Seimei um alle und alles hingebungsvoll, bis Akitada seine Ausbildung abgeschlossen hatte und seine erste Regierungsanstellung erhielt. Erst vor kurzem, nach Akitadas Beförderung zum Regierungsrat im Justizministerium, hatte ihn sein junger Herr zum persönlichen Sekretär ernannt.
»Muß das sein?« stöhnte Akitada. »Ich habe stundenlang über den Papieren gesessen und fürchte, länger kann ich es nicht ertragen.«
»Wir wandeln auf dem Pfad der Pflicht, und doch sucht der Mensch, ihn zu verlassen«, bemerkte Seimei schulmeisterhaft. Er gab gerne Spruchweisheiten von sich. »Selbst das Meer hat sich ohn Unterlaß Tropfen um Tropfen gefüllt. Wie Meister Kung sagt, Seiner Majestät zu dienen muß uns oberste Pflicht sein.« Dann sah er Akitadas mißmutiges Gesicht und ließ sich erweichen. »Ich merke schon, Ihr braucht eine Pause. Ich mache uns Tee.«
Es war noch gar nicht lange her, daß sie Tee für sich entdeckt hatten. Er war zwar nahezu unerschwinglich, aber Akitada fand ihn erfrischender als Reiswein, und Seimei schwor auf seine heilsamen Eigenschaften.
Als der alte Mann mit zwei Schälchen und einem dampfenden Topf zurückkam, schritt Akitada im Zimmer auf und ab. Von draußen hörte man Vogelgesang. Akitada lauschte versonnen und sagte dann: »Vielleicht sollten wir uns die Zeit nehmen und in die Berge reiten.« Er ließ sich eine Schale Tee reichen und trank genüßlich. »Wir könnten doch einmal beim Ninna-Tempel vorbeischauen.«
»Ah ja. Eine merkwürdige Geschichte, die da umgeht«, nickte Seimei. »Das ist nun schon etliche Wochen her, und trotzdem reden die Leute ständig davon. Ich habe gehört, daß der Kaiser höchstpersönlich die Stätte aufgesucht und eigens auf einer Gedenktafel seine erlauchten Gefühle zum Ausdruck gebracht hat. Angeblich ist Prinz Yoakira dank seiner inbrünstigen Gebete unvermittelt ins Nirwana eingegangen. Und nun strömen die Menschen zum Tempel und beten, es mögen auch ihnen Wunder geschehen.«
»Zweifelsohne hat der Tempel von ihren Opfergaben profitiert«, ergänzte Akitada trocken.
Seimei bedachte seinen Herrn mit einem scharfen Blick. »Das wird wohl so sein«, pflichtete er ihm bei. »Es geht aber auch das Gerücht um, daß irgendwelche Dämonen seinen Leichnam verschlungen hätten. Man behauptet, Wahrsager hätten den Prinzen kurz zuvor hinlänglich gewarnt.«
»Wunder! Dämonen! Lächerlich. Gründliche Nachforschungen wären vonnöten gewesen.«
»Die hat es gegeben. Der Prinz war mit einer kleinen Gruppe von Freunden und Bediensteten dort erschienen, hatte den Schrein selbst aber allein und durch die einzig vorhandene Tür betreten. Eine Stunde lang ließ er die frommen Gesänge hören, während seine Begleiter draußen saßen, warteten und die Tür im Auge hatten. Als er seine Andacht beendet hatte und nicht herauskam, gingen seine engsten Freunde gemeinsam hinein. Sie fanden nur noch sein Gewand. Man rief die Mönche, und danach die Stadtwache und die kaiserliche Garde. Sie alle durchsuchten tagelang den Tempel und das gesamte Umfeld, von dem Prinzen aber fanden sie keine Spur. Schließlich ersuchten die Mönche den Kaiser, ein Wunder zu bestätigen, und er tat es.«
»Ich kann es trotzdem nicht glauben.« Stirnrunzelnd zupfte Akitada an einem Ohrläppchen. »Es muß eine vernünftige Erklärung geben. Ich frage mich, ob …«
Von draußen war ein heftiger Wortwechsel zu vernehmen.
»Das klingt nach Tora.« Mit wenigen Schritten war Akitada an der Verandatür, Seimei folgte ihm.
Im Hof standen sich zwei Männer gegenüber und stritten miteinander. Der eine war klein, noch keine dreißig, und der Schnurrbart in dem nichtssagenden Gesicht war kein merklicher Gewinn. Seine Kleidung aus schimmernder Seide und der Lackhut waren die Standessymbole eines Hofbeamten. Der andere war nicht viel älter, groß und muskulös, ein gut aussehender Bursche in schmucklosem Leinenhemd und einfachen Hosen.
Der Höfling hatte einen Stock erhoben und war im Begriff zuzuschlagen, als der andere ihn in drohendem Tonfall warnte: »Wage nicht, mich mit dem Zahnstocher da anzurühren, du Fatzke, sonst jage ich ihn dir durch die Kehle und bring dein dreckiges Mundwerk ein für allemal zum Schweigen.«
Der so Bedrohte zögerte. Dann lief er rot an und brachte nur stotternd vor Wut heraus: »Du … du … untersteh dich!«
Der Lange grinste fröhlich, weiße Zähne blitzten, und er machte einen Schritt auf seinen Gegner zu. Flugs wich der Höfling zurück und hielt nach Hilfe Ausschau. Sein Blick fiel auf Akitada und Seimei, die an die Balustrade der Galerie getreten waren.
