Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel «Inner Voyage of a Stranger» im gleichen Verlag.
2., vollständig überarbeitete Ausgabe 2020. Copyright © 2002-2020 by Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung und sonstiger, auch auszugsweiser, Verwertung bleiben vorbehalten.
Übersetzung aus dem Englischen von Marion Schweinzer.
Illustrationen © Aleš Leskovšek, Ljubljana.
Umschlaggestaltung © Saskia Vandrey.
Umschlagphoto © Ralf Hohaus 2002, verwendet mit freundlicher Genehmigung.
Dieses eBook ist nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, es zu vervielfältigen, weiterzuverkaufen oder zu verschenken. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorinnen und Autoren an ihren Werken und erwerben Sie legale Kopien. Vielen Dank!
ISBN eBook: 978-3-948378-05-9
ISBN gebundenes Buch: 978-3-948378-04-2
www.kristkeitz.de
Vorwort
1
Leben
1. Was soll ich tun oder wie soll ich es tun?
2. Wahrnehmung und Handlung
3. Wahrnehmung
4. Vollständige Wahrnehmung
5. Der Geist bewegt sich nicht
6. Denken und Fühlen
7. Wie die Gesellschaft die Trennung erzeugt hat
8. Meditation im täglichen Leben
9. Leben ohne Entscheidungen
2
Grundlegende Konzepte des Lebens
1. Keine Trennung der Sinne
2. Warum nehmen Sie wahr?
3. Was ist vollständige Wahrnehmung?
4. Was bedeutet «konzipieren»?
5. Der Konflikt zwischen Denken und Fühlen
6. Leben
3
Wahrnehmung
1. Der Unterschied zwischen Körperwahrnehmung und Fühlen
2. Der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Erkennen
3. Das Zentrum der Wahrnehmung
4. Wahrnehmung und das Erkennen von Wahrnehmung
5. Nehmen Sie Tatsachen oder Bewegungen wahr?
4
Meditation
1. Meditation und Erleuchtung
2. Kultur und Meditation
3. Warum wollen Sie erleuchtet werden?
4. Lügen für einen guten Zweck
5
Wirklichkeit
1. Was ist Wirklichkeit?
2. Was ist Wahrheit?
3. Was ist Bescheidenheit?
4. Was ist Respekt?
5. Was ist Glück?
6. Was ist Liebe?
7. Was ist Harmonie?
8. Was ist Vorstellungskraft?
9. Was ist Freiheit?
10. Was ist ein Problem?
11. Was ist Verstehen?
12. Was ist ein starker Geist?
13. Was ist Angst?
14. Was ist ein Name?
6
Mensch sein
1. Was sind Sekten?
2. Was ist Bildung?
3. Die Funktion der Sprache
4. Die Grenzen der Sprache
5. Wie das Gehirn funktioniert
6. Das Gute in jemandem sehen
7. Das Leben ist nicht umkehrbar
8. Freundschaft ist ein Feind des Friedens
9. Zweifel und Vertrauen
10. Menschlichkeit und Menschsein
7
Richtig und falsch
1. «Was tue ich?» oder «Wie tue ich es?»
