ISBN: 978-3-96045-116-7
1. Auflage 2020
© 2013 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude
Lektorat: Annette Freudling
Titelgestaltung: Ricarda Alexander-Egge, unter Verwendung eines Selbstporträts von Ottilie Reylaender, um 1930, © Worpsweder Kunststiftung Friedrich Netzel
Alle Rechte vorbehalten.
Hinter Tila verbirgt sich die Malerin Ottilie Reylaender (1882– 1965), die so begabt war, dass ihr Lehrer, der niederdeutsche Schriftsteller Johann Hinrich Fehrs, sie dem Worpsweder Fritz Mackensen als Schülerin empfahl. So kam sie als knapp Sechzehnjährige von Itzehoe ins Künstlerdorf am Moor. Zusammen mit Clara Westhoff und Paula Becker, die sie schwesterlich betreute, lernte sie das Malen, nahm die Worpsweder Landschaft und Menschen in ihre ersten Bilder, voller Ausgelassenheit, Eigenart und Mut. Doch schon bald machte sie sich auf den Weg: Ausgedehnte Reisen führten sie nach Paris, München und Rom.
1910 verlässt sie Europa, bricht auf ins große Abenteuer. In Mexiko wartet Bogdan von Suchocki auf sie, polnischer Glasmaler der Münchener Bohème. Siebzehn Jahre lang streift sie mit ihm durch die mexikanischen Städte und über die Hochebenen. Inmitten von Armut und Revolution entdeckt sie das Licht, die Farben, die ihr immer heilig waren. Oft ist sie wochenlang allein unterwegs in den Sierras, voller Vertrauen in sich und ihre Bilder. La vida! Malerin ein Leben lang.
Heiner Egge nähert sich dieser besonderen, sehr eigenständigen Frau und Künstlerin mit einem Blick wie durch ein Kaleidoskop. Kunstvoll verflechtet er Zeiten, Orte und Schicksale zu einer überraschenden und geheimnisvollen Reise auf Ottilies Spuren.
„Ich sage, das, was wir suchten, liegt anderswo.“
Tetjus Tügel
Als meine Urgroßmutter Ottilie aufbrach, die Malerei zu begreifen, die Kunst und die Welt zu erobern, war sie nicht allein. Meine Mutter erzählt manchmal von ihr und was es bedeuten kann, wenn jemand sagt: Ich will verreisen, aber meine Farben nehme ich mit.
Pinsel oder Kochlöffel – das war die Entscheidung, die sie am Anfang ihres Lebens treffen musste. Das ist über hundert Jahre her.
Sie ist bis Mexiko gekommen; sie hat das Licht gehabt und ein farbiges Leben.
Meine Urgroßmutter, von allen nur Tila genannt, lässt mich nicht mehr los.
Ich heiße wie sie, und ich weiß genau: Sie hätte auch mit dem Kochlöffel gemalt.
Irdische Güter beschwerten sie nicht, die letzten Jahre lebte sie von immer weniger, lud sich Besuch in ihre hohen Berliner Atelierräume, pflegte die Kakteen und die mexikanischen Figuren, die bei ihr wohnten. Als sie starb, war sie verwundert: Jetzt, sagte sie, könnte doch alles noch einmal anfangen. Dabei lächelte sie.
Ich trage den gleichen Namen wie sie; ich möchte ihr nachreisen, alles immer wieder anfangen lassen, dazu aber brauche ich einen Mitreisenden. Ich werde ihn finden, ich werde ihn einladen, ihm auch verraten, wo der Schlüssel versteckt ist.
Ich heiße Tila und bin die Urenkelin, Tochter der Tochter ihres einzigen Sohnes, den sie zärtlich Bodzito nannte, Bodzito, das Findelkind, ein großes Geschenk.
Am Ende eines langen Lebens hat man viele schöne Bilder.
Als ich vor sechs Wochen, es war der 29. April, hier eintraf, klebte ein kleiner Zettel an der Tür: Bin gleich Zurück, stand darauf. Sonst nichts. Aber ich wusste ja, wo ich suchen musste, ging hinter die Hütte und hob den Blumentopf hoch.
Der Schlüsselanhänger war aus Messing, blankgerieben. Ein archaischer Frauenkörper. Heimatlos. Er konnte alles sein: Mutter, Indiomädchen, Gesche mit der Hand vor den Augen, Göttin, Glücksbringerin, Ahnenfigur. Ich nahm ihn an mich. In den hohen Kiefern, die bis an die Dorfwolken heranreichten, saßen die Tauben und gurrten, als ob sie mich nicht sähen.
Ich öffnete das Vorhängeschloss, nahm den Riegel von der Krampe. Erst hinter dieser Brettertür befand sich die eigentliche Haustür, das Entree, fein gearbeitet mit Ornamenten und einem kreisrunden Fensterloch in der Mitte, rot umrandet.
