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Die Hexe

Rixt van het Oerd

Abenteuer auf Ameland

Mathias Meyer-Langenhoff

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

Illustration: Johanna und Antonia Langenhoff

Cover gezeichnet von © René Levens

ISBN: 978-3-96074-153-4 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-154-1 – E-Book

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Inhalt

Endlich Ferien

Die Anreise

Das Wiedersehen

Einzug im Ferienhaus

Die Begegnung am Geheimversteck

Besuch im Museum

Der Plan

Die Nacht im Oerd

Der Auftritt der

Wiedersehen

Die Jagd nach der Figur geht weiter

Ein Nachmittag

Neues von Dijkstra

Die Nacht im Wald

Die Rache

Das Fest

Der Autor

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Endlich Ferien

Als ich nach Hause kam, hörte ich Papa schon von Weitem singen: „Ameland, schönes Land, Perle im Meer ...“ Mit hochrotem Kopf stand er vor unserem Auto und stemmte gerade sein Fahrrad auf den Dachgepäckträger. „Hallo, meine Große, ist dir eigentlich klar, dass es gleich losgeht?“, keuchte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich weiß, Papa, ist ja nicht das erste Mal, dass du mich daran erinnerst“, antwortete ich.

Endlich hatten wir Sommerferien. Mein Zeugnis war so lala ausgefallen, aber sechs Wochen ausschlafen, keine Hausaufgaben und vorerst keine Vokabeln lernen konnte ich echt gut gebrauchen.

Oder sagen wir fünfeinhalb, je nachdem, wann Papa das baldige Ende der Ferien auffiel und er behauptete, ich müsste mich auf das neue Schuljahr vorbereiten.

Mama wuchtete gerade einen vollgepackten Koffer nach dem anderen in den Hausflur. Mit langen Beinen stieg ich über die Hindernisse, die sie aufgebaut hatte. Ich fragte mich, wie Papa die jemals alle ins Auto kriegen wollte.

„Stell deine Schultasche am besten in den Schrank. In der Küche steht dein Mittagessen, wir müssen uns beeilen!“, rief sie mir zu.

Mama hat immer Angst, die Fähre zur Insel zu verpassen.

„Deine Schwester ist noch bei Anne, um sich zu verabschieden, sobald sie zurück ist, starten wir!“

Meikes Freundin wohnt direkt bei uns in der Nachbarschaft. Schon seit einer Woche waren sie jeden Tag zusammen, nur weil sie sich jetzt in den Ferien drei Wochen nicht sehen konnten. Eigentlich mochte ich Meike sehr, aber wenn sie ohne ihre Anne auskommen musste, hing sie mir so auf der Pelle, dass ich Angst hatte, sie würde mich sogar bis auf die Toilette verfolgen.

„So, die Arbeit ist erledigt!“ Papa rieb sich die Hände. „Ich bin zufrieden mit mir. So viele Koffer kann man in einem kleinen Auto normalerweise nicht unterbringen.“ Mit stolzgeschwellter Brust schaute er Mama an und zeigte auf den prall gefüllten Laderaum.

„Aber was ist mit der Lebensmittelkiste in der Küche?“, lächelte sie. „Du hast doch gesagt, du willst nicht sofort auf Ameland im Supermarkt einkaufen.“

Sein Gesicht verfinsterte sich. Fassungslos starrte er Mama an. Ich dachte schon, jetzt würden sie mit ihrem üblichen Streit anfangen, wie viel man mitnehmen dürfte und so. Aber Papa begann überraschenderweise klaglos, von Neuem zu packen.

Als er alles wieder verstaut hatte, kam Meike zurück, wie immer, wenn es nichts mehr zu tun gab. „Na, Paps, bist du so weit?“, fragte sie, setzte sich ins Auto und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr schafft es einfach nie, pünktlich fertig zu sein!“

Dieser Satz brachte Mama aus der Fassung. „Meike Sommer!“, rief sie in einem Ton, der signalisierte, dass es ernst wurde. „Du steigst sofort wieder aus und holst deine Kuscheltiere und Bücher von oben. Darum kann ich mich nicht auch noch kümmern.“

„Die hättest du doch längst einpacken können, ich sitze schon im Auto!“, rief Meike.

