Mit freundlicher Unterstützung
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt.
© 2020 Zytglogge Verlag AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Andjelka Antonijevic
Umschlagfoto und -gestaltung: Vinzenz Wyser
eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar
ISBN EPUB: 978-3-7296-2306-4
ISBN MOBI: 978-3-7296-2307-1
www.zytglogge.ch
Wohin so eilig, Johanna?
Roman
Jedem, der diese Geschichte liest,
sei erlaubt zu glauben, was er will.
Sie trat hinaus und blickte zum Himmel. Es dämmerte bereits, als sie die Tür hinter sich zuzog und durch die Gasse lief. Sie winkte der Magd des Nachbarn, die einen Eimer Wasser ausschüttete, und wich dem ratternden Karren eines Händlers aus.
Auf das fröhliche «Wohin so eilig?» des Nachbarn antwortete sie mit einem Lächeln und deutete auf die Papierrollen, die aus ihrem Beutel ragten.
Sie durfte sich nicht so verstohlen umsehen. Es gab keinen Grund, sich zu verstecken. Dass sie zu dieser Stunde noch unterwegs war, war nichts Aussergewöhnliches. Längst wunderte man sich nicht mehr über die Schreiberin, die die fertigen Schriftstücke oft noch gegen Abend ihren Auftraggebern überbrachte. Und doch hatte sie heute das Gefühl, dass ihr jeder ansah, was sie vorhatte.
Die Kirche war zu dieser Stunde meist leer. Vorsichtig öffnete sie die Seitentüre, wobei den Scharnieren ein knarzender Laut entfuhr. Ihr Gesicht verzog sich schmerzhaft. Das Ächzen musste in der ganzen Stadt zu hören sein.
Drinnen war es beinahe schon dunkel. Sie zog einen Kienspan aus ihrem Beutel hervor und entzündete ihn an einem der Lichter, die in den Altarnischen brannten. So schnell es die flackernde Flamme erlaubte, lief sie den langen Gang entlang in Richtung des Chores, hielt einen Moment inne und blickte in das sich im Dunkeln verlierende, hohe Gewölbe hinauf, doch da war nichts. Sie stieg die steilen Stufen hinunter, die in die Krypta führten. Kälte schlug ihr entgegen.
Sie hielt den Kienspan hoch und liess ihren Blick durch den niedrigen Raum gleiten. Unruhige Schatten flackerten über die Mauern. Die Flamme liess das Gesicht eines Mannes aufleuchten, doch sie beachtete ihn nicht weiter. Es war nicht der richtige Moment, um die bunte Bemalung der Krypta zu bestaunen. Erst nachdem sie hinter jeden Pfeiler geleuchtet hatte, wagte sie wieder, richtig zu atmen. Die dreischiffige Halle war leer.
An der gegenüberliegenden Wand liess sie ihre Fingerkuppen über das kalte Mauerwerk gleiten. Zählen war nicht nötig, ihre ausgestreckte Hand fand den losen Stein auf Anhieb. Vorsichtig schob sie ihn an einer Seite nach hinten. Es knirschte leise. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte ihren Arm in die Höhe und tastete mit der Hand die Öffnung ab. Die Nische war leer.
Johanna erhob sich von ihren Knien. Sie bekreuzigte sich flüchtig und wandte sich zum Gehen um. Mitten im Hauptschiff blieb sie stehen. Sie hatte vorgehabt, am Marienaltar ein Wachslicht zu entzünden und die Muttergottes um Rat zu fragen. Aber nichts, nicht einmal ein stummes Ave Maria war ihr über die Lippen gekommen. Das kurze Gefühl inniger Ergriffenheit, das sie auf dem Weg in die Kirche erfasst hatte, war verschwunden.
Mitten im Hauptschiff blieb sie stehen. Mit hängenden Armen stand sie da und starrte unschlüssig ins Leere. Noch immer war sie nicht zur Ruhe gekommen, auch wenn ihr Leben nun geregelter war: Sie trug Kleider, die ihrem Geschlecht entsprachen, und hörte wieder auf ihren Taufnamen. Sie war eine geachtete Bewohnerin der Stadt und verdiente sich ihr Geld mit ehrbarer Arbeit. Alles war gut, und doch war ihr Leben noch immer nicht frei von Täuschung und Lüge. Johanna ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie hatte immer geglaubt, nach Gottes Willen zu handeln, aber war es nicht Anmassung gewesen, immer zu tun und zu lassen, was sie wollte? Was war ihr davon geblieben?
«Ein Teller Grütze, ein Becher Dünnbier und ein Dach über dem Kopf, immerhin», lachte sie bitter auf. «Laut Eugenius die einzige Wahrheit.»
Kurz erleuchtete flackerndes Licht das namenlose Grauen an der Wand vor ihr. Das Gemälde zeigte die zu ewigen Höllenqualen verurteilten Sünder vor dem Jüngsten Gericht. Ein Werk des Fliegenmalers zu Padova.
«Gott zum Grusse, Frau Johanna!»
Erschrocken drehte sie sich um.
«Das ist ein seltener Anblick.» Hinter ihr stand Pfarrer Ehrsam. Ein behäbiger, älterer Herr mit rundlichen und immer rotgesunden Wangen, die mit den Jahren an Elastizität verloren hatten und beim Gehen und Sprechen wackelten. Es hatte Johanna stets Mühe bereitet, ernst zu bleiben, wenn er die Messe gelesen und dazu seine Backen tanzen gelassen hatte.