»Was ist los, Tora?« rief Akitada an seinen Hausknecht gewandt, der ehemals Straßenräuber gewesen war.
Der junge Mann drehte sich um. »Ach, Ihr seid es!« Lachend winkte er ihnen zu. »Wir zwei hier hatten an der Ecke einen kleinen Zusammenstoß. Ich hatte es eilig, und er achtete nicht darauf, wo er ging. Ich habe mich sofort entschuldigt, aber der flotte Jüngling ist ausgerastet. Mit unflätigen Ausdrücken hat er mich belegt, und mit dem lächerlichen Stock da wollte er auf mich losgehen.«
»Ist dieser ungeschlachte Unmensch Euer Diener?« fragte der Fremde mit vor Zorn bebender Stimme.
»Ja. Habt Ihr bei dem Zusammenprall Verletzungen davongetragen?«
»Wie durch ein Wunder ist es nicht so weit gekommen. Aber ich erwarte, daß Ihr diesen Menschen unverzüglich bestraft und ihm in Zukunft den Zutritt in die Kaiserstadt untersagt. Ganz offensichtlich ist er unfähig, Personen von Stand zu begegnen, wie es sich gehört.«
»Er hat sich doch aber entschuldigt, oder etwa nicht?« gab Akitada zu bedenken.
»Was will das schon heißen. Wenn Ihr nicht so verfahrt, wie ich es wünsche, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Torwache zu verständigen.«
»Wir sollten die Angelegenheit lieber in Ruhe besprechen. Mein Name ist übrigens Sugawara Akitada. Und der Eurige?«
Der von Wuchs kleine Mann stellte sich in Positur und gab gewichtig zur Antwort: »Okura Yoshifuro. Sekretär im Amt für Adelsränge, im Ministerium für Zeremonial-Angelegenheiten, Rat im siebenten Rang zweiter Stufe. Ich bin auf dem Wege zu einer Unterredung mit dem Minister und kann nicht weiter Zeit mit untergeordneten Beamten verschwenden.«
Akitada zog die buschigen Augenbrauen hoch. Sein im allgemeinen freundliches, schmales, aristokratisches Gesicht nahm einen hochmütigen Ausdruck an. »Könnte es sein, daß Ihr den Vorfall dann lieber bei Kronrat Fujiwara Matosuke zur Sprache bringt, der ja Mitglied des Staatsrats ist? Er ist übrigens ein enger Freund von Tora und mir und wird sich gewiß für uns verbürgen.« Der andere wurde blaß vor Schreck. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, einen so hochgestellten Herrn wie ihn zu behelligen«, entgegnete er rasch. »Mag sein, ich habe etwas vorschnell gehandelt. Der junge Mann hat sich in der Tat entschuldigt, wie Ihr mir in Erinnerung gerufen habt. Und es gehört sich für einen Mann von Stand, Verständnis für die Gefühle einfacher Leute aufzubringen. Sagtet Ihr, Euer Name sei Sugawara? Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen, mein Herr. Hoffe bald wieder die Ehre zu haben.« Mit einer höflichen Verbeugung wandte er sich um und eilte so rasch davon, daß ihm sein lackierter Kopfputz über ein Ohr rutschte.
Tora wollte schon in schallendes Gelächter ausbrechen, doch Akitada räusperte sich vernehmlich und winkte ihn herein.
»Dem habt Ihr gezeigt, wer hier das Sagen hat«, meinte Tora grinsend, sowie die Tür hinter ihm zu war.
»Welcher Teufel hat dich geritten, dich mit einem Ministerialbeamten anzulegen?« schimpfte Seimei. »Damit machst du deinem Dienstherrn nichts als Ärger.«
Tora wehrte sich. »Sollte ich mich etwa von dem schlagen lassen?«
»Ja.« Seimei drohte ihm mit dem Finger. »Das wäre vernünftiger gewesen. Wie konntest du dich derart aufspielen? Denk immer daran, der größte Tautropfen ist stets der erste, der vom Blatt fällt.«
»Warum hattest du es eigentlich so eilig?« mischte sich Akitada ein.
»Oh.« Tora zerrte ein zusammengefaltetes Papier aus seinem Hemd und reichte es ihm. »Das war wegen diesem Brief da von Professor Hirata. Ein Junge brachte ihn Euch nach Hause, just als auch die Zimmerleute ankamen, um mit der Arbeit auf der Südveranda zu beginnen. Ich muß deswegen gleich wieder zurück, die sehen wie ein paar rechte Gauner aus.«
Akitada faltete das Schreiben auseinander, las es und sagte dann: »Gut, du kannst gehen. Ich kann nur hoffen, daß die Halunken auf Mutters Lieblingsveranda keinen Schaden anrichten. Und lauf langsam diesmal.«
Als Tora fort war, teilte er Seimei mit: »Ich bin zum Abendessen eingeladen. Ich weiß, ich hätte sie schon längst besuchen sollen, aber …« Seine Stimme verlor sich in Schweigen. Wie so oft schlug ihm sein Gewissen.