2. Richtig und falsch
3. Gleich oder verschieden
4. Mein Englisch oder Ihr Englisch
5. Objektivität und Subjektivität
6. Tun, was Sie sagen, oder sagen, was Sie tun
7. Schlussfolgerungen statt Entscheidungen
8. Führen und Manipulieren
9. Kommunikation und Wirklichkeit
10. Erziehung und Konventionen
11. Gute und schlechte Verfassung
8
Gewohnheiten
1. Entscheiden
2. Illusion
3. Interpretieren
4. Kann man zwei Dinge gleichzeitig tun?
5. Warum suchen Sie Entspannung?
6. Wie man neue Konzepte versteht
7. Genauigkeit mit und ohne Kontrolle
8. Stark sein
9. Zuhören
10. Dimensionen des Raums
11. Der Unterschied zwischen Meditation und Philosophie
12. Wissenschaft, Psychologie und Meditation
13. Gegen die Gesellschaft leben
14. Kultur, Zivilisation und Industrialisierung
15. Fragen und Antworten sind dasselbe
16. Der eine Punkt im Unterbauch
17. Es gibt keine universellen Prinzipien
18. Technik
19. Nicht-Atmen
Über den Autor
Lord Yehudi Menuhin war nicht nur der herausragendste Geigenvirtuose des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch ein großer Humanist. Sein Hauptanliegen galt den Fragen der Erziehung und den Problemen Jugendlicher. Aus diesem Grund gründete er das Projekt MUSE, das Kultur und Harmonie in Schulen tragen will, die unter Gewalt und Diskriminierung leiden. Als Lord Yehudi Menuhin von Ki-Aikido, dem «Weg zur Harmonie mit dem Universum», hörte, wollte er herausfinden, ob diese Kunst ihm bei seinem Vorhaben helfen könnte. Hier ist sie nun, die erste Ki-Aikido-Lektion des achtzigjährigen, im Geist aber jung gebliebenen und immer noch wissbegierigen Geigenvirtuosen …
Aus dem Videofilm The Beginner (1996)
von Alain de Halleux, Brüssel
Ich kam im Jahr 1977 nach Europa, um Ki-Aikido zu unterrichten. In mehreren Jahrzehnten seitdem habe ich Ki-Aikido nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Südamerika und Südafrika verbreitet.
Schon immer habe ich, bevor ich in meinen Lehrgängen zu den Techniken des Aikido kam, unterrichtet, wie man leben soll, aber es verlangt tägliches Nachdenken und viel Einsicht, wenn man das Leben verstehen will.
Es genügte nicht, wenn ich meinen Schülern nur während der Lehrgänge etwas erklärte, um ihnen die mannigfaltigen Aspekte des Lebens nahezubringen. Ich habe mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben, damit die Menschen es so oft wie möglich lesen können, ihr ganzes Leben lang.
Das Leben ist ein in sich abgeschlossenes Ganzes, und alles, was der Mensch tut, hängt davon ab, wie er das Leben begreift. Wenn der Mensch sein eigenes Leben nicht richtig zu begreifen vermag, werden seine Handlungen immer unvollständig bleiben.
Dieses Buch ist nicht nur für meine Schüler konzipiert, sondern für jeden, der das Leben verstehen möchte.
Es hätte nicht erscheinen können ohne die freundliche Unterstützung von Fiona Gordon, Jose Lacey und Marion Schweinzer.
Kenjiro Yoshigasaki
Brüssel, im Februar 2002
Finden Sie es nicht auch schwierig, herauszubekommen, wie Sie leben sollen? Niemand scheint ja auf diese Frage eine gute Antwort zu haben. Sie können versuchen, einen Weg zu finden, der Ihren Vorlieben oder Ihrer Persönlichkeit entspricht, aber Sie wissen nie, ob das wirklich der richtige Weg ist. Also geben Sie vielleicht irgendwann auf und sagen: «Es ist ja unmöglich, den einzig richtigen Weg im Leben zu finden.»
Wenn es auf eine Frage keine Antwort gibt, sollten Sie die Frage selbst genauer anschauen. Tatsächlich beinhaltet die Frage «Wie soll ich leben?» die Frage «Wie soll ich etwas tun?» Diese Frage – «Wie soll ich etwas tun?» – taucht erst auf, wenn Sie wissen, was Sie tun sollten. Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun sollten, stellt sich auch die Frage nach dem Wie nicht. Kaum jemand weiß aber, was er oder sie tun sollte, und das ist das wahre Problem im Leben. Wenn Sie genau wissen, was Sie tun sollten, können Sie immer auch die Frage nach dem Wie lösen.
Was Sie in Ihrem Leben tun sollten, ist natürlich nicht leicht herauszufinden. Denken Sie nur an all die schwierigen Zeiten, die Sie durchlebt haben! Vermutlich wussten Sie im Einzelfall zunächst nicht, was Sie tun sollten. Aber sobald es Ihnen einmal klar war, konnten Sie immer auch einen Weg finden, es zu realisieren – auch wenn es vielleicht nicht immer der beste oder einfachste Weg war. Die eigentliche Frage ist also nicht: «Wie soll ich etwas tun?», sondern: «Was soll ich tun?»
Fast jeder versucht mithilfe seiner Gedanken oder Gefühle zu entscheiden, was er tun sollte. Wenn Sie anfangen über diese Frage nachzudenken, geraten Sie schnell durcheinander und bekommen Kopfschmerzen. In dem Versuch, die Entscheidung mithilfe von Gefühlen zu treffen, beginnen Sie zu zweifeln oder handeln gar verantwortungslos. Irgendwann gehen Sie vielleicht sogar zu einer alten Frau mit einer Kristallkugel und bitten sie, für Sie zu entscheiden. Aber es ist unmöglich, sie über alles im Leben zu befragen.