Sie wandte sich schnellen Schrittes dem Ausgang zu.
«Moment!», hielt der Gottesmann sie zurück, «wäre jetzt nicht ein guter Augenblick für die Beichte? Ihr habt schon lange nicht mehr Euer Gewissen erleichtert. Ich muss Euch zum wiederholten Male gemahnen: Euer Seelenheil, Johanna!»
Er schaute sie aus seinen wässrig blauen Augen an, die in so seltsamem Kontrast zu seinem übrigen Äusseren standen. Es war in ihnen etwas Verschlagenes.
«Denkt an die Ewigkeit. Die Ewigkeit ist so unfassbar lang. Wir Erdensünder können uns nicht einmal den kleinsten Moment des winzigsten Augenblickes der Ewigkeit vorstellen. Ihr wollt doch gewiss in den Himmel und nicht …», er hielt inne und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Boden. Der Nagel, der spitz auslaufend daran wuchs, durchbohrte die Steinplatten unter ihr und liess leise krachend den Blick auf einen glühend roten Krater frei.
«Ein paar Jahre im Fegefeuer bleiben kaum jemandem erspart», nahm Johanna die Stimme des Priesters wieder wahr, «aber diese Jahre wollen möglichst kurzgehalten werden. Also, meine Tochter», duzte er sie nun, wie er es immer tat, wenn er seinen Mahnungen Nachdruck verleihen wollte, «führe ein gottgefälliges Leben. Sprich deine täglichen Gebete, halte die Gebote ein, und» – hier wechselte er ohne ersichtlichen Grund wieder die Anredeform – «kommt regelmässig zu mir zur Beichte. So ist Euch dermaleinst der Platz neben unserem Heiland sicher.»
Sie hatte das Beichten vor langer Zeit schon verlernt. Ihr brauchte niemand zu sagen, dass sie gesündigt hatte. Bereits als Kind hatte sie erfundene Sünden gebeichtet. Zu oft hatte sie erfahren, dass man ihr die Wahrheit nicht glaubte. Mundus vult decipi. Die Welt will betrogen werden.
Johanna blieb stumm.
«Frau Johanna? Ist Euch nicht gut?» Er fasste sie vorsichtig am Ellenbogen. Die Hand war eiskalt. Sie schrie auf, bekreuzigte sich und stolperte aus der Kirche.
Draussen war es jetzt auch finster, doch Pfarrer Ehrsam würde seinen Schatten nicht über die Schwelle der Kirche treten lassen. Zur Stunde der Geister und Dämonen war es noch eine Weile hin.
Auch für die fröhlichen Zecher und notorischen Raufbolde war es zu früh. Johanna hatte keine Lust, dem Nachtwächter in die Arme zu laufen und seine nächtliche Einsamkeit mit ihrem munteren Geplauder verkürzen zu helfen. Entschlossen zog sie ihren Umhang enger um sich und machte sich auf den Weg.
Vor ihrer Haustüre blieb sie stehen und warf einen Blick nach oben. Am klaren Himmel zeichneten sich die ersten Sterne ab. Wann hatte es das letzte Mal geregnet?
Dass sie den Himmel mehr als alles andere vermissen würde, hatte sie bereits geahnt, als sie seine ganze Weite noch täglich über sich gehabt hatte.
«Du hast es so gewollt», schalt sie sich selbst, öffnete die schwere Eichentüre und schlüpfte hinein.
Als es ihr endlich gelungen war, mit zitternden Händen den Riegel vorzuschieben, lehnte sie sich erschöpft gegen die Türe und schloss die Augen. Was war das gewesen? Pfarrer Ehrsam war doch vor gut einem Jahr dem Schwarzen Tod erlegen. Sie wartete, bis sich die fliegenden Gedanken ein wenig beruhigt hatten. Erst dann zog sie ihren Umhang aus und hängte ihn an einen Haken neben dem Eingang.
Sie ging zu der Truhe an der gegenüberliegenden Wand. Wie eine Diebin vergewisserte sie sich allein zu sein, schob sie dann zur Seite und löste eine lose Diele vom Boden. Mit einem Griff holte sie ein zerknittertes Päckchen hervor.
Leise vor sich hin fluchend nestelte sie an dem festgezurrten Knoten der Leinenschnur, die die Papiere zusammenhielt. Schliesslich verlor sie die Geduld, griff nach dem Messer und zerschnitt den Knoten. Mit dem Unterarm schob sie die vielen Papiere, Federn und verschiedenen Tintenfässchen auf ihrem Schreibtisch zur Seite und legte das geöffnete Bündel auf die freie Fläche. Sie wusste, was auf ihnen zu lesen war. Dennoch überflogen ihre Augen die Zeilen. Sie schlug mit der geballten Faust auf die Tischplatte, so dass die Tintenfässchen darauf erzitterten.
Die Welt wollte betrogen werden! Doch dies hier musste sie erfahren. Ob sie es dann glaubte oder nicht.
Johanna liess sich auf den Stuhl sinken und stiess einen tiefen Seufzer aus. Rom war auf dem besten Weg, noch mächtiger zu werden. Seit der Krönung des Gegenpapstes hatte sie jede Hoffnung auf einen Sieg des Konzils aufgegeben.
