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Der Sklavenstaat

 

 

 

 

Hilaire Belloc

DER SKLAVENSTAAT

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Impressum

 

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek, abrufbar unter

http://dnb.ddb.de

 

Buchgestaltung, Satz: Marcel Hagmann, www.keilergrafik.de

 

Belloc, Hilaire

Der Sklavenstaat. Vom Verlust von Eigentum und Freiheit

184 Seiten, Bad Schmiedeberg 2019

 

1. Auflage 2020

 

Herausgeber: Philipp Liehs und Julian Voth

 

Originaltitel: The Servile State

 

© Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2019,

für die deutsche Ausgabe

www.renovamen-verlag.de

 

Aus dem Englischen übersetzt von Arthur Salz

 

ISBN 978-3-95621-146-1

 

 

 

 

»… Wenn wir nicht das Institut des Eigentums wiederherstellen, können wir nicht umhin, das Institut der Sklaverei wiederherzustellen; es gibt keinen dritten Weg.«

 

 

 

Inhalt

 

Eine Einführung in Hilaire Bellocs Der Sklavenstaat

Vorwort des Übersetzers

Vorrede des Verfassers zur zweiten Auflage

Einleitung
Der Gegenstand dieses Buches

Erster Abschnitt
Definitionen

Zweiter Abschnitt
Unsere Kultur beruhte ursprünglich auf der Sklaverei

Dritter Abschnitt
Wie die Sklaverei mit der Zeit verschwand

Vierter Abschnitt
Wie der distributive Staat, das System der gesellschaftlichen
Regelung der Verteilung, Schiffbruch litt

Fünfter Abschnitt
Der kapitalistische Staat wird im Verhältnis zu seiner
Vervollkommnung immer instabiler

Sechster Abschnitt
Sechster Abschnitt Die stabilen Lösungsversuche dieser Labilität

Siebenter Abschnitt
Der Sozialismus ist die scheinbar leichteste Lösung
der kapitalistischen Crux

Achter Abschnitt
Sowohl die aktiven Träger als auch die passiven
Reformgegenstände sind Wegbereiter des Sklavenstaates

Anhang

Neunter Abschnitt
Der Sklavenstaat ist bereits da

Schluß

Dr. Robert Hickson

 

Gedenktag des Hl. Albertus Magnus († 1280)

15. November 2018

Eine Einführung in Hilaire Bellocs Der Sklavenstaat

 

»Wir sind nun an einem Zeitpunkt angelangt, an dem wir weder unsere Laster noch deren Heilmittel ertragen können.«

Titus Livius

 

 

Als Der Sklavenstaat im Jahre 1912 erstmalig erschien, war Hilaire Belloc gerade zweiundvierzig Jahre alt und voller Schaffenskraft. Sein Tatendrang lag teilweise in den sehr starken und erstaunlich vielfältigen Erfahrungen seiner prägenden Jahre begründet. Außerdem gab sein 1912 erschienenes Buch Anlass zu einer Reihe kluger bis weniger kluger Kommentare – darunter auch einige gravierende Missverständnisse –, sodass Belloc sich aus Billigkeitsgründen nur ein Jahr später dazu entschied, eine zweite Auflage zu veröffentlichen. Diese enthält seine wichtige und klarstellende Erweiterung, die im Wege einer neunseitigen »Vorrede des Verfassers zur zweiten Auflage« Eingang in das Werk fand.

Unser aufrichtiger und mannhaft einfühlsamer Verfasser war sein ganzes Leben lang und in all seinen Schriften – zumindest in denen, die ich über die Jahre hinweg ziemlich genau studieren konnte – sorgfältig hinsichtlich der stets folgerichtigen Verbindung von »Unsicherheit und Unauskömmlichkeit«, die für jeden einzelnen Menschen und seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft eine schwierige und allgegenwärtige Verwundbarkeit bedeutet. Im gesamten Sklavenstaat betrachtet Hilaire Belloc insbesondere den »ökonomischen Faktor« und zeigt dessen wiederkehrendes Wirken anschaulich auf. Er legt dar, wie Menschen und ihre Familien, ob organisiert oder nicht, Unsicherheit und Unauskömmlichkeit bewältigen; und wie sie umgekehrt danach streben, sich eine bescheidene Existenz aufzubauen und diese zu bewahren, eine stabilere Existenz, die mit einer zuverlässigeren Verbindung aus »Sicherheit und Auskömmlichkeit« einhergeht.

