Letzte Nacht am Hexenberg

Bremen-Krimi

Mimi Zöhl


ISBN: 978-3-96045-115-0
1. Auflage 2020
© 2015 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude

Lektorat: Annette Freudling
Umschlag: Foto Annette Freudling
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

 

Die zivilisatorische Kruste ist ziemlich dünn. Es gehört nicht so viel dazu, dass sie bricht.

Ulrich Noethen

 

Für meinen Vater und Jan

Prolog

 

Er lag auf einer blauen Bauplane. Ein zerknitterter Zipfel ragte in sein Gesicht und der Plastikgeruch nahm ihm fast den Atem. Durch die Fensterscheiben des Kombis sah er in die dunkle Nacht. Längst waren die Straßenlaternen der Stadt verschwunden. Sie waren auf einer einsamen Straße auf dem Land und ihm wurde klar, dass die Fahrt nicht ins nächste Krankenhaus ging.

Der Wagen legte sich in eine scharfe Rechtskurve. Die Fliehkraft drückte ihn gegen die Wand des Laderaums und ihm entwich ein schmerzerfülltes Stöhnen. Jeder Knochen tat ihm weh, sein Kopf drohte zu platzen. Sicherlich hatte er eine Gehirnerschütterung. Er hätte gerne seinen Fahrradhelm abgenommen, aber er konnte seinen rechten Arm nicht bewegen. Er tat höllisch weh. Als er ihn abtastete, stellte er mit Entsetzen einen offenen Bruch fest. In dem feuchten Blut fühlte er den spitzen Knochen, der sich durch die Haut bohrte. Er versuchte, sich abzulenken. Er musste die Nerven behalten, auch wenn er nicht wusste, was ihn am Ende der Fahrt erwartete. Die Schmerzen waren unerträglich. Er begann zu zittern. Ihm war kalt und er spürte, wie Tränen in ihm hochstiegen.

Wohin fuhren sie? Sie mussten irgendwo in den Niederungen hinter Borgfeld sein. Vielleicht Richtung Hexenberg. Ein entgegenkommendes Fahrzeug erhellte kurz den Innenraum des Kombis. Es waren also doch noch andere Menschen in dieser Gegend unterwegs. Aber keiner ahnte, dass er hier verletzt und hilflos auf der Ladefläche lag.

Durch die Fenster konnte er graue Berge von Haufenwolken erkennen, deren Furchen vom Mond schwach beleuchtet wurden. Wie in einem Film zogen die Bäume am Straßenrand an ihm vorbei und warfen ihre Schatten in das Auto. Es roch nach Katzenurin und abgestandenem Zigarettenrauch. An der Rückseite des Beifahrersitzes war ein Riss im Bezug. Wahrscheinlich war der Kombi geliehen. Dieser Gedanke machte ihn noch nervöser.

Der Wagen nahm eine Rechtskurve und wurde langsamer. Sie hatten die Straße verlassen und waren nun auf einem Feldweg. Das Schwanken, wenn die Räder Bodensenken durchfuhren, schob ihn von einer Seite zur anderen. Er presste die Lippen zusammen und hielt den Atem an, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Trotzdem wünschte er sich, sie würden ewig weiterfahren.

 

Dann hielt der Wagen an. Er erkannte hohes Gestrüpp, das in der Dunkelheit neben ihnen aufragte. Er hätte sich gerne aufgerichtet, um die Umgebung zu sehen, aber er fühlte sich zu schwach. Vom Fahrersitz hörte er Geraschel, Papier wurde zerrissen. Ein Verschluss klickte leise. Schließlich öffnete sich die Fahrertür. Sein Puls stieg und sein Zittern nahm zu. Die Heckklappe hob sich und der feuchte, modrige Geruch der Wümmewiesen drang schwallartig zu ihm hinein. Über seinem Kopf konnte er das Gesicht, das zu ihm sprach, erkennen.

„Nur ein kleiner Pieks, dann merkst du nichts mehr. Du kennst das ja.“

Er spürte, wie die Injektionsnadel in seine linke Ellenbeuge eindrang. Leichter Schwindel befiel ihn und eine Welle der Übelkeit raubte ihm die Luft. Kurz durchfuhr ihn ein Panikgefühl, dass er in großer Gefahr war, dann dämmerte er weg.

Erster Teil

1

Der Mann war eigentlich nicht ihr Typ. Dünne Lippen, blasses Gesicht, hohe Stirn.

Er fixierte sie mit seinen hellblauen Augen. „Habe ich dich richtig verstanden? Du hast dich niedergelassen, weil du die männliche Überheblichkeit deines Chefs und der Kollegen nicht mehr ertragen konntest?“

Das gelbe Licht des Petroleumlampen-Imitats funkelte in Rainers Brillengläsern. Er grinste. Er wollte sie provozieren. Oder mir ihr flirten. Wahrscheinlich beides.

Ella lächelte Rainer an. Nach drei Bier und fünf „Bommi- Pflaume“ wardaseineleichte Übung. Erhatteeinenathletischen Körper und lange Beine, da konnte man schon mal über die schütteren Haare hinwegsehen. „Männliche Überheblichkeit“ war ein Ausdruck, den sie nie benutzen würde. Klang eher nach ihrer Freundin Kallioupi, wenn sie Frust über ihren Chef schob. Aber Ella wollte keine Spielverderberin sein. „Genau. Und jetzt haben wir bei uns in der Praxis eine männerfreie Zone. Nur Frauen, die von Frauen behandelt werden.“

Der Singende Plattfisch war schaurig gemütlich eingerichtet und Ella hatte schon jetzt Druckstellen von der harten Holzbank. Auf der Fensterbank stand ein Arrangement aus Trockenblumen neben einem Zweimaster in einer Flasche, beides Bastelarbeiten der Wirtsleute Hinnerk und Dörte, die hinter einer gelben Kiefernholztheke gerade mit Elan ein Bier nach dem anderen zapften. Es war die Lieblingskneipe von Peter, und der hatte heute das Kommando, denn er war der Skipper. Mit großer Geste reichte er die Biere an den Tisch. Er hatte halblange dunkle Haare, die sich im Nacken kräuselten, und seine beeindruckende Nase, groß, scharf und gebogen, verriet, neben dem Bauchansatz, den Genießertyp. Zu allem Überfluss trug er einen dunkelblauen Blazer mit goldenen Ankerknöpfen, der ihn wie einen „Traumschiff“-Kapitän aussehen ließ. Dass er unter der Dusche am liebsten Verdi- Arien schmetterte, wusste nur Ella aus ihrer gemeinsamen WG-Zeit in Hamburg und natürlich Gertrud, seine Frau.

Mit seiner Yacht Trude waren sie morgens bei Windstärke fünf von Bremerhaven aus nach Helgoland aufgebrochen: Ella, Gertrud, Peter, sein Praxispartner Rainer Rüppel und der dicke Mertens.

Dr. Udo Mertens drückte seinen schwammigen Daumen auf den Knopf des hässlichen Plastikfisches an der Wand über seinem Kopf. „Eine Runde für alle!“ Seine polternde Stimme übertönte das dünne Gewimmer von Yellow Submarine, das der Fisch abließ.

„Ist das nicht langweilig? Ab und zu einen richtigen Mann braucht doch jede Frau.“ Rainer hatte sein Glas an den Mund gehoben und sah sie über den Rand hinweg an.