Sie richtete sich wieder auf. Da sass sie nun in ihrer Schreibstube und verdiente sich ihr Leben mit dem Schreiben von Briefen, dem Kopieren von Dokumenten und dem Übersetzen von Schriftstücken. Derweil moderte dieses Papierbündel unter den Dielen immer weiter vor sich hin. Wie oft schon hatte sie nach Mitteln und Wegen gesucht, seinen Inhalt unter die Leute zu bringen.
Sollte sie sich einfach auf den Kornmarkt stellen und die Wahrheit verkünden? Sie verzog ihren Mund zu einem spöttischen Grinsen. Warum sich nicht gleich selbst beim Inquisitionsgericht anklagen?
Oder sollte sie die Blätter kopieren und verteilen? Abgesehen davon, dass sie dafür Jahre brauchen würde, würde sie kaum jemand lesen können. Die wenigen, die diese Kunst beherrschten, gehörten zu denen, welche die Wahrheit mit allen Mitteln zu verheimlichen suchten.
Und selbst wenn es einen Weg gegeben hätte, die Botschaft ans Licht zu bringen, ohne dabei selbst in die Fänge der Inquisition zu geraten – niemand würde es glauben wollen.
Ihr Blick schweifte über die Fülle von Papieren auf ihrem Tisch. Sie wollte gar nicht wissen, was da alles Tag für Tag an Fälschung und Lüge in die Welt gesetzt wurde. Und das galt nicht nur für Dokumente.
Glaubte man den Reliquienhändlern, hätte der Apostel Thomas mindestens fünfzig Zeigefinger gehabt. Und zählte man alle Nägel vom Heiligen Kreuze, die in Kirchen und Klöstern verehrt wurden, wäre der Leib Christi von oben bis unten durchbohrt gewesen. Mundus vult decipi. Und das Erdenleben war hart genug.
Johanna kaute an ihrer Unterlippe. Sie selbst glaubte auch nur, was sie glauben wollte. Irgendetwas musste man schliesslich glauben. Oft hatte sie mit Eugenius darüber gesprochen, wieviel einfacher es gewesen wäre, alles zu vergessen und beim Alten zu lassen. Sie erinnerte sich deutlich an eine ihrer heftigsten Diskussionen.
«Hüte du dich vor der Sünde der Geltungssucht, Johanna. Wer bist du, der Welt die Wahrheit zu verkünden?», hatte Eugenius bei einem besonders schlimmen Streit streng ausgerufen. «Eine Wahrheit, von der du nicht einmal sicher weisst, ob sie eine ist!»
Sie konnte es noch immer nicht fassen. Eugenius, der sie besser kannte als sonst jemand, hatte ihr unlautere Motive unterstellt und ihr deutlich zu verstehen gegeben, sie solle das Ganze vergessen und sich um ihre eigene Wahrheit kümmern. Damit hätte sie gerade genug zu tun für ein Leben.
Sie stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und stand mit einem Ruck auf. Dabei fiel der Stuhl polternd zu Boden.
Minutenlang starrte sie mit leerem Blick auf die Papiere vor sich. Zum Teufel damit! Was ging sie das Geschreibsel dieses wankelmütigen Gelehrten an? Sie raffte die losen Papiere zu einem ungeordneten Bündel, öffnete die Ofenluke und schob sie hinein. Geschwind entzündete sie einen Kienspan an der Talglampe. Gleich würden die gierigen Zungen der Feuergeister die Papiere verschlungen haben.
«Johanna, tu es nicht!»
Vor Schreck liess sie das Licht fallen. Es erlosch auf der Stelle.
«Theophil?», flüsterte sie unsicher und lauschte regungslos. Keine Antwort. Langsam drehte sie sich um. Die Ecke, aus der sie die heisere Stimme vernommen hatte, lag im Dunkeln. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn er sich nicht zeigte. Wie alle Hauswesen war Theophil äusserst lichtscheu, vergass dabei aber gerne, dass seine aus dem Nichts kommenden Kommentare die Menschen oft furchtbar erschreckten.
Johanna nahm hastig das Bündel aus dem Ofen, schlang achtlos die zerschnittene Schnur darum, legte das Päckchen in den hohlen Raum unter der losen Diele, rückte die Truhe wieder an ihren Platz und liess sich keuchend, als ob sie einen Berg hinaufgerannt wäre, darauf fallen. Sollten die Blätter dort verrotten, bis sie schwarz wären. Sie hatte ein für alle Mal genug von ihnen.
Aufmerksam liess sie ihren Blick durch den im spärlichen Licht des Talglämpchens liegenden Raum schweifen. Von hier aus hatte sie ihn noch nie betrachtet.
Eine einfache Stube. Der Boden aus grob gezimmerten Tannenriemen. Die tiefhängende Decke. Auf dem Tisch stapelten sich Rechnungen, Leih- und Pfandbriefe, Verträge und Schuldscheine. Für das tägliche Leben Nützliches und Notwendiges, das es zu kopieren oder ins Reine zu übertragen galt.
Johanna rieb sich die kalten Hände. Lange konnte sie das Heizen nicht mehr hinausschieben. Der Ofen in der Ecke war ihr ganzer Stolz. Seine grünen Kacheln waren der Grund gewesen, weshalb sie sich für das Haus entschieden hatte. Bald würde er wieder ihren vom Schreiben steifen Körper wärmen. Das Sitzen bereitete ihr nach wie vor Mühe. Immer wieder musste sie aufstehen, sich strecken und dehnen. Wenn nicht ausdrücklich anders gewünscht, brachte sie der Kundschaft die fertigen Schriften selbst. Man schätzte diese Dienstleistung, zumal die Frau Schreiberin keine Extrabezahlung dafür nahm.