»Ein zu gütiger Mensch, der Professor.« Seimei nickte. »Ich werde nie die Zeit vergessen, als Ihr bei ihm wohntet. Wie geht es dem jungen Fräulein? Muß doch auch schon erwachsen sein.«
»Ja.« Akitada überlegte. »Etwa zweiundzwanzig wird Tamako jetzt sein. Seit dem Tode meines Vaters, als ich wieder zu uns nach Hause zog, habe ich sie nicht mehr gesehen.« Akitadas Mutter verwahrte sich strikt gegen jegliche Verbindung mit den Hiratas, doch wenn er ehrlich war, so durfte er es nicht nur auf Fürstin Sugawara und ihren Adelsstolz schieben, wenn er zögerte, Tamako zu begegnen. Viele Jahre waren ins Land gegangen, und er fürchtete, sie könnten sich nichts mehr zu sagen haben. Er fuhr fort: »Der Professor schreibt, er brauche meinen Rat. Er klingt besorgt. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« Er seufzte auf und erklärte: »Also los, Seimei, alter Freund, zurück an die Arbeit.«
Zwei Stunden später löschte Akitada sorgfältig die Tinte auf dem letzten Blatt seiner Stellungnahme zu den juristischen Verwicklungen des Falles und bemerkte: »Abgesehen von dem gehobenen Status der streitenden Parteien ist das ein relativ einfacher Rechtsstreit. Sehe ich es richtig, daß wir damit die komplizierteren Fälle abgearbeitet haben?«
»Ja. Da liegen noch an die zwanzig Vorgänge, aber alle harmloser Natur.«
»Wenn das so ist, dann dürfen wir uns einen frühen Feierabend gönnen. Laßt uns Schluß machen für heute.«
Die Sonne warf bereits schräge Strahlen über die grünglasierten Dächer der Regierungsgebäude, als Akitada auf seinem Weg zu den Hiratas die Nijo-Allee entlangging, vorbei an den roten Säulen des Suzakumon-Tores, das in die Kaiserstadt führte. Das Sonnenlicht blendete ihn, und er mußte sich seinen Weg gegen den stetigen Strom von Beamten und Schreibern bahnen, die ihrerseits auf dem Heimweg durch das Tor drängten.
Von diesem Suzakumon-Tor aus ging es auf die Suzaku-Allee, die sich bis zu dem zweistöckigen südlichen Tor der Hauptstadt, dem Rashomon-Tor, hinzog. Über ihre gesamte Länge säumten Weiden diese Straße, die durch einen künstlichen Wasserlauf geteilt wurde und an die sechzig Meter breit war. Ein nicht enden wollender Strom von Menschen, einheimischen und fremdländischen, gehobenen und niederen Standes, Fußgänger, Ochsenkarren und Reiter wälzte sich den ganzen lieben Tag lang durch diese Hauptverkehrsader. In Akitadas Augen war es die schönste Straße der Welt.
Nach Westen hin, der jetzt vor ihm lag, schirmte das blasse Grün von Laubbäumen im Frühlingskleid die Wohnviertel ab. Von dem Blickwinkel aus, den Akitada hatte, wirkte das Gebiet wie ein riesiger herrlicher Park, aber das täuschte. Den Nordwesten der Stadt hatte man ähnlich wie den Ostteil für die Paläste, Herrenhäuser und Villen der »besseren Leute« angelegt, für die großen Adelsfamilien, hochrangigen Hofbeamten und Angehörigen der Kaisersippe. Das gemeine Volk hingegen, die Märkte und Vergnügungsviertel waren in den südlichen zwei Dritteln der Stadt angesiedelt. Ohne ersichtlichen Grund hatten die Wohlhabenden begonnen, den westlichen Teil der Stadt zu meiden und waren in die östliche Hälfte, wenn nicht sogar aufs Land gezogen.
Ihre Palais und Villen waren abgebrannt oder dem Verfall anheimgegeben. In vielen der bescheideneren Häuser hatte sich übles Gesindel eingenistet. Das einzige, was hier gedieh, waren die Bäume und Sträucher. Nur einige wenige angesehene Familien wie die Hiratas wohnten noch in der Gegend und führten ein ruhiges, wenn auch isoliertes Leben.
Auf seinem Weg überquerte Akitada etliche Straßen; durch manche liefen Kanäle, über die einfache Holzbrücken führten, und er stellte fest, daß eine Reihe weiterer Häuser leer standen, die bei seinem letzten Besuch hier noch bewohnt waren. Er machte sich Gedanken, ob Tamako sicher genug war, wenn ihr Vater in der Universität und sie allein im Haus war.