„Richtige Männer treffe ich doch nicht bei der Arbeit!“ Sie blinzelte ihm zu und stand auf. Mertens saß auf seinem Stuhl wie festgewachsen und wischte mit einem Häkeldeckchen die Schnapspfütze neben seinem Glas auf. Als sie sich hinter ihm vorbeizwängte, konnte Ella seine fettigen Haarsträhnen zählen, die er quer über seine Halbglatze gekämmt hatte. Während sie die dunklen Stufen zu den Toiletten hinabstieg, dachte sie darüber nach, was sie eben für einen Blödsinn erzählt hatte. Sie sollte wirklich nicht mehr trinken. Oder wenigstens keinen Schnaps. Sie hielt sich krampfhaft am Geländer fest. Jetzt bloß nicht stolpern. Sie war zwar in Begleitung von zwei Anästhesisten und einem Chirurgen, aber der Gedanke, dass der dicke Mertens ihre Knochen mit seinen Wurstfingern richten sollte, bewirkte bei ihr kurzzeitige Nüchternheit und sichereren Gang.

Das Leben war ein Karussell. Sie tänzelte über die Kellerfliesen und genoss ihren alkoholisierten Taumel. Sie fühlte sich großartig. Attraktiv. Charmant. Jung. Was natürlich relativ war. Mit fünfundvierzig und einer fünfjährigen Tochter war sie kein Girlie mehr.

Es war eiskalt auf dem WC und der Geruch, eine Mischung aus Pfirsichduftspray und Urinstein, verursachte ihr Übelkeit. Sie kickte die Brille mit einem Fuß hoch und schaffte es noch gerade rechtzeitig, ihre Hose herunterzuziehen. Das Waschbecken, in dem sie sich anschließend die Hände waschen wollte, hatte einen Riss und der Spiegel war fleckig angelaufen. Sie konnte nur unscharf erkennen, dass ihr Lidschatten verlaufen und ihre dunklen Locken zerzaust waren. Sie hob ihre dichten Augenbrauen und zog eine Grimasse. Sie ähnelte ihrer französischen Großmutter Cécile. Die gleiche kleine Nase und die gleichen dunkelbraunen Augen.

Über dem leeren Seifenspender hatte eine neunmalkluge Person mit Filzstift geschrieben: „Mädchen lügen nie, sie erfinden nur manchmal die Wahrheit, die sie gerade brauchen.“ Ella hasste Kneipen-Klos.

Als sie die Waschraumtür in den dunklen Gang aufdrückte, hörte sie den tiefen Bass von Udo Mertens. „Rainer, ich brauche unbedingt Nachschub. Ich habe meinen Kollegen von dem Angebot berichtet. Sie sind begeistert und haben mir zugesagt, insgesamt hundertfünfzig Stück zu kaufen.“

„Muss ich sehen, ob ich die Stückzahl noch ändern kann. Ich habe die nächste Lieferung schon geordert.“ Die Stimmen kamen aus dem Treppenhaus. Ella konnte die beiden nicht sehen. Sie zögerte und hielt die Tür nur einen schmalen Spalt geöffnet. Interessant. Hier wurden Geschäfte neben den Toiletten besprochen. Sie wartete, bevor sie um die Ecke bog, neugierig, in was für geheime Transaktionen Rainer und Mertens verwickelt waren.

„Du musst das noch schaffen. Ich habe sie ihnen für Anfang Oktober versprochen. Sonst hätten sie woanders bestellt.“

„Sollen sie doch. Das kann dir doch egal sein.“

Mertens murmelte etwas, was Ella nicht verstehen konnte.

„Aha.“ Rainer schien nicht erfreut zu sein von dem, was sein Kollege ihm zugeflüstert hatte. „Und wie viel schlägst du noch drauf?“

„Zwanzig Prozent.“

Die beiden schwiegen. Von oben hörte man Peter lachen und das Klirren von Gläsern.

„Du brauchst mich gar nicht so sauer anzugucken, Rainer. Das ist für dich doch auch ein lohnendes Geschäft.“ Udo Mertens klang schuldbewusst.

„Das ist unverschämt von dir. Ich trage das ganze Risiko. Und ich habe die meiste Arbeit und die Kosten. Und du sackst nur den Profit ein.“ Rainers Tonfall war aggressiv.

„Was für Arbeit hast du denn damit?“

„Zum Beispiel“, Rainer hatte seine Stimme erhoben,

„musste ich nach Tschechien reisen, um das CE-Zertifikat von der Prüfstelle zu bekommen. Das machen die Prüfer auch nicht umsonst. Außerdem den Transport aus Taiwan organisieren. Dann muss ich die Rechnungen besorgen. Oder möchtest du die Originale einreichen?“

Wahrscheinlich schüttelte Mertens seinen Kopf.

„Ohne mich würde der ganze Deal doch nicht laufen. Du hättest mich wenigstens vorher fragen können.“ Sie hörte, wie Rainer tief ausatmete. „Wenn das auffliegt, komme ich in große Schwierigkeiten. Das weißt du, Udo.“

„Wieso soll das herauskommen?“

„Du darfst meinen Namen auf keinen Fall erwähnen.“

„Nein, sicher nicht. Die Kollegen wissen nicht, woher die Lieferung kommt. Sie sind zufrieden, dass sie so viel Geld sparen können und fragen nicht weiter.“

„Na gut. Ich kümmere mich um die Nachbestellung. Wie viel soll ich ordern?“

„Mach mal zweihundert.“

Was wurde da gemauschelt? Ella war bestürzt. Die lieben Kollegen drehten irgendein krummes Ding. Sie hörte, wie einer der Männer nun die letzten Stufen hinabstieg. Besser, sie wurde nicht beim Lauschen entdeckt. Sie machte einen Schritt nach vorn und ließ die Tür vom Damen-Klo laut zufallen. Als sie auf die Treppe zuging, sah sie Mertens gerade in Richtung Herren-WC verschwinden. Auf der dritten Stufe stand Rainer und lächelte sie an.

„Hallo, schöne Frau. Ganz allein hier?“

Er verstellte ihr den Weg und legte ihr seine Arme auf die Schultern.

„Rainer!“ Ella fühlte sich vollkommen überrumpelt. Gerade hatte er sich noch über seinen Kollegen geärgert und kriminelle Geschäfte besprochen. Jetzt sah er ihr in die Augen, als wollte er sie hypnotisieren. Vielleicht wollte er testen, ob sie etwas von dem Gespräch mitbekommen hatte. Sie bemühte sich, die Balance zu behalten, denn er stützte sich schwer auf ihr ab. Sein alkoholischer Atem nahm ihr die Luft und sie versuchte, sich loszumachen. Rainer ließ sich nicht wegschieben und legte seine Lippen auf ihren Mund.

Verrückt. Wie im Film. Kurz blitzte eine Szene aus Baisers Volés vor ihrem inneren Auge auf. Ella war eher amüsiert als empört. Ein schöner Kuss. Etwas zu heftig, aber aufregend.

„Du schmeckst so süß.“ Rainer stieg herab auf ihre Stufe. Seine Hände wanderten von der Schulter abwärts und umfassten ihren Hintern. Er presste seinen Körper gegen ihren.

