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Jan-Christoph Nüse

Vier Tage im Juni

Politthriller

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Heinz O. Jurisch

ISBN 978-3-8392-6562-8

Zitat

Bedenkt, dass Fanatiker gefährlicher sind als Schurken.
Einen Besessenen kann man niemals zur Vernunft bringen,
einen Schurken wohl.

Voltaire (aus »Potpourri«, 1765)

Personen

Paul Dickopf: Chef Sicherungsgruppe Bonn (auch: »Schlossgespenst«)

Thomas Malgo: Ermittlungen Staatsschutz, Sicherungsgruppe Bonn (auch: »Krümelmonster«)

Alfons Deckert: Personenschutz, Sicherungsgruppe Bonn (auch: »schweigsamer Ritter«)

Karla Buchner: Chef-Sekretärin Sicherungsgruppe Bonn (auch: »Prinzessin«)

Beckmann: Pförtner Sicherungsgruppe Bonn (auch »Türdrachen«)

John F. »Jack« Kennedy 35. Präsident der USA

Ted Sorensen: Berater und Redenschreiber von John F. Kennedy

James Weston: Leiter United States Secret Service

Diane Leaton: Dolmetscherin, Deutsch-Amerikanerin

Nadja Malgo: Ehefrau von Thomas Malgo

Jakob Malgo: Sohn von Thomas und Nadja Malgo

Augustyn Nowak: Jugendfreund von Thomas Malgo

Alina Nowak: Schwester von Augustyn Nowak

Kleine Chronologie

25. Juni 1950: Beginn des Korea-Krieges: Der kommunistische Norden will die Wiedervereinigung mit dem Süden militärisch erzwingen. Der Überfall löst in der Bundesrepublik Ängste aus. Befürchtet wird, dass die in Ostdeutschland stationierten sowjetischen Truppen West-Berlin einnehmen und nach Westdeutschland vorstoßen könnten.

5. Mai 1955: Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beenden die USA, Großbritannien und Frankreich das Besatzungsstatut. Die Bundesrepublik Deutschland wird wieder weitgehend souverän. Sie verpflichtet sich, eine Armee aufzubauen.

Oktober 1955: Das Bundesministerium für Atomfragen wird gegründet. Erster Minister: Franz Josef Strauß. In der Kabinettssitzung am 20. Juli 1956 erklärt er: »Eine Nation, die heute nicht selbst Atomwaffen produziert, ist deklassiert.« (Dokument s. Anhang)

19. Dezember 1956: Bundeskanzler Adenauer erklärt in der Kabinettssitzung, die Bundesrepublik sei bei einem Angriff der Sowjetunion nicht ausreichend geschützt. Denn es sei wahrscheinlich, dass die USA ihre Atomwaffen nur bei einem Angriff auf ihr eigenes Land einsetzen würden. Adenauer: »Es ist daher dringend erforderlich, dass die Bundeswehr selbst Atomwaffen besitzt.« (Dokument s. Anhang)

Oktober 1962: Kuba-Krise. Die Welt steht am Rande eines Atomkrieges zwischen der Sowjetunion und den USA.

Prolog

Juli 1963

»Wer unter Benutzung einer Waffe Alliierte Streitkräfte angreift, wird mit dem Tode bestraft oder mit einer Freiheitsstrafe, für die kein Höchstmaß besteht.«

Verordnung Nr. 511 der Alliierten Kommandantur Berlin: Strafbare Handlungen gegen die Interessen der Besatzung. Erlassen zu Berlin am 15. Oktober 1951. Aufgehoben am 14. März 1989.

Gut geölt ruhe sie tief unten im Luftschutzbunker. Zerlegt, aber jederzeit einsatzbereit, hieß es. Nun habe ich die Guillotine hier in Moabit gesehen. Zum ersten Mal, aus der Nähe, durch eine geöffnete Tür. Gestern Abend auf meinem Weg zu der verlorenen Seele. Nicht im Hof haben sie die Mordmaschine aufgebaut. Nein, das würde eine enorme Unruhe erzeugen. Den Flur vor dem Trockenraum neben der Heizung haben sie ausgewählt. Als ich vorbeigegangen bin, mischte sich der Geruch frischer Wäsche mit dem Gestank von Schmieröl.

Wie dieser Mensch die letzte Nacht seines Lebens verbringt? Ruhiger als ich, das ist gewiss. Drei Uhr ist es in der Früh, und kein Auge habe ich zugetan. Immerhin durfte ich als zuständiger Seelsorger noch einmal einen Besuch machen. Zu einem ausführlichen Gespräch, wenige Stunden vor der Hinrichtung. Mir hatten sie den Beschluss der Alliierten Kommandantur gezeigt. Der verlorenen Seele nicht. Wenige Stunden des Lebens auf Erden bleiben noch. Aber dieser Mensch sprach von kaum etwas anderem als von seiner Hoffnung auf Begnadigung. Und ich, der ich um sein nahes Ende weiß, habe geschwiegen, wie von mir verlangt. Heiliger Michael, du mein starker himmlischer Kollege, der du mir schon so oft beigestanden hast: Bitte gib mir die nötige Kraft. Die Kraft, den Blick zu ertragen, auf dem Weg zur Guillotine.

1.

Montag, 10. Juni 1963. Washington, D. C., The White House. Knapp zwei Wochen vor dem Beginn der Europareise.

Der Präsident hatte Schmerzen. Das neue Medikament wirkte offenbar noch nicht. John F. Kennedy wippte in seinem gepolsterten Schaukelstuhl vor und zurück. Mit geschlossenen Augen. Ein Außenstehender würde auf die Idee kommen, einen entspannten Präsidenten vor sich zu haben. Könnte er allerdings die Linien seiner Stirn lesen, wüsste er, wie stark ihn sein Rückenleiden wirklich belastete.

