Alex Michaelides
Thriller
Aus dem Englischen
von Kristina Lake-Zapp
Knaur eBooks
Alex Michaelides, Jahrgang 1977, wurde in Zypern geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend. Er studierte Englische Literatur am Trinity College in Cambridge. Am American Film Institute in Los Angeles machte er seinen Abschluss als Drehbuchautor. »Die stumme Patientin« war sein erster Roman, der über ein Jahr auf der New York Times Bestseller-Liste stand und in neunundvierzig Länder verkauft wurde. Alex Michaelides lebt in London.
Deutsche Erstausgabe Juli 2021
© Alex Michaelides 2021
Droemer Verlag
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur
mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Coverabbildung: Frau plainpicture / Torsten Roman,
shutterstock / OoddySmile Studio
ISBN 978-3-426-45397-1
Erzähl mir deiner ersten Liebe Tandeln –
Hoffnung April, die Narren Wechsel ersinnen;
Wenn die Gräber sich wandeln
Und die Toten zu tanzen beginnen.
Alfred Lord Tennyson, Die Vision der Sünde
Edward Fosca war ein Mörder.
Das war eine Tatsache. Es war nichts, was Mariana auf einer intellektuellen Ebene erfassen konnte, nur eine Ahnung. Ihr Körper wusste es. Sie spürte es in den Knochen, im Blut und tief in jeder einzelnen Zelle.
Edward Fosca war schuldig.
Trotzdem – sie konnte es nicht beweisen, würde es niemals beweisen können. Dieser Mann, dieses Monster, das mindestens zwei Menschen umgebracht hatte, würde aller Wahrscheinlichkeit nach unbehelligt bleiben.
Er war so selbstgefällig, so selbstsicher. Er denkt, er kommt damit durch, dachte sie. Er denkt, er habe gewonnen.
Doch das hatte er nicht. Noch nicht.
Mariana war fest entschlossen, ihn zu überlisten. Alles andere war keine Option.
Sie würde die ganze Nacht aufbleiben und sich alles, was geschehen war, durch den Kopf gehen lassen. Sie würde hier sitzen, in diesem kleinen, dunklen Zimmer in Cambridge, würde nachdenken und eine Lösung finden. Sie starrte auf den roten Balken des elektrischen Kamins an der Wand, der hell in der Dunkelheit glühte, und zwang sich, in eine Art Trance zu fallen.
In Gedanken würde sie bis ganz an den Anfang zurückkehren und sich an alles erinnern. An jedes einzelne Detail.
Und sie würde ihn kriegen.
Ein paar Tage zuvor war Mariana zu Hause in London.
Sie kniete auf dem Fußboden, umgeben von Kartons, und unternahm einen weiteren halbherzigen Versuch, Sebastians Sachen zu sortieren.
Es lief nicht gut. Auch ein Jahr nach seinem Tod war der Großteil seiner Habseligkeiten auf diverse Stapel und halb leere Kartons im ganzen Haus verteilt. Sie schaffte es einfach nicht, sich davon zu trennen.
Sie liebte ihn noch immer, das war das Problem. Selbst wenn sie wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würde, selbst wenn sie wusste, dass er für immer fort war, liebte sie ihn. Und sie wusste nicht, was sie mit all ihrer Liebe anfangen sollte. Es war so viel davon da, und das war vertrackt: Die Liebe quoll ihr aus sämtlichen Poren, wie die Füllung aus einer alten Stoffpuppe, deren Nähte sich auflösten.
Wenn sie doch nur ihre Liebe in Kartons hätte packen können, so wie sie es mit seinen Besitztümern versuchte! Was für ein erbärmlicher Anblick – das Leben eines Mannes, reduziert auf einen Haufen Flohmarktramsch.
Mariana griff in den Karton, der direkt neben ihr stand, und zog ein Paar Schuhe heraus. Sie musterte es nachdenklich – die alten grünen Turnschuhe hatte er beim Joggen am Strand getragen. Sie fühlten sich immer noch leicht feucht an; Sandkörner hatten sich ins Profil gesetzt.
Du solltest sie wegtun, sagte sie zu sich selbst. Schmeiß sie auf den Müll. Mach’s einfach.
Schon als sie die Worte in Gedanken formulierte, wusste sie, dass deren Umsetzung ein Ding der Unmöglichkeit war. Dabei waren die Schuhe nicht Sebastian, waren nicht der Mann, den sie liebte und für immer lieben würde – sie waren bloß ein Paar alte Laufschuhe. Sich von ihnen zu trennen kam ihr dennoch vor wie ein Akt der Selbstverstümmelung; als würde sie sich ein Messer an den Arm halten und ein Stück davon abschneiden.
Also drückte Mariana die Schuhe an ihre Brust und wiegte sie wie ein Kind, anstatt sie wegzuwerfen. Und sie weinte.
Wie hatte sie nur so enden können?
Innerhalb eines einzigen Jahres – das unmöglich schon vorbei sein konnte und das sich nun hinter ihr erstreckte wie eine trostlose Landschaft, verwüstet von einem Hurrikan – war das Leben, das sie kannte, ausradiert worden. Und hier war sie nun: sechsunddreißig Jahre alt, allein und betrunken an einem Dienstagabend, die Schuhe eines Toten umklammernd, als wären sie Reliquien – was sie in gewisser Weise auch waren.
Etwas Schönes, etwas Heiliges war gestorben. Alles, was ihr geblieben war, waren die Bücher, die er gelesen, die Klamotten, die er getragen, die Dinge, die er berührt hatte. Sie konnte noch immer seinen Geruch daran ausmachen, ihn noch immer auf der Zungenspitze schmecken.