Rein vom Äußeren her hatte sich an der Villa der Hiratas nichts geändert. Das Mauerwerk hatte die notwendigen Reparaturen erfahren, und zu beiden Seiten des Holztores standen immer noch die gigantischen Weiden. Eine sanfte Brise trug den Duft von Glyzinien über die Mauer. Akitada hatte das Gefühl heimgekehrt zu sein, und seine Augen streiften die schwungvoll geformte Inschrift über dem Eingangstor: »Weidenklause«.
Ein weißhaariger, vom Alter gebeugter Diener öffnete und empfing ihn mit einem breiten, zahnlosen Lächeln. »Master Akitada! Willkommen! Kommt herein, kommt herein!«
»Saburo! Es tut gut, Euch wiederzusehen. Wie steht’s mit der Gesundheit?«
»Nun ja, der Rücken schmerzt, und die Knie sind steif. Und auch mit dem Hören geht’s schlecht.« Der alte Mann begleitete seine Rede mit den entsprechenden Gesten, lächelte ihn aber sogleich wieder fröhlich an. »Doch ehe ich mich auf und davon mache, muß das alles erst noch viel schlechter werden. Jeder andere würde mich um mein Leben hier beneiden. Und nun seid Ihr gekommen, seid als berühmter Mann zurückgekehrt.«
»Von berühmt kann keine Rede sein, Saburo, aber vielen Dank für das herzliche Willkommen. Wie geht es dem Professor?«
»Recht gut. Er erwartet Euch in seinem Arbeitszimmer. Aber erst möchte Euch die junge Herrin sprechen. Sie ist im Garten.«
Akitada konzentrierte sich beim Gehen auf die moosbedeckten Trittsteine. Er freute sich sehr über den warmen Empfang durch den alten Diener. Wieder mit »Master Akitada« angeredet zu werden, so als wäre er der Sohn der Familie, ließen die glücklichen Jahre lebendig werden, die er hier als Jüngling verbracht hatte.
Als er um die Ecke des Hauses bog, entdeckte er eine schlanke junge Frau inmitten der blühenden Büsche, und fröhlich rief er: »Guten Abend, kleine Schwester!«
Tamako drehte sich um und sah ihn mit großen Augen an. Nur für einen kurzen Augenblick glitt ein Schatten über ihr hübsches Gesicht, schon schenkte sie ihm ein bezauberndes Lächeln und kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zugelaufen, um ihn zu begrüßen.
»Lieber Freund! Willkommen daheim! Welche Freude für uns. Und wie vornehm und gut du in diesem edlen Gewand aussiehst!« Sie blieb vor ihm stehen, ließ ihre Hände in den seinen ruhen und strahlte ihn an.
Akitada war fasziniert. Sie hatte sich entzückend herausgemacht, hatte ein schmales Gesicht, einen langen, geschmeidigen Hals und eine grazile Figur.
»Wie kommt es, daß du nicht längst verheiratet bist?« platzte er heraus.
Sie löste ihre Hände und blickte zur Seite. »Vielleicht hat bisher nicht der Rechte um mich angehalten«, erwiderte sie leichthin. »Und wie ich höre, bist du auch noch allein.« Wieder sah sie lächelnd zu ihm auf und fuhr fort: »Gehen wir hinüber zur Laube? Ich habe da ein Anliegen, ehe du mit Vater sprichst. Und dann muß ich mich ums Abendesssen kümmern und mich zur Feier des Tages umziehen.«
Sie gingen nebeneinander her. Sie trug einen einfachen Kimono aus Kattun, und um die Taille hatte sie einen weiß gemusterten Obi, eine Art breiten Gürtel, gebunden. Er stand ihr blendend, etwas Hübscheres konnte sie gar nicht anziehen, fand er, und er sagte es ihr frei heraus.
Nur andeutungsweise neigte sie den Kopf, errötete leicht und dankte ihm für das Kompliment. Sie wies auf eine kleine Laube mit einem Spalier, um das sich blühende Glyzinien rankten. In dicken Trauben hingen die blauvioletten Blüten aus dem Blätterdach herab.
Akitada schaute sich um. Wohin er auch blickte, überall grünte und blühte es. Die Luft war erfüllt von unterschiedlichsten Düften und von Bienengesumm. Sie ließen sich auf zwei Matten nieder, die auf dem Bretterpodest lagen, und der süße Geruch der Glyzinien umfing ihn.
»Mit Vater stimmt etwas nicht«, sagte Tamako.