Drinnen war nicht aufgeräumt. Bin gleich Zurück. Ich nahm alles in Augenschein. Linkerhand: die Couch mit der indianischen Decke. Zeitungen lagen darauf, Papiertaschentücher, eine abgeknickte Blume (Nelke oder so), jede Menge Bleistifte, viele davon abgebrochen. Warum musste ein Mensch so viele Bleistifte besitzen? Und brach sie dann ab, und hatte keinen Anspitzer? (Ich habe mein Taschenmesser immer dabei.) Außerdem: ein Wollknäuel, ein Stempel ohne Kissen, Zigaretten, einzelne Streichhölzer, ein Taschentuch mit Sonne und Mond, Hammer und Nägel, ein Kamm, ein Briefblock und ein großer blauer Locher, und das alles auf der Decke mit den mexikanischen Mustern. Liegen konnte auf dieser Couch niemand mehr. Darüber befand sich ein winziges, vergittertes Fenster, in der Ecke ein Regal mit Büchern, mit Muscheln und Steinen.
Rechterhand: ein kleiner runder Tisch. In einer Keramikvase Tulpen, die auf Wasser warteten. Zwei zierliche Korbstühle, einer mit einem Kissen, das man schnell zum Lieblingskissen erwählen könnte. Auf dem Fußboden das Telefon, weinrot, aber nicht mehr mit Wählscheibe.
In der Mitte des kleinen Raumes: die Leiter. Sie führte steil nach oben, wohin, sah man nicht. Die Luke war knapp bemessen. Weiße Federbetten quollen über den Rand.
Es roch nach Tila, nach frisch geschnittenem Zedernholz; ich erinnerte mich.
Als ich mich an der Leiter vorbeigeschlängelt hatte, fand ich in der Küche, die sich im hinteren Raum des winzigen Hauses verbarg, eine Schale mit frischem Obst. Selbst Feigenkakteen hatte sie hineingelegt. Ich berührte alles nur mit den Augen.
In den Schubladen lagen die Tuschkästen, kleine Skizzenblöcke. Das Gästebuch musste erst noch angelegt werden.
Ach, ich war müde. Obwohl ich nur eine kurze Reise hinter mir hatte: immer nur nach Nordosten. Die letzten Kilometer war der Zug, den sie hier Moorexpress nannten, durch flachen Bodennebel gefahren. Umsteigen hatte ich nicht müssen.
Vorsichtig fing ich an, die Leiter hinaufzuklettern. Die Sprossen waren rund und aus hartem Holz. Ich schob den Kopf durch die Luke. Das Bett war halb aufgeschlagen.
Bin gleich zurück. Ich horchte, aber alles blieb still. Vorsichtig trat ich den Rückzug an, schweigend. Mit wem auch hätte ich reden sollen?
Halb elf; ich wollte nicht mehr warten. Bevor ich die Hütte verließ, klebte ich einen kleinen Zettel unter den anderen: Bin zum Weyerberg.
Der Weyerberg ist gar kein Berg, sondern nur ein nach oben gewölbtes Feld, schlechter, sandiger Boden. Der Mais würde dort nicht sehr hoch wachsen. Früher baute man auf solchen Äckern Roggen und Kartoffeln an, oder überließ das Feld Sandbirken, die sich von alleine aussäten.
Sandig war der Weg, auch gabelte er sich. Alle Wege tragen hier Dichternamen, weil sie manchmal von Dichtern begangen wurden in dunstiger Ferne. Aber zum Glück sind es Feldwege geblieben, den Göttern sei es gedankt. Wer mir entgegenkam, den grüßte ich.
Zeit meines Lebens bin ich ein Jäger gewesen. Ich habe dadurch einen anderen Blick erhalten: Ich sehe, wo der Hase läuft. Wer das Gras geglättet hat in der Nacht. Wo die Lerche brütet.
Der Tag wurde warm. Mir war nach einer Pause, einer großen Mittagspause. Mochte mich ausstrecken, lang machen, nahm die mittlere der Bänke. Warm war das Holz in meinem Rücken.
Ich schlief ein, ohne zu merken, dass ich schlief.
Als ich erwachte, sah ich auf einer Kuppe ganz in der Nähe einen riesigen Steinhaufen, der sich aus dem Mittagslicht herausschälte, aber gleichzeitig in großer Gefahr schien, jeden Moment in sich zusammenzustürzen. Er erinnerte mich an die bröckelnden Tempelbauten der Azteken, der Mayas, der Inkas. Ein Volk fraß das andere. Auch wenn ich nie dort gewesen war, kam er mir in den Sinn, der Vogel, der die Flügel ausbreitete und sich zur Sonne erhob. Darunter lag das Torfmoor, lagen die blinkenden Wasserläufe, lag die immerwährende Schweigsamkeit der Bewohner.
Ich richtete mich von meiner Bank auf. Mir war sehr warm geworden. Viel zu nah an die Sonne geraten, verbrannt das Gesicht. Hoher Mittag auf dem Weyerberg.
Ein Schatten war schnell gefunden, zumindest ein Halbschatten. Etwas unterhalb des Monuments lagen ein paar Steinblöcke, als wenn jemand dort eine Treppe hatte bauen wollen. Dorthin setzte ich mich, allein mit meinen Gedanken, die wie kleine Frauen und Männer auf mich zuliefen.