Ella wollte ihn abwehren. Er war schwer und sie war zu schwach. Sie stellte sich vor, dass Peter oder Mertens sie so sehen könnten. Irgendwie musste sie ihn loswerden. „Hier doch nicht.“ Sie nahm seine Hand. „Der Abend ist doch noch lang. Komm, lass uns noch etwas trinken.“

Rainers Augen leuchteten auf und er löste die Umklammerung. Gemeinsam kehrten sie in die beleuchtete Gaststube zurück. Peter beobachtete sie von seiner Position an der Bar und zog die Augenbrauen hoch.

„Sach ma, Rainer, was machen denn deine Baupläne?“ Mertens war nach ihnen die Treppe hochgekommen. Jetzt nahm er gerade sein sechstes „Herrengedeck“ in Arbeit und sprach schon etwas undeutlich.

Rüppel reagierte nicht, aber Peter stand auf und kam an ihren Tisch. „Also wirklich, Udo. Das muss doch jetzt nicht sein. Wir wollen uns amüsieren und nicht über die Arbeit reden.“

„Man wird doch wohl mal fragen dürfen.“ Beleidigt kippte Mertens seinen Korn.

„Was für Baupläne denn?“ Ella schaute Rainer neugierig an.

„Ach, das ist alles noch nicht spruchreif. Ich möchte darüber jetzt noch nicht reden.“

„Das klingt ja sehr geheimnisvoll. Dabei liebe ich doch Geheimnisse.“ Sie versuchte, seinen Blick auf sich zu lenken. Verdammt, jetzt flirtete sie schon wieder.

„Themawechsel, meine lieben Freunde! Ich möchte diese traute Runde nur ungern beenden, aber wir müssen morgen um sieben Anker lichten.“ Peter hatte sich erhoben. „Da ich euer Skipper bin, ordne ich nun ein zügiges Aufsuchen der Kojen an. Nicht, dass ihr mir morgen schwächelt!“

 

Es war Vollmond und das Helgoländer Pflaster schimmerte silbrig. Die Gruppe ging schwankend in Richtung Hafen, Ella hatte sich bei Rainer Rüppel eingehakt, ihr war ein wenig schwindelig. Mertens zählte seine Schritte und sagte zwischendurch einen Dreizeiler auf: „Ein Hut, ein Stock, ein Unterrock.“ Danach machte er ein paar Tanzschritte.

Rainer und Ella wären beinahe über ihn gestolpert, lachten und liefen im Gleichschritt mit. „Und vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran.“

Unten am Hafen forderte Rainer sie zu einem kleinen Spaziergang auf der Mole auf. Sie war froh, sich noch nicht hinlegen zu müssen. Etwas frische Luft würde hoffentlich ihre Übelkeit vertreiben. Sie hatte viel zu viel getrunken.

Die Mole wurde nur spärlich von einigen funzeligen Laternen beleuchtet. Das Meer roch salzig und der Wind fuhr durch Ellas dunkle Mähne. Rainer legte seinen Arm um ihre Schultern. „Das hätte ich nicht gedacht, dass ich auf unserem Törn eine so schöne Frau treffen würde.“

Ella lachte.

„Wo hast du gesteckt? Warum bin ich dir noch nie begegnet, auf keinem von Peters Ausflügen?”

„Ich war immer da. Nur nicht auf den Segel-Törns. Peter ist ein sehr guter Freund von mir, wir verabreden uns oft.“

„Wieso bist du bisher nicht mitgesegelt?“

„Mein Ex-Mann mag keinen Wassersport. Wir sind eher wandern oder auf Fahrradtouren gewesen.“

„Du bist geschieden?“

„Mmm.“ Sie wollte jetzt nicht über Francois reden. Die Nacht war so romantisch und sie genoss den ersten unbeschwerten Abend seit Monaten.

Er schaute sie von der Seite an. „Ist wohl ein kritisches Thema für dich? Mach dir nichts draus. Es gibt viele Ehen, die nicht funktionieren. Sogar, wenn sie weiterbestehen.“

Er schwieg und blieb stehen. Die schwarzen Wellen schlugen an die Steine. Am Horizont waren die Lichter eines Frachters zu erkennen.

„Was machst du, wenn du nicht segelst?“ Ella wollte die melancholische Stimmung vertreiben.

„Ich surfe. Und im Winter spiele ich Squash. Ich bin sogar ganz gut darin. Letztes Jahr war ich in unserem Verein Ranglisten-Erster.“

„Respekt.“

„Außerdem laufe ich Marathon. Vor zwei Jahren habe ich den Halbmarathon in Cuxhaven gewonnen.“

„Dann bist du ja gut in Form.“ So viel Sport konnte nicht gesund sein.

„Ich bin in Top-Form. Fühl mal meine Armmuskeln.“ Lächelnd tat Ella ihm den Gefallen. „Nicht schlecht.“

Er legte wieder seinen Arm um sie und sie gingen weiter.

„Und du?“

„Ich jogge ab und zu. Aber meine Leidenschaft ist eher meine Trompete. Ich spiele in einer Blaskapelle.“

„Was? Wie bei den Spielmannszügen beim Schützenfest?

Spielt ihr Märsche oder Volksmusik?“

Sie lachte. „Bloß nicht! Nein, wir sind eher eine Blues-Band, spielen aber auch Soul und Rock.“

Versonnen blickte Rainer auf die mondbeschienene See.

„Nee, Musik ist nicht mein Ding. Ich liebe natürlich Musik. Was man so im Radio hört. Aber ich habe nie ein Instrument spielen gelernt. Verena, meine Frau, spielt Geige. Aber ich kann das nicht hören. Ich habe ihr verboten, zu üben, wenn ich zu Hause bin.“

„Was? Und deine Frau macht das mit?“

„Natürlich. Wenn ich schon das Geld für die Familie verdiene, kann sie wenigstens Rücksicht auf meinen Feierabend nehmen.“

Ella schaute ihn von der Seite an, um zu prüfen, ob er das ernst meinte. Er schien das ganz normal zu finden.

„Ist deine Frau nicht berufstätig?“

„Sie hat früher auch als Anästhesistin gearbeitet. Aber jetzt kümmert sie sich um das Haus, den Garten und die Kinder. Und ihr Pferd. Ihr Pferd ist ihr noch wichtiger als das Geigenspiel. Und als ich. Wir leben quasi in zwei verschiedenen Welten.“ Rainer klang fröhlich, als er das sagte. Aber Ella hatte keine Lust, über seine Frau zu reden, irgendeine langweilige verwöhnte Arztgattin, die ihre eigenen intellektuellen Fähigkeiten ihrer Lebensangst geopfert hatte. „Und was ist deine Welt?“

„Meine Welt.“ Er lächelte. „Ich bin Arzt, wie du. Das ist doch der tollste Beruf von allen.“

„Ich bin Gynäkologin, das ist der schönste Beruf. Anästhesie finde ich ja etwas öde.“

„Das stimmt nicht, der Job ist sehr spannend. Außerdem mache ich ja nicht nur Narkosen. Ich bin berufspolitisch aktiv, bei der KV in diversen Gremien und plane außerdem gerade ...“ Er brach den Satz ab.

„... die mysteriösen Baupläne.“ Jetzt wurde das Gespräch endlich interessant.

