Andreas Russenberger
Paradeplatz
Roman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © DSGNSR / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6628-1
»Ich bin nicht stolz auf meine Taten. Aber ich bereue nichts.«
Philipp Humboldt, Hauptfigur
Die Luft im kleinen Raum ist abgestanden. Der Stuhl hart und unbequem. Philipp Humboldt erkennt nur die Umrisse der anderen Person, seine Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Das Kabuff erinnert Philipp an die kleine Vorratskammer in seinem Elternhaus, direkt hinter der Küche. Sein Vater hatte ihn dort bisweilen eingesperrt. Die Bestrafung für die meist harmlosen Streiche war ein für beide Seiten akzeptabler Kompromiss gewesen. Philipp durfte im Schein der Taschenlampe Comics lesen und sein Vater wahrte gegenüber der restlichen Familie so das Gesicht, indem er sanfte Entschlossenheit demonstrierte. Nur einmal – beim Vorfall mit der Katze – war die Situation außer Kontrolle geraten.
Heute jedoch sitzt Philipp nicht in der Vorratskammer. Es geht auch nicht um harmlose Jugendstreiche. Er spürt, wie ihm ein kleiner Schweißtropfen der Schwerkraft folgend die Wirbelsäule hinunterrinnt und erst auf der Höhe des Steißbeines vom Stoff des weißen Hemdes aufgesogen wird. Ein beklemmendes Gefühl schnürt ihm die Luft ab, der Puls hämmert in seinen Ohren. Reiß dich zusammen, denkt sich Philipp. Er stellt sich vor, wie er in seinem weitläufigen Garten sitzt. Ein frischer Wind weht sanft durch die Zweige der großen Tannen. Er zieht die kühle erträumte Luft tief in seine Lungen. Nur mit Mühe kann er einen Hustenanfall unterdrücken. Kopfschüttelnd denkt er an die angebrochene Packung Zigaretten in der Innentasche seines Jacketts. Die Ablenkung zeigt aber die erhoffte Wirkung. Puls und Atmung beruhigen sich wieder. Davonlaufen ist keine Option, unmöglich. Er hat sich entschlossen, die Wahrheit zu sagen. Nichts als die Wahrheit. So wahr ihm Gott helfe. Er faltet seine feuchten Hände wie zum Gebet. Er weiß, dass er schuldig ist. Dennoch – oder vielmehr deshalb – will er seine Geschichte erzählen und die Zukunft zurückgewinnen. Er ist bereit, die Konsequenzen zu tragen. Doch was ist, wenn seine Schuld nicht beglichen werden kann?
»Können wir beginnen?« Die Stimme aus dem Halbdunkeln klingt mehr nach einem Befehl als nach einer Frage.
Philipp atmet ein letztes Mal tief durch. Normalerweise ist er es, der die Befehle erteilt. Doch heute ist alles anders. »Ja, ich bin bereit.«
»Also, Herr Humboldt, warum sind Sie heute hier?« Der groß gewachsene Manager war hinter seinem Schreibtisch sitzen geblieben und musterte mich mit seinen wachen blauen Augen. Die Frage überraschte mich, und ich geriet etwas aus dem Konzept. Ich hatte allenfalls mit einem Nein gerechnet, aber nicht mit einem Warum. Meine Anzughose begann unangenehm in den Kniekehlen zu kleben. Es war ein heißer Sommertag, und schon die Vorbereitung auf das Bewerbungsgespräch war alles andere als optimal verlaufen.
Hoffentlich hält das Tipp-Ex.
Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. Alle meine Sinne waren in Alarmbereitschaft, und ich versuchte das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken.
