ISBN: 978-3-96045-111-2
1. Auflage 2020
© 2012 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude
Lektorat: Nina Hinrichsen, Mareike Kaden
Titelabbildung: Poppe Folkerts, Graue Nordseebrandung, 1932
Alle Rechte vorbehalten.
Meeresstrand
Ans Haff nun fliegt die Möwe, Und Dämmerung bricht herein; Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet neben dem Wasser her; Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen – So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.
Theodor Storm
Ich habe dieses Buch geschrieben für meine Heimatstadt Nordenham, für die Menschen dort, denen ich mich verbunden fühle wie dem Weserstrand, dem Schilfgras und den schlickigen Weiden.
Und ich schrieb es für all diejenigen, die, wie ich, wissen wollen, was einmal war – sich berühren lassen und hinfühlen möchten.
Und für die ehemaligen Häftlinge von Langlütjen und ihre Familien, die vielleicht – darüber schweigend oder auch nicht – noch immer diesen traurigen Teil der Geschichte der Insel in sich tragen.
Nur ein paar Seiten gegen das Vergessen.
Der alte Hof lag nahe am Deich. In einem stillen Ort mit schweigsamen Menschen.
Nur wenn der Wind das Wasser peitschte und Donner über die Küste rollte, saßen alle zusammen, teilten ihre Furcht und keiner schämte sich dafür.
Generationen lebten hier, tauschten Zimmer, übergaben einander das Bett. Seit wann, das wusste niemand mehr und im Grunde kümmerte das auch nicht. Es gab ein paar Höfe entlang des Deiches und mit ihnen Menschen, die sich irgendwann einmal dazu entschlossen hatten, in dieser flachen rauen Gegend zu leben. Warum auch immer.
Ein ewiger Kampf mit dem Wasser, um einen tristen Landstrich. Mal gewann ihn das Meer, mal der Mensch, dann wieder das Meer.
Carla stand auf dem Deich, aufrecht und reglos. Nur ihr dunkler Umhang flatterte von Zeit zu Zeit im Wind.
Sie sollte nach den Schafen sehen. Das hatte ihr Vater befohlen. Jeden Abend tat er das. Und sie leistete dem Folge – jeden Abend. Genau genommen war es die schönste Zeit ihres Tages. Eine knappe Stunde nur für sie allein. Das war viel. Ein großes Geschenk in ihrem harten, von Entbehrungen erfüllten Alltag. Vor einigen Wochen war eines der Schafe im Siel ertrunken. Das Gras auf dem Deich war knapp geworden. Vermutlich hatte es an der steilen Böschung Schilfgras gefressen und den Halt verloren. Das geschah manchmal. Lange konnte der Todeskampf nicht gedauert haben, die Strömung und die schwere weiße Wolle, ein paar Minuten vielleicht. Am Tage darauf hatte Carla das leblose Schaf in einer Aalreuse gefunden. Sie verdrängte den schauerlichen Anblick aus ihrem Kopf und ließ den Blick wieder über die kleine Schafherde schweifen.
Die Tiere lagen am Fuße des Deiches eng beieinander. Ein friedliches Bild. Das hohe Gras der Salzwiesen wiegte sich sanft im Wind. Es war Ebbe. Carla roch den fauligen Duft des Seetangs. Für ein paar Stunden war das Meer hinausgegangen und hatte dunkelgraues Watt zurückgelassen. Die Abendsonne glitzerte auf der spiegelglatten Oberfläche, durch die sich schlangenförmig leergelaufene Priele wanden.
Carla wollte noch lange so stehen. Sie spürte, wie sich Ruhe in ihrem angespannten Körper ausbreitete und genoss das ungewohnte Gefühl, doch es war Zeit, heim zu gehen. Die Eltern gewährten ihr nicht viel. Carla gehorchte ohne Widerstand, ohne Bedauern oder Aufseufzen, aus schwerem Herzen. Sie tat es einfach. Das war ihre Aufgabe, so war ihr Leben. Für sie gab es kein Spüren und kein Denken darüber hinaus. Deshalb empfand sie auch kein Verlangen nach etwas anderem oder den Schmerz darüber, dass ihr etwas fehlen könnte.
Sie wandte sich um und war im Begriff zu gehen – da fiel ein Schuss. Carla fuhr erschreckt zusammen. Auch die Schafe waren aufgesprungen, liefen einen Moment lang umher, bis sie sich schließlich dicht zusammendrängten.