Deshalb brachte sie es nicht über sich, seine Sachen abzugeben: Indem sie sie festhielt, konnte sie Sebastian am Leben halten, irgendwie, wenn auch nur ein klein wenig. Ließ sie los, würde sie ihn ganz verlieren.
In seinem Essay Trauer und Melancholie argumentierte Freud, nach dem Tod eines geliebten Menschen müsse der Verlust psychisch akzeptiert und der Betroffene losgelassen werden; anderenfalls laufe man Gefahr, einer pathologischen Trauer zu erliegen, die er Melancholie nannte – und die wir Depression nennen.
Darüber war sich Mariana im Klaren. Sie wusste, dass sie Sebastian loslassen sollte, doch sie konnte es nicht – eben weil sie ihn noch liebte. Sie liebte ihn, obwohl er für immer fort war, hinter dem Schleier – »hinter dem Schleier, hinter dem Schleier« –, von wem war das noch gleich? Wahrscheinlich von Tennyson.
Hinter dem Schleier.
So fühlte es sich an. Seit Sebastians Tod sah Mariana die Welt nicht mehr in Farbe. Das Leben war gedämpft und grau und weit weg, hinter einem Schleier – hinter einem Nebel der Traurigkeit.
Sie wollte sich vor der Welt mit all ihrem Lärm, all dem Schmerz verstecken und sich einspinnen in ihre Arbeit, hier, in dem kleinen gelben Haus.
Und dort wäre sie auch geblieben – hätte Zoe sie an jenem Oktoberabend nicht aus Cambridge angerufen.
Zoes Anruf, nach der Donnerstagabend-Gruppe – damit hatte es angefangen.
So hatte der Albtraum begonnen.
Die Donnerstagabend-Gruppe traf sich in Marianas Wohnzimmer.
Es war ein ziemlich großer Raum, der schon bald nach Marianas und Sebastians Einzug in das gelbe Haus zu Therapiezwecken umfunktioniert wurde.
Sie mochten das Haus sehr. Es stand am Fuß von Primrose Hill im Nordwesten Londons und war in demselben hellen Gelb gestrichen wie die Primeln, die im Sommer auf dem Hügel wuchsen. Geißblatt mit seinen weißen, lieblich duftenden Blüten rankte sich an einer der Außenwände in die Höhe, und in den Sommermonaten stahl sich der Duft durch die offenen Fenster hinein, schwebte die Treppe hinauf und verweilte in den Fluren und Räumen, füllte sie mit seiner Süße.
Es war außergewöhnlich warm an jenem frühen Donnerstagabend. Obwohl es bereits Anfang Oktober war, ließ sich der Indian Summer nicht unterkriegen, wie ein hartnäckiger Partygast, der den Wink mit dem Zaunpfahl hartnäckig ignorierte, indem er die sterbenden Blätter an den Bäumen einfach übersah und sich weigerte zu gehen. Die tief stehende Sonne flutete ins Wohnzimmer und tauchte es in ein goldenes Licht mit einem leichten Rotstich. Vor der Sitzung schloss Mariana die Jalousien, doch sie schob die Schiebefenster ein Stück hoch, um etwas frische Luft hereinzulassen.
Als Nächstes stellte sie die Stühle in einem Kreis auf.
Neun Stühle. Einen Stuhl für jedes Gruppenmitglied und einen für Mariana. Eigentlich sollten alle identisch sein – aber so funktionierte das Leben nun einmal nicht. Entgegen ihren besten Absichten hatte sie im Laufe der Jahre ein ganzes Sortiment an Stühlen in verschiedenen Materialien, Formen und Größen angesammelt. Ihre entspannte Haltung, die Stühle betreffend, war typisch für die Leitung ihrer Gruppen – Mariana war ungezwungen, um nicht zu sagen unkonventionell in ihrer Herangehensweise.
Marianas Berufswahl – Psychotherapeutin, spezialisiert auf Gruppentherapie – hatte etwas Ironisches. Ihre Einstellung Gruppen gegenüber war von Kindheit an ambivalent gewesen – ja, sie hatte ihnen sogar stets ein gewisses Misstrauen entgegengebracht.
Mariana war in Griechenland aufgewachsen, am Stadtrand von Athen. Sie hatte in einem großen, baufälligen, alten Haus auf einem Hügel gelebt, der bedeckt war mit einer schwarz-grünen Decke aus Olivenbäumen. Als junges Mädchen saß sie auf der rostigen Schaukel im Garten, den Blick auf die antike Stadt gerichtet, die sich unter ihr und bis hinauf zu den Säulen des Parthenons auf dem anderen Hügel in der Ferne erstreckte. Athen erschien ihr so gewaltig, so unendlich groß, und sie fühlte sich so klein und unbedeutend, dass sie die Stadt mit einer fast abergläubischen Vorahnung betrachtete.
Die Haushälterin zum Einkaufen auf den überfüllten Markt im Zentrum Athens zu begleiten, machte Mariana nervös. Sie war jedes Mal erleichtert und ein wenig erstaunt, wenn sie unversehrt nach Hause zurückkehrten. Große Gruppen schüchterten sie ein, auch noch, als sie älter wurde. In der Schule stand sie stets am Rand, mit dem Gefühl, nicht zu ihren Klassenkameraden zu passen, und dieses Gefühl des Nicht-dazu-Passens ließ sich nur schwer abschütteln. Jahre später, während der Therapie, verstand sie, dass der Schulhof nichts anderes als ein simpler Makrokosmus des Familienverbunds war. Was bedeutete, dass ihr Unbehagen nicht dem Hier und Jetzt geschuldet war, genauso wenig wie dem Schulhof an sich, dem Markt in Athen oder irgendeiner anderen Gruppe, in der Mariana sich wiederfand, sondern vielmehr dem abgeschiedenen Haus und der Familie, in der sie aufgewachsen war.