»Vielen Dank, Herr Falkenstein, dass Sie sich Zeit nehmen für mich. Ich bin wegen der offenen Stelle in der Rechtsabteilung hier. Mein Headhunter hat den Termin mit Ihnen abgemacht.«
»So, hat er das?« Theatralisch drehte sich Falkenstein auf seinem Ledersessel weg und blickte auf die beiden Bildschirme vor sich auf dem Schreibtisch. Mit einem leichten Kopfschütteln wandte er sich wieder zu mir und hob entschuldigend die Hände. »Bei mir ist nichts eingetragen. Da muss es sich wohl um ein Missverständnis handeln.« Der Manager genoss die Situation offensichtlich. Unter dem feinen Schnurrbart formten sich seine Lippen zu einem Lächeln.
Ich spürte, wie das Blut in meine Wangen schoss. Meine rechte Hand ballte sich zu einer Faust. Ich umschloss sie unauffällig mit ihrem linken Pendant. »Ihre Sekretärin hat mir den Termin schriftlich bestätigt. Eventuell ist ein interner Kommunikationsfehler unterlaufen. Wenn es Ihnen recht ist, können wir das Gespräch aus Effizienzgründen dennoch führen. Sonst müsste ich Ihre Zeit ein weiteres Mal beanspruchen. Für mich wäre das natürlich kein Problem. Ich bin flexibel für Sie. Aber Ihre Agenda als Divisionsleiter ist sicher prall gefüllt.«
Der hohe Manager blickte mich lange an und nickte schließlich. Zweifellos war er Schmeicheleien nicht abgeneigt. Behaglich drückte er seinen Rücken durch. Dann nahm er ein Dokument in die Hand und setzte sich zu mir an den runden Gesprächstisch. Vor ihm lag mein Lebenslauf! Der gewiefte Stratege hatte mich also nur getestet. Er blätterte durch die Unterlagen. Eine Minute herrschte Stille.
»Nun, wenn Sie schon hier sind, erzählen Sie mir doch ein wenig über Ihren bisherigen Werdegang.« Falkenstein nahm sein Nokia 8110 in die Hand, öffnete die gebogene Schutzhülle und blickte scheinbar gelangweilt auf das bananenförmige Gerät. Dabei fläzte er sich weit in den Stuhl zurück und überschlug seine langen Beine.
Ich ließ mich durch das inszenierte Desinteresse nicht provozieren. An Ausdauer und Kampfgeist hat es mir nie gefehlt. Dementsprechend legte ich los. »Nach dem Abitur habe ich an der Universität Rechtswissenschaft studiert. Ich habe mich auf internationales Wirtschaftsrecht spezialisiert und mit summa cum laude abgeschlossen.«
Der Manager legte sein Mobiltelefon vor sich auf den Tisch, lächelte mich spöttisch an und strich seinen kleinen Schnauzer glatt. »Herr Humboldt, ich leite den lukrativsten Bereich in diesem Finanzinstitut. Und jetzt hören Sie ganz genau hin. Im Tagesgeschäft zählen nur drei Dinge: Leistung, Leistung und nochmals Leistung. Es ist mir scheißegal, was meine Mitarbeiter studiert haben. Sie müssen für die Bank und die Kunden Geld verdienen. That’s it! Wenn Sie also meinen, Sie könnten hier mit Ihrem Studienabschluss auf dicke Hose machen, sind Sie bei mir fehl am Platz. Ich habe zwar nur eine einfache Lehre als Bankkaufmann gemacht, stehe jetzt aber an der Spitze. Zuoberst.« Dabei zeigte er nach unten. »Sehen Sie diese Schuhe? 500 Piepen, each. Ohne Studium. Dafür mit Biss. Intellektuelle sind mir schon immer suspekt gewesen. Viel Luft und wenig Substanz. Schmelzen bei mir weg wie ein Schneemann in der Frühlingssonne. Sie fragen sich vielleicht, warum ich mir überhaupt die Zeit nehme und mich persönlich mit Ihnen unterhalte.« Er unterbrach seine Belehrung und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Falkenstein erwartete eine Antwort. Ich ließ mich nicht mehr einschüchtern und hielt seinem Blick stand. Eine Prise Selbstsicherheit mit einem gehörigen Schuss Lobhudelei schien mir die beste Strategie zu sein.