Der Schuss war vom Meer gekommen. Der Wind hatte das kurze schneidende Geräusch herübergetragen. Carla zitterte, plötzlich war ihr Körper eiskalt. Sie wagte einen Blick hinaus aufs Wattenmeer und sah in die Richtung, in der sie den Schützen vermutete.
Alles erschien ihr wie immer. Im Hafen auf der gegenüber liegenden Flussseite ankerten Schiffe und in der breiten Fahrrinne, die hinaus in die Nordsee führte, lagen still die beiden kleinen Inseln mit ihren militärischen Fortanlagen.
Die Sonne stand tief. Carla blinzelte und beschirmte ihren Blick mit der Hand. Sie glaubte etwas in der Ferne zu erkennen: ein Ruderboot, weit draußen, in der Nähe des hinteren Forts. Die junge Frau blinzelte noch einmal, da fiel wieder ein Schuss. Nun wartete Carla nicht länger. Von Angst gepackt, rannte sie den Deich hinunter. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ohne sich noch einmal umzuschauen, lief sie den holprigen Weg entlang, sah ihre Füße über den Schotter stolpern und spürte, wie sich ihr Atem durch die viel zu enge Kehle presste. Schnell erreichte sie den Hof ihrer Eltern. Ihr Blick heftete sich auf das große Dielentor, es stand einen Spalt offen. Carla schlüpfte hindurch und ließ die schwere Holztür hinter sich ins Schloss fallen.
Nun war es dunkel um sie herum. Sie tastete nach der Wand. Mit zittrigen Beinen lehnte sie sich dagegen und rutschte zu Boden. Es roch nach altem Schafsmist. Die Ställe waren leer und kühl. Hier in der düsteren Diele fühlte sie sich sicher. Sie umfasste ihre Knie mit beiden Armen und begann, sich sanft hin und her zu schaukeln.
Die Bauern in Carlas Dorf waren unruhig. Irgendetwas war geschehen. Schon vor einigen Wochen.
Über dem Dorf lag eine ungewöhnliche Stille. Eine Spannung, die mit Unbehagen und Angst zu tun hatte. Die Bauern sprachen nicht darüber, aber sie fühlten es.
Worte waren plötzlich gefährlich geworden. Es hatte mit der neuen Regierung zu tun. Sie wollte die öffentliche Ordnung wiederherstellen, hieß es.
Und viele begrüßten diese Idee, anderen war es egal. Einige fühlten sich unbehaglich, doch keiner empörte sich mehr. Die, die sich empört hatten, waren verschwunden.
Diese beiden Inseln, die militärischen Forts in der breiten Flussmündung, vor vielen Jahren errichtet, um die Hafenstadt vor feindlichen Invasoren zu schützen, gehörten für die Dorfbewohner seit jeher zum Küstenbild. Sie waren ihnen von Nutzen, bei Sturm, wenn hohe Wellen bedrohlich auf die Küste zu rollten. Doch seit einigen Wochen geschah dort etwas. Auf der hinteren Insel, jene, die weiter weg lag, zwei Kilometer vom Festland vielleicht.
Es war von einem Schiff die Rede, das bei Nacht Menschen auf die Insel transportierte. In den Zeitungen war darüber berichtet worden und einige Fischer munkelten – doch es war gefährlich, darüber zu sprechen, also ließ man es sein.
Gesprochen wurde ohnehin nicht viel in dieser Gegend. Schon gar nicht über Dinge, die einen nichts angingen und die bedrohlich waren. Diese Inseln gingen einen nichts an und sie waren auf einmal bedrohlich geworden.
Die Zeiten waren ohnehin schwierig genug, fanden die Bauern und wer gegen die Strömung schwamm, ging irgendwann unter, das war den Bauern an der Küste allzu bekannt. Also begab man sich gar nicht erst ins Wasser, sondern grub auf dem eigenen Feld. Da gab es genug zu tun. So dachten sie – und schwiegen.
Ich war einundzwanzig Jahre alt und wusste nichts vom Leben und das Leben wusste nichts von mir. Oder besser gesagt, meine Existenz war so bedeutungslos für den Rest der Welt, dass, wenn es auch traurig klang, es für mich fast eine Erleichterung war.
Ich hatte noch nichts erreicht, außer einem mittelmäßigen Schulabschluss, einer abgebrochen Berufsausbildung und dem völligen Kontaktabbruch zu meiner Mutter.
An mir nagten Fragen wie: Wer bin ich? Besaß ich so was wie Talente? Würde jemals etwas aus mir werden? Ich wusste es nicht. Wie ich meinen Platz in dieser Welt finden sollte, wusste ich auch nicht.