Das Haus war immer kalt gewesen, sogar im sonnigen Griechenland. Es herrschte eine Leere darin – ein Mangel an Wärme, körperlich und emotional. Das war zum Großteil auf Marianas Vater zurückzuführen, der – wenngleich in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Mann: gut aussehend, einflussreich und ausgesprochen scharfsinnig – als hoch kompliziert galt. Mariana vermutete, dass er in seiner Kindheit einen irreparablen Schaden davongetragen hatte. Sie hatte seine Eltern nie kennengelernt, und er hatte sie nur selten erwähnt. Sein Vater war Seemann gewesen. Seine Mutter arbeitete an den Docks, hatte er einmal voller Scham zugegeben, und Mariana vermutete, dass sie eine Prostituierte gewesen war.
Ihr Vater wuchs in den Slums von Athen und in der Hafengegend von Piräus auf, heuerte auf den Schiffen als Schiffsjunge an, befasste sich bald mit dem Handel von Kaffee und Weizen und – wie Mariana annahm – weniger appetitlichen Dingen. Mit fünfundzwanzig besaß er bereits sein eigenes Boot und baute sich damit eine Reederei auf. Mittels einer Kombination aus Rücksichtslosigkeit, harter Arbeit und Schweiß schuf er sich ein kleines Imperium.
Er führte sich auf wie ein König, dachte Mariana – oder wie ein Diktator. Später sollte sie herausfinden, dass ihr Vater ein extrem vermögender Mann gewesen war, worauf seine genügsame, nahezu spartanische Lebensweise niemals hätte schließen lassen. Vielleicht hätte ihre Mutter – ihre sanftmütige, feinfühlige englische Mutter – ihn ein wenig weicher machen können, hätte sie noch gelebt. Aber sie starb tragisch früh, kurz nach Marianas Geburt.
Mariana war in dem ausgeprägten Bewusstsein dieses Verlusts aufgewachsen. Als Therapeutin wusste sie, dass die frühe Selbstwahrnehmung eines Babys durch die Augen seiner Eltern erfolgt. Wir werden geboren und beobachtet. Die Gesichtsausdrücke unserer Eltern – das, was wir im Spiegel ihrer Augen sehen – entscheiden darüber, wie wir uns selbst wahrnehmen. Mariana hatte den Blick ihrer Mutter verloren – und den ihres Vaters. Es fiel ihm schwer, sie direkt anzuschauen, für gewöhnlich sah er sie über die Schulter hinweg an, wenn er sie ansprach. Mariana konnte noch so oft ihre Position verändern, konnte sich noch so sehr bemühen, in sein Blickfeld zu treten, konnte noch so sehr hoffen, von ihm gesehen zu werden – irgendwie blieb sie immer am Rand.
Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie seinen Blick kurz festhalten konnte, lag so viel Geringschätzung darin, brennende Enttäuschung. Seine Augen sagten ihr die Wahrheit: Sie war nicht gut genug. Ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte – Mariana spürte stets, dass sie versagte, dass sie das Falsche äußerte oder tat. Schon ihre bloße Existenz schien ihn zu verärgern. Er war niemals einer Meinung mit ihr, egal, worum es ging; benahm sich ihr gegenüber wie Petruchio gegenüber Katharina in Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung: Wenn sie behauptete, es sei kalt, widersprach er, es sei heiß; wenn sie sagte, es sei sonnig, bestand er darauf, dass es regnete. Doch trotz seiner Kritik und seiner Widerspenstigkeit liebte Mariana ihn. Er war alles, was sie hatte, und sie sehnte sich danach, seiner Liebe würdig zu sein.
Es hatte in ihrer Kindheit nur wenig Liebe gegeben. Sie hatte eine ältere Schwester, aber sie standen einander nicht nahe. Elisa war sieben Jahre älter und hatte wenig bis gar kein Interesse an der schüchternen jüngeren Mariana. Also blieb sie die langen Sommermonate über allein und spielte unter dem strengen Auge der Haushälterin im Garten.
Sie wuchs weitestgehend isoliert auf, kein Wunder also, dass sie sich in der Nähe anderer Menschen ein wenig unbehaglich fühlte.
Die Ironie, dass sie sich am Ende ausgerechnet auf Gruppentherapie spezialisiert hatte, entging ihr nicht. Paradoxerweise kam ihr genau dies zupass. Bei der Gruppentherapie steht die Gruppe, nicht das Individuum im Fokus der Behandlung. Ein erfolgreicher Gruppentherapeut zu sein bedeutet – bis zu einem gewissen Maße –, unsichtbar zu sein.
Darin war Mariana gut.
Bei ihren Sitzungen hielt sie sich so weit wie möglich aus dem Gruppengeschehen heraus. Sie schaltete sich nur ein, wenn das Gespräch zum Erliegen kam, wenn eine Verhaltensinterpretation hilfreich war oder wenn etwas schiefging.
An diesem speziellen Donnerstag kam es fast sofort zu einer ernsten Auseinandersetzung, die ein Einschreiten Marianas erforderte. Das Problem war – wie üblich – Henry.
Henry traf später ein als die anderen. Er war erhitzt und außer Atem, und er wirkte ein wenig instabil. Mariana fragte sich, ob er high war. Sie wäre nicht überrascht gewesen, denn sie ging davon aus, dass Henry seine Medikamente missbrauchte – aber sie war seine Therapeutin, nicht sein Arzt, daher gab es wenig, was sie dagegen tun konnte.