»Ich glaube, dass die fachliche Qualifikation von anderer Stelle geprüft wurde. Sie, Herr Falkenstein, interessieren sich vor allem für die Persönlichkeit hinter der Bewerbung. Loyalität, Stressresistenz, Wille, Auftreten. Darum ist Ihr Geschäft auch so erfolgreich. Und darum bin ich hier.«
»Sie sind ein cleverer junger Mann, Humboldt«, sagte der Managing Director. »Aber können Sie mir garantieren, dass Sie in drei Jahren auch noch bei mir arbeiten, nachdem wir viel Geld in Ihre Ausbildung investiert haben?«
Das Eis war nun gebrochen, und ich hatte die volle Aufmerksamkeit meines Gegenübers. Wir spielten ein Spiel – und beide wussten es.
»Nein, das kann ich nicht garantieren. Das hängt einzig und alleine von Ihnen ab. Wenn Sie zufrieden mit mir sind, werde ich auch in drei Jahren noch hier sein. Sonst nicht. Aber sind Sie dann noch hier? Vielleicht braucht die Bank ja in der Zwischenzeit einen neuen CEO.«
Falkenstein nickte gebauchpinselt. Bevor er aber die nächste Frage stellen konnte, wurden wir von seiner Sekretärin unterbrochen. Ruhig und mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit betrat sie ohne anzuklopfen das Büro und stellte ein kleines Tablett mit einer Tasse Kaffee und etwas Gebäck auf den Besprechungstisch. Der Raum füllte sich mit dem Geruch von frisch gerösteten Kaffeebohnen. Dazu kam ein sanfter warmer Duft nach Vanille, wahrscheinlich das Parfum der Assistentin. Ich schätzte sie auf etwa 30 Jahre, kaum älter als ich.
»Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee, Herr Humboldt?«, fragte sie mich freundlich.
Bevor ich reagieren konnte, übernahm Falkenstein die Entscheidung. »Es ist gut so, Frau Huber. Wir sind sowieso bald fertig«, sagte er zu meinem Missfallen. Eine Tasse Kaffee wäre eigentlich genau das gewesen, was ich gebraucht hätte. Mein Mund war so trocken, dass ich nicht einmal den Ärger runterschlucken konnte. Die Sekretärin sah mich lächelnd an und hob entschuldigend ihre Schultern. Sie kannte offensichtlich die Launen ihres Vorgesetzten.
Falkenstein widmete sich in der Folge längere Zeit seinem Heißgetränk und schien mich vergessen zu haben. Immer noch fuchsig ob der groben Unhöflichkeit, beschloss ich, der beklemmenden Stille zu trotzen – auch wenn wir noch am nächsten Tag hier sitzen würden. Ich nutzte die Zeit stattdessen, um den Raum zu studieren. Da ich mich bis dato noch nie in einem Geschäftsleitungsbüro aufgehalten hatte, fehlten mir verständlicherweise die Vergleichsmöglichkeiten. Mein erster Eindruck war jedenfalls: teuer, modern, kalt. An den Wänden hingen ein für die damalige Zeit erstaunlich flacher Fernseher und zeitgenössische Kunst, abstrakt, ohne Rahmen. Von den Künstlern hatte ich schon gehört. Ich erkannte die Werke jedoch nicht an Stil, Technik oder Form, nein, sie waren ganz ordinär beschriftet: Contemporary Art – dazu der Name des Schöpfers und das Entstehungsjahr. Für mich roch das streng nach Effekthascherei. Mein Blick wanderte weiter. Eine Hydrokultur stand auf dem hellen Veloursboden und brachte etwas Leben in den Raum. Die beiden großen Tische waren aus geschwärztem Eichenholz gefertigt und standen auf polierten Chromstahlbeinen. Der Arbeitstisch von Falkenstein war zusätzlich in der Höhe verstellbar, wahrscheinlich ein wichtiges Anliegen des eleganten Managers, damit er zwischendurch stehend arbeitend seine teuren Maßanzüge – von Brioni, wie ich später erfuhr – schonen konnte. Auf den tiefen schwarzen Sideboards standen neben zwei Skulpturen (die sich mir nicht erschlossen) einige private Erinnerungsstücke: das Foto einer lächelnden Frau, schlank, blond, in den Armen zwei Kinder – natürlich ein Junge und ein Mädchen; eine weitere Aufnahme von Falkenstein mit Golfschläger und Pokal, eingerahmt von zwei strahlenden Hostessen, die ihm bis zu den Schultern reichten; ein kleiner Miniaturporsche, weiß; ein Werk über den Zürcher Reformator Zwingli, perfekt platziert, das Lesebändchen im hintersten Teil des Buches, als wollte es die Belesenheit des Hausherrn unterstreichen. Die edlen Büroschränke – erst viele Jahre später durfte ich mir die USM Haller auch anschaffen – dienten ganz eindeutig mehr als Abstellplatz für all die Bildchen, Bücher und Jungsträume denn der Aufbewahrung von geschäftsrelevanten Dokumenten.