»Und was?«
»Ich weiß es nicht. Er will es mir nicht sagen. Vor etwa zwei Wochen ist er von der Universität spät nach Hause gekommen, ging sofort in sein Arbeitszimmer und lief dann die ganze Nacht hin und her. Am nächsten Morgen war er bleich und völlig übermüdet und nahm so gut wie nichts zu sich. Ohne ein Wort der Erklärung machte er sich auf den Weg zur Arbeit, und seitdem geht es jeden Tag so. Ich kann ihn fragen, so oft ich will, entweder behauptet er, alles sei in Ordnung, oder er herrscht mich an, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Und du weißt so gut wie ich, daß das eigentlich nicht seine Art ist.« Sie blickte ihn geradezu flehentlich an. »Ich könnte mir denken, er hat dich zum Abendessen eingeladen, um dich ins Vertrauen zu ziehen. Falls er mit dir offen spricht, hätte ich gern, daß du mich wissen läßt, was geschehen ist. Die Ungewißheit macht mich krank.«
Sie sah blaß und besorgt aus, dennoch schüttelte Akitada den Kopf. »Wenn er sich geweigert hat, dir zu erzählen, was ihn bedrückt, wird er auch mir kaum etwas sagen. Und falls er es doch tut, bittet er mich vielleicht, es für mich zu behalten.«
Verzweifelt sprang sie auf. »Männer sind unmöglich! Also wenn er nicht von sich aus spricht, dann mußt du ihn irgendwie dazu kriegen, und wenn er dich auf Geheimhaltung einschwört, mußt du dir eben etwas einfallen lassen. Jedenfalls, wenn du mein Freund sein willst!«
Beunruhigt erhob sich auch Akitada. Er nahm sie bei den Händen und blickte ihr ins Gesicht. »Hab Geduld, kleine Schwester«, sagte er ernst. »Selbstverständlich werde ich alles tun, um deinem Vater zu helfen.«
Beide sahen sich fest an; er fühlte sich wie im Traum. Dann wandte sie sich leicht errötend ab und löste ihre Hände aus den seinen. »Ja, natürlich. Verzeih. Ich weiß, daß ich dir vertrauen kann. Doch jetzt muß ich mich ums Essen kümmern, und Vater erwartet dich.« Sie verneigte sich vor ihm und ging mit raschen Schritten davon.
Er stand da und schaute ihr nach, verfolgte, wie ihre zarte Gestalt um die Ecke bog und verschwand. Die Begegnung hatte ihn verwirrt und aufgewühlt. Langsam ging er aufs Haus zu.
Der Professor empfing ihn in seinem Studierzimmer. Das befand sich in einem separaten Pavillon mit Blick auf Bambusstauden und einen Steingarten, in dem große Steine wie Inseln in sorgsam geharktem Kies lagen. Die Wände des Raums waren voller Bücher. Hier hatte Akitada mit dem Professor zusammen über Seminarvorbereitungen gesessen. Der Raum war ihm so vertraut, als wäre er bei sich zu Hause. Doch der freundliche alte Herr, der ihm ein zweiter Vater gewesen war, hatte sich erschreckend verändert und war vorzeitig gealtert.
Sie hatten sich kaum begrüßt und niedergelassen, da kam Hirata auch schon zur Sache. »Mein Lieber«, begann er, »verzeiht, wenn ich Euch so plötzlich hergebeten habe, wo Euch die Amtsgeschäfte gewiß mehr als genug in Atem halten.«
»Ich habe mich über Eure Einladung riesig gefreut. In Eurem Haus habe ich mich stets wohl gefühlt, und Tamako hat mir gefehlt. Sie ist richtig erwachsen geworden und sieht entzückend aus.«
»Ja, Tamako. Ihr habt offensichtlich schon miteinander gesprochen.« Hirata seufzte, und Akitada fiel erneut auf, wie erschöpft der Professor aussah. Er hatte ihn von jeher als großen, hageren Mann in Erinnerung mit langer Nase, Spitzbart und markanten Backenknochen. Jetzt war in Haar und Bart mehr Grau als Schwarz, und die Linie zwischen Nase und Mundwinkeln wurde von tiefen Furchen betont. »Ich fürchte, ich bin ziemlich barsch zu dem armen Kind gewesen«, räumte er ein, »aber ich habe es nicht über mich gebracht, sie mit der Sache zu belasten. Wie auch immer, allein kann ich das Problem nicht lösen, und so baue ich auf unsere Freundschaft und ersuche Euch um Rat.«
»Ihr ehrt mich mit Eurem Vertrauen, lieber Professor.«
»Das also ist geschehen: Ihr werdet Euch daran erinnern können, daß wir uns einmal im Monat abends zur Andacht im Tempel des Konfuzius versammeln. Alle Fakultätsangehörigen tragen bei diesem Anlaß die offizielle Amtstracht. Da wir tagsüber unterrichten, hängen wir schon morgens unsere Roben und Kopfbedeckungen im Vorraum der Halle an die Haken und legen sie dann erst kurz vor der eigentlichen Zeremonie an. Ihr wißt doch, welchen Raum ich meine?«
Akitada nickte.
»An besagtem Abend war ich in Eile. Ein Student hatte mich aufgehalten, und ohne größere Sorgfalt warf ich mein Gewand über, setzte den Hut auf und begab mich an meinen Platz. Die feierliche Handlung mochte vielleicht halb vorüber gewesen sein, als mich ein Rascheln in meinem Ärmel ablenkte. Ich stellte fest, daß im Futter ein Zettel steckte. Da es dort zu dunkel zum Lesen war, nahm ich ihn mit nach Hause.«
Hirata stand auf und ging zu einem der Regale. Aus einem lackierten Kästchen holte er ein Stück Papier und reichte es Akitada mit leicht zitternder Hand.