Manchmal fällt der Blick in etwas Tieferes, und man wundert sich. Dass ich Tila kennenlernte, war auch so ein Wunder. Sie hatte ihren Zug verpasst, und ich war eine halbe Stunde zu früh für meinen. Es gab nur eine Bank in dem Wartehaus neben dem Umsteigebahnhof. Sie hatte einen viel zu großen Koffer dabei. Ich las in einem seltsamen Buch.
Wir sprachen nichts miteinander, saßen aber auf derselben Bank und wollten in dieselbe Richtung. Es fing an zu regnen, ganz leicht an zu regnen.
Wir waren die einzigen Wartenden, jeder auf seine Weise. Wir hörten den Regen fallen. Ganz langsam, fast zeitlos, drehte ich meinen Kopf.
Ich muss sie wohl sehr intensiv und auf meine eigenartige, nicht näher zu beschreibende Art angeguckt haben, denn nach etwa zehn Minuten sagte sie: „Wenn Sie vorhaben, in den nächsten Wochen eine Anzeige aufzugeben, unter ‚Kontakte‘ oder auch ‚Verloren/Gefunden‘, dann könnte ich Ihnen jetzt schon mal sagen, wie ich heiße.“
„Genau das hatte ich vor“, antwortete ich so schlagfertig, dass sie meine Überraschung nicht einmal im Ansatz erkennen konnte.
„Und wie soll die Anzeige lauten?“
„Oh, ich bin noch dabei, sie zu formulieren ...“
Da lachte sie laut auf, dass ihre gesprenkelten Augen leuchteten, und sagte: „Das will ich Ihnen dann mal ersparen. Also, ich heiße Tila, bin 39 Jahre alt und will meine Urgroßmutter besuchen.“
„Urgroßmutter?“
„Ja, wen sonst? Aber vielleicht“, fügte sie hinzu, „habe ich mir ein bisschen zu viel Zeit damit gelassen.“
Nun hätte ich meinen Namen sagen müssen, aber auf die Idee kam ich gar nicht. Wer war ich denn überhaupt? Lieber fragte ich, indem ich auf ihren Koffer blickte: „Was ist eigentlich da drin?“
„Ach, nur etwas Papier und Farben, er wiegt gar nichts. Das ist alles, was ich von meiner Urgroßmutter besitze, der Rest hängt in den Museen der Welt.“
„Ihre Urgroßmutter war Künstlerin?“, wagte ich zu fragen.
„Sie hat die Welt gesehen. Und was sie sah, hat sie gezeichnet und gemalt. Die Farben waren ihr heilig. Ottilie hieß sie.“
Ich nickte, hatte nun aber gar keine Augen mehr für das Gepäckstück, sondern nur für die Urenkelin, wie sie dasaß und auf die Uhr sah. Halb drei am Nachmittag, Wartehaus irgendwo hinter Gnarrenburg. Nette Augen, wilde kastanienfarbene Korkenzieherlocken, olivgrüne Jacke über verwaschenen Jeans, mexikanische Umhängetasche, eine Feder hinterm Ohr. Zu ihren (unseren) Füßen dieser zu große, rindslederne Koffer, zerkratzt und voller Furchen.
Sie roch nach Zedernholz, nach weit, weit weg. Ich daneben: unrasiert, ohne Alter, ohne Namen.
„Bekommt Ihre Urgroßmutter oft Besuch?“, wollte ich noch fragen, aber da fuhr unser Zug schon ein, der Moorexpress von Bremervörde nach Osterholz. Er bestand nur aus einem einzigen Wagen.
Den Koffer trug sie mit zwei Fingern.
Wir setzten uns möglichst weit voneinander entfernt, aber doch so, dass uns nichts entging. Draußen war nicht viel zu sehen. Schnurgerade Straßen, mit ebenso schnurgeraden Gräben daneben. Die Häuser waren klein, boten aber ein gutes Alibi, um interessiert zu tun. Da und dort stand eine Mühle in den Vorgärten. Das Gras war frühlingsgrün, erstes Vieh auf den Weiden. Die Bahnübergänge waren meistens unbeschrankt.
Einmal rief sie zu mir rüber: „Wo kommen Sie eigentlich her?“
„Aus Wesselburen“, rief ich leise zurück.
Da hob sie die Augenbrauen und hielt mich für einen Lügner.
„Das glaube ich Ihnen nicht.“
„Warum nicht?“
Sie schob die Oberlippe über die Unterlippe und wurde nachdenklich. „Dort wurde meine Urgroßmutter geboren, 1882. Am 19. Oktober, nachmittags um drei, der Himmel war bedeckt.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Ottilie Reylaender, Tochter des Königlichen Obergerichtsvollziehers Arthur Reylaender und seiner Frau Auguste Sophie. Getauft am 28. desselben Monats in der St.BartholomäusKirche zu Wesselburen in Holstein, nahe der Nordsee.“
„Aha“, antwortete ich und begrüßte den Zufall, der nun, in diesem aus der Zeit geratenen Moorexpress, zwischen uns Platz genommen hatte. „Dann stehen wir ja im gleichen Taufregister, Ihre Frau Urgroßmama und meine Wenigkeit.“
Nun kam Tila, ohne den Koffer zu vergessen, doch zu mir auf die Holzbank. Der Zug ging in eine unübersichtliche Kurve und gab die entsprechenden Signale.