Johanna dachte an die reich ausgestatteten Studierzimmer, die sie in den Palästen Italiens gesehen hatte. Kein Vergleich zu ihrer kargen Stube. Dort war alles auf Repräsentation angelegt, hier alles nach Zweck eingerichtet.
Zwei Wahrheiten. Eine davon war die ihrige. Sie verdiente sich in der Schreibstube ihren Lebensunterhalt, was nicht wenig war.
Der ranzige Geruch des Lampentalgs, den sie sonst nicht wahrnahm, stach ihr auf einmal in der Nase. Vor einigen Stunden hatte sie ihren Tisch auf die Gasse gestellt und die Helligkeit des Tages zum Arbeiten genutzt. Bald würde sie sich nur noch mit dem schwachen Licht in der Stube begnügen müssen. Es ging bereits gegen Ende eines Oktobers zu, dessen Gold die Krönung eines warmen und trockenen Herbstes war.
Bald kommt der Totenmonat mit seinen kalten Regentagen und den nächtlichen Nebelschwaden, die sich zur Dämmerstunde aus der Tiefe des Flusses erheben und ihre gierigen Finger nach jeder Gasse, nach jedem Haus und nach jedem Herz strecken.
Draussen vor der Stadt legen sich die Novembernebel auf die morastigen Felder, schweben lautlos über Wiesen und durchdringen Hecken und Gärten. Vom Wind aufgewirbeltes Laub liegt auf den nassen Wegen. Die Natur neigt sich ihrem Endspurt zu, die kürzer werdenden Tage werden ihr Ziel bald erreicht haben. Die Pflanzen ziehen ihre Säfte zurück. Bis zum ersten Frühlingslicht sammeln sie Kraft für den neuen Kreislauf des Lebens.
Die Menschen rücken in den warmen Schein des Herdfeuers. Sie ruhen von der Betriebsamkeit des Sommers.
Glücklich, wer jetzt ein Dach über dem Kopf hat. Auf den Friedhöfen gedenkt man der Verstorbenen und sucht auf den Gräbern nach dem eigenen Seelenfrieden.
Wer jetzt nicht sterben kann, muss sich bis zum Frühling gedulden.
Johanna dachte an jene, die dann noch immer umherzogen und ihr Lager im Stall barmherziger Bauern oder im Schutze einer Schneewehe aufschlagen mussten.
Sie wollte jetzt nicht an den nahenden Winter denken. Er erinnerte Johanna an ihn, an den sie sich nicht erinnern wollte. Aufgewachsen in der Sonne des Südens war er nicht von klein auf vertraut gewesen mit dieser Jahreszeit. Die ihm anfangs sogar Angst bereitet hatte, weil er nicht gewusst hatte, wie sich zu schützen vor seiner unerbittlichen Härte.
November in Italien. Olivenernte. Im Umland der Heiligen Stadt schüttelten sie die alten Bäume, bis die grünen Früchte auf die ausgebreiteten Tücher fielen. Frischgepresstes Öl. Das flüssige Gold kratzte im Hals.
Kalt war es manchmal auch dort gewesen. Und dennoch hatte sie, nach den Wintern in seiner Heimat, erst wieder lernen müssen, den Duft des Schnees freudig zu erwarten und die glasklaren Tage dieser Monate zu lieben. Mit einem Dach über dem Kopf fiel der Gedanke daran leicht.
Der Schein der kleinen Flamme auf dem Tisch liess ein Wandbrett erahnen. Darauf standen ihre Schätze. Die Heilige Schrift. Ein kleiner Psalter, den sie aus dem Kloster mitgebracht hatte. Vergils Aeneis und die Carmina des Horaz. Neben ein paar philosophischen Schriften von Cicero stand ein Ritterroman. Und natürlich Dante, Petrarca, Boccaccio. Das meiste waren Geschenke aus den Bibliotheken der italienischen Fürsten, für die sie gespielt hatte.
Johannas Hand glitt über das kühle Leder der Buchrücken und griff zu einem Gedichtband. «Meinem gelehrigen Schüler Giovanni. In Freundschaft, Enea Silvio Piccolomini». Sie schmunzelte. Schüler und Lehrer waren damals noch Schreiberlinge gewesen, doch Eneas Kopf war von Anfang an aus der Masse der Konzilssekretäre herausgestochen.
Gerade neulich noch hatte Käthe sich nach ihm erkundigt.
«Was ist eigentlich aus …», stirnrunzelnd hatte sie innegehalten und, wie es ihrem Temperament entsprach, mit der Hand herumgefuchtelt, als ob sie die Antwort aus der Luft hätte fangen können, «wie hiess er doch gleich, der, der dir so gefallen hat?»
Sie sah Käthe verständnislos an.
«Na dieser Italiener!»
Johanna schnappte nach Luft. Wie konnte sie nur? Sie hatte ihr doch jede diesbezügliche Frage verboten. So beiläufig wie möglich antwortete sie ihrer Freundin: «Welchen meinst du? Es gab deren viele am Konzil.»
«Na den, der dir sein Buch mit den unanständigen Versen geschenkt hat. Was ist aus ihm geworden?»
Erleichtert fiel sie in Käthes Lachen ein. Enea war jetzt Sekretär des Gegenpapstes Felix V. So habe der Arme wenigstens den Besten an seiner Seite, erklärte sie Käthe. Obwohl das nicht viel helfen würde. Sie kicherten bei der Vorstellung, wie Enea die Mussestunden des Papstes wider Willen mit seinen Versen aufheiterte.