Was für ein Fegefeuer der Eitelkeiten.
Eine Fliege schwirrte an meinem Kopf vorbei, um dann kopfüber an der Bürodecke zu landen. Mit ihren mikroskopisch kleinen Krallen und Haftpolstern drehte sie dort einige Runden. Zweifellos hielt auch sie sich in diesem Moment für das Zentrum der Welt.
Das Klimpern der nunmehr leeren Tasse brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. Der Manager war – gestärkt durch Kaffee und Kuchen – wieder in Debattierlaune. Das unkonventionelle Bewerbungsgespräch ging in die Endphase. »Was sagen eigentlich Ihre Freunde über Sie, wenn alle etwas angetrunken sind?«
Spielerisch zog ich die Stirn in Falten und riss meinen Blick von der Fliege los. »Ich habe viele Freunde«, log ich und spürte, wie meine Ohren heiß wurden. »Die meisten würden sagen: Philipp ist ein loyaler Mensch, auf den man sich verlassen kann. Vielleicht etwas ehrgeizig, aber ein kluger und ehrlicher Typ. Darf ich nach unserem Gespräch Ihrer Sekretärin die gleiche Frage über Sie stellen?«
Falkenstein stand auf und warf meine Vita in den Papierkorb. »Kommen Sie mit, Humboldt. Ich stelle Sie dem Bereichsleiter meiner Rechtsabteilung vor. Sie sind noch etwas naseweis, aber das kriegen wir schon auf die Reihe.«
Der Bereichsleiter stellte sich als älteres Semester heraus. Ein erfahrener Jurist am Ende seiner Karriere. Falkenstein schob mich in dessen Büro. Der Mann gab sich so geschäftig wie jemand, der gerade nichts zu tun hatte. Was ich auf den ersten Blick erkannte, war die tiefere Besoldungsstufe: keine teure Kunst, sondern gewöhnliche Lithografien; ein Computerbildschirm, kein Fernseher; Arbeitspult und Besprechungstisch kleiner als bei Falkenstein, dafür beladen mit einem imposanten Aktenstapel; anstelle eines einladenden Kaffeeservice mehrere leere Pappbecher; kaum Privates – wenn man einmal von einem übertrieben großen Foto absah, auf welchem der Bereichsleiter, der mir als Dr. Hans Zimmermann vorgestellt wurde, zusammen mit Falkenstein abgebildet war, was ich doch etwas anbiedernd empfand; kein Duft nach Vanille, dafür der Geruch nach kaltem Zigarettenrauch, was für kurze Zeit das kleine Nikotinmonster in meinem Kopf zum Brüllen brachte. Falkenstein stoppte den Ausbruch gleich wieder.