Henry Booth war erst fünfunddreißig Jahre alt, aber er sah älter aus. Sein rötliches Haar war grau durchzogen, sein Gesicht voller Falten, genau wie das zerknitterte Hemd, das er trug. Seine Stirn war dauergerunzelt, was den Eindruck vermittelte, er sei permanent angespannt. Er erinnerte Mariana an einen Boxer oder Kämpfer, der sich darauf vorbereitet, den nächsten Schlag auszuteilen – oder einzustecken.
Henry murmelte eine Entschuldigung für sein Zuspätkommen, dann setzte er sich, einen Kaffeebecher aus Plastik in der Hand.
Der Kaffee war das Problem.
Liz meldete sich sofort zu Wort – selbstverständlich. Liz war Mitte siebzig, pensionierte Lehrerin, eine kleinliche Pedantin, die darauf bestand, dass die Dinge »anständig« erledigt wurden, wie sie sich ausdrückte. Mariana empfand sie als ziemlich anstrengend, wenn nicht gar nervtötend. Und sie ahnte, was Liz gleich anmerken würde.
»Das ist nicht erlaubt.« Liz deutete mit vor Empörung zitterndem Zeigefinger auf Henrys Kaffeebecher. »Wir dürfen nichts von draußen mitbringen. Das wissen wir alle.«
»Warum nicht?«, grummelte Henry.
»Weil das zu den Vorschriften gehört, Henry.«
»Ach, leck mich am Arsch, Liz.«
»Wie bitte? Mariana, haben Sie gehört, was er gerade zu mir gesagt hat?«
Liz brach prompt in Tränen aus, und von da an arteten die Dinge aus – und endeten in einer weiteren hitzigen Konfrontation zwischen Henry und den anderen Gruppenmitgliedern, die ihre geballte Wut auf ihn richteten.
Mariana beobachtete dies aufmerksam, einen fürsorglichen Blick auf Henry gerichtet, um zu sehen, wie er damit umging. Entgegen seinem großspurigen Auftreten war er ein höchst verletzliches Individuum. Als Kind war Henry grauenhaftem körperlichem und sexuellem Missbrauch durch seinen Vater ausgesetzt gewesen, bevor er unter behördliche Obhut genommen und von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht wurde. Und dennoch, trotz dieses Traumas, war Henry ein bemerkenswert intelligenter junger Mensch – und eine Zeit lang schien es, als würde seine Intelligenz genügen, um ihn zu retten: Mit achtzehn erhielt er einen Platz an einer Universität, um Geschichte zu studieren. Leider hielt er nur ein paar Wochen durch, dann holte ihn seine Vergangenheit wieder ein; er bekam einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Es folgte eine traurige Geschichte von Selbstverletzung, Drogenabhängigkeit und wiederholten Zusammenbrüchen, die ihn regelmäßig in die Klinik brachten – bis sein Psychiater ihn an Mariana verwies.
Mariana hatte eine Schwäche für Henry, vermutlich weil er so fürchterliches Pech im Leben gehabt hatte. Trotzdem war sie unsicher gewesen, ob sie ihn in die Gruppe aufnehmen sollte. Das lag nicht allein daran, dass er deutlich versehrter war als die anderen Gruppenmitglieder – schwerkranke Patienten konnten Halt in Gruppen finden und effizient geheilt werden, aber sie konnten ebendiese Gruppen auch beeinträchtigen bis hin zu deren Auflösung. Sobald sich eine Gruppe etabliert, bietet sie stets eine Angriffsfläche für Neid und Ausfälligkeiten. Diese werden nur selten von außen an die Gruppe herangetragen, vielmehr findet man die düsteren und gefährlichen Kräfte innerhalb der Gruppe selbst. Und seit er vor ein paar Monaten zu ihnen gestoßen war, hatte sich Henry als ständige Konfliktquelle entpuppt. Er brachte die Konflikte mit in die Gruppe. In ihm schlummerte eine latente Aggression – brodelnder Zorn, der sich oft nur schwer beherrschen ließ.
Aber Mariana gab nicht so leicht auf; solange sie in der Lage war, die Gruppe zu kontrollieren, war sie entschlossen, mit ihm zu arbeiten. Sie glaubte an die Gruppe, an die acht Individuen, die da in einem Kreis saßen – und sie glaubte an den Kreis und seine Heilkraft. In ihren fantasievolleren Momenten konnte Mariana nahezu mystisch werden, was die Macht von Kreisen anging: der Kreis der Sonne oder des Mondes oder der Erde; die Planeten, die im Weltall kreisten; der Kreis eines Rads oder die Kuppel einer Kirche – oder eines Eherings. Platon behauptete, die Seele sei ein Kreis – was für Mariana Sinn ergab. Das Leben war ebenfalls ein Kreis, nicht wahr? – von der Geburt bis zum Tod.
Und wenn die Gruppentherapie gut funktionierte, konnte innerhalb des Kreises eine Art Wunder geschehen – die Geburt einer eigenständigen Entität: ein Gruppengeist, eine Gruppenseele; ein »Big Mind«, wie dies oft genannt wurde, mehr als nur die Summe seiner Einzelteile; intelligenter als der Therapeut oder die einzelnen Mitglieder. Dieser Gruppengeist war weise, heilend und auf kraftvolle Weise auffangend. Mariana hatte seine Kraft so manches Mal aus erster Hand erfahren. Im Wohnzimmer an der Vorderseite ihres Hauses hatte dieser Kreis über die Jahre viele Geister beschworen und zu Grabe getragen.