Je mehr ich über mich nachdachte, desto düsterer breitete sich mein Lebensweg vor mir aus.
Ich hatte es mal mit einer Ausbildung versucht, im Versicherungsbüro von Steffen, dem Lebensgefährten meiner Mutter. Steffen glaubte mit einer Beharrlichkeit an mich, die unerschütterlich und mir unbegreiflich war. Ich hatte mich wirklich für ihn angestrengt und es war eine gute Zeit gewesen. Wenn auch nur eine sehr kurze Zeit von vier Monaten. Er war mein Freund und so hatte es mir sehr leid getan, ihn zu enttäuschen. Es gab da diesen unangenehmen Vorfall und ich ging fort – wieder einmal. Einfach zu gehen, war für mich der leichteste und am häufigsten gewählte Weg, außerdem trug ich wieder einmal viel zu viel Wut in mir. Diese Wut führte ein Eigenleben und brachte mich meistens in Schwierigkeiten. Seitdem stand ich drei Mal in der Woche morgens um halb vier Uhr auf und verdiente mein Geld auf dem Wochenmarkt.
Warum ich so war? Ich wusste es nicht.
Ich wäre gern anders, doch wie anders, war mir unklar. Betrachtete ich meine Mutter und Steffen, wusste ich nur, dass ich so nicht sein wollte. Sie funktionierten tadellos, gingen ihrer Arbeit nach, pflichtbewusst aber freudlos, für ein komfortables Zuhause, in dem es häufiger Streit gab als gemeinsam eingenommene Mahlzeiten. Ich verstand das nicht. Meine Mutter und Steffen warteten unentwegt. Worauf warteten sie so unermüdlich? Auf den Tod? Damit sie endlich zufrieden und mit einem Lächeln auf den Lippen wussten, dass sie es sicher erledigt und zu Ende gebracht hatten, das Leben? Am Tage warteten sie auf den Feierabend, dann auf das Wochenende, auf den Urlaub, auf ein neues Jahr, das besser wird, und wenn nicht, dann bitte wenigstens nicht schlechter.
Ich wollte anders sein als sie.
Meine Mutter hatte mit mir nie über meinen Vater gesprochen. Ich wusste nichts über ihn. Nicht wer er war und auch nicht, wie er war. Und je mehr ich meine Mutter danach fragte, umso höher schichtete sie die Mauer des Schweigens um sich herum und mit jeder weiteren Frage war ich erfolglos dagegen angerannt. Das brachte meine Wut zum Überkochen. Meine Mutter verstand es, aus mir ein Fass mit hochexplosivem Inhalt zu machen. Doch spürte ich in meiner Aggression umso mehr die Hilflosigkeit und Ohnmacht ihr gegenüber.
Nur einmal hatte ich eine Antwort von ihr bekommen, mal wieder während eines heftigen Streits. Sie schrie mich an, dass es meinen Vater nicht mehr gab, dass er tot sei. Dann fügte sie leiser, fast schon erschöpft, diesen seltsamen Satz hinzu, dass er außerdem nicht gut genug für meinen Großvater gewesen sei. Von da an fragte ich nicht mehr. Ich konnte feststellen, dass sie von diesem Moment an keine Macht mehr über mich hatte, doch dadurch war es sehr kalt geworden zwischen uns.
Also ging ich und nahm Abschied, von nichts, wofür es sich zu bleiben gelohnt hätte.
Ich lernte eines daraus: Es fiel mir leicht zu gehen. Oder man könnte auch sagen: Es fiel mir schwer, irgendwo zu bleiben und die Dinge durchzustehen.
Meine Großtante besaß ein kleines Wochenendhaus außerhalb der Stadt. Dort konnte ich wohnen – ich allein.
Es lag weit von der Endstation der Buslinie entfernt und um mich herum gab es nur ein paar Höfe von alt eingesessenen Bauern. Ansonsten Bäume, Gräben und mittendrin Wiesen, auf denen auch im Spätherbst noch vergessene Kühe weideten. Ich war davongeschlichen. Und außer mir selbst hatte ich nicht viel. Doch das störte mich nicht. Ich war frei und konnte wieder atmen.
So ging es gut, drei Jahre lang, bis zu diesem Tag.
Ich stand früh auf, obwohl ich nicht zum Wochenmarkt musste. Normalerweise schlief ich bis weit in den Vormittag. Aber das Arbeitsamt schickte mich zu einem Vorstellungsgespräch in einen Supermarkt, in einer ungefähr sechzig Kilometer entfernten Stadt. Natürlich wollte ich diese Stelle nicht, doch was blieb mir übrig?