»Hans, ich bringe dir einen neuen Mitarbeiter. Das Dossier und die Referenzen sind bereits von der Personalabteilung geprüft worden. Nimm Herrn Humboldt unter deine Fittiche, dann kann man ihn in ein paar Jahren vielleicht sogar zu was gebrauchen.«
Und weg war der erfolgsverwöhnte Manager. Für Falkenstein war die Entscheidung gefallen. Ob ich noch andere Jobofferten oder generelle Bedenken hatte, interessierte ihn nicht. Es stand außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass jemand nicht für ihn arbeiten wollte. Der Bereichsleiter unterhielt sich nur kurz mit mir. Er war niemand, der die Wünsche seines Vorgesetzten in Frage stellte, machte aber sonst einen kompetenten und seriösen Eindruck auf mich.
»Wir werden Ihnen den Vertrag inklusive Jahresgehalt noch heute zuschicken, Herr Humboldt. Lesen Sie alles in Ruhe durch und schicken Sie uns dann die unterschriebenen Dokumente so schnell wie möglich zurück. Herr Falkenstein lässt sich nicht zweimal bitten. Sie können nächsten Monat bei uns anfangen.«
Im Spiegel des Aufzuges kontrollierte ich meinen Hemdkragen. Man sah das Blut nicht. Das Tipp-Ex hatte gehalten. Heute war mein Glückstag. Ich hatte erst im Zug bemerkt, dass ich mich beim Rasieren geschnitten hatte. Der weiße Hemdkragen blutverschmiert! Ich war kurz in Panik geraten. Dann kam mir die Idee mit dem Tipp-Ex. An der Bahnhofstraße kaufte ich mir in einem Warenhaus die kleine Flasche und trug auf der Toilette die weiße Flüssigkeit sorgfältig mit dem Pinsel auf den Hemdkragen auf. Wenn man ganz genau hinschaute, bemerkte man die Notlösung. Für einen Nichteingeweihten war aber nichts zu erkennen.
Ich atmete erleichtert durch und verließ beschwingt das Bürogebäude. Die Spannung fiel langsam von mir ab, und das Pumpen des Adrenalins wurde durch das Knurren meines Magens abgelöst. Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Gut gelaunt steuerte ich den nächsten Geldautomaten an und gab meinen Code ein – das Geburtsdatum meines Bruders. Statt des von mir gewünschten Geldscheins erschien ein freundlicher Hinweis auf dem Bildschirm.
»Der von Ihnen eingegebene Betrag übersteigt das Guthaben Ihres Kontos. Bitte versuchen Sie es noch einmal.«
Shit.
Ich war mir nicht bewusst gewesen, dass es so schlecht um meine Finanzen stand. Die Abschlussprüfungen an der Uni, die darauffolgenden Partys, die zwei Bewerbungsgespräche – beide erfolgreich – und natürlich die Idee von Sophie hatten mich völlig in Beschlag genommen. Meine Sophie … Mit zittriger Hand tippte ich die Zahl 50 ein und schloss die Augen. Die Zeit stand still. Ich spürte, wie mein Herz die Schlagfrequenz erhöhte. Die Sekunden dehnten sich wie ein klebriger Kaugummi. Dann endlich das erlösende Knattern, wobei ich mich fragte, warum der Automat die laute Zählfunktion aktivierte, obwohl schlussendlich doch nur eine Note zum Vorschein kam. Egal. Behutsam nahm ich den Geldschein in die Hand. Er hatte für mich in diesem Moment die Bedeutung eines Goldbarrens. Fürs Erste war die Welt wieder in Ordnung.