„Ich kann im Moment wirklich nicht darüber reden. Die Planung ist gerade in einer schwierigen Phase. Glücklicherweise habe ich einige gute Beziehungen, so dass ich denke, dass wir bald die nötigen Genehmigungen bekommen.“

„Wir?“

„Peter macht auch mit. Es betrifft unsere ganze Praxis. Aber wir haben bis zur Klärung erst einmal Stillschweigen vereinbart.“ Er blickte lächelnd zu ihr hinunter. „Ich bin übrigens auch in einigen wichtigen Prüfkommissionen bei der Kassenärztlichen Vereinigung. Du solltest dich also gut mit mir stellen.“

Bevor Ella antworten konnte, küsste er sie. Ella schloss die Augen. Die Sterne und der Mond, das Meeresrauschen, das Klackern der Wanten gegen die Metallmasten auf den Segelbooten und dazu dieser romantische Kuss. Mehr wollte sie nicht. Bloß keine Realität, keine Probleme, keine Männer mit Vergangenheit oder gar einer Zukunft, die mit ihr zu tun hatte.

Langsam, von vielen langen Umarmungen begleitet, gingen sie eng umschlungen auf der Mole zurück. Ella fühlte sich wie siebzehn. Sie mochte seine fordernde Zunge und die Weichheit seiner Lippen. Der bittere Biergeschmack war verschwunden und nun waren die Küsse süß und aufregend.

Sie sah die Trude im Mondlicht schwanken. Außer den Top-Lichtern war das Schiff dunkel, die Anderen lagen wohl schon in ihren Kojen.

„Nein, nicht. Ich möchte noch nicht an Bord gehen.“ Rainer hielt sie zurück, als sie die Gangway betreten wollte. „Bleib noch ein wenig bei mir.“

„Aber mir ist kalt.“ Ella hatte das Gefühl, dass nun der richtige Zeitpunkt für das Ende eines perfekten Abends gekommen war.

„Komm hier hinein. Hier wird dir gleich wärmer.“ Er zog sie von der Trude weg.

Ella hatte den Bootsschuppen, der gegenüber von Peters Yacht im Schatten der Felsen stand, nicht bemerkt. Rainer stieß die Tür auf, die nur angelehnt war. Ein modriger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Mond, der durch ein fast blindes Fenster an der Seitenwand schien, tauchte den Raum in ein milchiges Dämmerlicht. Ella konnte weiße Segel erkennen, die quer durch den Schuppen zum Trocknen aufgehängt waren. An der Wand lehnten Holz-Riemen, in einer Ecke lag ein Gewirr aus Tauen und Fendern. Sie zuckte zusammen, als Rainer scheppernd einen Eimer gegen ein Ruderboot kickte.

„Sorry.“ Er raffte die Segel von der Leine und warf sie in die Ecke. Dann zog er seine Segeljacke aus und legte sie auf den Berg aus Segeln. „Komm.“

Er legte sich auf das weiche Lager und zog Ella auf sich. Es war aufregend. Und vollkommen verrückt. Noch vor einer Stunde wäre sie nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie eng umschlungen mit diesem Mann hier im Schuppen liegen würde. Das hätte sie verhindern können. Aber, wenn sie ehrlich war: Sie hatte sich treiben lassen wollen. Sich freuen, dass sie begehrt wurde.

Als er begann, ihren Körper zu streicheln, war sie fest entschlossen, seine Berührungen zu genießen. Er war zärtlich und erfahren, wanderte mit festen warmen Händen über ihre runden Hüften, ihre trainierten Beine, hoch zu ihren Brüsten. Sie freute sich über die Elastizität und Weichheit ihrer Haut. Er hatte wunderbar muskulöse Oberarme, die weiß im Mondlicht glänzten, während sein im Schatten raubtierhaft verzogenes Gesicht sich ihrem Körper näherte und wieder entfernte, sie liebkosend in einem eigenen wollüstigen Rhythmus. Sie vergaß die muffigen Segel, die Kälte, den Dieselgeruch, den Hafen, ihre Sorgen. Erst ihr eigenes lautes Stöhnen, das sie ausstieß, als sie den Höhepunkt erreichte, brachte sie zurück in die Wirklichkeit.

 

„Das war schön.“ Rainer hatte sich neben sie gelegt und sie mit seiner Segeljacke zugedeckt.

„Hmm.“ Ella wollte nicht reden.

„Du bist eine tolle Frau. Ich bin so glücklich, dich endlich getroffen zu haben.“

Ihr wurde allmählich kalt. Rainers Worte waren ihr unangenehm. Sie erhob sich und begann, sich etwas anzuziehen.

„Bleib doch noch ein wenig liegen.“

„Ich bin müde. Lass uns in unsere Kojen gehen.“

Nun stand auch Rainer auf. „Hoffentlich hat uns keiner gehört.“ Er lächelte sie an und wollte sie noch einmal umarmen.

„Bitte, ich möchte gerne schlafen gehen.“ Ella drückte ihm einen halbherzigen Kuss auf den Mund, bevor sie sich wegdrehte. „Es war wirklich sehr schön.“ Sie verspürte den Drang, alleine zu sein. Der romantische Abend war vorbei. Ein wenig tat es ihr leid. Sie wollte ihn nicht abservieren, aber ihre Gedanken waren bei Clara, ihrer Tochter. Morgen wollten sie zurück zum Festland segeln und dort wartete der Alltag auf sie.

„Wieso bist du so?“ Rainer packte sie an den Schultern. Ärgerlich blickte er ihr in die Augen. Ella sandte ihm einen kühlen Blick zurück. Sie war nicht in Stimmung für Dramen. Plötzlich begann er zu lächeln. „Du gehörst jetzt zu mir. Weißt du nicht, dass du mir deine Seele verkauft hast?“ Als Ella ihn irritiert ansah, lachte er laut auf. „Keine Angst, ich habe nur einen Witz gemacht. Komm, ich bringe dich an Deck.“ Er legte seinen Arm um sie und schob sie durch die Schuppentür.

 

2

 

Zufrieden betrachtete Verena Rüppel die roten Tischläufer auf dem Schiefer-Tisch. Sie hatte sie bei Harms am Wall entdeckt und sie passten perfekt zu den modernen Esszimmerstühlen. Bis auf das große Ölgemälde mit der Worpsweder Bauernkate erinnerte nichts mehr an das Haus ihrer Kindheit, seitdem die Innenarchitektin die Räume umgestaltet hatte. Moderne hochwertige Möbel in Graphit und Bordeauxrot hatten das alte Sofa, die Eichenholz-Sitzgruppe und die riesige dunkle Anrichte ersetzt. Besonders stolz war Rainer auf den Designklassiker Lounge von Eames, einen großen bequemen Leder-Sessel, der die halbe Kaminecke im Wohnzimmer ausfüllte.

Es war einer der seltenen Abende, an denen Rainer und sie zusammen zu Abend gegessen hatten. Die Kinder lagen schon im Bett. Heute hatte sie sich selbst übertroffen und ein perfektes Roastbeef aus dem Ofen geholt. Rainer war bester Laune und hatte ihnen beiden reichlich Rotwein eingeschenkt. Jetzt war sie schon ein bisschen beschwipst und räumte singend die Geschirrspülmaschine ein.

„Rainer?“ Sie hatte Mühe, gegen die Stimme von Shakira anzukommen. „Möchtest du Eis als Nachtisch?“ Wo war er?