Heute war es an Liz, heimgesucht zu werden. Sie konnte einfach nicht von dem Kaffeebecher ablassen. Er brachte so viel Wut und Feindseligkeit in ihr zum Vorschein – die Tatsache, dass Henry dachte, die Regeln würden nicht für ihn gelten, er könne sie also verächtlich brechen –, und dann realisierte Liz plötzlich, wie sehr Henry sie an ihren älteren Bruder erinnerte, der sich stets alles herausnahm und ein schrecklicher Tyrann gewesen war. All der Zorn auf ihren Bruder, den Liz unterdrückt hatte, bahnte sich den Weg an die Oberfläche; was gut war, dachte Mariana – er musste raus. Vorausgesetzt, Henry konnte es ertragen, als psychologischer Boxsack benutzt zu werden.
Was er natürlich nicht konnte.
Henry sprang plötzlich auf, stieß einen gequälten Schrei aus und schleuderte den Kaffeebecher auf den Boden. Er landete in der Mitte des Kreises und platzte auf – eine größer werdende schwarze Kaffeelache breitete sich auf den Bodendielen aus.
Die anderen Gruppenmitglieder empörten sich lautstark und beinahe hysterisch. Liz brach erneut in Tränen aus, Henry wollte gehen. Mariana bewegte ihn dazu, zu bleiben und zu besprechen, was passiert war.
»Es ist bloß ein verfluchter Kaffeebecher, warum macht ihr deshalb so ein Fass auf?«, stieß Henry hervor. Er klang wie ein entrüstetes Kind.
»Es geht nicht um den Kaffeebecher«, erklärte Mariana. »Es geht um Grenzen. Die Grenzen innerhalb dieser Gruppe, die Grenzen, an die wir uns hier halten. Wir haben das doch schon einmal besprochen. Wir können keine Therapie absolvieren, wenn wir uns unsicher fühlen. Grenzen geben uns Sicherheit. In der Therapie geht es um Grenzen.«
Henry sah sie ausdruckslos an. Mariana wusste, dass er sie nicht verstand. Grenzen waren per definitionem stets das Erste, was bei Kindesmissbrauch missachtet wurde. Bei Henry waren sämtliche Grenzen übertreten worden, als er ein kleiner Junge war. Folglich verstand er nicht deren Konzept. Genauso wenig wusste er, wann er Unbehagen bei jemandem hervorrief, was er für gewöhnlich tat, indem er in dessen persönliche physische oder psychische Distanzzone eindrang – er trat zu nah heran, wenn er mit einem sprach, und stellte seine Bedürftigkeit in einem Maße zur Schau, wie Mariana es noch nie zuvor bei einem Patienten erlebt hatte. Nichts genügte ihm. Er wäre bei ihr eingezogen, wenn sie ihn gelassen hätte. Es lag an ihr, die Grenze zwischen ihnen zu ziehen, die Parameter ihrer Beziehung auf eine gesunde Art und Weise zu definieren. Das war ihre Aufgabe als Therapeutin.
Aber Henry setzte ihr mehr und mehr zu, bedrängte sie, ging ihr unter die Haut – in einer Art und Weise, die für Mariana immer schwerer zu handhaben war.
Nach der Sitzung, als die anderen schon gegangen waren, blieb Henry noch da – angeblich, um ihr zu helfen, die Sauerei wegzuwischen. Aber Mariana wusste, dass mehr dahintersteckte; das tat es bei ihm immer. Schweigend drückte er sich im Wohnzimmer herum und beobachtete sie.
»Kommen Sie, Henry«, ermutigte sie ihn. »Zeit zu gehen … Oder möchten Sie noch etwas von mir?«
Henry nickte, aber er antwortete nicht. Stattdessen griff er in seine Tasche.
»Hier«, sagte er. »Ich habe etwas für Sie.«
Er zog einen Ring hervor. Einen roten Plastikring, der aussah, als stamme er aus einem Knallbonbon.
»Der ist für Sie.«
Mariana schüttelte den Kopf. »Sie wissen, dass ich ihn nicht annehmen kann.«
»Warum nicht?«
»Sie müssen aufhören, mir Dinge mitzubringen, Henry. Okay? Und Sie sollten jetzt wirklich nach Hause gehen.«
Er rührte sich nicht. Mariana überlegte für einen Moment. Sie hatte nicht vorgehabt, ihn auf diese Weise zu konfrontieren, nicht jetzt – aber irgendwie fühlte es sich richtig an.
»Hören Sie, Henry«, sagte sie daher. »Es gibt etwas, worüber wir reden müssen.«
»Was denn?«
»Am Montagabend nach der Gruppensitzung habe ich aus dem Fenster geschaut und Sie gesehen. Sie standen auf der anderen Straßenseite, neben der Laterne. Sie haben das Haus beobachtet.«
»Das war ich nicht.«
»Doch, das waren Sie. Ich habe Ihr Gesicht gesehen. Und zwar nicht zum ersten Mal. Ich habe Sie dort gesehen.«
Henry lief puterrot an und vermied Augenkontakt. Er schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht, das war ich nicht, das war …«
»Hören Sie, Henry. Es ist ganz natürlich, dass Sie neugierig sind auf die anderen Gruppen, die ich leite. Doch das ist etwas, was wir hier, innerhalb der Gruppe, besprechen. Und es ist nicht in Ordnung, die Sitzung zu torpedieren, und es ist auch nicht in Ordnung, mich auszuspionieren. Ein solches Verhalten ruft in mir ein Gefühl der Bedrängnis, der Bedrohung hervor …«
»Ich spioniere Sie nicht aus! Ich habe bloß dagestanden. Na und?«
»Dann geben Sie also zu, dass Sie da waren?«
Henry machte einen Schritt auf sie zu. »Warum können nicht nur wir beide uns treffen? Warum können Sie mich nicht ohne die anderen treffen?«
»Sie wissen, warum. Weil ich Sie als Teil einer Gruppe betrachte – da kann ich Sie nicht zugleich als Individuum wahrnehmen. Wenn Sie eine Einzeltherapie benötigen, kann ich Ihnen gern einen Kollegen empfehlen …«
»Nein, ich möchte Sie …«
Henry machte einen weiteren, plötzlichen Schritt auf sie zu. Mariana wich nicht zurück. Sie hielt die Hand hoch.