Käthe hatte recht. Trotz des delikaten Inhalts war Johannas Bewunderung für die poetische Ausdruckskraft dieses Mannes so gross, dass sie darüber hinwegsah, dass seine Verse nicht erfunden sein konnten. Sie mussten aus der Erinnerung des eigenen Erfahrungsschatzes kommen.
Leider wollte Käthe dann noch wissen, ob man von jenem Deutschen, der sich am Konzil feurige Dispute mit Kardinal Schifanoia geliefert hatte, je wieder etwas gehört habe.
Johanna schnaubte: «Komm mir bloss nicht mit dem, Käthe! Rennt über zum Feind und wird der Liebling der Papisten. Ich weiss nicht, was er macht oder wo er ist. Und ich will es auch nicht wissen. Vielleicht sitzt er ja noch immer in Konstantinopel und lässt es sich gut gehen. Oder er ist gar nie dort angekommen und im Meer versunken.»
«Ach, so sind sie halt, die Männer», winkte Käthe ab.
«Ich weiss nicht. Ausserdem, wer sagt dir, dass wir Frauen nicht genau so machtversessen sind? Ich habe in Italien Fürstinnen gesehen, vor denen jeder aufstrebende Bürgermeister verblasst. Oder denk an unsere ehemalige Herrin. Wenn man diese Weiber liesse, würden sie alles tun, um die Welt nach ihren Wünschen tanzen zu lassen.»
«Tun sie doch auch. Eine Frau muss ihren Mann zu lenken verstehen. Wo kämen wir denn sonst hin?», lachte Käthe.
Ohne auf die Bemerkung einzugehen, fügte Johanna nachdenklich bei: «Ausserdem, Käthe, es liegt ein erstaunlicher Unterschied darin, ob man die Welt aus Beinlingen oder aus einem Weiberrock heraus betrachtet.»
Da gab sich Käthe schmunzelnd geschlagen.
«Du kleine, schlaue Verwandlungskünstlerin. Da kann ich nicht mitreden.»
Schlagartig war Johannas Heiterkeit weggelöscht. Käthe hatte sich nichts dabei gedacht, aber sie wollte nicht an etwas erinnert werden, woran sie ohnehin die ganze Zeit voller Unbehagen denken musste. Eiligst hatte sie sich von Käthe verabschiedet.
Als Johanna jetzt das Buch zurückstellte, kamen ihr die Psalmworte in den Sinn: «… fällt euch Reichtum zu, so hängt Euer Herz nicht daran.»1
Das Sammelsurium ihrer Bücher war klein, doch bereits zu gross, um alle Bände mitzunehmen, sollte es ihr doch noch einmal in den Sinn kommen, aufzubrechen.
In ihrer Zeit im Kloster und erst recht in den Jahren ihrer Wanderschaft hatte sie die grössten Klosterbibliotheken und kostbarsten privaten Büchersammlungen, in denen das gesamte Wissen der Menschheit vereint war, gesehen.
Das Konzil hatte wertvolle Handschriften und Bücher in die Stadt gebracht, die fleissig zur Abschrift in Auftrag gegeben worden waren. Besonders Stundenbücher für die private Andacht waren nun auch bei den wohlhabenden Stadtbürgern in Mode. Dazu Psalter, Heiligenlegenden, die Kirchenväter, Werke geistlicher und weltlicher Denker, und immer und immer wieder die Worte der Heiligen Schrift, festgehalten in kostbaren Bänden, die man sich gut sichtbar auf ein Wandbrett stellte.
Die Rücken ungezählter Ordensleute bückten sich in mühseliger Arbeit über die Tischplatten, kopierten Buchstaben um Buchstaben, hoben Wort um Wort aus den alten und neuen Schriften und malten die Initialen mit kunstvollen Verzierungen. Sie hielten die einmal gedachten und geschriebenen Sätze fest, auf dass sie nicht verloren gingen in der Flut der nutzlosen Worte, die täglich auf die Menschen hinabstürzten.
Neben den Brüdern und Schwestern der klösterlichen Skriptorien, deren Federn seit Jahrhunderten unermüdlich über Pergament und Papier gekratzt hatten, gab es nun vermehrt auch Laienschreiber, die sich neben ihren täglichen Schreibdiensten auf diese noble Kunst spezialisierten.
Auch Johanna war es jedes Mal eine Freude, für ein paar Monate eines dieser Werke bei sich zu haben. Während der Arbeit schob sie die Gedanken darüber, ob überhaupt jemand all die Worte las, sie studierte, an ihnen zweifelte oder sich an ihnen erbaute, zur Seite. Sie verstand den Stolz der Auftraggeber, die Schönheiten einfach nur zu besitzen. Wie gerne hätte sie selbst all diese Bücher besessen und gelesen. Aber Bücher waren kostspielig. Sie versuchte, die Worte beim Kopieren zu verstehen. Doch die beim Kopieren erforderliche Präzision liess meist nicht mehr als ein kurzes Erfassen mit dem Auge zu. Die Worte schlichen sich dann in ihre Schlafkammer und liessen ihr nachts keine Ruhe.
Kopieren war eine anstrengende Arbeit. Für gewöhnlich stand dem Kopisten lediglich die Abschrift einer Abschrift als Vorlage zur Verfügung. Aus Unaufmerksamkeit und mangelnder Sprachkenntnis, die nur zu einem geringen Teil den Autoren zuzuschreiben waren, schlichen sich bei jeder Kopie neue Fehler ein. Johanna ärgerte sich täglich darüber.