Ted Sorensen, seit vielen Jahren Kennedys Redenschreiber und Berater, saß wie immer aufrecht und etwas steif im Sessel. Es war nicht der beste Moment für die übliche Nachbesprechung. Vor allem dann, wenn man der Überbringer schlechter Nachrichten war. Aber sie hatten es immer so gehalten, nach jeder großen Rede. Der Präsident hatte von Anfang an darauf bestanden. Auch der andere Mann im Oval Office wusste, dass John Fitzgerald Kennedy seit Beginn seiner politischen Karriere keine Rücksichtnahme auf Krankheiten wünschte. Robert Kennedy, Justizminister und wichtigster Berater seines Bruders, hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt. Ted Sorensen beruhigte sich in solchen Momenten, indem er sich in Erinnerung rief, wie lange er schon für Kennedy dachte und schrieb. Sie arbeiteten zusammen, seit Kennedys politische Karriere begonnen hatte. Im Jahr 1953 war das gewesen, als Kennedy Senator für Massachusetts werden wollte. Das war nun zehn Jahre her – in der Politik eine kleine Ewigkeit. Die Erinnerung an diese Anfangszeit war nicht verblasst. Im Gegenteil, sie war präsenter denn je, seit Kennedy vor knapp drei Jahren zum Präsidenten gewählt worden war. Er dachte oft an diesen magischen Moment in seinem Leben, als ihm der Sohn eines der reichsten Männer Amerikas einen Arbeitsvertrag angeboten hatte. Ihm, dem jungen Anwalt aus dem ländlichen Nebraska. Damals ahnte noch niemand, dass John Fitzgerald Kennedy später tatsächlich Präsident werden würde. Sorensens Familie besaß traditionell eine enge Verbindung zur Politik. Sein Vater hatte ihn Theodore genannt, hatte ihm Präsident Roosevelts Vornamen gegeben. Ein Jahr später wurde Vater Sorensen als Justizminister vereidigt. In Nebraska, dem Staat der Maisbauern und Viehzüchter. Diese Amtszeit war allerdings längst Geschichte, als Ted sein Studium an der Universität von Lincoln als Jahrgangsbester abschloss. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt. Er stand bei niemandem im Verdacht, enorme politische Erfahrung zu besitzen oder zu den begnadeten Strippenziehern in Washington zu zählen, immerhin mehr als tausend Meilen entfernt. Doch Kennedy, der politische Hoffnungsträger einer der mächtigsten Familien des Ostküsten-Adels, hatte ihn eingestellt und seine Entscheidung für diesen Hinterwäldler aus dem Mittleren Westen nie bereut. Ted Sorensen wusste das. So wie er wusste, dass viele in Washington seine Redeentwürfe für Kennedy beeindruckend fanden. Das galt vor allem für Kennedys Antrittsrede, im Januar vor zwei Jahren.

Sorensen nahm das Klemmbrett mit seinen Notizen in die Hand. Sie enthielten Stichworte zu den Ereignissen des Tages und die daraus formulierten Gedanken am Abend, über das politische Tagesgeschäft hinaus. Beides zusammen bildete die Basis seines sicheren Urteils. Genau dieses Urteilsvermögen schätzte Kennedy an ihm.

»Mr President, einige Generäle habe ich nie so wütend erlebt. Sie halten Sie für einen Schwächling. Für einen Mann, der die Fähigkeit zum Erstschlag aufgibt. Und das ohne Not.«

John F. Kennedy wippte weiter in seinem Schaukelstuhl, seine Hände auf die ebenfalls gepolsterten Armlehnen gepresst. Er hatte die Augen geöffnet und versuchte, erstaunt zu erscheinen.

»Was habe ich denn gesagt, Ted? Worüber habe ich gesprochen? Eigentlich über Selbstverständlichkeiten, die jeder Schwachkopf erkennen kann. Weder die Russen noch wir würden einen Atomkrieg überleben. Und deswegen ist es doch wohl vernünftig, dass wir eine Zeit lang keine Bomben mehr testen und uns währenddessen mit den Russen an einen Tisch setzen. Wie vernünftige Leute es tun.«

Sorensen blätterte stumm in seinen Notizen.

Der Präsident wandte den Kopf und sah ihn auffordernd an. »Ted, du bist mein Berater. Was ist los? Du hast mir gesagt, dass wir mit diesen Reaktionen rechnen müssen. Es sind doch nur ein paar alte Kerls in Uniform. Mit ein paar Sternen zu viel auf ihren Schulterstücken. Werden meine Wähler mich nicht besser verstehen?«

Sorensen steckte seinen Kugelschreiber ein. Bedächtig prüfte er, ob der Stift sich auch wirklich in der schwarzen Schutzhülle befand, die die Brusttasche seines Sakkos vor auslaufenden Farben schützte. Dann schaute er auf. »Mr President, es war richtig, zu sagen, was wir gesagt haben. Aber alle Hardliner unter den Generälen, genau die, die letztes Jahr noch Kuba bombardieren wollten, die wagen sich jetzt wieder vor. Sie sind noch wütender als damals. Manche von denen würden Sie am liebsten noch heute aus dem Amt jagen. Und vielleicht gibt es sogar einige, die noch weiter gehen würden.«

John F. Kennedy sah seinen Bruder an. »Bobby, du bist mein Justizminister. Der Herr über das FBI. Muss ich mir ernsthaft Sorgen machen? Habe ich heute Abend unseren Vater am Telefon, der uns anbietet, eine kleine Armee böser Jungs nach Washington zu schicken? Zu meinem Schutz?«

Robert Kennedy grinste. »Wie zu Dads alten Zeiten, meinst du? Würde ihm vermutlich gefallen. Aber nein. Nur sollten wir vorerst keine weiteren Angriffsflächen mehr bieten.«

John F. Kennedy schüttelte energisch den Kopf. »Diesen Sturköpfen kann ich es doch ohnehin nicht recht machen. Ihr wisst es beide: Wir brauchen ein Abkommen mit den Russen. Und ich habe durch mein Angebot heute Morgen in der American Academy keinen Fußbreit amerikanischen Bodens aufgegeben.«

Robert Kennedy streckte sich auf dem Sofa aus und sah dabei Sorensen an. »Ted, lies diese verdammten Sätze noch mal vor. Laut und deutlich. Damit wir überlegen können, ob etwas falsch daran war.«

Ted Sorensen legte sein Klemmbrett aus der Hand und beugte sich zu dem niedrigen Tisch, auf dem die Meldungen der Nachrichtenagenturen lagen.

Robert Kennedy richtete sich so schnell auf, als hätte er sich auf eine Nadel gelegt, die im Sofa steckte. »Ted, verdammt noch mal. Warum liest du aus den Agenturen? Du bist doch Jacks Redenschreiber. Bist du nicht der Mann, der Jacks Rede weitergeführt hat, als er diese Schmerzattacke hatte? Der weitergelesen hat, aber von einem weißen Blatt Papier? Jack …«, er sah seinen Bruder an, »dieses verfluchte Manuskript. Es muss doch hier irgendwo liegen.«

John F. Kennedy zuckte mit den Achseln, schloss die Augen wieder und schaukelte weiter, mit deutlich glatteren Stirnlinien. Das Medikament wirkte langsam.

Ted Sorensen griff in die rechte Innentasche seines Sakkos und holte vorsichtig einige gefaltete, dünne Blätter heraus. Seine persönliche Durchschrift der Rede Kennedys am Vormittag, vor der American Academy in Washington. »Strategy of Peace«, der Titel der Rede, stand oben auf jedem Blatt. Sorensen stand auf. Reden hielt man im Stehen. So las man sie auch. »Um unseren guten Glauben und unsere ernst gemeinten Überzeugungen in dieser Hinsicht unter Beweis zu stellen, erkläre ich jetzt, dass die Vereinigten Staaten nicht beabsichtigen, Atomtests in der Atmosphäre durchzuführen, solange dies auch von anderen Staaten unterlassen wird. Ich hoffe, dass wir Abrüstung dadurch leichter erzielen können.« Er ließ das Manuskript sinken und setzte sich wieder. »Es ist genau das, was wir ausdrücken wollten. Unser Angebot an die Russen. Die Rede wird morgen in den wichtigen Zeitungen Moskaus abgedruckt werden. Da bin ich ganz sicher.«