In seinem ersten Hauptkapitel legt Hilaire Belloc unter der Überschrift »Definitionen« dar, was er unter einem Sklavenstaat versteht bzw. unter dem Institut der Sklaverei als dessen Grundlage:

Meine letzte Definition betrifft den Sklavenstaat selbst, und da dieser Begriff einigermaßen neu ist und den Gegenstand meines Buches bildet, so möchte ich eine Definition auf breiterer Grundlage versuchen.

Die Definition des Sklavenstaates lautet:

»Eine Gesellschaftsordnung, bei der eine so große Anzahl der Familien und Einzelpersonen durch positives Recht zur Arbeit zugunsten anderer Familien und Einzelpersonen gezwungen ist, daß das ganze Gemeinwesen von solcher Art Arbeit das charakteristische Gepräge erhält, nennen wir den Sklavenstaat.«

[…]

Zwischen Sklaverei und einer nicht auf Sklaverei beruhenden Arbeitsverfassung besteht eine scharfe Trennung; die Verhältnisse liegen diesseits und jenseits dieser Grenze ganz verschieden. Wo durch positives Recht auf Menschen eines bestimmten Standes oder Status ein Zwang ausgeübt werden kann, und solcher Zwang schließlich durch die staatlichen Machtmittel durchgesetzt wird, da haben wir das Institut der Sklaverei. Wo dieses Institut so verbreitet ist, daß der ganze Staat sozusagen auf dem Fundament der Sklaverei beruht, da haben wir einen Sklavenstaat vor uns.

 

Hilaire Bellocs enger und langjähriger Freund G. K. Chesterton liefert einige überraschende Einblicke, die uns im Weiteren dabei helfen werden, uns dem Inhalt und der Methodik des Sklavenstaates anzunähern und etwas besser zu verstehen, was er gerade nicht ist. In Chestertons 1934 erschienenen Essayband Avowals and Denials findet sich der sechsseitige Aufsatz On Dogs with Bad Names, der wie folgt beginnt und sich in gleicher Weise fortsetzt – zum Teil natürlich, um Hilaire Belloc eine überaus liebenswürdige Anerkennung zu zollen:

Fast jedem Menschen mit einem positiven Charakter oder, was wichtiger ist und häufig damit einhergeht, mit positiven Überzeugungen, haftet ein negativer Nachteil an. Ein Literat vom Schlage Dr. Johnsons oder Coventry Patmores [des Dichters] beispielsweise, mit starken Vorlieben und Abneigungen, wird dadurch zum Sprichwort und zum Spott, sodass niemand glaubt, es gäbe noch etwas Neues über ihn zu erfahren. Alles Neue, das er äußert, ist gefärbt, oder eher verfärbt, entweder durch das, von dem die Leute wissen, was er gesagt hat, oder durch das, was die Leute glauben, dass er sagen würde.

[…]

Seltsamerweise hatte Mr. Shaw [George Bernard Shaw, selbst ein überzeugter Sozialist und scharfsinniger Dramatiker] im Zuge dessen [dem Versuch einer Interpretation H. G. Wells’] die Gelegenheit, sich auf Mr. Belloc zu beziehen und sagte, dass die Theorie des Sklavenstaates nichts anderes sei als Herbert Spencers Angriff auf den Sozialismus. Das war der Beweis dafür, dass Mr. Shaw Bellocs Buch niemals gelesen hatte, sonst hätte er gewusst, dass es sich nicht um einen Angriff auf den Sozialismus handelt und es nicht im Entferntesten Ähnlichkeiten zu Herbert Spencer aufweist. Aber ebenso wie Mr. Wells es für selbstverständlich ansah, dass Mr. Shaw gewisse [falsche] Dinge über den Übermenschen schreiben würde, setzte er voraus, dass Mr. Belloc gewisse Dinge über den Sklavenstaat schreiben würde … Dieses seltsame und krude Schicksal, das starke Charaktere mit festen Überzeugungen ereilt, hat Mr. Belloc auch in späteren Zeiten noch verfolgt, so [zum Beispiel] im Zusammenhang mit seinen historischen Biographien.1

Obwohl von George Bernhard Shaw weitestgehend verkannt, hat uns Hilaire Belloc die seit Langem bestehende, uralte Geschichte des Instituts der Sklaverei und ihrer andauernden Spielarten der Servilität in frischer, aber realistischer Weise dargelegt. Dazu gehört es auch, einige ihrer späteren Auswirkungen miteinzubeziehen, so ab 1912 das Abrutschen – oder Schlafwandeln – in die Knechtschaft und einige sich subtil ausbreitende Formen der Unfreiheit (einschließlich der Schuldknechtschaft). Und das kurz vor dem bedrohlichen Ausbruch des 1. Weltkrieges.