Der glättete den zerknitterten Zettel. Die Notiz darauf war kurz und auf üblichem Papier geschrieben, die Handschrift ordentlich, aber nicht besonders ausgeprägt. »Während Männer wie Ihr sich ihres Lebens erfreuen, reicht es bei anderen nicht, den Hunger zu stillen. Wenn Euch daran gelegen ist, daß Eure Schuldhaftigkeit nicht offenbar wird, bezahlt Eure Schulden. Eine erste Summe von tausend Käsch wäre in Ordnung«, las er.
Akitada blickte auf und meinte: »Offenbar will jemand einen Eurer Kollegen erpressen.«
»Danke, daß Ihr das auch so seht.« Hirata lächelte verkrampft. »Ich war zu der gleichen Schlußfolgerung gekommen. Vermutlich hat sich jemand von der Fakultät eines schweren … Vergehens schuldig gemacht, und ein anderer verlangt von ihm Geld dafür, daß darüber Stillschweigen bewahrt wird. Abgesehen von der schokkierenden Tatsache, daß es zwei meiner Kollegen offensichtlich in erschreckendem Maße an moralischen Wertvorstellungen mangelt, die sie doch gerade unseren Studenten vermitteln sollen, hätte es schwerwiegende Folgen, wenn die Angelegenheit ruchbar wird. Um die Universität steht es ohnehin nicht gut.«
»Ihr überrascht mich.«
Hirata rutschte unruhig hin und her. »Ja. Studenten sind an private Studieneinrichtungen abgewandert, und man hat uns unsere Mittel beschnitten. Ein Skandal könnte die Schließung der Universität zur Folge haben.« Er blickte auf seine verkrampften Hände. »Seit ich den Zettel gefunden habe, zerbreche ich mir den Kopf, was man tun könnte. Und jetzt setze ich all meine Hoffnungen auf Euch. Ihr seid bisher immer Übeltätern auf die Schliche gekommen. Wenn Ihr herausfindet, wer der Erpresser ist und wer sein Opfer, könnte ich mit ihnen reden und die Sache so ins reine bringen, daß der Ruf der Universität keinen Schaden nimmt.«
»Ihr überschätzt meine Fähigkeiten.« Akitada legte den Zettel zwischen ihnen auf den Fußboden. »Ihr habt die Handschrift nicht erkannt?«
Hirata schüttelte den Kopf. »Nein. Bislang nicht. Ich habe an ihr nichts besonders Auffälliges entdecken können. Aber die Wortwahl als solche zeugt von einem gewissen Bildungsgrad des Schreibers. Der Begriff ›Schuldhaftigkeit‹ ist gehobener Stil.«
»Könnte ein Student die Notiz verfaßt haben?« überlegte Akitada laut.
»Schwer zu sagen. Studenten betreten eigentlich nie den Vorraum des Tempels. Die Handschrift weist zwar keine besonderen Eigenheiten auf, aber es gibt durchaus Kollegen, die beim besten Willen keine Schönschreiber sind. Außerdem kann man seine Handschrift verstellen.«
»Ja, stimmt. Eintausend Käsch sind eine beachtliche Summe für jemanden mit bescheidenem Einkommen, und dabei geht es nur um eine Anzahlung. Egal, um was für ein Vergehen es sich handelt, harmlos kann es nicht sein, sonst würde man nicht einen solchen Preis fordern. Wer könnte einen Eurer Kollegen derart unter Druck setzen, und wer wäre in der Lage, so viel zu zahlen?«
»Ich kann es mir bei keinem von ihnen vorstellen. Es ist mehr, als selbst ich aufbringen könnte.«
»Was habt Ihr bisher unternommen?«
»Herzlich wenig. Hätte ich jemand fragen sollen, ob seine Handlungsweise Grund zur Erpressung hätte geben können?« Er strich sich über das zerfurchte Gesicht. »Es ist schrecklich. Ich habe mich dabei ertappt, daß ich alle nur noch mit Argwohn beobachtete. Vor jedem Arbeitstag hat mir gegraut. Als ich dann gar nicht mehr aus noch ein wußte, kamt Ihr mir in den Sinn. Ich kenne sie alle zu lange und kann keinen mehr ohne Voreingenommenheit betrachten. Ihr aber als Außenstehender habt eine andere Sicht auf die Dinge.«
»Nur kann ich mich schwerlich auf dem Universitätsgelände herumtreiben und unauffällige Fragen stellen.«
»Richtig. Aber ich sehe da eine Möglichkeit. Kann zwar sein, daß Ihr Euch nicht freimachen könnt, doch wir haben eine offene Stelle für einen Dozenten für Staatsrecht. Der Mann, der das bisher gemacht hat, ist vor drei Monaten gestorben, und der Posten ist noch immer vakant. Und das Beste an der Sache wäre, daß Ihr mit mir zusammenarbeitet und wir uns regelmäßig sehen könnten, ohne Verdacht zu erregen. Wäret Ihr für eine gewisse Zeit abkömmlich und könntet eine Gastdozentur übernehmen? Selbstverständlich würden wir Euch bezahlen.«
Vor Akitadas innerem Auge tauchte das Bild seiner Amtsstube im Ministerium auf, der Stapel langweiliger Akten, das sauertöpfische Gesicht von Minister Soga, seinem Vorgesetzten. Hier bot sich eine Möglichkeit zur Flucht aus den gehaßten Archiven, eine Möglichkeit, sich mit einer kniffligen Angelegenheit zu befassen. »Ich denke schon, vorausgesetzt, der Minister stimmt zu«, gab er zur Antwort.