Robert Kennedy stand nach wenigen Schritten direkt vor ihm und nahm ihm die Seiten aus der Hand. »Genau das, was wir sagen wollten? Ja? Soll ich euch mal etwas anderes sagen? Habt ihr Strategen vielleicht vergessen, welches Jahr wir schreiben?« Er deutete auf die bronzene Wanduhr mit der überdimensional großen Kalenderanzeige. Sie zeigte zwar nur die Tage des laufenden Monats, diente ihm aber regelmäßig als Beweis dafür, wie kurzlebig politische Erfolge waren. »Wir haben das Jahr 1963. Nur noch ein Jahr bis zu Jacks Wiederwahl. Schon vergessen? Aber vielleicht erinnert ihr euch noch, wie knapp es das letzte Mal war. Kaum mehr als hunderttausend Stimmen vor Nixon. Vielleicht sollten wir langsam anfangen, uns mehr Freunde als Feinde zu machen.«

Der Präsident antwortete mit leiser Stimme, ohne seinen Bruder anzusehen. »Du hast ja recht, Bobby. Deswegen machen wir ja die Europareise. Deswegen fliege ich nach Irland, ins Land unserer Vorfahren. Wir wissen alle, wie wichtig für uns die Stimmen der Iren sind. Zum Papst nach Italien dagegen wollte ich ohnehin. Aber natürlich ist es gut, wenn meine Katholiken die Bilder aus dem Petersdom sehen. Wir dürfen wirklich nicht vergessen, dass jede Stimme zählt. Besonders beim nächsten Mal.«

Robert Kennedy konnte sich noch nicht beruhigen. »Okay, Jack, Irland ist ein Treffer. Aber da sind noch die Deutschen. Zu denen fährst du auch. Und die hast du noch nicht für dich gewonnen. Zumindest nicht Adenauers Leute. Denn die wissen, dass du erst gar nicht zu ihnen wolltest.«

Sorensen verspürte jetzt das Bedürfnis, seinem Präsidenten zur Hilfe zu kommen. Allerdings hatte auch er noch sehr gut in Erinnerung, wie reserviert die Deutschen in ihren ersten Telegrammen gewesen waren. »Sicher, Bundeskanzler Adenauer ist wie ein Elefant. Aber er will, dass wir kommen. Es ist sein letzter großer Staatsbesuch, nur wenige Monate vor seinem Rücktritt als Bundeskanzler. Zudem hat er bisher stillgehalten und nichts darüber verlauten lassen, dass er uns drängen musste. Natürlich will er seinen Leuten den Eindruck vermitteln, wir hätten bei unserer Europareise zuerst an Deutschland gedacht. So, als wäre Bonn nicht nur unser erstes, sondern auch unser wichtigstes Reiseziel in Europa.«

John F. Kennedy sah seinen Bruder an. »Bobby, Ted hat recht. Woher sollten wir wissen, dass Ministerpräsident Fanfani unsere Besuchspläne ausplaudern würde? Und das ausgerechnet bei einem Dinner, bei dem der deutsche Botschafter anwesend war? Das war einfach Pech, nichts anderes. Dieser selbstverliebte Italiener hat natürlich bewusst unterschlagen, dass ich zum Papst fahre. Der Besuch bei ihm ist nicht mehr als pure Höflichkeit.«

Ted Sorensen rutschte auf seinem Sessel weiter nach vorn. Seit er aus der Rede zitiert hatte, empfand er die Stimmung im Oval Office als unangenehm. Bei einem Streit zwischen den Brüdern geriet man besser nicht zwischen die Fronten. »Bobby, die Reise nach Deutschland wird uns Nutzen bringen. Wir haben große Reden und Pressekonferenzen geplant. Ein paar werden hoffentlich auch von den Amerikanern live zu sehen sein. Zumindest eine Zeit lang, solange der Satellit günstig steht und eine Übertragung zulässt. Bei einer Rede vor deutschen Gewerkschaftern werden sogar einige amerikanische Gewerkschaftsbosse dabei sein. Sie fliegen mit uns und werden in Berlin dabei sein. Wenn sie wieder zu Hause sind, können sie ihren Mitgliedern einiges erzählen.« Er ging zur Tür. Kurz bevor er bei dem großen Segelschiff auf dem Kaminsims angekommen war, drehte Sorensen sich noch einmal um. »Aber natürlich müssen wir auch weiterhin jederzeit mit Angriffen rechnen.«

Robert Kennedy sprang auf und hielt den Schaukelstuhl seines Bruders an der Rückenlehne fest. »Jack, was ist die beste Abwehr bei einem Angriff? Ein Gegenangriff. Zeig es denen da draußen. All denen, die dich jetzt einen Feigling nennen. Biete den Russen die Stirn. Vor allem in Berlin! Selbst der französische Präsident hat einen Bogen um die Stadt gemacht, bei seinem Deutschlandbesuch letztes Jahr. Zeig unseren Leuten, dass wir es mit den Russen aufnehmen.« Er gab die Rückenlehne des Schaukelstuhls frei, kehrte zurück zu seinem Sofa, drehte sich aber erneut um. »Als Erstes musst du in Bonn Adenauer bearbeiten. Der alte Kerl muss endlich begreifen, dass wir seine Freunde bleiben. Auch wenn wir auf die bösen Russen zugehen. Adenauer und sein Verteidigungsminister müssen ihre verfluchten Pläne für die deutsche Atomwaffe fallen lassen. Endgültig. Also, Jack: Du musst die Deutschen überzeugen. Wir Amerikaner sind es, die Europa verteidigen. Auch mit Atomwaffen, wenn es sein muss. Auch West-Berlin.«

*

Am frühen Abend desselben Tages, Bad Godesberg.

Thomas Malgo hielt am Straßenrand, drehte sich zu seinem Sohn auf dem Beifahrersitz und wuschelte ihm liebevoll durch die Haare.

»Es war ein schöner Ausflug, mein Junge. Ich fahr den Wagen gleich in unsere Garage.« Er sah hoch zur Wohnung. »Vielleicht ist Mama noch unterwegs. Hast du deinen Hausschlüssel dabei?«

Jakob nickte.

»Gut, du armes Schlüsselkind. Wenn du oben bist, dann bitte ausziehen. Vor der Tagesschau bist du im Bett.«

Jakob deutete mit einer Kopfbewegung nach vorn. »Die Frau da sieht aus wie Mama …«

»Bitte lenk nicht ab.«

»Das ist wirklich Mama.«

Tatsächlich drängte sich gerade ein amerikanisches Cabrio in die Auffahrt vor ihnen. Knallrot, mit weißen Polstern – und Nadja auf dem Beifahrersitz. Sie beugte sich nach links und küsste den Fahrer auf die Wange.

Malgo gelang es nur mit Mühe, ruhig zu bleiben. Beobachten, du wirst erst mal nur beobachten, brüllte seine innere Stimme dem aufkommenden Gefühl entgegen, die Contenance zu verlieren. Auch Jakob bewegte sich nicht. Aber nur, weil der Junge so verblüfft war. Das traf auf Malgo allerdings nicht zu.