Belloc verurteilt Sozialismus und Kollektivismus nicht als solche. Er geht in seinem Buch auch nicht auf die Frage ein, ob die vorbehaltlose Einrichtung der Sklaverei an sich etwas Gutes oder Schlechtes ist. Denn viele Menschen akzeptieren wohl möglicherweise bestimmte Formen offener oder fast unmerklicher Zwangsversklavung, sofern ihnen (und ihren Familien) dadurch mehr Sicherheit und ein besseres Auskommen oder ein merklicher Wohlstand zuteilwerden würde. Belloc beabsichtigt vielmehr, dem Leser analytisch darzulegen, was geschieht und wie es sich seit den folgenreichen, räuberischen Auflösungen der Klöster im 16. Jahrhundert und den gierigen, wucherischen Enteignungen anderer Formen kirchlichen Besitzes innerhalb des »Christentums« in der »katholischen Zivilisation« (Bellocs eigener Wortlaut) vollzieht.

Ebenso gibt Belloc Hinweise darauf, warum die traditionelle katholische Christenheit – im Zuge der protestantischen Reformation, insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert in England – gespalten und dissoziiert wurde und die kapitalistischen Oberherren dadurch zu einer mächtigen Klasse von Oligarchen und Plutokraten aufsteigen konnten.

Die möglichen Befürworter des Sozialismus (mitsamt dem notwendigen Agieren seiner unverzichtbaren politischen Sachwalter und staatlichen Stellen) versuchte Belloc davon zu überzeugen, dass sie selbst kollektiv nicht annähernd dazu im Stande wären, das ungeheure Gesamtvermögen der Großkapitalisten (ihren Grund und Boden, ihre Vorräte, ihre Produktionsmittel, ihre Verbindlichkeiten, ihre unterschiedlichen Einkünfte durch Zinswucher usw.) – direkt oder indirekt – zu »konfiszieren« oder zu »sozialisieren«. Ebenso ist Belloc auch nicht der Ansicht, dass der Staat – um »kollektivistischer« zu werden – in der Lage wäre, den Kapitalismus »auszukaufen«, anstatt ihn zu »enteignen«, was er in seinem gesonderten und besonders umfangreichen analytischen Anhang (im achten Abschnitt) ausführlich darstellt.

Nach einer fundierten Darstellung dessen, wie sich das uralte Institut der Sklaverei mit dem Aufkommen des christlichen Glaubens im Laufe der Jahre nur sehr zögerlich in eine Gesellschaft von größerer »wirtschaftlicher Freiheit« und nicht nur mutmaßlich gesteigerter »politischer Freiheit« (insbesondere in Westeuropa) transformiert hat, zeigt Belloc sehr deutlich auf, wie sich die Dienst- und Eigentumsverhältnisse innerhalb dieser Gesellschaft verändert haben und sich die Zahl der Genossenschaftsverbände (wie z. B. die Zünfte mit ihren protektionistischen und gerechten Normsetzungen) mit ihren vielfältigen Verbindungen zur Kirche und Teilnahmen an den Feierlichkeiten des Kirchenjahres2 erhöhte. Im Unterschied zu späteren Usurpationen, Konfiskationen, den verantwortungslosen Monopolen oder Oligopolen und ausbeuterischen Formen des erbarmungslosen Zinswuchers (zu denen neben den verzinsten auch zinslose Darlehen zählen), sollten die hohen moralischen Werte und das Ethos des Christentums (die sich bspw. gegen übermäßige Habgier und unlauteren Wettbewerb in Form von sittenwidrigen Verträgen richteten) stärker respektiert und verwurzelt werden und sich allmählich im Handel, der Landwirtschaft und dem Handwerk verbreiten. So war es beim Militär mit der schleichenden Christianisierung der Kriegsführung der Fall gewesen – bis zu jenem Rückfall in der Geschichte von Jeanne d‘Arc. Belloc war der Ansicht, dass die ausgereiften Früchte der Christenheit nach und nach vom 10. bis zum 13. Jahrhundert zu Tage traten.

Seiner Beschreibung der ökonomischen Tugenden der Christenheit, die gewissermaßen immer mehr zunahmen und sich verwurzelten, lässt Belloc im Verlauf seines Buches die Erklärung folgen, warum solch eine Zivilisation und Kultur in der modernen Welt wahrscheinlich nicht wieder aufkommen könnte, erst recht nicht in so schneller und plötzlicher Weise. Ebenso zweifelte Belloc daran, dass die Bürger heutzutage (Stand: 1913) gewillt wären, die mit privatem (Klein-‍)Eigentum verbundenen Verantwortungen und Belastungen zu tragen. Für Belloc stand die Frage im Raum, inwieweit Männer und deren Familien noch daran interessiert sind, Privatland zu besitzen, das für die Agrarproduktion taugt und bewirtschaftungsfähig ist. Daher erwartete er durchaus nachvollziehbar, dass – zumindest in England – die moderne Zivilisation und die Masse der Gesellschaft weiterhin in die Knechtschaft abdriften würde, namentlich in den dauerhaften und alles durchdringenden Sklavenstaat. Sogar die Legislative würde Gesetze und erdrückende Verordnungen erlassen, die dem Kleineigentum zuwiderliefen.