Deswegen geben Sie es irgendwann auf, sich zu fragen, was zu tun sei, und beginnen sich zu fragen, wie Sie das tun sollten, was Sie bereits entschieden haben, tun zu wollen. So müssen Sie bereits getroffene Entscheidungen nicht mehr hinterfragen und das Leben geht ohne Störungen weiter. Sie können Vergnügen darin finden, Ihre Art und Weise zu verbessern, etwas zu tun. Solange dieses Vergnügen andauert, können Sie die grundlegenden Fragen des Lebens vergessen und das Leben geht seinen gewohnten Gang. Dennoch bleibt die wahre Frage noch immer bestehen: «Was soll ich jetzt in meinem Leben tun?» Wenn Sie sich vor dieser konkreten Frage verstecken, bleibt irgendwo in der Tiefe Ihres Lebens immer ein Schatten oder ein Zweifel. Das schwächt Ihren Geist und Ihren Körper. Dagegen können Sie zwar körperliche oder geistige Übungen machen, aber darum geht es ja nicht. Die wahre Frage – «Was soll ich in meinem Leben tun?» – bleibt.
Um die Antwort auf eine Frage zu finden, muss man zunächst die Frage genau betrachten. Die Frage «Was tun im Leben?» enthält drei wesentliche Wörter: «was», «tun» und «Leben». Den Unterschied zwischen «wie» und «was» habe ich bereits erklärt. Jetzt gilt es, «tun» (oder «handeln») und «Leben» zu klären. Wie hängen Tun und Leben zusammen? Die meisten Menschen verstehen das Leben nicht richtig, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, sich Gedanken darüber zu machen, was sie tun sollten, und wie. Aber wenn Sie zu einem Ergebnis kommen wollen, gilt es, bis zu den Wurzeln vorzudringen. Deswegen müssen Sie lernen, das Leben als Wahrnehmen und Tun bzw. Handeln zu verstehen. «Tun» ist leicht zu verstehen. Sie tun immer irgendetwas. Selbst wenn Sie nichts tun, nehmen Sie etwas wahr. Es ist unmöglich, überhaupt nichts wahrzunehmen. Wenn Sie Schmerzen haben oder unglücklich sind, wollen Sie das nicht wahrnehmen, aber können nichts dagegen tun, dass Sie es wahrnehmen. Deswegen trinken viele übermäßig, wenn sie Probleme haben oder unglücklich sind. Sie wollen sich betrinken, damit sie ihre Probleme oder ihr Unglücklichsein nicht mehr wahrnehmen. Aber was Sie in dieser Situation auch tun, Sie nehmen Ihre Probleme oder Ihr Unglücklichsein noch immer wahr. Irgendetwas nehmen sie immer wahr.
Das Leben besteht also aus Tun (Handeln) und Wahrnehmen. Da die Wahrnehmung nicht so einfach zu kontrollieren ist, versuchen Sie für gewöhnlich, das Handeln unter Kontrolle zu bekommen. Die Frage lautet dann: «Wie kann ich meine Handlungen kontrollieren?» Dazu müssen wir zunächst verstehen, worauf unsere Handlungen basieren. Für gewöhnlich macht man das Denken und Fühlen zur Grundlage seines Lebens, weil man glaubt, sie seien ursächlich für das Handeln. Wenn Sie sich fragen, was Sie tun sollen, beginnen Sie nachzudenken, um zu einer Entscheidung zu kommen. Haben Sie sich entschieden, dann versuchen Sie, sich gemäß Ihrer Entscheidung zu verhalten. Wenn Sie durch Nachdenken zu keiner Entscheidung kommen, geben Sie das Nachdenken auf, nicht aber das Entscheiden. Dann versuchen Sie mithilfe von Gefühlen oder instinktiv zu einer Entscheidung zu kommen, aber noch immer versuchen Sie, etwas zu entscheiden.
Das ist das klassische Konzept, dem die meisten Leute folgen. Sofort jedoch fallen zwei Schwierigkeiten auf: Die erste Schwierigkeit ist das Sichentscheiden selbst. Jeder weiß, wie schwierig es im Leben ist, eine wichtige Entscheidung zu treffen. Das ist völlig normal, weil Sie beim Nachdenken zuerst die Wirklichkeit mithilfe von Worten interpretieren müssen. Die verbale Interpretation der Wirklichkeit ist nie das gleiche wie die Wirklichkeit selbst. Ihre Gedanken geben also nicht exakt die Wirklichkeit wieder, was eine perfekte Entscheidung unmöglich macht. Irgendwann müssen Sie sich aber zu einer Entscheidung durchringen, auch wenn Sie noch Zweifel haben. Sie brechen also den Denkprozess ab, denn solange Zweifel bestehen, denken Sie weiter. Wie brechen Sie diesen Prozess ab? Wenn Sie sich selbst genau beobachten, bemerken Sie, dass Sie dabei etwas in Ihrem Körper ein klein wenig anspannen, meist den Mund oder den Nacken. Darum sind Leute, die viele wichtige Entscheidungen treffen müssen, oft sehr verspannt.