»Sieh mich an, Jakob.« Es dauerte, bis sein Sohn zu ihm herübersah. »Deine Eltern sind nicht zerstritten, Jakob. Ich verspreche es dir. Mama geht gerne ins Kino, das weißt du, und ich habe eben nicht immer Zeit. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

Jakob saß noch immer vollkommen regungslos da. Malgo versuchte, die Schockstarre zu lösen.

»Nächsten Sonntag gehen wir beide wieder zum Fußball. Versprochen.«

Endlich lächelte der Junge, zumindest ein bisschen. Aber er schaute weiter nach vorn, beobachtete seine Mutter in ihrer engen Lederjacke, wie sie aus dem Cabrio stieg. Nadja winkte dem Fahrer zum Abschied, drehte sich um, ging die wenigen Schritte zurück, riss die Beifahrertür auf und zog Jakob nach draußen.

»Mein Junge, was um alles in der Welt hat dein Vater mit deinen Haaren gemacht?«

Jakob wand sich aus dem Griff seiner Mutter und folgte ihr zur Haustür.

Der Kerl im Cabrio sah Nadja hinterher, dann über seine linke Schulter und fädelte in den Verkehr ein. Für einen kurzen Augenblick konnte Malgo das Gesicht sehen. Zumindest im Profil. Er hatte den Eindruck, die Visage schon einmal gesehen zu haben. Er nahm sein Notizbuch aus dem Handschuhfach und notierte das Kennzeichen. In seiner Garage im Hinterhof stieg er aus, holte die Blechdose mit den vor Weihnachten geretteten Spekulatius aus dem Werkzeugschrank und setzte sich wieder in seinen Wagen. Das Halbdunkel passte gut zu dem Wintergebäck. Der Deckel der Dose hatte den warm-muffigen Garagengeruch zwar draußen gehalten. Aber warum die Spekulatius trotzdem austrockneten, würde vorerst ein ungelöstes Rätsel bleiben. Malgo schloss die Augen. Wie hatte es mit Nadja wieder so weit kommen können? Natürlich, noch immer war nicht jeder ihrer Wünsche erfüllbar. Ein Haus mit Garten oder zumindest ein kleines Feriendomizil in der Nähe der Ostsee, das war mit seinem Gehalt nicht drin. Zumindest noch nicht. Was aber wollte sie ihm mit diesem Kerl und seinem Ami-Schlitten beweisen? Dass er nicht schnell genug vorankam im Job, nicht genug Ehrgeiz hatte? Wollte sie ihm, wie damals in Würzburg, beweisen, wie groß ihre Chancen bei ihren Chefs waren als gut aussehende Krankenschwester? Sicher, es stand noch gar nicht fest, dass der Geldsack wieder ein Chefarzt war. Nach der Hochzeit hatten sie sich gemeinsam geschworen, gute Arbeit zu finden, schnell voranzukommen und dann gemeinsam das Leben zu genießen. Sie wollten die Notunterkünfte und die Einfach-Wohnungen der Anfangsjahre schnell aus dem Gedächtnis streichen. Erfolgreich neu beginnen, das wollten Anfang der Fünfziger doch alle, nicht nur die vertriebenen Deutschen aus dem Osten. Es war ja auch höchste Zeit, nach den ganzen Hungerjahren. War das nicht auch das, was ihm eigentlich immer Spaß bereitet hatte? Aufzubrechen, neue Wege zu gehen, sich mitreißen zu lassen? Wie von der amerikanischen Musik, die Nadja so gerne hörte und die die Radiosender der G. I.s spielten. Lieder, die es in Bonn nicht zu kaufen gab. Wie oft hatte er in den Plattengeschäften vergeblich danach gesucht. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er die Titel der Lieder oft nicht genau verstanden hatte. Wenn er ihr ab und zu eine neue Schallplatte mit nach Hause bringen konnte, zusammen mit Pralinen selbstverständlich, dann war das seine Art von kleiner Entschädigung. Eine Entschädigung dafür, dass sie oft auf ihn warten musste. Und die Chance, sie wieder lächeln zu sehen.

2.

Dienstag, 11. Juni 1963. Bad Godesberg. Noch zwölf Tage bis zur Landung der Air Force One in Köln-Wahn.

Die Atmosphäre zu Hause hätte kaum kühler sein können. Sie hatte sich eine schnippische Standardantwort zurechtgelegt. »Was willst du? Es ist nichts passiert …« Das klang so ähnlich wie die Verteidigung eines Beschuldigten beim Verhör: »Sie können mir gar nichts beweisen.«

Sie war gestern zu weit gegangen. Das wusste sie. Schon weil der Junge alles hatte mit ansehen müssen. Früher, da hatten sie sich bei Streitigkeiten immer an ihren Vorsatz aus den Anfangszeiten gehalten: Am nächsten Morgen geht für uns beide wieder die Sonne auf. Heute war sie auch aufgegangen. Aber ohne zu wärmen.

Immerhin, für seinen 17 M hatte er noch einen guten Parkplatz gefunden. An den Bahngleisen, am Anfang der Friedrich-Ebert-Straße. Ganz außen, wo der Ford Taunus vor Kratzern sicher war. Fatal, wenn der Wagen auch noch durch Dellen an Wert verlieren würde. War selbst gebraucht eigentlich noch zu teuer gewesen. Aber Nadja hatte sich das Auto gewünscht. Ganz in Weiß, mit viel Chrom. Das gepflegt werden wollte, genau wie die Weißwand-Reifen. Samstags schrubbte Jakob und besserte so sein Taschengeld auf.

Beckmann stand wieder draußen an der Pforte. Wie immer wartete er nur auf eine Gelegenheit, einen Spruch anzubringen.

»Guten Morgen, Malgo. Da sind Sie ja endlich, Sie Landesverräter.« Er sah rüber zum Parkplatz. »Steht Ihre rollende Badewanne gut und sicher? Wenn Sie wollen, geh ich gerne mal ab und zu rüber und seh nach, ob alle Kotflügel noch ihre schönen Rundungen haben.«

Beckmann, der Alleinunterhalter. Lachte auch meistens allein über seine Sprüche.