Ein scharfsinniger (oft leicht ironischer) europäischer Freund sagte Ende der 1990er Jahre folgende Worte, die mir unvergesslich geblieben sind: »Wir bewegen uns in eine Situation des ›kriminellen Kapitalismus der Eliten und des Sozialismus der Massen‹ hinein.« (Ebenso verstand er, dass »organisiertes Verbrechen geschütztes Verbrechen ist, geschützt durch Polit- und Finanzeliten.«)

Wir besprachen damals auch einen Freund Alexander Solschenizyns, vor allem dessen Werke: nämlich Igor Schafarewitschs Buch Der Todestrieb in der Geschichte: Erscheinungsformen des Sozialismus (Ullstein, 1980). Darüber hinaus erschien 1989 vom Mathematiker Schafarewitsch das tiefschürfende und außergewöhnlich unvoreingenommene Buch mit dem russischen Originaltitel Russophobia, das vom US-Geheimdienst CIA unverzüglich ins Englische übersetzt und am 22. März 1990 veröffentlicht wurde.

Sowohl Bellocs Der Sklavenstaat als auch Schafarewitschs Der Todestrieb in der Geschichte und Russophobia könnten – und sollten – zusammen fruchtbringend und erfrischend kontrapunktisch studiert werden. Dies würde auch dazu beitragen, die Schriften des begabten katholischen Historikers Augustin Cochin, der 1916 als junger Mann im 1. Weltkrieg in Frankreich fallen sollte, wiederzubeleben. Cochin, den Schafarewitsch oft zitiert, hatte bereits in mehreren seiner Fachbücher nicht nur die Französische Revolution, sondern vor allem auch das Wesen und das einflussreiche Treiben von Oligarchen und deren äußerst wirkmächtigen Netzwerke (zu denen manchmal auch einflussreiche Plutokraten gehören) einer brillanten Analyse unterzogen. Er wusste auch von den häufigen »Bürgerkriegen« unter bestimmten Cliquen von Oligarchen, wie beispielsweise zwischen den Girondisten und den Jakobinern. Genauso verhält es sich mit den Kapitalisten der Hochfinanz, die auffälligerweise selbst Karl Marx in seinen strategischen und analytischen Schriften nicht offen erwähnt. Trotz dieser internen Kämpfe ist die Revolution gegen den katholischen Glauben und die katholische Kirche, und sogar gegen einen schwindenden Überrest dessen, was man einst die katholische Kultur und Zivilisation nannte, noch immer in Gange.

Fasst man abschließend noch einmal Hilaire Bellocs Weitsicht und die bleibenden Wahrheiten seiner objektiven Untersuchungen zusammen, stellt man fest, dass er 1912 in der katholischen Kirche (mit Papst Pius X. an der Spitze) mehr sah als nur eine starke und verwurzelte Kulturinstitution. Würde er hingegen heutzutage schreiben, wäre er wahrscheinlich vorsichtiger, zurückhaltender und auch pessimistischer in Hinblick auf das kräftige Bollwerk, das die katholische Kirche einst war.

Würde er heutzutage schreiben, enthielte sein Werk wahrscheinlich auch einen Abschnitt über das Wesen und die knechtischen Auswirkungen moderner Technologien und würde einige »bahnbrechende Technologien« und moderne Formen unserer »elektronischen Knechtschaft« miteinbeziehen. Belloc würde sich außerdem wahrscheinlich auf zwei scharfsinnige und weitsichtige amerikanische Denker beziehen, die im 20. Jahrhundert einflussreich waren: Albert Jay Nock (1870-1945) und James Burnham (1905-1987).