„Hallo Meike“, dachte ich, „merkst du noch was?“

Jetzt mischte sich Papa ein. „Meine liebe Tochter“, begann er freundlich, aber bestimmt, „wir haben die ganze Zeit gepackt. Es wird Zeit, dass du als Neunjährige auch mal was tust, und zwar augenblicklich!“ Beim letzten Wort wurde seine Stimme lauter. Meike brummelte irgendetwas Unverständliches, aber sie stieg ohne weiteren Protest wieder aus, lief nach oben in ihr Zimmer und holte ihre Sachen selbst.

Endlich waren wir reisefertig. Mama schloss die Haustüre ab, setzte sich hinters Lenkrad und startete den Motor. „Alles klar bei euch? Also Haus, mach’s gut, wir sehen uns in drei Wochen wieder!“, rief sie.

Nur Papa musste noch wie üblich seine unvermeidlichen Fragen stellen. „Haben wir das Fährenticket?“

„Ja, Schatz.“

„Ist das Geld im Auto?“

„Ja, Schatz.“

„Hast du an das Geschenk für unsere Vermieter gedacht?“

„Mein Gott, ja!“

Erst jetzt lehnte er sich entspannt in seinen Sitz zurück und begann, in der Zeitung zu blättern.

*

Die Anreise

Ich schaute aus dem Fenster. Je länger wir fuhren, desto holländischer kam mir alles vor. Wir überquerten immer wieder Brücken, kamen an Windmühlen vorbei, fuhren an Kanälen entlang oder durch Städte, in denen es nur so von Radfahrern wimmelte. Die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann fragte Meike: „Gehen wir eigentlich sofort an den Strand, wenn wir da sind?“

Papa stimmte zu. „Das ist eine gute Idee, am besten nehmen wir gleich die Badesachen mit!“

Papa und das Meer, das war wirklich eine ganz besondere Geschichte. Es grenzte schon an ein Wunder, wenn er im Laufe der Ferien wenigstens einmal schwimmen ging. Erst konnte er es kaum erwarten, aber dann traute er sich höchstens mit einer Fußspitze ins Wasser und behauptete, es sei viel zu kalt zum Schwimmen. Aber jetzt war er wieder total begeistert. „Ihr glaubt gar nicht, wie ich mich darauf freue, wieder in die Nordsee zu springen!“, meinte er mit leuchtenden Augen.

„Ist ja gut, Martin!“, riefen wir im Chor und grinsten ihn an.

Für einen Augenblick schien er sich zu ärgern, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. „Mein Gott, man hat’s nicht leicht, wenn man mit drei Frauen verreist.“

Danach wurde es still im Auto. Papa las seine Zeitung, Meike hörte Musik, Mama fuhr und schaute ab und zu in den Rückspiegel, als ob sie sich vergewissern wollte, dass wir noch da waren.

Ich hatte mir noch mal Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan zum Lesen herausgesucht. Papa meinte, das Buch habe viel mit uns zu tun, denn die Familie verbringe ihre Ferien auch regelmäßig auf einer Insel. Die Melchersons fuhren gerade mit dem Schiff nach Saltkrokan. Ich dachte an unsere Fähre, mit der wir nach Ameland übersetzen würden. Lange konnte die Autofahrt bis zum Hafen in Holwerd nicht mehr dauern.

Und tatsächlich. Plötzlich rief Mama begeistert: „Achtung, wer gleich als erster das Meer entdeckt, bekommt von mir einen Euro!“

Das spielen wir immer kurz vor der Küste, denn das letzte Stück fuhr man parallel am Deich entlang. Man konnte die Nordsee zwar noch nicht sehen, aber sie schon riechen. Mein Herz begann zu klopfen, ich freute mich riesig und stellte mir vor, wie der raue Wind meine Haare zerzaust. Nach einer Linkskurve durchbrach die Straße plötzlich den Deich und lief schnurgerade auf den im Watt liegenden Hafen zu. Jetzt kam der Moment, den schnellsten Blick auf die Nordsee zu erwischen.