„Hörst du mich?“ Sie steckte den Kopf durch den Türspalt. Das Esszimmer war leer. Die halbvollen Weingläser auf dem Tisch warteten auf sie. Die Terrassentür war nur angelehnt und sie konnte ihn draußen in der Dunkelheit erkennen, wie er mit dem Handy am Ohr dem Lorbeer neben dem Fenster ein Blatt abzupfte.

„Bitte, ruf mich ...“ Seine Stimme klang dringlich.

Die Zeiten, in denen sich Verena Rüppel noch Illusionen über ihre Ehe gemacht hatte, lagen lange zurück. Sie war schon während ihrer ersten Schwangerschaft dahintergekommen, dass Rainer ihr nicht treu war. Ihre Unbeschwertheit, als sie, glücklich über das wachsende Leben in ihrem Bauch, aus dem Geschäft in der Sögestraße gekommen war, in dem sie gerade zwei Babystrampler gekauft hatte, war innerhalb weniger Sekunden für immer verschwunden. Sie hatte ihren Mann nur wenige Meter vor sich entdeckt. Lachend hatte er einer blonden jungen Frau den Arm umgelegt und sie geküsst. Wie sie damals den Weg nach Hause gefunden hatte, wusste sie nicht mehr. Aber sie erinnerte sich an die Tränen, die auch Tage später nicht versiegt waren. Schließlich hatte sie ihren Mann zur Rede gestellt und ihm das Versprechen abgenommen, dass er sie nicht mehr betrügen würde.

Danach war es nie wieder so wie früher gewesen. Anfangs hatte sie ihm misstraut, bei jedem Nachtdienst und jedem Wochenende, das er angeblich auf Fortbildungen verbrachte. Sie fand Indizien, dass er sein Versprechen nicht gehalten hatte. In den Taschen seiner Kleidung und später, als er ein Handy hatte, in den Listen der eingehenden Telefonate. Die Eifersucht hatte sie zermürbt. Sie war wie besessen gewesen, ihr Unglück bestätigt zu wissen. Einmal hatte sie Rainer in einem Hotel, in dem er sich wegen eines Treffens seines Berufsverbandes aufhielt, angerufen und eine verschlafene Frauenstimme im Hintergrund gehört. Er hatte nie aufgehört, andere Frauen zu begehren.

Wie viele Jahre hatte sie vergeudet, über Rainers Untreue zu weinen? Irgendwann hatte sie es begriffen. Es lohnte sich nicht, darüber zu trauern. Sie würde Rainer nicht ändern. Er lebte sein eigenes Leben, an dem sie nur teilhatte, wenn er bei ihr und den Kindern war. Sie hatte sich immer zu schwach gefühlt, dagegen zu kämpfen. Wenn sie sich nicht von ihm trennen wollte, musste sie diese Art des Zusammenlebens akzeptieren. Meistens gelang es ihr, nicht über die Eskapaden ihres Mannes nachzudenken. Sie konnte ganz gut abschalten und sich auf ihren Alltag konzentrieren.

„Ich wollte nur wissen ...“ Erschrocken drehte er sich um.

Verena hatte ihn unterbrochen. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie erkannte, dass sie das Gespräch nicht hatte mitbekommen sollen. Eine Welle der Enttäuschung überfiel sie. Wortlos drehte sie sich um und schloss die Tür mit einem Knall.

3

 

„Doktor Carbonne, habe ich etwas da unten. Müsse operieren, sagt meine Doktor. Aber was ist?“

Die junge, übergewichtige Frau schaute sie mit ängstlichen Augen an. Ihr Mann saß neben ihr und blickte gelangweilt aus dem Fenster. Die blasse Oktobersonne, die sich mühsam durch die Wolken kämpfte, beleuchtete das Sprechzimmer nur spärlich. Der Altweibersommer lag zwei Wochen zurück und Ella graute vor den endlosen nasskalten Monaten, die nun folgten.

„Sie haben eine Virus-Erkrankung. Dadurch sind bei Ihnen Warzen entstanden.“ Ella blickte der Frau in die Augen, um zu erkennen, ob sie verstand. Aus dem Augenwinkel taxierte sie den Mann. Seine Schultern dehnten die Lederjacke gefährlich. Er hatte ein schmales kantiges Kinn, trug einen Drei-Tage- Bart und einen aggressiven Gesichtsausdruck, der in ihr sofort eine Antipathie auslöste.

„Aberichimmerwasche! Wiesoichkriegediese Warze?“ Das rote Wollkleid, das seine Frau trug, war ein schöner Kontrast zu ihren schwarzen Haaren und stand ihr gut, obwohl es sich wie eine Wurstpelle an ihren runden Bauch schmiegte. Ihr puppenhaftes Gesicht rötete sich leicht. Der Mann drehte sich nun zu ihr und machte eine kurze Bemerkung auf Türkisch.

„Das hat nichts mit ihren Waschgewohnheiten zu tun, Frau Özkan. Diese Viren werden meistens durch Geschlechtsverkehr übertragen.“ Ella ahnte, dass dieses Wort Probleme auslösen würde.

Die junge Frau wurde immer erregter. „Ich schon lange mit meine Mann verheirat. Wieso jetzt diese Krankheit?“

Der Mann redete nun mit barscher Stimme auf seine Frau ein. Frau Özkan schrie zurück. Ella verstand kein Wort.

„Würden Sie bitte deutsch sprechen.“ Das wurde mal wieder ein mühsames Aufklärungsgespräch. „Diese Viren können schon sehr lange in ihrem Körper sein, ohne sich bisher bemerkbar gemacht zu haben. Es gibt sehr viele Menschen, die sie haben, ohne dass sie Warzen bekommen.“

„Wie kann das sein? Entweder ich habe die Krankheit oder ich habe keine Krankheit.“ Herr Özkan sprach hervorragend deutsch und versuchte, Ella mit autoritärem Tonfall einzuschüchtern.

Sie lehnte sich zurück und antwortete übertrieben freundlich. „Vielleicht kann ich es Ihnen so erklären: Wenn Sie angehustet werden, bekommen Sie auch jede Menge Viren. Aber weil Ihr Körper eine gute Abwehr hat, bekommen Sie trotzdem keine Erkältung. So ist das auch mit den Warzen. Die Eine bekommt sie, der Andere nicht.“ Du kleiner Blödmann, dachte Ella. Natürlich verdächtigte Frau Özkan ihren Mann, fremdgegangen zu sein, und Herr Özkan, ein erfahrener Mann mit wahrscheinlich reichlich Lebenserfahrung, wies jede Schuld von sich. Dazu musste Ella kein Türkisch verstehen.

„In jedem Fall müssen wir nun die Warzen behandeln und das machen wir am besten mit dem Laser.“

„Operasion?“ Die Türkin wurde blass und lehnte sich theatralisch zurück. „Ich hab Angst!“

„Es ist kein großer Eingriff und er wird in Vollnarkose gemacht. Sie werden gar nichts merken.“

„Bitte, bitte, ich nicht Operasion.“ Sie schaute flehentlich zu Ella, Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihr Mann begann erneut auf Türkisch auf sie einzureden. „Mir ist schlecht.“ Dann verdrehte sie die Augen und klammerte sich an ihren Mann.