Hätte Belloc Nocks Memoirs of a Superfluous Man (1943) selbst gelesen und ausführlich besprochen, hätte wahrscheinlich auch er drei grundlegende sozioökonomische Grundsätze angewandt, wie Nock es selbst so geschickt im Hinblick auf viele, nicht nur wirtschaftliche Aspekte des menschlichen Lebens und der Literatur getan hat: nämlich das Gesetz des sinkenden Grenzertrages, das Gresham’sche Gesetz (»schlechtes Geld verdrängt gutes Geld« – d. h. gute, solide Währung) und das Epstein’sche Gesetz (benannt nach Nocks Freund): »Die angeborene Veranlagung des Menschen, seine Bedürfnisse mit den am einfachsten verfügbaren Mittel zu befriedigen«, teilweise sogar mit der zweifelhaften Neigung und Entschlossenheit verbunden, »zu versuchen, etwas umsonst zu bekommen« und »mit geringsten Folgen für einen selbst« (so die Worte von Generalmajor Mickey Finn).

Belloc hätte sicher auch James Burnham gelesen und mit ihm diskutiert, einem strategisch ausgerichteten, luziden Denker und Schriftsteller, der ehemals Trotzkist war und zum Ende seines Lebens zu seinem in jungen Jahren aufgegeben katholischen Glauben zurückkehrte. Dann wäre insbesondere James Burnhams Begeht der Westen Selbstmord? Ein Versuch über Bedeutung und Zukunft des Liberalismus (1964) und The War We Are In (1967) zu besprechen gewesen. Auch hätte Belloc sicherlich zusammen mit Burnham versucht, sein eigenes weitreichendes Verständnis der »Revolution der Manager« als eine mehrdeutige Entwicklung des Industriekapitalismus samt seiner aus ihm hervorgehenden, erdrückenden bürokratischen und politischen Gesellschaft und Zivilisation zu untersuchen.

Mit solchen Männern hätte Belloc immer wieder seine Freude gehabt. Solche Männer hätten das Denken und Handeln des jeweils anderen unter Garantie bereichert. Belloc vergaß nie die Worte Kardinal Henry E. Mannings, die dieser ihm in seiner Jugend mitgegeben hatte: »Die Wahrheit bestätigt die Wahrheit« und »Jeder menschliche Konflikt ist letztlich theologisch«.

Hilaire Belloc dürfte sich im Laufe der Jahre bei seinen wiederkehrenden und tiefgreifenden katholischen Reflexionen wahrscheinlich oft Livius’ tiefgreifende Frage gestellt haben: Sind wir nun an einem Punkt angelangt, an dem »wir weder unsere Laster noch deren Heilmittel ertragen können«?3

Man bedenke nur, was Belloc vom zunehmenden Problem des Opioid-Missbrauchs halten würde.

Was muss, wenn überhaupt, als Allererstes hinreichend wiederhergestellt werden? Welche Voraussetzungen müssen beispielsweise vor unserer Errichtung eines beständigen Instituts gut aufgeteilten, kleinen Eigentums in Gesellschaft und Staat geschaffen werden?

In seinem Buch Der Sklavenstaat schreibt Belloc immer wieder explizit und implizit, dass es überall in Zivilisation und Kultur zunächst zu einer gefestigten und hinreichenden Wiederherstellung des Glaubens kommen muss.

Vorwort des Übersetzers

 

Hilaire Belloc (geb. 1870) ist ein englischer Schriftsteller von weitestem Umfange des geistigen Horizonts, von erstaunlicher Vielseitigkeit und Fruchtbarkeit, der in Deutschland so gut wie unbekannt ist. Intellektueller Außenseiter, der die bequeme Heerstraße des sogenannten gesunden englischen Menschenverstandes und damit jene ungenießbaren Plattheiten verschmäht, unterscheidet er sich von seinen berühmteren englischen Zeitgenossen wie G. K. Chesterton, Wells, Shaw, mit denen er oft verglichen wird, durch die tiefere Bildung, durch seinen Sinn für Romantik im besten Sinne des Wortes, durch eine ungemein schöpferische Imagination, die überall an die festen Bindungen der Vergangenheit anknüpft, durch ein starkes Maß von kulturkonservativer Gesinnung und Verantwortung.

Modern wie kein zweiter im Durchschauen des Wesens und der Bedingungen der westlichen Zivilisation, wurzelt er doch ganz in den Bindungen der geschichtlichen Werte, die seinen Gesichtskreis bestimmen und ihm die Normen, an denen er sich orientiert, liefern.