Einmal hatte sie einen Band, den sie für einen Ratsherrn hatte kopieren müssen, in doppelter Ausführung angefertigt. Zur Strafe entzündete sich ihr Arm. Wochenlang hatte sie nicht richtig arbeiten können.
Johanna gähnte, stellte noch ein paar getrocknete Apfelringe für Theophil hin, nahm das Licht und stieg die schmale Treppe zu ihrer Schlafkammer hinauf.
1Ps 62, 11a. Diese und alle nachfolgenden Bibelstellen werden aus der folgenden Bibelübersetzung zitiert: Nach Martin Luthers Übersetzung revidiert 2017, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 2017.
«Wie Ihr wisst, tagt das Heilige Konzil seit einem Jahr in unserer Stadt. Nicht nur, dass die Konziliaristen nun den Anspruch darauf erhoben haben, die ganze Kirche allein zu repräsentieren, sie erdreisten sich sogar, sich dabei auf Gottes Gnaden zu berufen. Natürlich hat unser Heiliger Vater zu Rom diesen unerhörten Machtanspruch nicht hingenommen und unverzüglich die Aufhebung des Konzils angekündigt.»
Die Äbtissin hebt ihre Stimme und beendet die Ansprache mit den Worten: «Das Konzil hat es gewagt, Eugen IV. mit Absetzung zu drohen.»
Ein Raunen geht durch die Menge. Ich werfe einen schnellen Blick in Claras entsetztes Gesicht. Die Äbtissin lässt ihre stechenden Augen über die langen Reihen von schwarzen und weissen Schleiern gleiten. Die gestrenge Ordensfrau ist kugelrund und kleiner als die meisten von uns. Lautlos trippelt sie durch die steinernen Klostergänge. Dass sie sich jeden Morgen hohe, mit feinem Leder besohlte Trippen unter die Schuhe schnallt, ist kein Geheimnis. Eine kleine Schwäche, die niemand zu belächeln wagt.
Auf ihren Wink hin verstummt das Gemurmel augenblicklich. Die Köpfe senken sich. Schnell flüstere ich Clara etwas zu. Verstohlen bedeutet sie mir zu schweigen. Wir zucken alle zusammen, als die Stimme der Äbtissin durch den Raum hallt.
«Johanna, Clara, wollt ihr wohl stille sein!»
Clara stöhnt leise auf, als ich meinen Kopf hebe und die Äbtissin anblicke. Ich werde dafür büssen müssen, halte aber ihrem durchdringenden Blick stand.
«Ehrwürdige Mutter, erlaubt mir eine Frage», sage ich.
Ihr Befehl durchschneidet das Refektorium in seiner ganzen Länge: «Schweig!»
«Aber …»
«Raus, Johanna! Zur Strafe für deinen wiederholten Ungehorsam sollst du heute und morgen fasten. Bete hundert Ave Maria zusätzlich. Die Muttergottes möge dir beistehen, dich künftig an die Regeln unserer Gemeinschaft zu halten. Und nun geh!»
Ich will noch etwas erwidern, wende mich dann aber wortlos dem Ausgang zu. Der Blick ihrer kalten Augen lässt meinen Rücken erschauern.
«Und nun lasst uns für unseren Heiligen Vater beten», ist das Letzte, was ich aus dem Refektorium höre.
«Warum, Johanna?», fragt Clara später und schaut mich aus ihren von schweren Lidern halb verdeckten Augen traurig an.
«Weil ich wissen wollte, ob an diesem Konzil schon irgendwelche Beschlüsse gefasst worden sind. Es geht doch darum, die Kirche zu reformieren. Ist dir nicht aufgefallen, dass die Äbtissin uns nie etwas über den Inhalt des Konzils mitteilt?»
«Vielleicht weiss sie selber nichts darüber», versucht Clara mich zu beschwichtigen.
«Mag sein. Trotzdem, mir reicht es», entgegne ich. «Nie wird uns hier irgendetwas gesagt. Wir erfahren nur, was andere als gut für uns erachten.»
Natürlich glaubt sie mir nicht. Sie hält mich für verrückt, als ich an diesem Abend endgültig beschliesse, meinem Klosterleben ein Ende zu bereiten.
Ich habe mich redlich bemüht. Anfänglich glaubte ich sogar, es wäre alles nur eine Frage der Zeit, bis ich in diesem streng geregelten Dasein Freude statt Trübsal, Erfüllung und Berufung statt Bedrängnis finden würde.
«Hier ist kein Leben. Ich gehe.»
Endlich spreche ich aus, was seit Langem in meinem Kopf hallt. «Und Clara kommt mit», scheint mir eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, dass ich es nicht auszusprechen brauche. Umso mehr erstaunt mich die Heftigkeit ihrer Reaktion.
Clara fasst mich an den Händen.
«Johanna! Bist du denn von allen Heiligen verlassen, dass du dein Leben, ja dein Seelenheil aufs Spiel setzest? Liebe Schwester! Wir sind kurz davor, unser Gelübde abzulegen. Willst du dein Versprechen brechen und dafür Scheiterhaufen und ewige Verdammnis in Kauf nehmen?»
Ich schüttle ihre Hände ab.
«Wie leicht ist es doch, wenn man glauben kann wie du. Wie einfach, wenn man sich fügen kann. Ich kann es nicht.»