»Morgen, Beckmann. Meinem Wagen geht es gut. Aber Ihnen fehlt offensichtlich etwas – ein Publikum. Bewerben Sie sich doch beim Karneval. Die suchen immer talentierte Büttenredner.«

Beckmann zog die Tür langsam auf und zeigte nach oben. »Danke für die Berufsberatung. Dann mal gleich rein mit Ihnen. Und sofort hoch zu Karla.«

»Ein Notfall? Sind die Keksvorräte des Chefs verschwunden?«

»Spaßvogel. Sie wollen mir wohl wirklich Konkurrenz machen, wie? Aber jetzt im Ernst: Der Chef wird wohl etliche Tage ausfallen, sagt Karla.«

»Glaube ich nicht. Der Chef war bisher nie krank.«

»Es hat ihn auch nicht selbst erwischt. Aber er hat einen Krankheitsfall in der Familie. Seine Mutter liegt im Krankenhaus in München. Ein Schlaganfall, heißt es.«

»Das ist traurig. Bin aber leider kein Arzt.«

Beckmann tat so, als wolle er ihn Richtung Treppe schieben. »Was Sie tun sollen, das wird Karla schon mitteilen. Jetzt mal los …«

Ein Kriminalist, der nicht neugierig ist, ist keiner. »Raus mit der Sprache, Beckmann. Was erwartet mich oben?«

»Schon mal davon gehört, dass unser Dorf hohen Besuch erwartet? Sehr hohen sogar?«

»Klar, Kennedy. Aber erst in zwei Wochen, und nicht meine Baustelle. Zuständig sind unsere beamteten Revolverhelden, Deckert und seine Bande. Das wissen Sie doch.«

Beckmann zuckte mit den Schultern und grinste. »Das Kalte wird warm, der Reiche wird arm, der Narre gescheit: alles zu seiner Zeit.«

Manchmal gab der Kerl wirklichen Stuss von sich. Und das schon am frühen Morgen. »Bitte heute keine Kalendersprüche, Beckmann. Ich hatte noch keinen ordentlichen Kaffee.«

Auf der Treppe am frühen Morgen ausnahmsweise Gegenverkehr. Wenn man vom Teufel spricht, würde Beckmann jetzt sagen. Alfons Deckert, Leiter der Abteilung Personenschutz. Deckert spielte mal wieder Straßensperre mit seinem imposanten Brustkorb.

»Guten Morgen, Kollege Malgo. Mal wieder unaufhaltsam auf dem Weg nach oben?«

Der nächste Spruch. Alle wussten, dass Deckert schon lange auf seine Beförderung wartete. Er beäugte alle, die ihm in die Quere kommen konnten. Vor allem die aus der Abteilung Ermittlungen. Personenschützer gegen Kriminalisten oder Muskelmänner gegen Denker. So verlief die interne Frontlinie in der Sicherungsgruppe. Zumindest erwartete Deckert keine Antwort und trat einen Schritt zur Seite. So selbstverliebt wie Beckmann war er dann doch nicht.

In der Fünften war das Tor zum Reich des Chefs weit geöffnet. Erstaunlich, denn diese Tür hatte bisher nie offen gestanden. Paul Dickopf, Leiter der Sicherungsgruppe Bonn, war für gewöhnlich der Geheimniskrämer in Person. Er wusste, dass sein Spitzname »das Schlossgespenst« war, und er arbeitete an seinem Ruf. Er tauchte mit seinem Mercedes morgens direkt ab in die Tiefgarage, schaltete den Fahrstuhl auf Vorrang und fuhr allein und an allen vorbei in seine fünfte Etage, bis in den Flur vor seiner Bürotür. Hier musste jeder Besucher klingeln. Das galt für Personenschützer ebenso wie für Ermittler. Erst der Zeigefinger seiner Sekretärin und ein elektrischer Türöffner gaben den Weg frei.

Aber heute Morgen war auch hier alles anders. Karla Buchner stand mit Gummischürze vor dem Kopierer. Entweder hatte sie auch am Hinterkopf Augen oder einen gut versteckten Spiegel in irgendeinem Aktenregal.

»Herr Malgo, da sind Sie ja endlich.«

»Guten Morgen, Frau Buchner. Kommt er heute wirklich nicht?«

Sie drehte sich um, die Schale mit der Entwicklerflüssigkeit aus dem Kopierer in beiden Händen. »Gestern hat mich der Chef den ganzen Tag auf Trab gehalten. Da konnte ich das Entwicklerbad nicht wechseln.« Sie kam direkt auf ihn zu, Richtung Tür, mit gleichmäßigen kleinen Schritten. Er hielt ihr die Tür auf. Sie ging nah an ihm vorbei. »Riechen Sie? Das Zeug könnte fast als Chemiewaffe durchgehen.« Im Gang drehte sie sich um und nickte in Richtung ihres Schreibtisches. »Der Stapel Fernschreiben, links neben dem Körbchen Postausgang, der ist übrigens für Sie. Bitte seien Sie doch so freundlich, sich nicht wieder an meinen Schreibtisch zu setzen. Als gewiefter Kollege von Sherlock Holmes haben Sie doch sicher unseren Besucherstuhl längst entdeckt.« Dann drückte sie mit ihrem Rücken die Tür zur Damentoilette auf und verschwand.

Der Besucherstuhl stand schräg hinter dem Garderobenständer. Eingeklemmt in eine kleine Lücke zwischen zwei hohen Regalen voller Aktenordner. Kein angenehmer Sitzplatz, eher eine Zumutung. So wie der ganze Stapel Papier. Malgo las das erste Fernschreiben:

Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen

Düsseldorf, den 11. Juni 1963

Fernschreiben-ssd- Nr. 280 

An die Regierungspräsidenten in Aachen, Arnsberg, Düsseldorf, Köln und Münster

das Bundeskriminalamt – Sicherungsgruppe – in Bad Godesberg,

die Kreispolizeibehörden in Bergisch Gladbach, Bonn und Köln-Stadt.

Betrifft: Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vom 23. bis 26.6.1963.

1. Polizeilicher Anlass

Seine Exzellenz, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, wird mit einem größeren

offiziellen Gefolge der Bundesrepublik Deutschland vom 23. bis 26.6.1963 einen Besuch abstatten.

Wegen der besonderen Stellung des Staatsgastes und der politischen Bedeutung des Besuches ist eine Gefährdung zu unterstellen.

1.1 Folgendes Programm ist

Das Telefon auf Karla Buchners Schreibtisch klingelte. Die Tür zum Flur stand immer noch offen, aber sie war nicht zu sehen. Also eine gute Gelegenheit, zum Hörer zu greifen und gleichzeitig zu prüfen, ob auf ihrem Schreibtisch wirklich Frauenzeitschriften neben streng geheimen Sachen lagen. Schließlich wurde im ganzen Haus darüber geredet. Auf den Fluren nannte man sie deswegen nur »die Prinzessin«.

»Hier Malgo … Einen Moment mal, ich übergebe …«

Jetzt kam sie mit schnellen Schritten den Gang entlang. Den Entwickler des Kopierers und ihre Schürze war sie losgeworden.

»Frau Buchner, an der Pforte steht ein Offizier der Bundeswehr. Er will sicher zum Chef.«

Sie nahm den Hörer entgegen und griff in den Zettelkasten neben dem Telefon. »Wie hat er sich ausgewiesen?« Sie hakte sich die große Gummihalterung am Hörer über die linke Schulter und nahm mit der rechten Hand den Kugelschreiber. »Ja. In Ordnung, Beckmann. Habe ich notiert. Danke. Bitten Sie den Gast in den kleinen Vernehmungsraum.« Kleiner Seitenblick. »Ja, Herr Malgo kommt dann runter. Danke.« Der Hörer fiel aus mittlerer Höhe auf die Gabel. »Amt für die Sicherheit der Bundeswehr. Der Offizier erwartet Sie beim Pförtner.« Sie überreichte Malgo den kleinen Zettel. »Danke, dass Sie das Telefonat angenommen haben. Aber bitte bleiben Sie das nächste Mal vor meinem Schreibtisch stehen, ja? Und mit ›vor meinem Schreibtisch‹ meine ich die Besucherseite …« Mit einem Lächeln versuchte sie ein wenig Schärfe aus ihrer Bemerkung zu nehmen.