Ob er, der selbst kurze Zeit Parlamentsmitglied war, aber die Atmosphäre des heutigen englischen Parlaments nicht ertrug, den Verfall des englischen Parlaments schildert und die Rückkehr zu einer starken (aber nicht unbedingt legitimen) Monarchie als das einzige Rettungsmittel Englands erklärt (wozu in England mehr moralischer Mut gehört als im zeitgenössischen Deutschland), oder wenn er, der selbst zwei Zeitschriften herausgab, die Abhängigkeit der großen Presse vom Kapital und Inseratenlieferanten geißelt; ob er, der strenge und gläubige Katholik, die Bedeutung des Glaubens für die europäische Kultur darstellt oder, der Halbfranzose, eine meisterhafte Geschichte der französischen Revolution schreibt und in glänzenden Monographien die geschichtliche Rolle von Danton, Robespierre, Marie Antoinette festlegt; ob er in der anheimelnden Schilderung von Sussex die Bedeutung der römischen Straßen für den Zusammenhalt des römischen Reiches oder in der entzückenden Beschreibung einer Fußwanderung von Südfrankreich nach Rom Menschen und Landschaften schildert; ob er mit erstaunlichen Fachkenntnissen die militärische Geschichte der ersten Monate des Weltkrieges festhält oder in einer glänzenden Satire als orientalischer Erzähler den modernen Engländern einen Spiegel der Verlogenheit vorhält, ja selbst in seinem verfehlten Buche gegen die Juden, das von falschen Voraussetzungen ausgeht – immer ist er – von seinen halbphilosophischen Essaybänden und seinen Versen zu schweigen – kühn und originell in einem Maße, das uns Deutsche besonders anspricht. Um so erstaunlicher, daß dieser glänzende Schriftsteller bei uns nicht Fuß fassen konnte.

Das vorliegende Buch, dessen Kenntnis diese Übersetzung vermitteln soll, scheint zu den weniger gelesenen Schriften Bellocs zu gehören. Seine Übertragung in unsere Sprache schien mir eine nützliche Aufgabe zu sein, nicht einmal so sehr deshalb, um einen bisher unbekannten ausländischen Schriftsteller bei uns einzubürgern, sondern hauptsächlich darum, weil sich an die Darlegungen des Verfassers ein starkes sachliches Interesse knüpft, das mit unserem gegenwärtigen Zustand innerhalb der Welt in engster Beziehung steht.

Die Erlebnisse des Krieges und der Revolution haben sowohl das ganze gesellschaftliche Gefüge und die gesellschaftlichen Ordnungen als auch die Begriffe und Denkformen, mit denen wir das gesellschaftliche Geschehen zu verstehen suchen, gelockert, flüssig, problematisch gemacht. Indem wir als Glieder höherer Gemeinschaften, aber auch als Einzelpersonen immer wieder vor die Existenzfrage gestellt wurden und um das nackte Leben zu ringen hatten, lernten wir wieder elementar zu denken und die vielfach gekünstelten und verwickelten Beziehungen, die Schalen und Hüllen, von dem Wesen, der Substanz der Dinge zu unterscheiden. So hat diese Erschütterung aller Lebensverhältnisse das eine Gute gehabt, daß sie uns zwang, wieder wesenhaft zu denken und zu empfinden und hinter den Erscheinungen dem letzten Sinn nachzuspüren. Indem wir wieder elementar sehen gelernt haben, sind wir, wenn nicht frommer, so doch vorurteilsloser und umfassender geworden. Die Nationalökonomie insbesondere als der bedeutendste Teil der Gesellschaftswissenschaft hat das Glück gehabt, einen neuen Gegenstand zu finden; sie hat zu dem Namen einer Wissenschaft, den sie mit fragwürdigem Rechte trug, endlich die adäquate Sache hinzugewonnen: die Nation. Denn bis dahin arbeitete die Wissenschaft gleichsam unter einer falschen Firma. Ihr Gegenstand, ihr Subjekt, war nicht die Nation, sondern entweder das Schema von einem unwirklichen, ungeschichtlichen Wirtschaftsmenschen oder ein ebenso verschwommener Begriff von Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppen und Beziehungen. Aber der Krieg und die weiteren Kriegsfolgen haben die Nation aus einer scheinhaften, mehr erschlossenen als durchgefühlten, aus einer sozusagen literarischen Idee einer präsumierten Einheit, aus einem »Ding an sich« zu einer jederzeit erlebbaren, aufzeigbaren Realität gemacht, und diese Nation als die Verbundenheit aller Staatsbürger, die sonst durch divergierende Interessen, Anschauungen u. a. getrennt sind, in eine durchgängige Schicksalsgemeinschaft höchst eindringlich glaubhaft gemacht.