Sie wollen aber diese Anspannung vermeiden, also geben Sie die Vorstellung, eine Entscheidung durch Denken zu erreichen, auf und versuchen es ohne zu denken, also instinktiv oder nach Gefühl. So vermeiden Sie zwar die Anspannung, haben allerdings keine Gewähr, dass die getroffene Entscheidung die richtige ist.
Wenn Sie sich für etwas entschieden haben, müssen Sie es aber noch körperlich ausführen. Hierbei könnten zwei Probleme auftauchen. Zum einen könnte die Handlung Details enthalten, die nicht durch die Entscheidung beschrieben werden. Schließlich liegt die Entscheidung in verbaler Form vor und kann die Handlung per se nie gänzlich beschreiben, und so können während ihrer Ausführung weitere Fragen auftreten, die die Ausführung beeinträchtigen. Zum anderen kann es sein, dass Ihr Körper nicht der Entscheidung entsprechend handeln will. Betrachten Sie nur die vielen Leute, denen es schwerfällt, mit dem Rauchen oder Trinken aufzuhören. Auch wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben, will Ihr Körper nicht immer mitmachen.
Angesichts so vieler Schwierigkeiten ist es nachvollziehbar, wenn Sie die Idee, eine Entscheidung zu treffen und dieser dann zu folgen, anzweifeln. Das ist der Beginn der Meditation. Nach und nach könnten Sie dann merken, dass Handlungen gar nicht auf Entscheidungen basieren. Durch diese Erkenntnis werden Sie sich sehr erleichtert, frei und entspannt fühlen. Das Leben scheint nun sehr einfach zu sein. Für gewöhnlich nennt man dies Erleuchtung.
Aber was bestimmt dann das Handeln? Nicht Denken oder Fühlen bestimmen das Handeln, sondern die Wahrnehmung. «Was soll ich tun?» ist damit gleichbedeutend mit «Welche Handlung soll geschehen?». Unbewusst glauben Sie, Handlungen würden vom Denken, also von Entscheidungen abhängen. Also versuchen Sie zu entscheiden, was Sie tun sollen. Und das ist der grundlegende Fehler. Handlungen hängen nämlich nicht vom Denken, vom Fühlen, von Emotionen etc. ab. Handlungen werden durch unsere Wahrnehmung in jedem einzelnen Augenblick bestimmt.
Leider haben wir die Angewohnheit, Dinge getrennt wahrzunehmen. Wenn Sie nur einen Gedanken wahrnehmen, wird die Handlung in diesem Augenblick von diesem Gedanken bestimmt. Nehmen Sie nur eine Emotion wahr, wird die Handlung in diesem Augenblick von dieser Emotion bestimmt. Also denken Sie irrigerweise, Ihr Handeln basiere auf diesem Gedanken oder dieser Emotion. Aber Handlungen, die auf dem Denken, und Handlungen, die auf Emotionen basieren, können einander widersprechen, und dies bewirkt einen inneren Konflikt und damit eine Anspannung. Ein Beispiel: Sie sehen ein schönes neues Auto und bemerken eine gewisse Emotion in Ihrem Körper der Art «Ich würde mir gern ein schönes Auto kaufen.» Kurz darauf nehmen Sie einen Gedanken wahr, der Ihnen sagt: «Das ist doch reine Geldverschwendung, also sollte ich es nicht kaufen.» Nun schwanken Sie zwischen dem Wunsch und dem vernünftigen Gedanken hin und her, und Sie befinden sich in einem Konflikt (Abb. 1).
Abb. 1
Wenn Sie aber alles zusammen als eins wahrnehmen, entsteht aus dieser Wahrnehmung von selbst eine Handlung (Abb. 2).
Abb. 2
Sie benötigen zum Handeln keine Entscheidung. Da Ihre Handlung aus der vollständigen Wahrnehmung entsteht, ist es eine vollständige Handlung. Die einzige Schwierigkeit liegt darin, diese vollständige Wahrnehmung andauernd aufrechtzuerhalten.