Die schwache Stimme der Patientin wurde vom Klingeln des Telefons übertönt. „Frau Doktor, Herr Dr. Rüppel möchte Sie sprechen. Soll ich durchstellen?“

Ellas erster Impuls war, das Gespräch abzulehnen, aber sie kannte die Hartnäckigkeit von Rainer. Jetzt hatte er sie erwischt. Schon seit zwei Wochen versuchte er, sie zu erreichen. Ihre Mailbox war voll von seinen Nachrichten, auf dem Anrufbeantworter hörte sie mittlerweile jeden Abend seine immer ungeduldigeren Bitten um Rückruf und Clara hatte mit ihm schon lange Telefonate über den Kindergarten und ihr neues Fahrrad geführt, während Ella den Finger auf den Mund gelegt hatte und aus dem Zimmer geflüchtet war.

„Moment.“ Ella stand auf, ging um den Tisch herum und reichte ihrer Patientin den Arm. „Kommen Sie, Sie können sich nebenan auf die Liege legen. Peggy wird Ihnen etwas gegen die Übelkeit bringen.“ Sie bat ihre Helferin, sich um die Patientin und ihren Mann zu kümmern, und schloss die Tür.

„Hallo, Rainer.“

„Ella. Schön, dass ich dich doch einmal erwische. Du solltest deine Mailbox mal abhören. Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen.“

„Tut mir leid. Es gibt immer so viel zu tun. Wie geht es dir?“

„Schlecht.“ Rainers Stimme klang ernst.

„Was ist passiert?“

„Nichts.“ Ella wartete.

„Und das macht mich krank.“

„Das klingt ja sehr mysteriös. Um was für eine Krankheit handelt es sich denn?“ Sie ahnte, was jetzt folgen würde.

„Ich bin krank wegen dir.“ Ella lachte nervös.

„Ich dachte, dass du unseren Ausflug nach Helgoland auch schön gefunden hast. Und unseren gemeinsamen Abend.“ Rainers Stimme klang beleidigt.

„Es war ein schöner Abend – und wir hatten ziemlich viel getankt.“

„Ich denke die ganze Zeit an dich. Und an jede gemeinsame Minute mit dir.“

Verdammt. Das klang ernster, als sie befürchtet hatte. Sie hatte die zwei Tage auf dem Boot sehr genossen. Auch die Gespräche mit Rainer. Aber sie hätte sich nicht in den Bootsschuppen locken lassen sollen.

„Du warst so leidenschaftlich.“

Es wurde immer peinlicher.

„Warum hast du nicht zurückgerufen?“

Ella überlegte verzweifelt, was sie sagen konnte. „Rainer, du bist verheiratet.“ Das war nicht der einzige Grund, warum sie sich nicht gemeldet hatte.

„Ich habe dir doch gesagt, dass meine Frau und ich nichts mehr gemeinsam haben.“

„Ich denke, du solltest erst einmal deine Eheprobleme lösen, bevor du eine neue Beziehung eingehst.“ In nüchternem Zustand hatte sie sich eingestanden, dass sie ihn eigentlich weder sympathisch noch attraktiv fand. Er war wie aus einer anderen Welt, mit der sie nichts zu tun haben wollte.

„Meine Frau wird uns nicht im Wege stehen.” Er seufzte.

„Ich vermisse dich so.”

Das Gespräch ging in die vollkommen verkehrte Richtung.

„Rainer, ich kann jetzt nicht weiter darüber sprechen. Ich habe gerade eine Patientin. Wir müssen uns treffen und die Sache klären.“

„Ich lade dich zum Essen ein. Wir werden einen wunderschönen Abend zusammen verbringen.“ Er klang viel zu euphorisch.

Ella spürte, wie ihre Abwehr wuchs. „Nein, wir treffen uns nur zum Kaffee. Wir müssen über alles reden.“

„Ella, du machst dir viel zu viele Probleme.“

Sie gab auf. „Rainer, ich muss Schluss machen. Freitag im Ambiente, sechzehn Uhr.“

Sie würde ihm in aller Ruhe mitteilen, dass das Ganze für sie nur ein Abenteuer gewesen war, entstanden durch zu viel Schnaps und Bier. Bis zu ihrer Verabredung musste sie sich bloß noch eine Strategie überlegen, wie sie es ihm beibringen konnte. Sie fürchtete, dass er diese Abfuhr nicht einfach hinnehmen würde. Und dass es mit Rainer noch Probleme geben würde.

4

 

Die Spedition lag im Niemandsland, unter den Pfeilern der Autobahn. Rainer fuhr mit seinem BMW-Kombi durch das hohe Metalltor auf den einsamen regennassen Hof. Hinter dem einzigen Auto, das dort parkte, schoss ein Schäferhund hervor, der ihn mit lautem Bellen begrüßte. Eine schwere, am Hals befestigte Eisenkette bremste das aufgebrachte Tier. Er fuhr bis an die Rampe. Mittlerweile kannte er sich aus. Es war zwar erst die zweite Lieferung Hüftprothesen, die er aus Taiwan erhielt, aber er hoffte, dass alles so reibungslos verlief wie beim ersten Mal.

Der Mann hinter dem Tresen begrüßte ihn mürrisch. Es war derselbe wie vor drei Monaten. Das speckige T-Shirt mit der verwaschenen grünen Werder-Raute, das sich über die Wampe spannte, kam Rainer auch bekannt vor. Das Gesicht hatte etwas Ähnlichkeit mit dem eines Bassets – Alkohol und Zigaretten hatten tiefe Furchen hinterlassen. Rainer gab ihm seine Papiere. Der Basset grummelte ein paar unverständliche Worte, strich sich seine Haarsträhnen glatt und drehte sich um, wobei seine tiefhängenden Jeans den oberen Teil seines Gesäßes freigaben. Er schlurfte in den hinteren Teil des Gebäudes, wo das Lager war. Die Kisten waren so schwer, dass man sie auch zu zweit nur mit Mühe in den Kombi hieven konnte.

Rainer musste noch eine Unterschrift leisten. Dann schwang er sich wieder auf den Fahrersitz und fuhr mit dem vollgepackten Wagen vom Hof in Richtung Gröpelinger Heerstraße. Das Pflaster glänzte im Regen. Die Tropfen prasselten auf die Windschutzscheibe seines BMW, aber Rainers gute Laune konnte das gewohnte Bremer Schmuddelwetter nicht trüben. Durch den Dunst sah er die ärmlichen Reihenhäuser aus den sechziger Jahren. Hässliche Gebäude mit Wasserflecken auf dem Putz und Schimmel, der sich unter den Fenstersimsen gebildet hatte. Müll stapelte sich in den kahlen Vorgärten. Seine alte Heimat, hier war er aufgewachsen. Er dachte an das bevorstehende Treffen mit Ella in zwei Tagen. Vor seinem inneren Auge sah er wieder den Bootsschuppen, die langen Schatten der Segel und Bojen auf dem Boden und Ella, deren Haut im Mondlicht metallisch schimmerte. Er hatte noch ihren Geruch in der Nase, eine süße Mischung aus blumigem Parfum, dem Dunst ihrer Erregung und Alkohol. Für eine kurzen Augenblick meinte er, ihre weichen Hüften zu fühlen und ihre Brüste, die sein Gesicht streiften.