Ich hatte schlecht geschlafen und fühlte mich gerädert. Ich zog die Joggingschuhe an und schob mir die Kapuze des Sweaters tief ins Gesicht. Es war ein wunderbar kühler Morgen. In der Nacht hatte es gestürmt. Nun wirkte der Himmel wie gereinigt, und die Frühlingssonne tauchte dann und wann zwischen dahin flüchtenden Wolken auf.
Wenn ich nicht gerade auf dem Wochenmarkt arbeitete, verbrachte ich viel Zeit damit, herumzugammeln, zu lesen, fernzusehen und gedankenvoll Löcher in die Luft zu starren, um über mich und mein verkorkstes Dasein nachzudenken. Die einzig sinnvolle Betätigung, die mich wirklich erfüllte, war mit Kettensäge, Hammer und Beitel Holzstämme zu bearbeiten, bis entweder nichts mehr davon übrig war oder tatsächlich Skulpturen entstanden, denen man nicht immer auf den ersten Blick ansah, dass es welche sein sollten. Mein völlig verwilderter Garten, einst voll von Bäumen, war nun voll von solchen Skulpturen. Ich liebte diese selbstvergessene Arbeit. Sie war kräftezehrend und das gefiel mir.
Ich trabte ein Stück die Straße entlang. Dann schlug ich den Schotterweg ins Moor ein. Einmal im Karree um die Weiden und wieder zurück – meine Standardstrecke. Wenn ich lief, ging es mir gut, ebenso wie beim Bildhauern. Da konnte ich den Druck ablassen, der in mir gärte und den Deckel manchmal hochgehen ließ. Gleichmäßig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Das ruhige Ein- und Ausatmen hatte etwas Meditatives. Ich fühlte mich erdverbunden und stark.
Mein Oberschenkel machte sich mit einem leichten Krampf bemerkbar. Ich beschleunigte das Tempo und lief gegen den Schmerz an. Nach einer Weile spürte ich nichts mehr. Nun war ich im Fluss. Ich sah einen frisch abgeknickten Ast am Boden liegen, stoppte kurz und hob ihn auf. Das nasse Holz lag glitschig in meiner Hand. Dann lief ich weiter. Mechanisch taten meine Beine ihren Dienst. Ich hörte mich rhythmisch atmen, roch die feuchte Erde und das faule Holz in den Sümpfen. Zu beiden Seiten des Weges krallten sich junge Birken schief in die steilen Böschungen der Torfgräben. Es gibt bessere Plätze zum Leben, dachte ich. Aber die Birken schienen so eigenwillig zu sein wie ich. Ein milchiges Bodennebelfeld kam auf mich zu.
Zu Hause angekommen nahm ich eine Dusche und setzte mich anschließend mit einer Tasse Tee und Toast auf das alte rote Küchensofa, das, wie ein Großteil der Einrichtung, aus dem Besitz meiner Tante stammte.
Mein Leben entspannte sich zunehmend, seit ich hier eingezogen war. Ich war nicht mehr so oft das Pulverfass von früher – unberechenbar und impulsiv. Vielleicht lag es aber auch daran, dass kein Luntenträger mehr in meiner Nähe war. Ich lebte in meinen eigenen vier Wänden, und ich musste mich vor nichts und niemandem für meine Missstimmungen, meine Launen, mein Nichtstun oder für meine Perspektivlosigkeit rechtfertigen. Nur vor mir selbst – und damit kam ich einigermaßen zurecht.
Nach Hause zu meiner Mutter fuhr ich nicht mehr, aber ihre monatliche Unterstützung nahm ich gern an. Ich war gar nicht mal so faul, wie es schien. Ich wünschte mir schon einen Beruf. Wenn man das Wort ganz langsam aussprach, dann bekam es diesen besonderen Klang – Be-Ruf. Genau das war es, was ich mir wünschte. Ich wartete, horchte und hoffte auf irgendeinen Ruf, der mir offenbarte, welchen Weg ich einschlagen könnte. Um halb zwölf sollte ich im Einkaufszentrum sein. Ich müsste mindestens eine Dreiviertelstunde mit dem Auto in Richtung Küste fahren und dann noch mit der Fähre über den Fluss setzen. Ich sah keinen Sinn darin, machte mich aber trotzdem auf den Weg. Ein folgenschwerer Entschluss.
Mein alter klappriger Opel sauste mit hundert über die Bundesstraße. Dass ich überhaupt ein Auto besaß, war purer Luxus.