Vor dem Kriege pflegten wir mit Vorliebe unsere Zeit als ein Zeitalter der Sekurität zu bezeichnen und meinten damit, daß, im Vergleiche zu früheren, in sich und von außen stärker gefährdeten Epochen, das Leben in der modernen, sogenannten bürgerlichen Gesellschaft sich mit einer geruhsamen Selbstverständlichkeit nach gleichsam mechanischen Gesetzen abspiele. Die Gesellschaft der verschiedenen modernen Staaten hatte sich mit einer Anzahl von sich selbst regulierenden, automatisch wirkenden Schutzdämmen und Ventilen umgeben, wobei schon die Veränderung des Bankzinsfußes um ein Prozent als ein bedeutsames Ereignis gebucht und lauttönend verkündet wurde. Die Grundlagen der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung schienen unverrückbar und ein größtmögliches Maß von Stabilität, Sicherheit und Wohlbehagen zu gewähren. Dieser Sicherheit und Geborgenheit des Lebensgefühls entsprach eine Fixierung unserer gesellschaftlichen Begriffe, die sich mit den Tatsachen des Lebens schlecht genug vertrug. »Der« Mensch z. B., auf den die Nationalökonomie ihre Lehrsätze bezog und den sie zum Träger des wirtschaftlichen Geschehens und Fortschritts machte, war, näher betrachtet, gar kein lebendiger Mensch, sondern eine abstrakte Rechengröße von erstaunlicher Dürftigkeit und Simplizität der Motivierung, die als konstanter Faktor immer mit dem gleichen Wert in die Rechnung eingesetzt wurde, ein irrealer Bezugspunkt ohne eigentliche Wandlungsfähigkeit, wodurch von vornherein allen sogenannten nationalökonomischen »Gesetzen« der Stempel einer höchst fragwürdigen hypothetischen Gültigkeit aufgeprägt wurde. Wir haben vielleicht damals übersehen und nicht genug darauf geachtet, um welches Opfer dieses Gefühl der bürgerlichen Sekurität, die sich letztlich als das stärkste Bindemittel jener famosen »europäischen Solidarität« entpuppte, die im Kriege in die Brüche ging, erkauft war. Sie war, genau besehen, doch wohl eine Sekurität der besitzenden Schichten auf Kosten des Lebensgefühls der nichts als ihre Arbeitskraft besitzenden Proletarier. Nur, daß die Unsicherheit und Gefährdung der Proletarierwelt nicht so kraß in Erscheinung trat, solange der »gesunde« wirtschaftliche Fortschritt jede beliebige Menge von Arbeitskraft glatt absorbierte und unterbrachte, und solange der soziale Staat durch ein System von Sicherungen dem Proletariat oder wenigstens dem gelernten Arbeiter das wonnige Gefühl der Geborgenheit vorgaukelte. Bei dem allgemeinen Tempo des Lebens in der Vorkriegszeit wurde der riesige und ungeheuerliche Verschleiß an menschlicher Arbeitskraft nicht beachtet, der den proletarischen Industriearbeiter von vierzig Jahren als ausgepumpten Halbinvaliden auf das Pflaster warf, dessen Berufsschicksal und Lebenskurve von da ab ein Abstieg mit den traurigsten Aspekten war.

Dieses ganze Zeitalter der Sekurität ist zu Ende; es ist in einem Blutrausch erstickt, in einem Meer von Haß und Feindschaft untergegangen. Unsere sogenannte kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist in ihre gefährlichste Krise eingetreten, deren Ausgang und Ende auch heute noch nicht abzusehen ist. Es ist eine um so gefährlichere Krise, weil sie vor allem anderen eine moralische Krisis ist und weil der Kapitalismus den Beweis zu erbringen hat, daß die Anklage, unter der er steht und die von Millionen geglaubt und vertreten wird: daß nämlich »der« Kapitalismus das Weltübel schlechthin sei, von dem die Welt nur durch den Sozialismus erlöst werden könne, unhaltbar ist. Das Verhängnis ist zu einem Teil, der Weite und der Tiefe nach, ein universales, zum anderen Teil ein besonderes für die besiegten Völker des Krieges. In der ganzen kapitalistischen Ökumene gibt es heute keine Klasse, ja kaum eine einzige Einzelperson, die von sich sagen könnte, sie fühle sich sicher und geborgen. Labil, schwankend, unsicher ist aller erworbene und ererbte Besitz. Die Besonderheit der Lage der besiegten Nationen aber besteht, um dies gleich hier zu sagen, darin, daß die Gesamtheit der Staatsbürger, die ganze Nation, den Siegern gegenüber sich in derselben Stellung befindet, in der sich vor dem Kriege die hilflosen Proletarier dem besitzenden Kapitalisten gegenüber befanden: in dem Zustand der offenen oder latenten Sklaverei. Unsicher ist jeder Besitztitel, erschüttert die ganze Eigentumsordnung, abgedrängt von den Produktionsmitteln und Ressourcen der Welt, sind die Besiegten ausgeschlossen aus der sogenannten Zivilisations-Kultur-Rechtsgemeinschaft, und der Schein von Selbstverfügung und Freiheit ist, weil rein formal und den tatsächlichen Machtverhältnissen widersprechend, wertlos. Selbst den kümmerlichsten Gnadenbeweisen, die hier und da geäußert werden, liegt fast durchweg die verruchte Klugheitserwägung zugrunde, daß man den Unterlegenen, Hilflosen pfleglich behandeln müsse, wenn man ihn auf die Dauer einträglich rupfen wolle. Damit an dem Vergleich gar nichts fehlte, hat man sich die Überzeugung selbst suggeriert oder suggerieren lassen, daß der Unglückliche nicht nur unglücklich sei, sondern daß er sein Mißgeschick als ein Minderwertiger von Natur aus mit Recht verdiene. Sein Unglück sei nichts als seine Schuld. Man wagte es sogar, den hohen Begriff der Gerechtigkeit zu beschmutzen, um die Wollust der Macht mit bürgerlich gutem Gewissen genießen zu können.