Hiratas Gesicht hellte sich auf. »Was das betrifft, bin ich so gut wie sicher. Ach, mein Lieber, ich kann Euch gar nicht sagen, wie mich das erleichtert. Ich war wirklich mit meiner Weisheit am Ende. Haben wir die Erpressergeschichte erst mal vom Tisch, wird es die Universität noch ein paar Jahre machen.«
Akitada blickte seinen alten Freund und Mentor forschend an. »Euch ist doch klar«, sagte er zögernd, »daß ich nicht gewillt bin, bei der Aufdeckung eines Verbrechens etwaige Beweise zu unterschlagen.«
Hirata reagierte überrascht. »Ich verstehe. Ja, natürlich. Ich weiß, was Ihr meint. Ihr habt völlig recht. Das wäre nicht richtig. Ihr müßt das tun, was Ihr für richtig haltet. Ich weiß einfach nicht, was da vorgeht.«
Stille trat ein. Akitada war sich nicht sicher, ob der Professor ihm nicht vielleicht zu rasch zugestimmt hatte und ob er das Wörtchen »weiß« nicht merklich betont hatte. Schließlich sagte er: »Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, nur fürchte ich, daß ich einen schlechten Lehrer abgebe. Ihr dürft nur Eure unbedarften Studenten zu mir schicken, sonst fliegt unser Plan gleich auf.«
»Das kommt gar nicht in Frage, mein Lieber«, rief Hirata fröhlich. »Ihr wart mein bester Student, und inzwischen habt Ihr im Staatsdienst mehr praktische Erfahrung gesammelt, als ich es je vermocht habe.«
Jemand klopfte zaghaft an die Schiebetür, die zum Flur führte. »Vater?« Tamakos Stimme war eine willkommene Unterbrechung. »Das Essen ist angerichtet. Kommt ihr bitte in die vordere Halle?«
»Natürlich, sofort. Wir haben lange genug in Erinnerungen geschwelgt«, rief Hirata. Sie hörten Tamakos Schritte verklingen.
»Soll ich Eure Tochter über die Sache unterrichten, oder tut Ihr das?« fragte Akitada.
Hirata war gerade beim Aufstehen und rückte seinen Kimono zurecht. Er hielt inne. »Muß das sein? Ich würde sie da lieber heraushalten«, erwiderte er.
»Sie macht sich große Sorgen um Euch; wenn sie die Wahrheit wüßte, wäre es für sie leichter«, entgegnete Akitada.
Sie traten gemeinsam in den Flur. »Ihr wart meiner Tochter schon immer sehr zugetan, nicht wahr?« fragte Hirata wenig folgerichtig.
»Ja, schon immer.«
»Dachte mir’s doch. Wir werden ihr unser Vorhaben beim Abendessen gemeinsam erklären.«
Eine Woche später schritt Akitada als frisch ernannter Dozent in die ehrfurchtgebietende Universität, in der er selbst seine Ausbildung erhalten hatte.
Die Kaiserliche Universität oder daigaku nahm ein Gelände ein, das vier städtischen Häuserblocks Platz geboten hätte. Sie lag südlich vom noch weitläufigeren Kaiserpalast, dem daidairi. Ihr Haupttor befand sich an der Mibu-Allee, genau gegenüber vom shinsenen, dem Göttlichen Frühlingsgarten, einem ausgedehnten Park, in dem der Kaiser mit seinem Gefolge von Edelleuten des öfteren Sommerfeste feierte.
Es war ein sonniger Morgen im Blütenmonat. Akitada stand unter dem Tor und schaute auf die vertrauten Mauern und Torbögen, auf die ziegelgedeckten Dächer der Vorlesungshallen, Bibliotheken und Schlafsäle, die friedvoll unter einem milden Himmel und sich im Winde wiegenden Kiefern lagen. Eine unbestimmte Beklemmung ergriff ihn; es erging ihm wie dem erwachsenen Sohn, der nie ganz das Gefühl der Unzulänglichkeit verliert, vergleicht er sich mit seinen Eltern. Akitada geriet wieder in den Bann unbeugsamer Autorität und geistiger Überlegenheit, die von der Bildungsstätte ausgingen und ihn als jungen Studenten stets beeindruckt hatten.
Er verdrängte die Anwandlung von Minderwertigkeitsgefühlen und schaute sich um. Zeichen einsetzenden Verfalls fielen ihm auf. Unkraut wuchs an ausbesserungsbedürftigen Mauern. Weiß getünchter Lehm war in Brocken abgefallen, so daß Holzstreben, Füllschotter und geflochtenes Astwerk sichtbar wurden. Die gestampften Wege hatten Schlaglöcher, in denen Pfützen standen, und auf den geschwungenen Dächern der Hallen und Durchgangstore fehlte so manche Dachpfanne.