„Das Meer, ich sehe es, ich sehe es!“ Meike hatte sich hinten auf dem Rücksitz ganz lang gemacht, um die Erste sein zu können. „Ich bekomme den Euro!“

„Quatsch, ich war schneller!“, rief Papa. „Mindestens eine halbe Sekunde.“

Mama und ich erklärten Meike zur Gewinnerin.

Es war Flut. Die weite, silberne Wasseroberfläche glitzerte so hell in der Sonne, dass ich meine Augen zukneifen musste.

Mama öffnete ihr Seitenfenster: „Aaah, diese Luft, Kinder, riecht diese Frische, das ist reine Natur!“ Begeistert sah sie uns an.

Wir hatten es geschafft. Gleich würden wir unsere Freunde aus Berlin und Coesfeld treffen, mit denen wir die Ferien immer zusammen verbrachten.

Nach einem kurzen Stopp am Schalter der Fährgesellschaft, um unser Ticket zu zeigen, reihten wir uns in die wartende Autoschlange ein.

*

*

Das Wiedersehen

Während unsere Eltern schon ins Restaurant gingen, hielten Meike und ich am Anleger nach der Fähre Ausschau. Bei klarem Wetter entdeckten wir sie manchmal schon am Horizont – noch klein wie eine Nussschale. Aber jetzt sahen wir nichts, deshalb folgten wir Mama und Papa ins Hafenrestaurant. Dort konnten wir warten und durch riesige Fensterscheiben aufs Meer schauen.

Als ich die schwere Glastür öffnete, sah ich auf den ersten Blick, dass sie unsere Freunde schon getroffen hatten. In der hinteren Ecke herrschte großer Trubel. Unsere Eltern begrüßten gerade die Münstermänner. Marlies, Rainer und ihre Kinder Paula, Lara und Oliver wohnten in Coesfeld, eine kleine Stadt in der Nähe der holländischen Grenze. Paula war 13 und meine beste Freundin.

„Hi, Hannah!“ Sofort steuerte sie auf mich zu. „Ich muss dir unbedingt was erzählen!“

„Lass mich raten“, antwortete ich, „es geht um deine Clique?“

„Genau, Schlaumeierin, hab’ ich dir davon schon geschrieben? Ach ja. ... Aber jetzt pass auf! Das Neueste ist, eine aus meiner Clique, Tine, hat ein Piercing am Bauchnabel, das sieht sooo geil aus!“

„Echt jetzt? Lässt du dir auch eins machen?“

Paula verdrehte die Augen und deutete auf ihren Vater. „Er will nicht. Als ich gefragt habe, ist er fast ausgeflippt.“

„Das tut doch auch weh, ich hätte viel zu viel Angst.“

„Tine fand’s gar nicht so schlimm, nach zwei Tagen hat sie nichts mehr davon gemerkt“, entgegnete Paula.

Paula und ich sahen uns eigentlich nur in den Ferien, aber wir schrieben uns viel übers Handy. Deshalb wusste ich auch einiges über ihre Clique. Tine und die anderen Mädchen waren fast alle ein oder zwei Jahre älter. Vielleicht zog sich Paula auch deshalb ganz anders an als ich. Sie trug zum Beispiel fast bei jedem Wetter bauchnabelfreie T-Shirts.

„Und was ist mit mir?“ Am Tisch saß Paulas Schwester Lara und strahlte mich an. Sie war 12, so wie ich. So stark wie sie war kein anderes Mädchen, das ich kannte. Wie immer war sie braun gebrannt.

„Du weißt doch, dass du mir egal bist!“ Ich ging lachend auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die Backe. „Wie viele Hanteln hast du wieder gestemmt?“

„Keine Ahnung“, strahlte sie. „Aber letzte Woche hab’ ich die 50-Meter-Strecke gewonnen.“ Sie ballte triumphierend ihre Faust. Lara war Wettkampfschwimmerin.

Oliver schien unterwegs zu sein. Wahrscheinlich unternahm er mal wieder eine seiner berühmten Entdeckungstouren. Olli, wie Paula und Lara ihn nannten, sprühte vor Ideen. Er war extrem neugierig mit seinen acht Jahren. Mama hielt ihn für einen ziemlichen Chaoten, aber ich fand, er hatte eigentlich super Einfälle, nur übertrieb er’s manchmal.