So sah die »Prinzessin« ihre Stellung: Sie wusste alles, was das »Schlossgespenst« wusste, der liebe Gott ahnte einiges und den Rest der Welt ging es vorläufig nichts an. Malgo würde nie etwas aus ihr herausbekommen, was nicht für ihn bestimmt war.

»Warum will der Mann denn zu mir?«

»Steht das nicht in dem Fernschreiben aus dem Innenministerium?« Wie immer demonstrierte sie gern ihre Vertrauensstellung. »Die Adressaten, das sind jetzt Ihre neuen Freunde, Herr Malgo. Sie werden vermutlich viel Zeit mit ihnen verbringen.«

Die spitze Zunge der Buchner mal wieder. »Erklären Sie mir erst einmal, wo der Chef ist, und was der Kennedy-Besuch mit mir zu tun hat. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich Kriminalist bin. Also keiner von Deckerts Muskelmännern.«

Mit kritischem Blick von oben bis unten unterzog sie ihn einer Art Musterung und lächelte dann. »Vielleicht kein Riese. Aber drahtig und gut trainiert, würde ich sagen. Durchaus brauchbar als Muskelmann.«

Sie wusste selbst, dass sie bei ihren Späßen manchmal etwas zu weit vorpreschte. Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. »Der Chef ist gestern Abend zu seiner Mutter gefahren. Sie hat einen Schlaganfall erlitten und liegt in München auf Intensiv. Er hat mich heute früh angerufen. Bis er wiederkommt, bittet er Sie, die Vorbereitungen für den Kennedy-Besuch zu leiten.«

»Aha. Seit wann verteilen Sie hier die Arbeit, Frau Buchner? Der Kennedy-Besuch ist ja wohl keine Kleinigkeit. Erfahre ich nun alles dazu nicht vom Chef, sondern mündlich von seiner Sekretärin? Ist das Ihr Ernst?«

»In meinem Arbeitsvertrag steht jetzt Assistentin.«

»Oh. Das ist mir neu.« Die einzig offensichtliche Veränderung in ihrem Büro seit der letzten Konferenz beim Chef waren die vielen Fotos der schneebedeckten Alpen. Etwas ungewöhnlich, im Sommer.

»Der Vertrag ist ja auch neu. Ich habe mehrere Fortbildungen besucht. Erfolgreich, wie Sie sich vorstellen können.«

»Gratuliere. Aber ich hoffe doch sehr, dass es Ihnen möglich ist, beizeiten zum Thema zurückzukehren.«

Sie stand auf und sah aus dem Fenster. »Dr. Dickopf hat mich vor einer Stunde angerufen. Ich habe seine Stimme eindeutig erkannt. Und er stand keineswegs unter fremdem Einfluss.« Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Das können Sie mir wirklich glauben. Denn für so etwas haben wir ein Codewort.«

»Alles nur Hörensagen. Nicht mehr.« Malgo ging Richtung Tür. »Ich habe zu tun. Mehr als genug. Das dürfen Sie mir auch glauben.«

Karla Buchner griff zum Telefon und hielt den Hörer hoch. »Wir können den Chef über das Autotelefon erreichen. Ich rufe für Sie gerne die Vermittlung an. Der Aushilfsfahrer geht auf die Station und holt ihn in München an den Apparat …«

»Sie wissen, wie unsicher das A-Netz ist. Die Verwendung ist nur im Notfall gestattet.«

Sie nickte und reichte den Stapel Fernschreiben an. »Glauben Sie mir, Herr Malgo. Ich richte nur aus, was mir der Chef aufgetragen hat. Er kommt ja bald zurück. Bis dahin empfehle ich dies hier. Ich bin übrigens mit dem Kopierer fertig. Sie können die Tür dann ruhig zuziehen.«

»Bestellen Sie ihm, er soll mich über eine sichere Leitung anrufen.«

Der Weg über die Treppe von der Chefetage zum Pförtner war lang genug, um den Zettel mit dem Namen und dem Dienstgrad des Besuchers ein Dutzend Mal hin und her zu drehen. Mehr Sinn ergab das Ganze trotzdem nicht. Vielleicht würde ein Namensabgleich etwas Neues ergeben.

Das Archiv nahm einen Großteil der ersten Etage ein, vor unbefugten Besuchern geschützt durch eine brusthohe Barriere. Die vier Schreibtische in dem Raum hinter der Barriere verschwanden beinahe unter der Menge an Kisten. Alle waren voller Hängeregister, an denen farbige Reiter klebten. Im Archivraum nebenan liefen Frauen und Männer vor den mannshohen Karteischränken hin und her. Das System wurde offenbar mal wieder umgestellt. Ein Hieb auf die laute Tischklingel reichte meistens, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen.

Kurz darauf erschien der Diensthabende. »Aha. Hoher Besuch aus der Abteilung III. Haben Sie einen neuen Spion am Wickel?«

»Nur eine Bitte um Überprüfung. Hier sind Name und Dienstgrad.«

»Fahndungskartei oder Personen?«

»Personen. Bitte mit Bild. Wenn wir eines haben.«

Der Archivar sah auf den Zettel. »Ein Offizier der Bundeswehr? Liegt etwas gegen ihn vor?«

»Reine Routine, nichts weiter.«

Der Mann drehte sich um, klemmte sich im Vorbeigehen mit rechts einen Pack Hängeregister unter den Arm und verschwand nach nebenan. Es war kaum zu erwarten, dass der Besucher zur Fahndung ausgeschrieben war. Aber vertrauliche Vorgänge besprach man am besten mit Leuten, deren Vorleben man kannte.

Wieder warten. Wartezeiten in fremden Büros boten immer Gelegenheiten, sich umzusehen. In der Bundeswehr waren in diesem Jahr schon drei Ostspione aufgeflogen. Alles keine hohen Dienstgrade, aber wichtige Verteilstellen in den Schreibstuben.

Durch die Barriere war der Abstand zu den Tischen zu groß, die Papiere nicht zu entziffern. Blieben also nur die größeren Objekte. Allesamt Indizien für technischen Rückstand. Die schwarzen Schreibmaschinen auf den Schreibtischen waren noch immer die einzigen Maschinen im Raum. In der Zentrale in Wiesbaden beschäftigten sich angebliche Experten seit Langem mit elektrischen Lochkarten-Steuerungen. Aber bevor nicht der letzte irgendwie zuständige Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes von seiner unbedingt erforderlichen Dienstreise aus den USA zurückgekehrt war, zogen die Leute hier weiterhin Kärtchen. Und landeten mit etwas Losglück einen Treffer.