«Das ist Sünde.»
Es ist die einzige Antwort, die sie hier auf alles haben. Der Satz kommt Clara schon gut geübt über die Lippen.
«Vielleicht. Aber ich kann es nun mal nicht. Du glaubst alles, was man dir sagt. Hast du keine Fragen? Nie Zweifel?»
«Man muss glauben.»
Wie schmal ihr Mund ist.
«Ja, aber was? Was muss man glauben?»
«An Gott.»
«Darum geht es nicht.»
«Worum dann?» fragt sie ehrlich erstaunt.
«Es geht darum, nicht alles zu glauben, was die Priester und Beichtväter und die Äbtissin uns glauben machen wollen.»
«Aber Johanna, was sollen wir denn sonst glauben?»
«Clara, du bist nicht auf den Kopf gefallen! Wozu hast du lesen gelernt? Lies die Heilige Schrift.»
«Das tue ich doch.»
«Und? Kannst du mir die Stelle zeigen, wo von einem Leben hinter Klostermauern die Rede ist?»
Sie will etwas erwidern, aber ihr Atem gerät ins Stocken.
«Verzeih, Clara. Es gibt so viele Fragen. Nie Antworten.»
Clara sagt noch immer nichts.
«Als wir Kinder waren, mussten wir uns die Antworten selber geben. Wir sind keine Kinder mehr. Aber noch immer lautet die einzige Antwort: Hör auf zu fragen! Das ist Sünde! Also habe ich es mir erst gar nicht abgewöhnt, mir die Antworten selber zu geben.»
Clara sieht aus wie versteinert, doch ich kann keine Rücksicht mehr nehmen: «Wer zum Beispiel kann sagen, ob wir nicht nur die Träume anderer sind? Figuren in der Geschichte von jemandem? Oder gar Gottes Albträume?»
«Johanna! Versündige dich nicht!» Clara hat sich aus ihrer Starre gelöst.
«Und wenn alles von Gott kommt,» erkläre ich weiter, «wie ich glaube, so kommen doch auch die Zweifel von ihm. Ich kann sie nicht mehr überhören. Clara. Liebe, gute Clara», flehe ich, «so versteh doch bitte. Ich brauche Antworten. Ich halte es hier nicht mehr aus!»
«Wir haben keine Wahl», sagt sie leise, ohne mich anzusehen.
«Weil wir Frauen sind? Meinst du das?»
Noch immer blickt sie an mir vorbei.
«Doch, wir haben die Wahl. Aber wir müssen es tun. Und ich werde es tun, auch wenn ich daran zugrunde gehe.»
«Was willst du tun?», fragt sie tonlos.
«Ich gehe weg von hier. Ich weiss noch nicht, wie und wohin, aber ich muss weg! Ich werde nicht Schwester Walpurga. Ich bin Johanna. Niemand macht aus mir eine Nachfahrin der Heiligen. Sie wird es mir im Übrigen danken. Ich würde ihrem Namen keine Ehre machen. Immerhin kann man mir zugutehalten, dass ich verschwinde, bevor ich das Gelübde ablege. Selbst nach den Regeln des Ordens ist es an diesem Punkt noch erlaubt, umzukehren.»
Endlich wendet sich Clara wieder mir zu.
«Ich kenne niemanden, der es getan hat. Wir haben uns für das Leben hier entschieden und daran sollten wir nicht rütteln.» Ihre Stimme bleibt fest.
«Entschieden? Clara! Hörst du nicht den Hohn in deinen Worten? Weder du noch ich, genauso wenig wie die meisten Mädchen und Frauen hier, haben je irgendetwas selber entschieden. Man hat uns hierher abgeschoben. Wohin auch sonst mit uns auf dieser Welt. Zu arm oder zu hässlich, um uns vorteilhaft zu verheiraten, waren wir unseren Familien im Weg. Hier sind wir versorgt. Man erwartet Dankbarkeit. Wäre ich von hoher Geburt, schön und reich, hätte ich vergebens darum gebettelt, ins Kloster gehen zu dürfen. Die vorteilhafte Heirat hätte seit meiner Geburt festgestanden, nur, um einen fremden Stammbaum zu erhalten.»
Es scheint, als hätte Clara nur darauf gewartet zu fragen: «Du hast doch nicht etwa einen heimlichen Verehrer? Willst du heiraten?»
Ich muss lachen.
«Heiraten? Von einer Knechtschaft in die andere? Ich will raus hier. Glaubst du, dass du dich wahrhaftig Gott weihst, wenn du dein ganzes Leben hinter diesen Mauern gefangen bleibst? Hat er es dich geheissen? Mich nicht.»
In Claras stummem Gesicht sehe ich mein eigenes Erschrecken über die deutlichen Worte. Der Zweifel, den ich mir in dieser Klarheit zuzugestehen nicht getraut habe, ist nun ausgesprochen. Ich bin erleichtert, dass kein Blitz auf mich herabfährt.
Clara kneift die Augen zusammen und hält sich die Ohren zu. Ich werde lauter, aber es spielt keine Rolle, ob Clara mich hört, verstehen kann sie mich ohnehin nicht.