„Wat leuk, jij bent ook weer hier!“, rief Rainer in seinem komischen Holländisch und klopfte mir mit seiner riesengroßen Pranke auf die Schultern. Er sah mit seinem dicken Bauch und den beharrten Armen aus wie ein großer Bär. „Bist du denn jetzt endlich getauft?“, wollte er wissen.

„Bis jetzt noch nicht“, antwortete ich etwas genervt, denn er stellte diese Frage oft. Rainer wollte Papa unbedingt davon überzeugen, uns religiös zu erziehen.

Auch Marlies begrüßte mich. „Wie geht es dir, Hannah?“

„Super, ich freu’ mich total auf die Ferien“, antwortete ich lachend.

Erst jetzt sah ich die Franzens. Pit und Hanjo beschäftigten sich gerade mit einer leeren Cola-Dose, die sie sich gegenseitig zuwarfen. „Ihr seid mal wieder die Letzten!“, nörgelte der dünne Pit. „Ich sitze mir hier schon seit einer Stunde den Hintern platt. Geht ihr gleich mit nach draußen?“ Er war so alt wie ich und begeisterter Fußballfan. „Ich habe voll viel trainiert zu Hause, wetten, dass ich es dieses Jahr schaffe, den Ball dreißig Mal auf dem Fuß zu jonglieren?“

„Lass gut sein, Ronaldo“, grinste Hanjo. „Das wird sowieso nichts.“ Dabei blinzelte er wie immer durch seine kleine Brille.

„Wie war die Reise, Professor?“, fragte ich.

Er verdrehte die Augen. „Jetzt geht das schon wieder los!“ Damit ärgerte ich ihn gerne. Er ging in die achte Klasse und war ein bisschen dick. Hanjo hasste es, Professor genannt zu werden. Seiner Meinung nach redete ein Professor nur über Sachen, die kein Mensch verstand.

Seine Mutter Heike lächelte. „Das Necken scheint ja schon wieder Spaß zu machen. Ich hoffe, es bleibt auch dabei und wird zwischen euch nicht wieder zu einem Krach.“

„Keine Angst, Heike, diesmal kriegen wir das schon hin!“, antwortete ich. Gleichzeitig dachte ich: „So sicher bin ich mir da gar nicht!“

„Könnt ihr euch übrigens noch an das Deichwettrutschen erinnern? Für dieses Jahr habe ich schon eine neue Idee, wenn das Wetter schlecht ist“, meinte sie.

„Und was für eine?“ Neugierig sah ich Heike an.

„Das wird noch nicht verraten, sonst ist es ja keine Überraschung mehr!“

Letztes Jahr, nach drei Tagen Dauerregen, war unsere Laune ziemlich im Keller. Da schlug sie vor, wir sollten unsere Regenhosen anziehen und vom Deich rutschen. Es war so glatt wie auf einer Rodelbahn. Solche Ideen hatte nur Heike.

Als ich an ihr herunterschaute, bekam ich große Augen.

„Ist was mit mir?“, fragte sie verwundert.

„Klar ist was mit dir, Mama!“, rief Katja. „Ihr fallen deine neuen, eleganten Schuhe auf!“ Heike trug trotz des schönen Wetters knallgelbe, große Gummistiefel, die bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden des Restaurants quietschten. Ich musste lachen. Wahrscheinlich hatte sie die Dinger von einem Flohmarkt. Sie ging da öfter einkaufen. Die Sachen passten ihr zwar nicht immer hundertprozentig, aber sie waren echt cool. Auch Katja grinste. Sie war schon 14 und bestimmt einen Meter fünfundsiebzig groß. Wahrscheinlich hatte sie das von ihrem Vater Uli. Der konnte durch keine Tür gehen, ohne sich zu bücken, glaubte ich.