Nach einer halben Stunde Fahrt stellte ich fest, dass sich die Gegend um mich herum kaum noch veränderte. Eine Weide, ein Graben, Hochspannungsmasten wie überdimensionale Wäscheleinen, eine Weide, ein Graben … nichts verstellte mir die Sicht. Andere würde das vielleicht langweilen, ich aber war fasziniert. Es gab wenig, was den Blick ablenkte. Er konnte sozusagen ungehindert ins Leere gehen. Erst als ich in die grellen Augen einer LKW-Lichthupe schaute, bemerkte ich, dass ich bereits auf dem Mittelstreifen fuhr. Erschrocken zog ich das Lenkrad nach rechts und der Wagen folgte mit einem gefährlichen Schlenker. Adrenalin schwappte durch meinen Körper: so jung wollte ich nicht sterben. Mit gedrosselter Geschwindigkeit fuhr ich dem Ziel entgegen, immer geradeaus, Endstation: Wasser. Der Wind blies stark, eine dicke Wolkendecke hing am Himmel. Es war kalt für Anfang Mai.
Die Fähre wartete bereits am Anleger. Eine lange, gewaltige Hubbrücke ebnete den Weg dorthin. Die Ampel sprang auf grün, die Schranke ging hoch, und schon erstürmten die ersten Fahrgäste ungeduldig das Schiff.
Sollte ich nicht lieber auf dem Deich spazieren gehen? Die Strecke war ohnehin viel zu lang, um sie wegen eines Jobs, den ich nicht mochte, jeden Tag auf mich zu nehmen.
Trotzdem parkte ich mein Auto und lief zum Fahrkartenschalter. Die ältere Dame hinter der dicken Glaswand erkundigte sich in aller Seelenruhe, ob ich eine einfache oder eine Hin- und Rückfahrkarte kaufen wolle. Ich trat unruhig auf der Stelle und antwortete eilig, dass ich auf jeden Fall auch eine Rückfahrkarte wünschte. Sie ließ sich Zeit, die Karten aus der Kurbel zu drehen, abzureißen und schließlich meinen hingeschobenen Geldschein zu betrachten. Sie kramte in einer Schublade nach Wechselgeld und schob mir alles sehnlichst Erwartete durch die kleine Durchreiche entgegen. Die Fähre hatte bereits den Motor gestartet, doch die lange Hubbrücke war noch gefüllt mit Menschen, die allesamt eilig auf das Schiff wollten. Ich rannte los und reihte mich keuchend zwischen dahinhastende Arbeiter, aus deren abgewetzten Aktentaschen zerbeulte Thermoskannen herausschauten, sowie gestresste Mütter, an deren Händen Kinder zerrten, die unbedingt ihre Köpfe durch das mächtige Stahlgeländer stecken wollten, um zu sehen, wie lang ihre Spucke bis zur Landung im dreckigen Flusswasser brauchte. Über uns kreischten Seevögel, und auf der Autospur schlichen stinkende Kleinlaster, LKWs und Personenkraftwagen vorbei. Die breite Fähre verschluckte uns alle mühelos.
Das Fußvolk, zu dem ich gehörte, staute sich rechter Hand beim Kontrolleur. Er war ein kleiner, dicklicher Mann mit blauem Regenmantel, wettergegerbtem Gesicht und einer schmuddeligen Schiffermütze. Er warf einen flüchtigen Blick auf meine Karte, dann auf meine verfrorene Körperhaltung und empfahl mir auf Plattdeutsch das Fährcafé im Oberdeck.
Ich nahm sein Angebot dankbar an, schlug den Kragen meiner Jeansjacke hoch und stieg die verwitterte Stahltreppe hinauf. Dann schob ich die schwergängige Schiebetür auf.
Im Fährcafé war es warm und stickig. Ich setzte mich an den letzten freien Tisch am Fenster und begann, das Treiben um mich herum zu beobachten. Tassen klapperten, Stimmengemurmel und lautes Gelächter erfüllten den Raum. Berufspendler, die offensichtlich rechts des Flusses in der Hafenstadt arbeiteten und links des Flusses in den umliegenden Dörfern lebten.
Nachdenklich blickte ich durch die verschmutzte Scheibe. Das Wasser hatte die gleiche Farbe wie der Kakao, den mir die Kellnerin brachte. Wellen boten den Möwen, die sich verspielt auf der Wasseroberfläche treiben ließen, ein hektisches Auf und Ab. Auf dem vollgekoteten Fährpoller thronte ein großer Seevogel mit einem orangenen, leicht nach unten gebogenen, imponierenden Schnabel. Er besah sich das Treiben, reglos und stolz.