„Wissen Sie was?“ Dabei berührten ihre Korkenzieherlocken fast meine aufmerksamen Ohren. „Ich erzähle Ihnen mal was. Denn es gibt keine Zufälle.“
Draußen schoben sich offene Pferdewagen über das gnadenlos flache Land. Auch Fußgänger waren unterwegs, Torfbauern und Leute mit Rucksäcken, aus denen die Beine von Staffeleien herausragten.
Tila fing an zu erzählen. Der Moorexpress fuhr bald nur noch im Schritttempo, damit wir, die einzigen Mitreisenden, genügend Zeit fänden.
„Alles, was ich von ihr weiß, habe ich nur gehört, oder gesehen auf Papier und Leinwand. Aber ich trage ihren Namen, und manchmal stelle ich mir vor, ich könnte ihr Leben noch einmal leben. Station für Station, Wartehaus für Wartehaus.“
Sie wickelte sich eine Locke um den Finger und dachte eine Weile nach, bevor sie fortfuhr: „Ich habe sie nicht mehr kennengelernt, sie starb vor 45 Jahren. Aber meine Mutter erinnert sich, wie Ottilie mit ihr an der Hand durch die Ausstellungen ging. Da war sie selbst noch ein kleines Mädchen. Manchmal hob meine Urgroßmutter meine Mutter auch hoch, stellte sie auf einen Stuhl, so hat man mir erzählt, damit sie die Bilder besser sehen konnte.“
Wieder verfiel sie ins Grübeln, zog an der Locke, seufzte schließlich. „Sie war keine einfache Frau. Man hat mir gesagt, dass sie im Lieben und Verachten gleich stark war.“
Dann hatten wir Worpswede erreicht. Der Zug bremste. Der Bahnhof wirkte wie eine Theaterkulisse.
Jetzt hatte sie es sehr eilig, auszusteigen, irgendwo hinzukommen. Mag sein, dass eine Vorstellung auf sie wartete, ein Kunstspaziergang, ein Werkstattgespräch. Sie nahm den Koffer, gab mir die freie Hand. Dann sagte sie einen Satz, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde: „Wenn Sie mal Zeit haben“, sagte sie, „der Schlüssel liegt unterm Blumentopf, hinter der Hütte neben der Käseglocke.“ Und weg war sie.
Ich winkte ihr nach. Das heißt: Ich wischte über die geschlossene Scheibe. Ich sah, dass sie es sah, und da wusste ich, dass wir uns wiedersehen würden.
Ichselbstfuhrweiternach Osterholzunddachte, währendich meiner dortigen Arbeit nachging (ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv für nicht mehr benötigte Tagebücher, Handschriften und Briefe) beständig an diese seltsame Frau, die mich zu sich eingeladen hatte. Ich mochte ihre Hände, wie sie auf ihren Knien lagen. Feuerland ist abgebrannt, antworteten diese Hände.
Schon am nächsten Tag nahm ich mir unbezahlten Urlaub. Das Archiv für nicht mehr benötigte Tagebücher, Handschriften und Briefe muss solche Eigenmächtigkeiten ihrer Mitarbeiter akzeptieren – auch, wenn sich dann die Großbriefe und Päckchen stapeln.
Ich bin so froh, dass es unser Archiv gibt, in Osterholz, in den nicht mehr benötigten Werkstätten gleich hinter der Mühle. Täglich rette ich Aufzeichnungen, Milliarden von Buchstaben vor dem Reißwolf und den Müllverbrennungsanlagen. Wer stirbt, hat selten Kinder und Erben, die das aufheben, was der Tote hinterlassen hat: über Tausende von Seiten, Tausende von Tagen, Erinnerungen an sich selbst, Briefe, die nie abgeschickt wurden. Wir nehmen alles, denn jedes Archiv ist das Gewissen, das Gedächtnis eines Volkes.
Einundzwanzig Minuten dauerte die Fahrt.
Ich wusste genau, wo die Käseglocke lag. So nennen die Touristen einen Rundbau, einen jurtenförmigen Musentempel. Die Käseglocke hat einen Ruf, weit über die Grenzen ihres Dorfes hinaus. Vom Rathaus kommend geht man die Bauernreihe hinauf, überquert die Findorff, gerät in die Bergstraße, kommt in die Lindenallee und biegt dann beim kleinsten der Bäume (er ist nachgepflanzt) links ab.
Es ist ein seltsamer, feierlicher Ort. Im Garten hat sich der Erbauer des Kuppelwohnhauses vor langer Zeit eine Traumwelt gemauert, aus lauter Fehlbränden, die er in den Ziegeleien ergatterte, aus geschmolzenem Glas, das die Glasbläser beiseite warfen. Auch Pflanzen wachsen hier, exotische Pflanzen, die sich ein wenig verlaufen und ihren Namen vergessen haben.