»Nein. Stopp. Okay? Das ist zu nah. Henry …«
»Warten Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Bevor sie ihn davon abhalten konnte, hob Henry seinen dicken, schwarzen Pulli hoch. Sein bleicher, haarloser Oberkörper bot einen grausigen Anblick.
Mit einer Rasierklinge hatte er tiefe Kreuze in seine Haut geritzt. Blutrote Kreuze in verschiedenen Größen, eingeschnitten in Brust und Bauch. Manche waren noch ganz frisch und blutig, andere waren schorfig und weinten harte, rote Perlen – erstarrte, blutige Tränen.
Mariana spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Ihr wurde übel vor Ekel. Am liebsten hätte sie den Blick abgewandt, doch das gestattete sie sich nicht. Das hier war ein Hilfeschrei, natürlich, ein Versuch, in ihr eine fürsorgliche Reaktion hervorzurufen. Allerdings war es mehr als das: Es war gleichzeitig ein emotionaler Übergriff, ein psychologischer Angriff auf ihre Sinne. Henry hatte es zumindest geschafft, Mariana zu überrumpeln, sie innerlich aufzuwühlen, und dafür hasste sie ihn.
»Was zum Teufel haben Sie getan, Henry?«
»Ich … ich konnte nicht anders. Ich musste das tun. Und Sie – Sie mussten das sehen.«
»Und jetzt habe ich es gesehen. Was glauben Sie, wie ich mich nun fühle? Können Sie sich vorstellen, wie außer mir ich bin? Ich möchte Ihnen helfen, aber …«
»Aber was?« Er lachte. »Was hält Sie davon ab?«
»Der geeignete Zeitpunkt, Ihnen diese Hilfe zu geben, ist während der Gruppensitzungen. Sie hatten heute Abend die Gelegenheit, meine Hilfe anzunehmen, aber das haben Sie nicht getan. Wir alle hätten Ihnen helfen können …«
»Ich will nicht deren Hilfe – ich will Sie, Mariana. Ich brauche Sie …«
Mariana wusste, dass sie ihn zum Gehen auffordern musste. Es war nicht ihr Job, seine Wunden zu reinigen. Er benötigte medizinische Versorgung. Sie musste hart bleiben, um seinetwillen, aber auch zu ihrem eigenen Wohl. Dennoch brachte sie es einfach nicht über sich, ihn hinauszuwerfen, und nicht zum ersten Mal überwog Marianas Mitgefühl ihren gesunden Menschenverstand.
»Warten Sie – warten Sie eine Sekunde.«
Sie ging zur Kommode, zog eine Schublade auf und kramte darin. Dann nahm sie eine kleine Erste-Hilfe-Tasche heraus und wollte sie gerade öffnen, als ihr Handy klingelte.
Sie warf einen Blick auf die Nummer. Zoe rief an.
»Zoe?«
»Kannst du reden? Es ist wichtig.«
»Gib mir einen kleinen Moment. Ich rufe dich zurück.« Mariana beendete das Telefonat und drehte sich zu Henry um. Sie hielt ihm das Erste-Hilfe-Täschchen entgegen.
»Nehmen Sie das, Henry. Sie müssen die Wunden reinigen und, wenn nötig, Ihren Hausarzt aufsuchen. Haben Sie mich verstanden? Ich rufe Sie morgen an.«
»Das war’s dann? Und Sie nennen sich Psychotherapeutin?«
»Stopp. Genug. Sie müssen jetzt gehen.«
Mariana ignorierte Henrys Protest und führte ihn in den Flur und zur Haustür hinaus. Sie schloss die Tür hinter ihm und verspürte den Impuls, abzusperren, doch sie widerstand.
Anschließend ging sie in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Nahm eine Flasche Sauvignon Blanc heraus.
Sie war zutiefst erschüttert. Sie musste sich zusammenreißen, bevor sie Zoe zurückrief. Sie wollte dem Mädchen keine noch größere Last aufbürden. Zoe hatte schon genug zu tragen. Ihre Beziehung war seit Sebastians Tod unausgewogen – und von jetzt an wollte sie die Balance wiederherstellen, beschloss Mariana. Sie wollte nicht, dass Zoes Abschlussjahr an der Universität von Marianas Trauer überschattet war. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Dann schenkte sie sich ein großes Glas Wein ein und griff zum Telefon.
Zoe ging beim ersten Klingeln dran.
»Mariana?«
Mariana wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Zoes Stimme klang angespannt. Eine Dringlichkeit schwang darin mit, die Mariana sofort mit Krisensituationen assoziierte. Sie klingt verängstigt, dachte sie. Sie spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller schlug.
»Liebes, ist … ist alles in Ordnung? Was ist passiert?«
Es entstand eine Pause, bevor Zoe antwortete. »Stell den Fernseher an«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Schalte die Nachrichten ein.«
Mariana griff nach der Fernbedienung.
Sie machte den alten, tragbaren Fernseher an, der auf der Mikrowelle stand – eins von Sebastians heiligen Besitztümern, gekauft, als er noch Student gewesen war. Er hatte darauf Cricket und Rugby geschaut, während er so tat, als würde er Mariana helfen, die Wochenendmahlzeiten zuzubereiten. Der Fernseher hatte seine Mucken und flackerte für einen Moment, bis ein Bild erschien.