„Guckt mal, die Fähre kommt!“, rief Olli, der wieder aufgetaucht war. „Endlich!“

Pit sprang auf und rannte nach draußen zum Anleger. Wir liefen hinterher. Überall auf dem großen, weißen Schiff standen Menschen. „Die Armen“, sagte er, „die müssen bestimmt schon bald wieder arbeiten oder in die Schule.“

„Hör bloß auf mit der Schule!“, meinte Paula naserümpfend, „die steht mir bis hier! Unser Klassenlehrer hat uns bis zum Schluss noch mit Vokabeln und Tests genervt.“

„Unser war auch nicht besser!“ Hanjo nickte verständnisvoll. „Wisst ihr was? Ich habe eine Idee. Morgen oder so fahren wir nach Buren. Da gibt’s ein kleines Museum. Ich wollte letztes Jahr schon mit Papa hin, aber da haben wir es nicht mehr geschafft.“

„Was soll denn das?“, nörgelte Pit. „Davon hast du im Auto aber nichts erzählt. In den Ferien in ein Museum? Ist doch ätzend!“

„Weißt du doch gar nicht, ich hab’ gelesen, das soll ganz interessant sein. Da gibt’s nämlich was über eine Strandräuberin, die eine Art Hexe gewesen sein soll.“

Meine Schwester war sofort begeistert. „Tolle Idee, die will ich auch sehen!“, rief sie mit strahlenden Augen.

Plötzlich standen unsere Eltern hinter uns. „Los, ab mit euch in die Autos, wir müssen gleich auf die Fähre!“, rief Heike.

Kurze Zeit später waren wir an Bord. Vom Bug aus beobachteten wir die Abfahrt. Am Ufer wurden die schweren Taue gelöst. Die großen Maschinen ließen das Schiff erzittern und bewegten es ganz langsam rückwärts. Ich schaute in das brodelnde Wasser. Nachdem es sich weit genug vom Anleger entfernt hatte, stoppte es, drehte die Nase in Richtung Ameland und begann, immer schneller Fahrt aufzunehmen.

Mit Lara und Katja lief ich über das Sonnendeck. „Wie viele Menschen wohl auf so einer Fähre mitfahren können?“, überlegte Katja laut.

„Hm, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Aber vielleicht können wir’s herausbekommen“, sagte ich.

„Super Idee“, meinte Lara. „Wir gehen nach oben und fragen einfach den Kapitän auf der Brücke.“

„Quatsch, das geht nicht, der ist doch beschäftigt.“ Katja runzelte die Stirn, ließ sich aber trotzdem überreden. Wir drängten uns an den Menschen vorbei nach oben. „Und wie sollen wir jetzt weiterkommen?“, fragte sie nach der Hälfte des Weges. „Die Kapitänsbrücke ist ja noch höher.“

Wir blieben stehen und schauten uns um, ob eine Treppe weiter nach oben führte. Dabei fielen mir zwei Männer auf, die irgendwie anders aussahen als die meisten hier. „Guck mal!“, flüsterte ich Katja zu. „Der hat eine echt komische Frisur.“

„Wieso?“

„Auf dem Kopf ganz kurz und hinten im Nacken fallen ihm die Haare fast bis auf die Schultern.“

Sie sah ihn genauer an. „Stimmt, der sieht nicht besonders nett aus. Und diese große Narbe auf der Backe, echt unheimlich.“

Der Mann war muskulös und groß, seine Arme, die er vor der Brust verschränkte, erschienen mir so dick wie Papas Beine.

„Wisst ihr, woran der andere mich erinnert?“, fragte Lara.

„Keine Ahnung.“

„An eine Kugel auf zwei Beinen, der ist ja nur klein, dick und rund“, kicherte sie.

Der Typ trug eine schwarze Sonnenbrille, einen hellen Anzug und einen großen Hut und redete andauernd auf den Großen ein. Außerdem wuchs ihm ein buschiger, schwarzer Schnauzbart unter der Nase.

„Der sieht aus wie ein Walross“, staunte Katja. „Was sind denn das für Typen? Los, mal hören, worüber die sich unterhalten!“ Sofort steuerte Lara auf die beiden Männer zu. Den Besuch auf der Kapitänsbrücke hatte sie vergessen. Wir gingen hinterher und stellten uns unauffällig zu ihnen an die Reling.