Das Hupen seines Hintermanns ließ ihn zusammenzucken. Er stand vor einer Ampel, die wahrscheinlich schon eine Weile auf Grün geschaltet hatte. Hastig legte er den Gang ein.

Sie war die Frau, auf die er immer gewartet hatte. Das hatte er sofort gespürt, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Sie war ganz anders als Verena. Viel lebendiger, leidenschaftlicher. Natürlich auch selbstbewusster. Aber das war es, was ihn anmachte. Das hatte ihr erotisches Erlebnis so aufregend gemacht. Er wollte sie. Und er stellte sich vor, wie sie gemeinsam in seinem Gesundheitszentrum arbeiten würden. Eine tolle Idee. Sie könnte ihren Praxissitz ins MVZ verlegen. Das musste er unbedingt mit ihr besprechen. Und nach der Arbeit ... Er lächelte. Gestern hatte er ihr dreißig rote Rosen zustellen lassen. Das hatte sie hoffentlich beeindruckt und ihr bewiesen, wie sehr er sie begehrte. Vielleicht würden sie sich eine gemeinsame Wohnung in Bremen nehmen. Mit einem riesigen Schlafzimmer. Natürlich würde er sich von Verena trennen. Was würde die Scheidung ihn kosten? Vor allem das schöne Haus in Worpswede. Es war Verenas Elternhaus, aber er hatte es in den zwölf Jahren ihrer Ehe umbauen, den Garten neu anlegen lassen und die Kinder darin groß werden sehen. Gut, dass er einen wasserdichten Ehevertrag abgeschlossen hatte. Seine Praxis war außen vor. Und von den Gewinnen aus diversen Geschäften und dem Schmiergeld für die Einführung der Prothesen in den deutschen Markt wusste sowieso niemand. Die lagen sicher auf anonymen Konten in Liechtenstein und auf den Caymans. Außer dem Haus und dem Unterhalt für die Kinder konnte Verena nicht viel von ihm erwarten. Ihm wurde ein wenig beklommen, als er an Max und Mathilda dachte. Sie würden natürlich bei der Mutter bleiben. Aber er tröstete sich sofort damit, dass sein Rechtsanwalt ein weitgehendes Besuchsrecht aushandeln würde. Dann könnte er die beiden mindestens jedes zweite Wochenende sehen. Und das war, wie er zugeben musste, öfter als im Moment. Wann hatte er mit Max zum letzten Mal ein Fußballspiel besucht oder mit ihnen einen Ausflug gemacht? Oft schaffte er es nicht einmal, rechtzeitig nach Hause zu kommen, um den Kindern gute Nacht zu sagen. Manchmal wunderte er sich, wie schnell sie groß wurden. Dass Max schon Englisch sprechen konnte! Er war verblüfft gewesen, als Mathilda ihren Fußball verschenkte, weil der durch Kinderarbeit gefertigt worden sei. Verrücktes Mädchen, das sich schon als Sechsjährige Gedanken über die Ungerechtigkeiten der Welt machte. War er auch so gewesen? Sicher nicht.

Er drückte das Bremspedal bis zum Anschlag und konnte seinen Wagen gerade noch fünf Zentimeter vor seinem Vordermann zum Halten bringen. Im Kofferraum schepperte es, als eine Kiste umkippte. Wieso war hier eine Ampel? Die gab es doch früher nicht.

Er sah die Bäckerei auf der linken Straßenseite und erinnerte sich, dass er dort als Kind für einen Groschen Kuchenreste gekauft hatte. Zwei Straßen weiter hatten er und seine Mutter in einer dunklen, immer kalten Zweizimmerwohnung eines Mietshauses gelebt. Das Treppenhaus hatte säuerlich nach Kohl gerochen, vermischt mit dem schimmligen Geruch der feuchten Wände. Gegenüber, im dritten Stock des Hinterhauses, hatte er immer einen dicken Mann beobachtet, der jeden Tag nur mit einem Unterhemd und einer dunklen weiten Hose bekleidet durch die Wohnung lief. Er stellte seine leeren Bierflaschen auf die Fensterbank. Wenn diese nach drei Tagen voll war, zog der Mann eine Jacke über, sammelte die Flaschen ein und brachte sie weg. Noch am gleichen Tag begann die Schau von vorne. Seine Mutter war jedes Mal wütend geworden, wenn sie ihren Sohn am Küchenfenster erwischt hatte. Seine Ohren begannen sofort wieder zu brennen, wenn er sich an die Ohrfeigen erinnerte, die sie nicht nur aus diesem Grund zahlreich und wirkungsvoll ausgeteilt hatte. Wenn er nicht pünktlich von der Schule nach Hause kam, wenn er eine drei in der Klassenarbeit bekommen hatte, wenn er seine Hose schmutzig gemacht hatte bei einer der vielen Prügeleien. In der Schule hatte er keine Freunde gehabt. „Streber“ hatten sie ihn genannt. Er war intelligent und ehrgeizig gewesen, aber leider ohne Interesse für ihre banalen Spiele, kindischen Gespräche und albernen Witze. Und dafür hatten sie ihn gehasst.

Der „Süpermarket“, an dem er jetzt vorbeifuhr, war auch neu. Einige Häuser weiter eine Änderungsschneiderei mit kitschigen paillettengeschmückten Schaufensterpuppen. Hier hatte es noch nie schöne Geschäfte gegeben. Die Straße war genau so hässlich wie zu seiner Kinderzeit, daran änderten auch die blass-bunten Anstriche der alten Häuser mit ihren Erkern und Türmchen nichts. Die meisten Originalbauten waren allerdings im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. An ihre Stelle hatte man vier- und fünfstöckige Klötze gesetzt, die das Straßenbild noch mehr verschandelten.

Ab und zu traf er noch den einen oder anderen ehemaligen Mitschüler. Bremen war ein Dorf. Da lief man sich leicht mal über den Weg. Er hatte sie alle hinter sich gelassen, die kleinen Angestellten, Versicherungsvertreter, Handwerker. Nur er war Arzt geworden und leitete nun eine große anästhesiologische Praxis. In der Gesundheits-Szene Bremens war er bekannt und einflussreich. Er saß in vielen Gremien und war Mitglied der Prüfkommission der Kassenärztlichen Vereinigung. Er hatte es geschafft!

Rainer war seiner Mutter dankbar für ihre strenge Erziehung. Sie hatte ihn angetrieben, das traurige Leben, das nach dem frühen Tod seines Vaters nicht einfacher geworden war, hinter sich zu lassen. Ihre Pläne für ihn hatten sich erfüllt. Rainer spürte den Kloß, der sich in seinem Kehle festgesetzt hatte. Er hätte lieber beim Straßenbahn-Depot in Richtung Hafenstraße abbiegen sollen. Dann wäre er schon längst in Schwachhausen. Aber er hatte diese spontane Idee einer Reise in die Vergangenheit gehabt und war auf der Heerstraße geblieben. Jetzt saß er nicht nur an der fünfzehnten roten Ampel fest, sondern hatte auch seine Hochstimmung verloren. Er wurde jedes Mal schwermütig, wenn er sich an den traurigen, einsamen Jungen erinnerte, der er in seiner Kindheit gewesen war. Jetzt, wo er erfolgreich und bei den Kollegen beliebt war, dachte er nur noch selten an ihn. Aber nie würde er vergessen, wo er einmal herkam.