Fünfzig Schritte daneben steht eine Hütte unter hohen Kiefern, eine Hütte, die nur aus einem Dach besteht, das an beiden Seiten in den Boden wächst. Und hinter der Hütte: der Blumentopf.
Ich schlafe normalerweise nicht in fremden Betten. Aber dieses Mal ist es anders. Ich krieche in ihr Bett, weil ich sie, falls sie in der Nacht zurückkommt, überraschen will.
Es gibt wenig Licht dort oben auf dem engen, spitzwinkligen Boden. Ich taste mich unter das Federbett, dann stoßen meine Füße gegen etwas Hartes. Ich weiß sofort, dass es der Koffer ist. Und ich weiß, dass Tila nichts dagegen hat, wenn ich hineinsehe.
Jetzt bräuchte ich eine Taschenlampe, denke ich noch, da sehe ich sie schon vor mir baumeln, auf Nasenhöhe. Am Bindfaden, eingehakt. Ich pflücke sie ab und lasse es aufleuchten.
Die Verschlüsse schnappen wie kleine Mausefallen.
Auf dem Boden des Gepäckstückes schichten sich Zeichnungen übereinander. Blei auf sehr altem, eierschalfarbenen Papier. Es sind Zeichnungen von Kindern, die Schwierigkeiten haben, still zu sitzen, während eine junge Künstlerin sie zeichnet, mit noch nicht ganz freier Hand. Die Zeichnerin war vielleicht nur wenig älter als ihre Modelle. Es werden ihre Geschwister gewesen sein oder Kinder, mit denen sie spielte.
Ich drehe die Blätter um. Sie sind signiert mit O.R.
Und dann ist da ein Stück Papier, liniert und nachlässig aus einem Schreibheft herausgerissen, und damit bin ich gemeint. Die Handschrift ist noch ganz frisch. Die Tinte kaum getrocknet. Im zitternden Licht der Taschenlampe lese ich:
Wer diesen Koffer öffnet, sollte sich Zeit nehmen und sich vor allem fragen, warum er das tut. Es ist nicht einfach, sich in ein anderes Leben hineinzubegeben. Vielleicht kommt man nicht wieder hinaus.
Mir wird viel zu warm im fremden Federbett. Gegenstände fallen auf das Dach, wahrscheinlich sind es Kiefernzapfen.
Ich werfe die Decke fort. Jetzt wird die Batterie schwach. Das Licht flackert und erlischt.
Ein Windgeht. Die Zweigeder Kiefernwischenüberdassteile Ziegeldach, als wollten sie mir etwas mitteilen. Wartehaus für Wartehaus. Ich schließe meine Augen, um die Dunkelheit besser ertragen zu können. Der Schlüssel liegt unter dem Blumentopf. Ihr schmaler Rücken, die olivenfarbene Jacke. Stündlich geht der Zug. Die kleinen Hände auf ihren Knien, auf dem straffen Stoff der steingewaschenen Jeans. Ich höre das Signal, mitten in dieser Nacht, ein lang dahingezogener Pfiff. Station für Station.
Es würde mich nicht wundern, wenn das Häuschen, in dem ich liege, jetzt anfinge zu zittern. Wenn eine schwere Hand, die ich nicht kenne, es ankoppelte an eine Lokomotive. Eingehüllt in eine Dampfwolke, die sich schon bald mit dem Bodennebel vermischt, setzten wir uns in Bewegung.
Wieder fallen Zapfen auf das Dach, Sternschnuppen können es ja nicht sein; die würden Löcher in die Ziegel brennen. Mit dem Ellenbogen stoße ich an den Koffer. Nur etwas Papier und Farbe, er wiegt gar nichts.
Als ich am Morgen erwache, sind mir die Hände eingeschlafen. Ich brauche viel, sehr viel Zeit. Unten in der Küche blubbert die Kaffeemaschine. Ich ziehe die Luft ein, der Tag kann kommen.
In der Küche ist niemand; nur der Kaffee ist inzwischen durchgelaufen.
Ich trete vor die Hütte. Unsere beiden Zettel kleben noch an der Tür. Der Himmel ist weiß zwischen den Kiefern, die Sonne ein Fettfleck. Die Vögel fallen sich gegenseitig in ihren Gesang. Darüber ziehen in beträchtlicher Höhe die Schreie der Gänse, die von da nach dort unterwegs sind. Die Sonne gewinnt an Macht.
Niemand da.
Da fällt mein Blick auf den Koffer. Er steht, zur Abreise bereit, vor der Hütte. Das Rindsleder glänzt. Mir klopft das Herz.
Es riecht nach Kiefern, nach Zedern. Die Axt steckt noch im Stamm. Harz tränt an der Schnittstelle.
Ich frühstücke draußen, an einem kleinen selbstgebauten Tisch aus Backsteinen und einem kurzen breiten Brett. Ich schenke mir die erste, die zweite Tasse Kaffee ein, lecke mir die Marmelade von den Fingern und blättere in dem Buch, das ich im Bücherregal gefunden habe.