Belloc, konservativ und national gesinnt, aber von einer geistigen Freiheit und Aufgeschlossenheit für die Forderungen der Gegenwart, die es in den gleichnamigen deutschen Kreisen seit Lagarde nicht mehr gegeben hat, stellt in diesem vor dem Kriege geschriebenen Buche die These auf, daß unser kapitalistisches System, d. h. in seinem Sinne eine Gesellschaftsordnung, die eindeutig charakterisiert ist durch die verfassungsrechtliche Gleichheit und Freiheit aller Staatsbürger und zugleich durch die Beschränkung des Eigentums und Kontrolle an den wesentlichen Produktionsmitteln auf eine kleine Minderheit von besitzenden Kapitalisten, während die große Mehrheit als besitzlose Proletarier auf den ständigen Verkauf ihrer Arbeitskraft zugunsten jener Minderheit von Besitzenden angewiesen ist, aus sich selbst sich nicht erhalten kann und zum Untergang bestimmt ist. Eine solche Gesellschaftsverfassung – so behauptet Belloc – kann nicht dauern, weil sie in dem Maße, insofern sie sich rein kapitalistisch entfaltet, an zwei unerträglichen Spannungszuständen zerbrechen muß. Diese Spannungen sind einmal der Widerspruch zwischen den geistig-moralischen Grundlagen, auf denen unser Staat beruht, und den gesellschaftlichen Tatsachen, die sich immer weiter von jenen Grundlagen unseres Rechts und unserer Tradition entfernen; sodann aber die Unsicherheit und Gefährdung der Lebensgrundlagen, zu denen die Mehrheit der Bevölkerung in einer kapitalistischen Gesellschaft verurteilt ist.

Er leugnet jedoch, daß der Sozialismus, d. h. eine ideale Gesellschaftsverfassung, in der Amtspersonen über die Produktionsmittel zu verfügen hätten, das Heilmittel von den Übeln des Kapitalismus sein könne, sondern er behauptet, daß sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus einem dritten Zustand zustreben, nämlich dem Sklavenstaat, d. h. einer Gesellschaftsverfassung, die wesenhaft gekennzeichnet ist durch den rechtlichen Arbeitszwang, dem das besitzlose Proletariat zugunsten der produktionsmittelbesitzenden Kapitalisten unterworfen ist.

Jede historisch beglaubigte Wirtschaftsordnung – neben der Religion die stärkste formbildende Kraft der Gesellschaft – hatte ihr Schwergewicht, ihr Maß und Ziel in gewissen höheren Ordnungen und Normen, denen sie sich anzupassen hatte. Sie war in diesem Sinne stabil und gab ihren Mitgliedern unbeschadet ihrer größeren oder geringeren Elastizität gegen Belastungsproben ein Gefühl der Sicherheit der Lebensgrundlagen. Sie war mehr oder minder von innen und außen immun und wie für die Ewigkeit konstruiert. Der Kapitalismus (insbesondere als Industriekapitalismus) ist die erste nicht mehr heteronome, sondern autonome Wirtschaftsverfassung, die höchst labile, in jedem Augenblick von außen und innen gefährdete künstliche Gesellschaftszustände schafft; denn sie braucht, um reibungslos funktionieren zu können, außer einer Anzahl anderer, durchaus nicht selbstverständlicher Bedingungen (Rechtssicherheit, Friede, Lebensmittelreserven usf.) dauernd hilflose, gnadenlos zur Arbeitsleistung verurteilte Proletariermassen und stellt diese in jedem Augenblick vor die nackte Existenzfrage.