Es hämmerte gegen die Tür. Gleichzeitig schwang der Türflügel auf. Deckert brachte seine hundertzehn Kilo gerade noch rechtzeitig vor einem Zusammenprall zum Stehen. »Malgo, du hast wohl auch keinen Schimmer, wo der Chef steckt, oder?«

Ein Kopfschütteln reichte ihm als Antwort. Deckert war normalerweise auch nicht sehr mitteilsam. Diese Eigenart hatte ihm den Beinamen »schweigsamer Ritter« eingetragen. Kannte er eigentlich seinen Spitznamen? Jedenfalls hakte er diesmal nach.

»Malgo, du und deine Schlauberger aus der Abteilung Ermittlungen, ihr wisst doch sonst immer alles. Wir Personenschützer machen uns einfach Sorgen, weißt du? Von Amts wegen sozusagen. Vielleicht ist ja unserem Chef etwas passiert.«

»Deckert, ich weiß auch nicht mehr als du. Angeblich irgendetwas mit seiner Mutter. Frag einfach bei der Buchner nach. Oder du fragst unseren Türdrachen. Du weißt ja – Beckmann kommt gleich nach der Prinzessin, was den Überblick über unsere Dienstgeheimnisse betrifft.«

Deckert verzog beim Namen »Beckmann« das Gesicht. Jeder in der Dienststelle wusste, dass es ihn ärgerte, wie häufig der Pförtner in seiner Eigenschaft als Chef-Fahrer mit dem »Schlossgespenst« unterwegs war. Mit der Folge, dass bei Beckmanns Abwesenheit Aushilfspförtner den Türdienst machten und alle immer ihre Hausausweise vorzeigen mussten. Auch jemand wie Deckert, der seit Gründung der Sicherungsgruppe dabei war.

»Malgo, treib es nicht zu bunt.«

Ohne mit jemandem vom Archiv gesprochen zu haben, riss er die Tür wieder auf und knallte sie hinter sich zu. Die Glasscheibe vibrierte, hielt aber. Panzerglas. Der Zugang zum Archiv war schließlich streng gesichert. Ein Aufwand an Sicherheit, der in gewissem Gegensatz zum flapsigen Umgangston mancher Mitarbeiter stand. Jetzt jedenfalls ergab sich für Malgo die Gelegenheit, sich das Fernschreiben des Innenministers genauer anzusehen.

Für den in Nordrhein-Westfalen liegenden Besuchs-Zeitraum vom 23. bis 24.Juni 1963 sind von den Dienststellen der Kriminalpolizei Köln sowie Bonn in Absprache mit der Sicherungsgruppe Bonn folgende Vorkehrungen zu treffen: Bildung von je einer Mordkommission, die ständig besetzt zu halten ist, um im Falle eines Attentats unverzüglich Ermittlungen aufnehmen zu können. Abzustellende Kräfte: jeweils ein Leiter, drei Kommissare, ein Fahrer, ein Fotograf sowie ein Spurensicherer, die sich ständig in ihren Dienstzimmern zur Verfügung halten.

Zudem ist zu überprüfen, ob sich die im Anhang aufgelisteten sogenannten Weltkriegsgegner aus Amerika, Kuba und Puerto Rico in der Bundesrepublik aufhalten. Auf Bitten des Secret Service ist insbesondere zu ermitteln:

Liegen Erkenntnisse über staatsabträgliche Absichten vor?

Sind in kriminalpolizeilicher Hinsicht Erkenntnisse bekannt?

Die Namensliste ist vertraulich zu …

Die Glocke auf dem Tresen des Archivs läutete. Der Diensthabende war zurück. Er verkörperte genau den Typ Bleichgesicht mit rötlichen Haaren, der Sonnenlicht so gut vertrug wie ein Vampir. Er kam mit Karla Buchners Zettel und mehreren Karteikarten. »Also, wir haben ihn. Aber nicht als Mitarbeiter des Amts für die Sicherheit der Bundeswehr …«

»Wie? Er gehört nicht zu den Freunden in Flecktarn? Zu wem gehört er dann?«

»Wir wissen nur, dass er in Friedland war. Grenzdurchgangslager, Befragungsstelle. B1 oder B2. Politisch oder militärisch, das kann ich nicht sagen. Militärisch vermutlich, bei dem Werdegang.«

»Sicherheitsfreigabe?«

»Unklar.«

»Vielen Dank. Aber mal was anderes: Hat Sie mal jemand nach Weltkriegsgegnern gefragt?«

»Weltkriegsgegner?« Der Archivar drehte den Kopf wie eine Eule, die eine neue Schallquelle ortete. »Was sollen das für Leute sein?«

»Weiß ich auch nicht. Sind wohl nicht von hier.«

»Soll ich die Kollegen fragen?«

»Nein, Sie haben mir schon geholfen.«

»Ich hätte noch die Kopien der neuen Kreuzworträtsel für Sie. Frankfurter Allgemeine und Neues Deutschland, vorletzte Woche. Die letzte Woche ist noch in der Auswertung.«

Malgo klopfte anerkennend auf den Tresen. »Wirklich beeindruckend, diese Abteilung. Selbst Sonderwünsche …«

Der Archivar lachte. »Erledigen wir gleich nach den Wundern. Aber die Rätsel der Genossen von drüben, sind die nicht doch langweilig leicht …«

Malgo lächelte jetzt auch. »Ist immer interessant, was die wissen wollen.«

»Aber Malgo, da steckt doch mehr dahinter.«

»Sie kennen doch meinen Lieblingsspruch: Oft hat mich mein Reden gereut. Selten mein Schweigen.« Jetzt fing er schon selbst mit den Sprüchen an. Im Archiv war jedenfalls nicht mehr zu erfahren. Jetzt erst einmal nach unten, Richtung Vernehmungsraum eins. Etliche Kollegen überholten ihn, reichlich früh auf dem Weg in die Mittagspause.

Beckmann stand wie immer an der Tür zu seiner Pforte und plauderte. Alle Kollegen, die ins Bahnhofsrestaurant oder zum Bäcker gegenüber wollten, mussten an ihm vorbei. Plauderte er nur oder zog er Erkundigungen ein?

Der kleine Vernehmungsraum mit den beiden Zellen gegenüber lag am Gang direkt hinter der Pförtnerloge. Schon wieder eine Tür, die offen stand. Und noch eine Überraschung: Der Raum mit dem ausrangierten Schreibtisch und den beiden Holzstühlen davor war leer. Das konnte doch nicht sein. Der Pförtner hatte offenbar nichts mitbekommen. Er sortierte Schlüssel in den Hängeschrank auf der Rückseite seines Glaskastens.