Es ist die Magisterarbeit einer jungen Kunsthistorikerin. Ich bin ihr dankbar für ihre Arbeit; ich werde auch ihr eine Tasse Kaffee einschenken und ein Brötchen auftoasten. Vielleicht mag sie Orangenmarmelade, die bittere, so wie ich. Ja, da steht alles noch einmal, was mir Tila bereits erzählt hat: „Ottilie Reylaender, Tochter des Königlichen Obergerichtsvollziehers Arthur Siegfried Waldemar Reylaender und seiner Frau Auguste Sophie, wurde am 19. Oktober 1882
in Wesselburen (Holstein) nahe der Nordsee geboren.“
In den Kiefern sitzt ein Häher. In diesen Momenten entgeht mir nichts.
Ich weiß eine winzige Stadt. Dorthin kamen die reichen Bauern aus der Marsch, wenn sie ihr Vieh verkaufen und ihren Frauen neuen Schmuck schenken wollten. Wesselburen heißt das Nest. Ich habe dort ein paar Verwandte wohnen. Die können weit zurücksehen. Sie wissen über alle Geburten Bescheid.
Wir können uns an das Datum ganz genau erinnern, flüstern meine Urgroßeltern mir zu. An jenem Tag nämlich wäre fast der Dachreiter von der St.BartholomäusKirche gestürzt. Weil ein Sturm herrschte, der über die Nordsee herankam und unterwegs viel Kraft gesammelt hatte. – Aha, sage ich, ein Sturm. Übers Wattenmeer. Da hat er viel Platz, sich zu sammeln.
Ja, meine Verwandten sind bestens im Bilde, wer mit wem und wer dazugehört und wer nur zugereist ist. Einer wie ich hat diesbezüglich keine Schwierigkeiten. Er hat Eltern,
die schon immer dort wohnten, Großeltern, die aus dem Nachbardorf kamen. Einem wie mir kann man vertrauen, egal, was ich tue, was aus mir wird, immer ist da jemand, der sagt: Ich habe Ihren Großvater noch gekannt. Mit Ihrem Vater habe ich Skat gespielt. Ihre Mutter, das war eine Gute. Man wird geboren, wo man geboren wird. Manchen ist dieser Ort eine lebenslängliche Heimat, anderen wiederum nur eine flüchtige Bekanntschaft. Wie der Samen, der im Gefieder eines Vogels steckt.
Ottilie kam erst im Bauch ihrer Mutter in den Marktflecken. Sie war das zweite Kind ihrer Eltern; ihr sollten noch fünf weitere Geschwister folgen. Viel Geld verdiente der Vater nicht. Aber er sorgte dafür, dass seine Kinder eine gute Schulbildung erhielten. Er selbst stammte aus einer ostpreußischen Pfarrer und Lehrerfamilie. Dort wusste man, was Bildung war. Die Mutter, eine geborene Hantelmann, kam aus einer, wie man sagte, kultivierten Offiziersfamilie aus Stade. Sie war eine, im Gegensatz zum herzlichen und offenen Vater, eher kühle und strenge Frau. Verschlossen wie ihre Tochter.
Wesselburen ist ein gottverlassenes Nest. Dort hatte es einmal einen Dichter gegeben, Christian Friedrich Hebbel, Krischan gerufen, für den sich niemand interessierte. Denn die Leute, die zum Handeln in den Flecken kamen, lasen keine Gedichte und gingen auch nicht ins Theater. Also floh jener Dichter, zuerst nach Hamburg und später nach Wien, wo er berühmt wurde, aber viel zu früh starb.
Ich weiß eine winzige Stadt auf einem künstlichen Hügel im flachen Land. Auf diesen Hügel stellte man ein Kreuz und baute darunter eine Kirche mit einem gewaltigen Dach. Alle Wege und Straßen führten auf dieses Dach zu. Geschäfte und Handelskontore siedelten sich rundum an, Kneipen und Gasthäuser, ein Ausspann und das sagenhafte Hotel der Madame Nathalie, die nur Katzen darin duldete und doch immer auf den einzigen Kater wartete, dem sie Vertrauen schenken konnte.
Ich blättere weiter. „Über Reylaenders Kindheit ist wenig bekannt“, lese ich. „Von insgesamt sieben Geschwistern war sie das zweite Kind ihrer Eltern. Die Schwestern und Brüder wurden das Thema ihrer frühesten Zeichenversuche ...“
Die Reylaenders wohnten in der Nähe des Katzenschlosses. Im Garten hatten sie einen Taubenschlag. Der Vater züchtete Brieftauben, die er dann manchmal in einen Korb tat und mit ihnen über Land ging. Wenn er sie freiließ, waren sie viel schneller zu Hause als er.
Seine Arbeit erledigte er gewissenhaft, doch ohne große Freude. Er war seinem Staat treu, seinem Kaiser. Er war ein Teil der Obrigkeit. Die Leute, zu denen er ging, waren oft noch ärmer als er selbst. Für seine Familie sorgte er, solange er lebte. Es ist früher Sommer, später Frühling: Es blüht, was blühen kann. Ottilie ist zweieinhalb. Sie trägt eine Krone aus Papier und malt sich mit Bleistiften einen Baum und noch einen; dann schließt sie die Augen und macht Kritzelkrakel, und noch einmal Kritzelkrakel; sie ist sehr gewissenhaft und
ordentlich in dem, was sie macht.