«Gewiss, es heisst, sich mit wenigem bescheiden und den Weg gehen, den Gott einem weist. Auch wenn er schwer ist. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass dies hier der Weg ist, den Gott für mich gewählt hat. Es wäre zu einfach, in der Sicherheit des Klosters zu verharren. Mag ich arm und keusch bleiben, aber gehorsam kann ich nur gegen Gott sein. Und er heisst mich weiterzugehen. Der Weg, von dem ich glaube, dass er für mich bestimmt ist, wird viel schwerer sein. Und doch auch einfacher, weil ich ihn nicht alleine gehen werde.»
«Ich komme nicht mit!», ruft Clara erschrocken.
«Ich meine nicht dich», sage ich. «Gott wird an meiner Seite sein.»
Zu spät bemerke ich Claras Tränen. Mit unterdrücktem Schluchzen bittet sie: «Um Gottes Willen, hör auf, hör endlich auf! Was ficht dich nur an? Du versündigst dich aufs Schlimmste.»
Ich will ihr nicht weh tun, aber es gibt kein Zurück mehr.
«Ich versündige mich, wenn ich so weitermache.»
Clara greift wieder nach meinem Arm. Sie klammert sich an mich, als ob sie mich damit von meinem Entschluss abbringen könnte.
«Was willst du tun? Wir sind doch Bräute Christi, nicht geschaffen für die Welt.»
Mit einem Ruck entziehe ich mich ihr und fasse sie an den Schultern.
«Wenn ich diesen Ort verlasse, so bringe ich mich um die lebenslange Sicherheit des klösterlichen Versorgtseins. Gut. Damit muss ich leben. Aber was ist das Beten und Singen, das Beichten und Fasten, wenn man nicht mit ganzem Herzen dabei ist? Gott lässt sich nicht mit Unglauben zahlen. Was ist das für eine Gemeinschaft, die es nicht kümmert, dass ihre Mägde geknechtet und gefangen sind von unheiligen Gedanken? Was ist das für ein Leben, bei dem man sich immer schlecht, immer schuldig, immer sündig und immer einsam fühlt? Was ist das für eine Kirche, für die man nie richtig, nie gut, nie heilig genug ist? Keusch, arm, gehorsam bis zum Tode. So gelangt man nicht zu Gott.»
Erschöpft halte ich inne und lausche. Die soeben hervorgestossenen Worte hallen in meinem Kopf nach. Als ich die pure Angst in Claras Gesicht sehe, ergreift mich Reue. Niemand darf erfahren, was Clara soeben gehört hat. Ich habe kein Recht, sie in meine Zweifel hineinzuziehen. Eine nie gekannte Furcht überkommt mich.
Spüre die Hitze. Brennende Zungen, die über den ganzen Körper fahren, nach dem Gesicht gieren und überall eiternde Blasen hinterlassen. Rauch beisst sich in der Nase fest. Das Atmen fällt schwer. Klauenartige Nägel, die in weiches Fleisch greifen. Schreie gellen durch das Prasseln.
Ich höre meine erstickte Stimme flüstern: «Und Angst, diese übergewaltige Angst vor Hölle und ewiger Verdammnis.»
Kurz bevor ich in Ohnmacht zu fallen drohe, spüre ich wieder meine eiskalten Füsse. Die Dunstwolken unseres Atems stehen in der kalten Luft zwischen Clara und mir.
«Geh!», stosse ich hervor. «So geh schon!»
Aber Clara geht nicht. Sie steht mit hängenden Armen da und starrt mich an. In ihren Augen spiegelt sich die Trauer, die in mir aufsteigt. Sie zweifelt nicht mehr daran, ihre Freundin zu verlieren. Und sie wird nicht mitkommen.
Ich brauche einen Moment, bis ich die Wahrheit begreife. Claras Wahrheit. Sie hat keine Angst, ist mutig und klug. Sie, die ich besser zu kennen glaubte als mich selbst, will ihr Leben unter dem Schleier verbringen. Es ist der Weg, den zu gehen sie sich von Gott berufen fühlt.
Wir begreifen beide, dass sich hier zum ersten und letzten Mal unsere Wege unwiderruflich trennen. Unversöhnt und voller Schmerz darüber, dass die andere nicht verstehen kann, legen wir uns schlafen. Zum ersten Mal, seit wir als Kinder uns im Kloster gefunden, fühlen wir uns von der anderen verraten.
Die hundert Ave Maria kommen mir erst am nächsten Morgen in den Sinn. Sie bleiben ungesagt, wie auch alle Worte zwischen Clara und mir in den nächsten Tagen. Stumm verrichten wir nebeneinander unsere Arbeit. Clara im murmelnden Gebet, ich versunken in fieberhafte Gedanken, auf der Suche nach einem Weg, das Kloster zu verlassen.
Ich denke an das Mädchen, das vergangene Nacht an unsere Pforte geklopft hat. Es gibt auch die umgekehrte Flucht.
Flucht ist riskant, aber nicht unmöglich. Doch was dann? Wohin mit mir? Ich brauche einen Plan für die Zeit danach. Muss mir mein Leben verdienen. Draussen gibt es nicht viele Möglichkeiten für eine ehrbare Jungfer. Die wildesten Pläne schwirren mir durch den Kopf, und täglich tauchen neue Ideen auf. Ich erwäge, mich als Mann zu verkleiden oder den Heiligen Vater in Rom um den Segen für den Klosteraustritt zu bitten: Ich sähe meine Seele in ernsthafter Gefahr, bliebe ich noch länger bei den Schwestern. Es bleibt beim Gedanken.
Nervös gleiten meine Finger über die Perlen des Rosenkranzes.
Sub tuum praesidium confugimus,
Sancta Dei Genetrix.