»Beckmann, wo ist mein Besucher?«

»Den hab ich doch in den kleinen Vernehmungsraum gebracht. Karla wollte es so. Damit er da wartet.«

»Da sitzt aber niemand.«

»Versteh ich nicht. Der hatte doch eine Aktentasche dabei. Er hat gesagt, eine kleine Wartezeit macht ihm nichts aus. Hat sich Arbeit mitgebracht, dachte ich.«

»Sie haben ihn nicht vorbeilaufen gesehen?«

Beckmann schüttelte den Kopf. »Malgo, Sie wissen doch selbst, was hier manchmal zur Mittagszeit los ist. Es sind eine Menge Leute rausgegangen. Aber kein Fremder rein, da bin ich sicher.«

»Und die Tür zum Vernehmungsraum, die haben Sie nicht ins Schloss gezogen?«

»Natürlich nicht. Er sollte doch nicht eingesperrt werden, oder?«

Was bedeutete das? Das gerahmte Lübke-Porträt über der Sitzgruppe verweigerte wie immer eine sachdienliche Antwort. Beckmann allerdings schien zu einer Ergänzung seiner Aussage bereit. »Der Kerl muss mit raus sein. Ich hätte gesehen, wenn er nach oben gegangen wäre. Und in unseren Zellen wird er sich ja wohl nicht versteckt haben. Denn, Malgo, Sie wissen ja: Hinter dem Gitter schmeckt auch der Honig bitter …« Beckmanns Lachen war wie immer laut. Gar nicht so übel, sein Spruch diesmal. Leider half er nicht weiter. Unter den Adressaten des Fernschreibens war auch die Bundeswehr genannt. Da war doch dieser Absatz auf der vorletzten Seite.

Die Bundeswehr wird im Wege der Amtshilfe ihre Sperr- und Zerstörungseinrichtungen an der Fahrstrecke durch Wallmeister auf Fremdkörper kontrollieren. Nach der Kontrolle haben die Kreispolizeibehörden sicherzustellen, dass Eingriffe Unbefugter an den überprüften Sperr- und Zerstörungseinrichtungen der Bundeswehr unterbleiben.

Also die Sprengschächte in den Brücken oder den Auffahrten zu Brücken. Dass man hier auch bei den Rheinbrücken Vorbereitungen getroffen hatte, um sie besser sprengen zu können, wenn die Russen mit ihren Panzern vorrücken würden, das war doch wirklich reichlich merkwürdig. Weiter östlich, bei den Brücken über die Elbe, da mochte das Sinn ergeben. Aber zwischen Bonn und Köln? Deckert regte sich jedes Mal darüber auf. Denn er wusste, dass die zuständigen Wallmeister der Bundeswehr diese Sprengschächte in Brückenpfeilern nicht – wie vorgeschrieben – regelmäßig kontrollierten. Deshalb fühlten sich seine Personenschützer nie ganz sicher, wenn sie mit ihren Schutzpersonen über eine Brücke mit Sprengschächten fuhren. Wie stellte sich das Innenministerium die Kontrolle überhaupt vor? Sollten sie an jedem Brückenpfeiler einen Polizisten postieren? Tag und Nacht, schon ein paar Tage vor Kennedys Ankunft? Sicher, die Gefahr durch die Schächte war zwar nicht von der Hand zu weisen. Die Schlösser an der Stahltür im Brückenpfeiler oder vor der Klappe zum Sprengschacht konnte schließlich jeder knacken. Es wäre natürlich bittere Ironie des Schicksals, wenn der amerikanische Präsident getötet werden würde mithilfe einer Vorrichtung, die seine Offiziere in der NATO verlangt hatten und die eigentlich den Gegner treffen sollte. Aber ärgerliche Schwachpunkte blieben die Sprengschächte in jedem Fall.

»Beckmann, hat der Mann nach Deckert oder dem Alten gefragt, als er reinkam?«

»Er hat nur nach Ihnen gefragt, Malgo.«

3.


Donnerstag, 13. Juni 1963. Bad Godesberg. Noch zehn Tage bis zur Landung.

»Herr Malgo, möchten Sie Kekse?« Karla Buchner stand in Strümpfen auf einer kleinen Trittleiter im Chefzimmer und erwartete keine Antwort. Nicht auf diese Frage. Ihr rechter Arm war vollständig im oberen Fach des großen Wandschranks verschwunden. Sie redete mit ihm, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Die feinen mit Orange und Schokolade, also die für die hohen Besucher, versteckt er ganz hinten.« Jetzt drehte sie sich um und verdrehte die Augen. »Weil es da kühl ist, behauptet er.«

Jeder wusste, dass der Chef nicht besonders freigiebig war. Neu war höchstens, dass die Buchner eine kleine Bemerkung über ihren Chef machte.

»Kekse? Gerne. Aber was verschafft mir die Ehre?«

»Sie sind doch jetzt der Amtierende …«

»Vielleicht. Aber kein Besucher. Erst recht kein hoher.«

Karla Buchner balancierte auf der oberen Sprosse und drehte sich zu ihm um. »Halten Sie die Dose bitte mal. Sie nehmen übrigens grade an einer Rettungsaktion teil.« Sie war ganz offensichtlich in bester Laune. »Auch die besten Kekse werden ungenießbar, wenn man sie hinter staubigen Akten vergräbt.«

Warum war sie jetzt so freundlich zu ihm? Bildeten diese Töne den Auftakt zu noch mehr schlechten Nachrichten?

Die Buchner hatte wieder festen Boden unter den Füßen und zeigte auf die beiden großen Fotos der Alpen rechts und links neben der Eingangstür. »Da Sie ein aufmerksamer Beobachter sind, sind Ihnen die Bilder bestimmt schon aufgefallen.«

Ihm war vor allem wieder aufgefallen, dass sie selbst ohne Schuhe noch größer war als er. Endlose Beine. Nadja hatte mit ihr bei der letzten Weihnachtsfeier ein paar Gläschen Sekt geleert. Und auf der Rückfahrt hatte sie erzählt, die Buchner habe zwei Angebote als Model für Werbefotos erhalten – und ausgeschlagen. Angeblich Esda-Strümpfe und Steinhäger, Mode und Schnaps. Was für eine Mischung. Jedenfalls gingen die beiden seit dieser Feier hin und wieder an einem freien Samstag in die Stadt. Auch in den Modeladen, wo die Buchner angesprochen worden war.

»Herr Malgo, wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Geben Sie mir lieber die Keksdose zurück. Die Kekse sind bei Ihnen offensichtlich nicht sicher.«

»Bin tatsächlich abgelenkt, Frau Buchner. Ihre Fotos an der Wand. Schneebedeckte Berge. Etwas ungewöhnlich im Sommer. Finden Sie nicht?«

Karla Buchner schlüpfte in ihre Schuhe, ging zu ihrem Schreibtisch, stellte die Keksdose ab und griff zu einem offensichtlich schweren hellroten Buch. »Mein neues Sekretärinnen-Lexikon. Es steht alles hier drin, auch die Erklärung für die Fotos.«

»Darf ich offen sein? Mich interessiert die Mappe mit den letzten Fernschreiben mehr. Außerdem dachte ich, Sie seien jetzt Assistentin.«

»Bin ich auch. Assistentin bezeichnet besser meine vielfältigen Aufgaben. Wird auch hier erklärt. Wie das Wort ›Alpen‹. Ein Codewort. Das ist doch was für Sie.«

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte und beendete diesen Vortrag.

Sie eilte zu ihren vier Amtsleitungen und der Direktleitung zum Generalbundesanwalt und nahm ab. Während sie zuhörte, hielt sie eine braune Mappe hoch, deren Vorderseite leicht verblichen war. Offensichtlich die aktuellen Meldungen von heute. Sie setzte sich.