Wenn der Herbst kommt, wird sie schon eine Laterne tragen können. Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht ... An der Hand des Vaters geht sie am Katzenschloss vorbei. Die Katzen blicken gelangweilt aus den Fenstern, lecken sich die Pfoten. Sieh, sagt der Vater, die tun nur so, als sähen sie uns nicht.
Da weiß schon das kleine Kind, dass Katzen alles sehen. Die Hand des Vaters ist ein bisschen zu warm, aber loslassen will man sie auch nicht. Und da ist ja auch schon der Südermarkt, wo die Fische verkauft werden, die silbrigen, mit denen man nicht sprechen kann. Und dann geht’s in die Österstraße, da steht die Kirchspielvogtei, ein respektables Gebäude, vollgestapelt mit den Ordnern, in denen sich die Gesetze wiederfinden, die Protokolle, die Steuerbescheide, die Erlasse und Strafbefehle. Lauter Akten, schlafendes Papier, das nur noch manchmal gefährlich wird.
Hier spukt der Dichter der winzigen Stadt. Immer wieder taucht er auf, will seine Tagebücher zurückbringen, sie unter der Treppe der Kirchspielvogtei verstauen. Als junger Mensch hat er hier gearbeitet und sein geringes Leben gespürt. Man muss fortgehen und wieder zurückkommen. Dann ist man jemand.
Ottilies Vater beruhigt ihn, lässt das Fenster zum Garten ein bisschen auf, dass er wieder weggehen kann, zu Judith, zu Maria Magdalene, in die Stube von Elise.
Auch ich bin in Wesselburen zur Welt gebracht und eingeschult worden, aber schon, als ich in der zweiten Klasse war, zogen meine Eltern fort. Auf die Geest, nach Hennstedt, wo ich meine Jugend verbrachte, im Landweg, wo mein Vater, der eigentlich gar nicht Bauer spielen wollte, eine kleine Landstelle pachtete. Hauskoppel und ein paar Äcker, gut für Hafer und Kartoffeln, nebst ein paar Wischen unten im Moor. Sauerampfer. Wiesenschaumkraut. Kühe, die meine Mutter melken musste, denn mein Vater war viel zu nervös, und das merkten die Tiere und blieben nicht stehen, wenn er mit seinem Melkschemel kam und ihnen ans Euter greifen wollte. Hennstedt liegt auf der Kante, am Geestrand. Weit geht der Blick nach Norden über die Niederung bis hin zur Eider, die sich ein wenig unentschieden durchs Land schlängelt. Alle
Wolken sind hier noch ungemalt.
Ich glaube, mir wird auch noch eine dritte Tasse guttun. Zum einen Häher in den Wipfeln der Kiefern haben sich zwei weitere gesellt. Sie ratschen und tratschen. Ich dagegen rede nur mit mir selber: „Ich hatte schon gestern gehofft, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Aber aus mir unerklärlichen Gründen kam es nicht zustande. Ich werde mich heute also noch einmal darauf freuen.“ So oder so ähnlich unterhalte ich mich mit mir und traue mich nun endlich, den Koffer ein zweites Mal zu öffnen.
Es gelingt. Und da der Tag trocken bleiben wird, auch wenn der Himmel sehr tief hängt und schon an den höchsten
Zweigen der Kiefern schnuppert, lege ich den Koffer auf meinen Frühstückstisch, der kein bisschen wackelt. Niemand ist da. Nur alte Backsteine, Fehlbrände, Trümmerstücke, Porzellanschlacken, Glasscherben.
Bei Tageslicht betrachtet, sieht der Inhalt schon anders aus als oben in der Koje. Die Blätter wollen herausgenommen werden.
Ich stelle mir den Bleistift in ihrer Hand vor. Vielleicht war sie zwölf. Ja, ich sage: Sie war zwölf. Sie hat den Zeichenblock auf dem Schoß. Was sie sieht, möchte sie aufs Papier bringen. Ich schaue ihr dabei zu.
Da ist die Stadt, in der sie zur Schule ging, von links nach rechts, Haus für Haus und Mühle und Kirche und jeder Baum ist zu erkennen. Eine Generalansicht. Später von zittriger Hand signiert: 1893. Da war sie also gerade elf.
Zeichnet so ein Kind? Eines wie Ottilie schon, daran müssen wir uns gewöhnen. Sie war zu Anfang immer viel älter, als sie tatsächlich war, und späterhin so viel jünger, dass ihr wirkliches Alter ihr ruhig davonlaufen konnte.
Dann, zwischen all den Zeichnungen, entdecke ich die Briefe. Drei Bündel sind sorgfältig mit Bindfaden zusammengeschnürt, mit Doppelschleife. Männer haben diese Briefe geschrieben, das lese ich aus den Absendern heraus, auch wenn die Schrift sehr altmodisch ist und nichts mehr mit der heutigen zu tun hat. Einer heißt R. M. Rilke. Der andere ist ein gewisser Such. Und der dritte: Walter Bertelsmann, Maler.