Der Dicke redete immer noch wild gestikulierend auf den anderen ein. „Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind? Du kannst doch auf dieser Scheißinsel keinen Urlaub machen. Wir müssen die Figur wieder auftreiben. Und wenn du nicht spurst, mein Lieber, werde ich auf der Stelle zum Handy greifen und unserem Auftraggeber sagen, dass du aussteigst!“ Seine Stimme überschlug sich fast. „Mir reicht es wirklich, ich will endlich die Kohle sehen, noch einmal lass ich mich nicht so abspeisen. Und wenn wir die ganze Insel umgraben müssen, um das verfluchte Ding wiederzufinden.“

Der mit dem langen Nackenhaar nickte und antwortete mit tiefer Stimme: „Ja, ja, Walter, ist gut, du hast recht. Wir machen es so, wie du sagst. Aber jetzt lass uns noch schnell einen dieser Marzipankuchen kaufen, dafür könnte ich sterben!“

„Vielleicht eher als dir lieb ist“, grummelte der Dicke drohend. Dann gingen sie unter Deck zur Schiffscafeteria.

„Was war denn das? Die zwei haben doch irgendwas Merkwürdiges vor!“ Lara wollte sofort hinter ihnen her.

„Stopp!“, rief ich. „Das geht nicht. Die merken, wenn wir sie schon wieder belauschen!“

„Stimmt.“ Katja nickte. „Ich glaube, es ist besser, wir erzählen erst mal den anderen davon.“

Wir wollten sie gerade suchen, da hörten wir auf Holländisch eine Durchsage: „Wir werden in wenigen Minuten Ameland erreichen, bitte begeben Sie sich in ihre Kraftfahrzeuge!“

Mama und Papa kamen uns zusammen mit den Franzens und Münstermännern entgegen. „Wir haben euch gesucht. Ihr könnt doch nicht einfach verschwinden!“ Mama machte sich manchmal etwas zu viele Sorgen. Schließlich konnte man auf dem Schiff nicht weglaufen und außerdem fuhren wir ja nicht das erste Mal nach Ameland. Wir gingen zu unseren Autos.

„Am besten treffen wir uns nachher am Strand!“, rief Katja.

Ich nickte und stieg ein.

Meike saß schon auf ihrem Platz. „Wo seid ihr gewesen?“, fragte sie neugierig.

„Das erzähle ich dir später“, antwortete ich und sah sie dabei durchdringend an, damit sie mich jetzt nicht mit Fragen löcherte.

Mama und Papa sollten von unserer Beobachtung nämlich nichts mitbekommen. Zu meinem Erstaunen verstand sie mich und schwieg. Vorne öffnete sich die Bugklappe der Fähre, die Autos wurden gestartet, jeden Augenblick konnte es losgehen. Endlich kamen wir an die Reihe.

Wie immer fuhren wir nach Hollum, dem größten Ort auf Ameland im Westen der Insel. Schon die Fahrt auf der kleinen Inselstraße war unser erstes Urlaubserlebnis. Wir freuten uns auf unseren Huckel kurz vor Ballum, eine kleine Erhöhung auf der Straße. Meist saß Papa dieses letzte Stück am Steuer.

„Achtung, jetzt!“ Er beschleunigte, damit wir das Gefühl hatten, mit dem Auto etwas zu fliegen.

„Hüüüüüüüüpp!“, riefen wir im Chor, hoben ab und hatten die Erhöhung einen Augenblick später hinter uns. Dann folgte seine Standardfrage: „Seht ihr eigentlich schon den Leuchtturm?“

„Da vorne, auf der linken Seite!“, rief Meike. Sie hatte wie immer den Leuchtturmsuchwettbewerb gewonnen und damit das erste Eis der Sommerferien.

Schließlich erreichten wir die Ortseinfahrt von Hollum und kamen an dem Backfischgeschäft vorbei. Sofort stieg mir der würzige Geruch in die Nase. Das Rettungsbootmuseum auf der anderen Seite lag still im Sonnenlicht. Wir fuhren um den Ortskern herum zu unserem Ferienhaus. An der alten Kirche stellten wir unser Auto ab und gingen zum Haus unserer Vermieter.

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Einzug im Ferienhaus