Eine Gruppe von neun oder zehn schwatzenden Studenten, alle wohl zwischen sechzehn und neunzehn, in den vorgeschriebenen dunklen Baumwollkimonos, kam ihm entgegen und verstummte unversehens. Die jungen Leute streiften ihn im Vorbeigehen mit unsicheren Blicken. Dann rannten sie los und bogen in den Hof der Verwaltungshalle ein.
Alles hat sich doch nicht geändert, dachte Akitada und lächelte. Die Studenten waren noch immer zu Albernheiten aufgelegt.
Er konnte sie nicht tadeln. Der Tag versprach schön zu werden, und da war es doch besser, etwas Lustiges auszuhecken, als in einem dumpfigen Klassenzimmer zu hocken. Der Himmel sah aus wie blaßblaue Seide, und die dunkelgrünen Kiefern und silberblättrigenWeiden hoben sich dagegen wie zarte Stickerei ab. In einem der Höfe rief unaufhörlich ein Kuckuck.
Akitada hatte sich beizeiten eingefunden, er wollte sich etwas umsehen und vielleicht auch diesem oder jenem neuen Kollegen begegnen. Während er durch die schmale Pforte in den Vorhof des Konfuziustempels ging, kam ihm der Gedanke, dem Schutzheiligen aller Bildung seine Verehrung zu erweisen. Außerdem hatte Professor Hirata die erpresserische Notiz gerade hier entdeckt.
Nach dem grellen Sonnenschein draußen wirkte die Tempelhalle auf Akitada recht düster, doch bald gewöhnten sich seine Augen daran, und er konnte die lebensgroßen, aus Holz geschnitzten Statuen erkennen. Der große Meister Konfuzius nahm die Mitte eines Podestes ein. Ihm zur Seite standen die ihn begleitenden Weisen aufgereiht. Akitada verbeugte sich tief vor »Meister Kung«, wie Seimei ihn nannte, und erbat Stärkung seiner Geistesgaben für die Erfüllung der ihm neu erwachsenden Aufgaben.
Die Lehrverpflichtung, die nur Deckmantel für seine Nachforschungen sein sollte, gewann in seiner Vorstellung beängstigende Ausmaße. Er würde sich mindestens so gut wie ein Professor vorbereiten müssen, wenn er vor aufgeweckten jungen Burschen seine wahren Absichten verbergen wollte. Zwischendurch hatte er schon daran gedacht, das Vorhaben aufzugeben, aber dann waren ihm die staubigen Archive im Ministerium schrecklicher vorgekommen als die bohrenden Fragen der Studenten.
Irgendwo wurde eine Tür geschlossen, er blickte sich um, sah aber niemand. Das Bildnis des Weisen schaute ihn unter schweren Augenlidern an, eine Hand lag streichelnd auf dem langen Bart. Man konnte wohl nur im Alter weise werden. Wer war er schon, um sich als Lehrer auszugeben? Eine solche Vorspiegelung falscher Tatsachen paßte gewiß nicht zur Sittenlehre des Konfuzius.
Wieder mußte er an die Archive denken. Zu seiner Verwunderung hatte es nicht die mindeste Schwierigkeit bereitet, sich zeitweilig von seinen Pflichten im Ministerium freistellen zu lassen. Seine Exzellenz, der Justizminister, hatte ihn nur gleichgültig angeblickt und ihm erklärt, daß er an der Universität dringlicher benötigt würde als in seinem Bereich hier. Er hatte unter der Hand zu verstehen gegeben, daß er die anfallenden Aufgaben auch ohne Akitada bewältigen könnte.
Akitada holte tief Luft, verneigte sich noch einmal vor dem Meister und bat ihn um Vergebung. Dann ging er durch die Halle in den kleinen Vorraum unter den Dachtraufen. Hier waren die Haken, an denen die Professoren ihre Amtsroben hingen, die sie bei feierlichen Anlässen anlegten. Es gab eine Verbindungstür zur Tempelhalle, und ihr gegenüber führte eine Tür nach draußen. Akitada öffnete sie und sah unmittelbar vor sich den großen Vorhof. Allerdings wurde dieser Zugang von Buschwerk verdeckt, das um eine Kieferngruppe wuchs. So konnte jedermann ungesehen den Raum betreten oder verlassen.
Er wandte sich um und betrachtete die Reihe der Haken an der Wand. Ein Hüsteln ließ ihn zusammenzucken.
Die Tür zur Tempelhalle hatte sich einen Spalt geöffnet, und ein Mann mit langem Gesicht und buschigen Augenbrauen lugte um die Ecke.
»Ah! Ein Besucher!« rief er und trat in den Vorraum. »Darf ich meine geringen Dienste anbieten und dem ehrenwerten Herrn den Tempel zeigen?« Er war von schlaksiger Gestalt und mittleren Alters. Er verbeugte sich sehr viel tiefer als es Akitadas einfache Kleidung erfordert hätte. Angetan war der Mensch mit einem zerknautschten, unordentlich gegürteten Kimono aus schlecht gefärbtem Kattun. Auf dem Kopf trug er einen Haarknoten, aus dem dichte Strähnen nach allen Seiten sprangen. Akitada hielt ihn für einen Diener.