Mariana stellte den BBC-Nachrichtensender ein. Ein Journalist mittleren Alters berichtete etwas. Er stand draußen; wo, konnte man nicht genau erkennen, denn es wurde dunkel – vielleicht auf einem Feld oder einer Wiese. Er sprach direkt in die Kamera.
»… wurde hier in Cambridge gefunden, in dem Naturschutzgebiet, das Paradise genannt wird. Ich bin hier mit dem Mann, der sie entdeckt hat … Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Die Frage war an jemanden adressiert, der außerhalb des Kamerabereichs stand. Die Linse schwenkte auf einen kleinen, nervösen Mann mit rotem Gesicht Mitte sechzig. Er blinzelte verwirrt ins grelle Licht, dann fing er zögernd an zu sprechen.
»Vor ein paar Stunden … hm, wann war das noch genau? Ich führe jeden Tag gegen sechzehn Uhr den Hund aus, also muss es kurz danach gewesen sein … vielleicht eine Viertelstunde, zwanzig Minuten später. Wir nehmen immer den Weg am Fluss entlang, Sie wissen schon, den schmalen Pfad … Also, wir waren gerade im Naturschutzgebiet, und …«
Er verstummte, ließ den Satz unbeendet, dann setzte er erneut an: »Es war der Hund … Er ist im hohen Gras verschwunden, im Marschland. Ich habe ihn gerufen, aber er ist nicht gekommen. Ich dachte, er hätte einen Vogel oder Fuchs oder irgendein anderes Tier entdeckt – also lief ich zu ihm hin, um nachzusehen. Ich bin zwischen den Bäumen hindurchgegangen … auf die Lichtung … und da, da lag sie …«
Ein seltsamer Ausdruck trat in die Augen des Mannes. Ein Ausdruck, den Mariana nur allzu gut kannte. Er hat Schreckliches gesehen, dachte sie. Ich will es nicht hören. Ich will nicht wissen, was er gefunden hat.
Der Mann fuhr schonungslos fort, schneller jetzt, als müsse er die Worte mit aller Kraft hervorstoßen.
»Ein Mädchen … kaum älter als zwanzig. Sie hatte rote Haare, schulterlang. Zumindest glaube ich, dass die Haare rot waren. Alles war voller Blut, so viel Blut …«
»Sie war tot?«
»Ja.« Der Mann nickte. »Sie hatte Stichwunden. Überall. Und … ihr Gesicht … Gott, das war schrecklich … Ihre Augen – sie waren offen … Sie starrte … starrte …«
Er brach ab und schwieg. Tränen traten in seine Augen. Er steht unter Schock, dachte Mariana. Sie sollten ihn nicht befragen – jemand sollte die Aufnahme stoppen.
Als hätte er gemerkt, dass er zu weit gegangen war, beendete der Journalist das Interview, und die Kamera schwenkte zurück auf ihn.
»Die Eilmeldung hier aus Cambridge: Es wurde eine Frauenleiche gefunden. Die Polizei ermittelt. Das Opfer, eine junge Frau Anfang zwanzig, wurde mit zahlreichen Messerstichen tot aufgefunden …«
Mariana schaltete den Fernseher aus. Einen Moment lang starrte sie auf die dunkle Mattscheibe, fassungslos, unfähig, sich zu bewegen. Dann fiel ihr ein, dass sie das Telefon in der Hand hielt. Sie hob es ans Ohr.
»Zoe? Bist du noch dran?«
»Ich … ich denke, es ist Tara.«
»Wie bitte?« Mariana erstarrte.
Tara war eine Freundin von Zoe. Sie waren in einem Jahrgang auf dem St. Christopher College der Universität Cambridge. Mariana zögerte. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie beunruhigt sie war.
»Warum sagst du das?«
»Weil die Beschreibung auf Tara zutrifft – außerdem hat sie seit gestern keiner mehr gesehen. Ich meine, ich hab alle gefragt, und ich … ich mache mir solche Sorgen, ich weiß gar nicht, was ich tun soll …«
»Warte. Nun mal langsam. Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Abend.« Zoe senkte die Stimme. »Sie war wirklich seltsam. Ich …«
»Seltsam? Wie meinst du das?«
»Sie hat ein paar verrückte Dinge gesagt. Seltsame Dinge.«
»Verrückt? Inwiefern?«
Es entstand eine Pause, dann antwortete Zoe mit Flüsterstimme: »Ich kann jetzt nicht darüber reden. Würdest du herkommen?«
»Selbstverständlich komme ich. Hör zu, Zoe: Hast du mit den Leuten vom College gesprochen? Du musst es ihnen mitteilen – rede mit dem Dekan.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sag das, was du mir gesagt hast. Dass du dir Sorgen um deine Kommilitonin machst. Das College wird sich an die Polizei und an Taras Eltern wenden …«
»An ihre Eltern? Aber … was ist, wenn ich mich täusche?«
»Ich bin mir sicher, dass du dich täuschst«, erwiderte Mariana mit weitaus mehr Zuversicht, als sie in Wirklichkeit verspürte. »Bestimmt geht es ihr gut, aber wir müssen uns vergewissern. Das verstehst du doch, nicht wahr? Möchtest du, dass ich die Hochschulleitung an deiner Stelle informiere?«
»Nein, nein, das ist schon in Ordnung … Das übernehme ich.«
»Gut. Geh jetzt ins Bett, okay? Ich mache mich gleich morgen früh auf den Weg.«
»Danke, Mariana. Ich habe dich lieb.«
»Ich habe dich auch lieb.«
Mariana beendete das Telefonat. Das Glas Weißwein, das sie sich eingeschenkt hatte, stand unberührt auf der Anrichte. Sie nahm es und leerte es in einem Zug.