Etwas später stand er im Stau vor dem Stern. Nach fünf Minuten erreichte er endlich den Kreisverkehr und bog in die Parkallee ein. Vorbei an den großen herrschaftlichen Villen, die hier unter riesigen Eichen auf den Bürgerpark blickten, bog er schließlich auf den Parkplatz der Chirurgischen Klinik Dr. Mertens ab. Udo kam ihm aus dem hinteren Ausgang entgegen. Er trug einen blauen OP-Anzug und eine Papier-Haube auf seinem riesigen Schädel. Er schob eine Transportkarre vor sich her.

„Hallo Udo! Bist du noch nicht durch mit dem Programm?“

„Doch, alles fertig. Wir haben gerade die letzte Hüfte eingesetzt. Hast du alles bekommen?“

„Alles ist da. Zweihundert Stück, alle mit CE-Siegel, wie bestellt.“

„Prima. Da werden sich die Kollegen freuen.“

„Das will ich hoffen. Bei dem günstigen Preis.“

„Und dann bekommen sie noch eine Kopie deiner kreativen Rechnung, die sie bei der Kasse einreichen können.“ Udos Stimme klang etwas gepresst unter der Anstrengung, die letzte der schweren Kisten auf die Sackkarre zu heben. „Da machen sie einen guten Schnitt.“

„Pass aber auf, dass niemand erfährt, dass du die Lieferung von mir hast.“

„Keine Angst. Auf der Rechnung steht doch Delplant GmbH, Delmenhorst.“

Rainer fand es gewagt, dass Mertens noch andere mit ins Boot nahm. Obwohl er sich abgesichert hatte. Die Firma existierte nur auf dem Papier, und sein Rechtsanwalt hatte dafür gesorgt, dass man keinen Zusammenhang zu ihm herstellen konnte. Dafür hatte er ihm ein Drittel von den 600.000 Euro „Einführungsprämie” von Herrn Li abgegeben. Trotzdem. Je mehr an dem Handel beteiligt waren, desto riskanter wurde die Sache. Er schlug die Heckklappe zu.

„Warte!“ Udo rückte dicht an Rainer heran. Seine Ausdünstungen nach dem langen OP-Tag waren nichts für empfindliche Nasen. „Was macht dein geheimnisvolles Projekt?“

„Alles im Fluss!“ Rainer grinste ihn an. Seine gute Laune kehrte zurück. „Hast du die Praxisräume eigentlich gemietet oder gekauft?“

„Gemietet. Und was hat das mit meiner Frage zu tun?“

„Was ich dir jetzt erzähle, musst du erst einmal für dich behalten. Ich plane ein ganz großes Ding. Ich muss mich nur noch für den Standort entscheiden. Wenn ich den Bauplatz ausgewählt habe und der Antrag durch ist, werde ich dir ein interessantes Angebot machen. Und vielleicht wirst du dann ja umziehen.“

„Mensch Rainer, nun sag endlich, worum es geht.“

„Ich werde ein Medizinisches Versorgungszentrum in Bremen bauen.“

„Respekt! Ein großes Projekt. Kostet sicher viel Geld.“

„Ja, da musste ich schon mal mein Sparschwein plündern.“ Rainer lachte. „Nein, natürlich geht das nur mit Hilfe der Banken. Aber die waren schnell von meinem Konzept überzeugt.“

„Wie sieht denn der Plan aus?“

„Das Ganze wird ein vierstöckiges Gebäude mit zentraler Anmeldung und ambulantem OP. Es gibt Platz für zwölf Praxen, Apotheker und Sanitätshaus. Außerdem soll ins Erdgeschoß noch ein schickes Café. Und darunter befindet sich eine Tiefgarage für die Patienten.“

„Wird sich das denn rechnen? Die Mieten werden doch viel zu hoch sein in so einem Luxus-Gebäude.“

„Das wird ein Riesen-Erfolg.“ Rainers Augen leuchteten vor Begeisterung. „Im vierten Stock zieht eine Pflegeeinrichtung ein, über die ein großer Teil der Kosten abgedeckt wird. Du könntest sogar zwei oder drei Belegbetten dort einrichten. Und dadurch können wir die Quadratmeter-Miete niedrig halten.“

„Dann hast du ja demnächst jede Menge Neider und Gegner, die vor der drohenden Konkurrenz Angst haben.“

„Worauf du dich verlassen kannst. Der Markt gibt es nun mal vor. Wir müssen unsere Kräfte bündeln. Nur die Stärksten werden überleben, und ich will dazu gehören.“ Er schwang sich in seinen BMW und winkte Mertens lässig zum Abschied aus dem geöffneten Fenster.

 

5

 

Die große rothaarige Frau mit den strengen Gesichtszügen wirkte mit ihrer langen schwarzen Schürze wie Persephone, die Göttin der Unterwelt. Das düstere Herbstwetter, das den Wintergarten des Ambiente in ein graues Licht tauchte, passte perfekt. Seine Bestellung ging im Brummen der Espressomaschine, dem Klappern des Geschirrs, den jazzigen Klängen aus der Musikanlage und dem Stimmengewirr unter, so dass er sie wiederholen musste. An den kleinen runden Tischen saßen überwiegend Frauen, meist paarweise. Draußen floss träge und braun die Weser. Auf der Ufer-Wiese kämpften Spaziergänger mit ihren geduldigen Hunden gegen Wind und Regen.

Rainer lauschte gerade einer Frau am Nachbartisch mit einem Filzhut in fröhlichem Pink und giftgrünem Hemd, die voller Begeisterung über ihr Seminar „Angstfreies Gebären“ berichtete, als Ella mit energischer Geste den Stuhl zurechtrückte und Platz nahm. Ihre nassen Haare klebten ihr an den Wangen. Sie sah wild und schön aus.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich habe keinen Parkplatz gefunden.“

„Hauptsache, du bist da.“ Er beugte sich über den Tisch und wollte sie auf den Mund küssen. Sie drehte den Kopf zur Seite, so dass er nur den Mundwinkel erwischte.

„Rainer ...“ Ella wurde von Persephone unterbrochen, die einen Latte Macchiato auf den Tisch stellte. Sie bestellte einen Tee und suchte in ihrer riesigen Stofftasche nach einem Taschentuch, um sich das Gesicht zu trocknen.

Er sah ihr lächelnd zu. „Kaum zu glauben, dass wir vor drei Wochen noch in der Sonne gesegelt sind.“

„Ja, als ob es Ewigkeiten her wäre.“ Es entstand eine Pause, in der Rainer Ella verliebt betrachtete, während Ella die Milchwellen im Glas beobachtete, die sich nach dem Hinstellen gebildet hatten und nun die Kaffee-Schicht verdrängten.

„Ich freue mich so, dich zu sehen.“ Rainer wollte ihre Hand ergreifen, doch Ella zog sie zurück.

„Rainer.“ Sie suchte nach Worten und er lächelte sie an. „Es ist einfach der falsche Zeitpunkt. Wir haben einen schönen Ausflug zusammen gehabt. Aber im Augenblick ist in meinem Leben einfach kein Platz für eine neue Beziehung.“

„Ella, warum machst du nur alles so kompliziert? Warum lässt du dich nicht einfach fallen?“