Jeder hat seine eigene Handschrift, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Der Rilke ist ein Schönschreiber. Der sich Such nennt hat eine Klaue und erfindet sich die Buchstaben selber. Seine Worte stehen in keinem Wörterbuch. Der dritte, der Landschafts und Marinemaler, scheint verliebt zu sein. Er leidet mit jedem Satz. Er weiß um die Vergeblichkeit seines Werbens, mag aber nicht aufgeben. Rilke hingegen hätte es vielleicht in der Hand, aber er kann sich nicht entscheiden, lässt immer alles in der Schwebe. Nutzt seine eigenen Gefühle
aus, und die der Frauen sowieso. Hier ist, liebes Fräulein Reylaender, meine neue Adresse; eine vorläufige zunächst ... Die Liebe will immer einladen, immer besitzen.
Sorgfältig binde ich den Faden wieder zu. Vermische nichts. Störe keine Ordnung. Die Tinte, die uralte Tinte bleibt, hundert Jahre und länger. Ich lege die Bündel vorerst zur Seite. Breite mir lieber die Bilder, die Zeichnungen aus. Blatt für Blatt gleitet durch meine Hände.
Schon früh entdeckte sie ihre sechs Geschwister als Modelle. Die kannte sie, da konnte sie genauer hinsehen, wie sich ein Auge aufbaute, eine Haarsträhne in die Stirn fiel, der Nasenrücken Schwung holte, wie ein Mund ihrem Bleistift gehorchte und anfing zu lächeln.
Wieder und wieder erscheinen sie, mit Häkelzeug, mit Buch, mit nichts. Eine große Kinderschar; auch Katzen darunter, ein Hund, eine Blume. Oskar, der Bruder. Das Feld, wo die Bank stand, sieht aus wie ein fliegender Teppich.
Jetzt bräuchte ich eine Wäscheleine, um sie von Baum zu Baum zu spannen. Daran möchte ich die Bilder aufhängen wie lauter Taschentücher, kleine Handtücher und Hoffnungsträger.
Vor hundert Jahren waren Kinder das Selbstverständlichste auf der Welt. Vor hundert Jahren stand man morgens auf und ging abends ins Bett. Vor hundert Jahren wusste man, wie das Wetter wird, spürte den Umschwung in den Knochen. Ging sonntags zur Kirche. Vor hundert Jahren war das Salz noch etwas wert.
Ich könnte hundert solche Sätze bilden; jeder Samen findet seinen Weg.
Ich klappe den Kofferdeckel zu. Einsam und einzeln von Herzen sind wir alle. Die Seele deines Lebens ist das Verlorensein.
Sitze wieder vor meinem Bau, ausreichend mit Vogelgesang versorgt, und wenn der Abend kommt, gibt es noch Wein und Oliven dazu.
1885 zogen Ottilies Eltern fort von Wesselburen. Der Vater wurde versetzt, nach Itzehoe, auch in Holstein gelegen, dort sollte er nun das Hab und Gut seiner Mitbürger beobachten, aufnehmen und verpfänden, wenn es anders nicht mehr ging. Jahr für Jahr wurden die Geschwister geboren: Else,
Auguste, Dorothea, Arthur, Anne. Nur Oskar war schon immer da, der ältere Bruder.
Auf einem Foto sind alle fünf Schwestern zu sehen. Die jüngste, Anne, blickt dem Fotografen ins Auge. Ich frage mich: Wo sind die beiden Brüder? Vielleicht wollten die Mädchen für sich sein. Ernst gucken sie alle fünf, 1901 steht unter dem Lichtbild. Ganz links, die Haare hochgesteckt, steht Dorothea, genannt Tene, der wir später noch als Frau Dr. Waaser wiederbegegnen werden.
Viele Bleistifte hat Ottilie mittlerweile, von Buntstiften ist nichts bekannt. Manchmal muss auch die Mutter stillhalten. Das tut sie gerne und voller Konzentration, fast schon mit Andacht. Ihre Älteste hat Talent. Ja, ohne Frage, das sagt auch Lehrer Fehrs.
Vom Vater gibt es kein Bild. Vielleicht war er seltener zu Hause. Doch, da habe ich ihn! Einmal geriet er in eine Zeichnung hinein: Er füttert die Tauben, er nennt sie beim Namen, bis sich eine von ihnen auf seine Hand setzt.
Ja, so ist er. Man sieht es ihm an: Das ist einer, zu dem man Zutrauen haben kann. Ein Gemütvoller, der lässt niemanden im Stich. Er kann zuhören und Ottilie keinen Wunsch ausschlagen: Ich brauche einen neuen Zeichenblock. Und bald auch den Tuschkasten, du weißt schon welchen.
Er sieht zu, was er tun kann. Vielleicht kann sein großes Mädchen die Lücken in seinem Leben ausfüllen, das, was ihm fehlt? Ist es denn sein Traumberuf gewesen: Königlicher, Kaiserlicher Gerichtsvollzieher? An fremde Türen zu pochen und den Schrecken in den Augen derer zu sehen, die öffnen? Wenn sie denn öffnen.