Ihre Hand zitterte, als sie nach der Flasche griff und das Glas ein zweites Mal füllte.
Mariana ging nach oben und fing an, eine Reisetasche zu packen für den Fall, dass sie ein paar Nächte in Cambridge bleiben musste.
Sie versuchte, ihre Gedanken im Zaum zu halten, aber das erwies sich als schwierig, denn sie war unglaublich besorgt. Irgendwo da draußen trieb sich ein Mann herum – angesichts der extremen Brutalität des Verbrechens ging sie davon aus, dass es sich um einen Mann handelte –, der gefährlich krank war und auf entsetzliche Weise eine junge Frau ermordet hatte … eine junge Frau, die vermutlich nur ein paar Schritte neben ihrer geliebten Zoe gewohnt hatte.
Mariana versuchte die Vorstellung zu verdrängen, dass das Opfer genauso gut ihre Nichte hätte sein können, doch es gelang ihr nicht ganz: Ihr war schlecht vor Angst. Sie hatte eine solche Angst erst einmal in ihrem Leben empfunden – am Tag von Sebastians Tod. Ein Gefühl der Ohnmacht, eine Machtlosigkeit, eine grauenhafte Unfähigkeit, diejenigen zu beschützen, die man liebte.
Sie warf einen Blick auf ihre rechte Hand. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Sie ballte die Finger zur Faust, drückte sie fest zusammen. Nein, sie würde nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt. Sie würde ruhig bleiben. Sie würde sich konzentrieren.
Zoe brauchte sie, das war alles, was zählte.
Wäre doch nur Sebastian hier! Er hätte gewusst, was zu tun war. Er hätte nicht erst überlegt, gezögert und eine Reisetasche gepackt – er hätte sich seine Schlüssel geschnappt und wäre aus der Haustür gerannt, während er noch mit Zoe telefonierte. Das hätte Sebastian getan. Warum tat sie es nicht?
Weil du ein Feigling bist, dachte sie.
Das war die Wahrheit. Wenn sie doch nur ein kleines bisschen von Sebastians Stärke besäße! Ein kleines bisschen von seinem Mut. Komm schon, Liebes, konnte sie ihn sagen hören, gib mir deine Hand und lass uns dem Mistkerl gemeinsam entgegentreten.
Mariana legte sich ins Bett, dachte nach, dämmerte ein. Zum ersten Mal seit über einem Jahr galten ihre Gedanken beim Einschlafen nicht ihrem verstorbenen Ehemann.
Stattdessen dachte sie an einen anderen Mann: eine schemenhafte Gestalt mit einem Messer, die dem armen Mädchen etwas so Grauenhaftes angetan hatte. Sie fragte sich, wer dieser Mann sein mochte. Sie fragte sich, was er im Augenblick tat, dort, wo er war …
Und was er dachte.
7. Oktober
Wenn man einen anderen Menschen umbringt, gibt es kein Zurück.
Das verstehe ich jetzt. Ich verstehe, dass ich ein völlig anderer Mensch geworden bin.
Es ist vermutlich wie bei einer Wiedergeburt, nur dass es keine gewöhnliche Geburt ist – es ist eine Metamorphose. Was sich aus der Asche erhebt, ist kein Phönix, sondern eine hässlichere Kreatur: deformiert; unfähig, zu fliegen; ein Raubtier, das seine Klauen zum Schlagen und Reißen benutzt.
Jetzt, da ich das hier schreibe, habe ich mich unter Kontrolle.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fühle ich mich ruhig und zurechnungsfähig. Aber da ist mehr als eine Person in mir.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich mein anderes Ich erhebt: blutdurstig und verrückt und versessen auf Rache. Und es wird erst Ruhe geben, wenn es bekommen hat, wonach es verlangt.
In meiner Seele schlummern zwei Personen.
Ein Teil von mir kennt meine Geheimnisse – er allein kennt die Wahrheit, aber er wird gefangen gehalten, weggesperrt, betäubt, erhält keine Stimme. Er findet nur dann ein Ventil, wenn sein Kerkermeister vorübergehend abgelenkt ist. Wenn ich betrunken bin oder einschlafe, versucht er zu sprechen. Aber das ist nicht leicht. Kommunikation findet sporadisch statt – wie bei einem codierten Fluchtplan aus einem Kriegsgefangenenlager. In dem Moment, in dem er zu greifbar wird, verschlüsselt ein Wachmann die Nachricht. Eine Mauer fällt. Leere füllt meine Seele. Die Erinnerung, um die ich ringe, verpufft.
Aber ich werde durchhalten. Das muss ich. Irgendwie werde ich mir einen Weg durch die Finsternis bahnen und in Kontakt mit ihm treten – mit dem gesunden Teil von mir. Dem Teil, der keine Menschen verletzen möchte. Da ist vieles, was er mir sagen kann. Vieles, was ich wissen muss. Wie und warum ich so geworden bin, so weit entfernt bin von dem Menschen, der ich sein wollte – so voller Hass und Zorn, so zerrissen …
Oder belüge ich mich selbst? War ich schon immer so und wollte es mir nur nicht eingestehen?
Nein – das glaube ich nicht.
Schließlich hat jeder das Recht, Held seiner eigenen Geschichte zu sein. Also muss es mir zustehen, der Held von meiner zu sein. Selbst wenn ich das nicht bin.
Ich bin der Bösewicht.