Ich überquerte den Paradeplatz und die Straße mit den teuersten Uhren, hielt dann in Richtung Großmünster und schlenderte ein wenig durchs Niederdorf. Dort ging ich in ein italienisches Restaurant und setzte mich draußen an einen freien Tisch. Ich spürte förmlich die Energie, die mich umgab, und zog sie tief in meine Lungen. Das Lokal war gut besucht. Die Mischung der Gäste gefiel mir. Gut angezogene Geschäftsmänner und elegante Geschäftsfrauen, Touristen in bequemer Freizeitkleidung, Eltern mit ihren Kindern. Man unterhielt sich angeregt oder widmete sich seinen Speisen. Einige Sekunden lang betrachtete ich zufrieden den blauen Himmel über mir. Im Hintergrund hörte man das Rattern der blau-weißen Straßenbahn und das Hupen eines Autos. Das Leben verlief hier in geordneten Bahnen, zumindest auf den ersten Blick. Ich studierte die Speisekarte und kalkulierte meine Bestellung mehrfach durch. Ein grüner Salat, eine Pizza, Mineralwasser, ein Glas Rotwein und ein Espresso ergaben genau 48,50. In der Innenstadt gibt es nichts umsonst. Die restlichen 1,50 sollte die Bedienung behalten. Es war das beste Mittagessen meines Lebens. Nun galt es nur noch das Problem mit Sophie zu lösen.
Martin und Vincent waren meine zwei besten Freunde. Genau genommen meine einzigen Freunde. Nach der Geschichte mit den Farbstiften war ich lange ein ziemlicher Einzelgänger geblieben. Ich lernte die beiden im ersten Semester an der Uni kennen. In dieser Anfangszeit sind die Studenten offen für neue Freundschaften. Man ist ob der vielen neuen Eindrücke verunsichert, die Gruppenbildung hat erst begonnen, und Netzwerke sind noch kaum vorhanden. Im Verlauf des Studiums schließt sich dann dieses Fenster immer mehr. Vincent, Martin und ich besuchten zu Beginn der Ausbildung dieselben Vorlesungen, schrieben unsere erste Gruppenarbeit zusammen und waren uns auf Anhieb sympathisch. Über die Zeit wurden aus Kommilitonen Kumpels und schließlich dicke Freunde. Nach vielen Jahren in der Isolation blühte ich an der Universität wieder richtig auf – wie ein guter Wein, der nach langer Zeit im dunklen Eichenfass endlich ein Bouquet entfalten darf. Vincent und Martin spielten in diesem Reifeprozess eine entscheidende Rolle, was ich ihnen nie vergessen werde.
»Also, Philipp, wie ist dein Gespräch gestern gelaufen? Du hast hoffentlich Vollgas gegeben, wie ich empfohlen habe?« Vincent stellte die dritte Runde Bier auf den Tisch und sah mich neugierig an.
Auch Martin wollte die Neuigkeiten hören. »Na los, rück endlich raus mit der Sprache und mach nicht auf Drama-Queen.«
Der erste Mittwoch im Monat war zu unserem traditionellen Männerabend geworden. Dann zogen wir jeweils um die Häuser, gingen essen, zum Fußballspiel, ins Kino, manchmal sogar ins Theater oder die Oper und ließen den Abend meistens in unserer Lieblingsbar ausklingen. Hier verbrachten wir viele legendäre Abende, meistens gefolgt von ebenso unvergesslichen Kopfschmerzen und einem Kater so groß wie ein ausgewachsenes Rindvieh.
Die Safari Bar, in der Altstadt etwas unterhalb der Universität gelegen, war an diesem warmen Sommertag rappelvoll. Die Stimmung ausgelassen. Viele Gäste trugen nummerierte Shirts. Über den großen Zahlen standen Namen wie Gascoigne, Sammer oder Scholl. Es war der Halbfinal-Knüller der Fußballeuropameisterschaft 1996. Die Bar bebte bereits nach drei Minuten bedenklich. Alan Shearer brachte die Engländer in Führung und deren Fans in Ekstase. Stefan Kuntz dämpfte 13 Minuten später die Stimmung mit seinem Ausgleichstor. Zumindest bei der Mehrheit der Gäste. Es sollte in der regulären Spielzeit keine weiteren Tore geben. Das erleichterte in puncto Geräuschpegel unsere Diskussion, und guter Rat war mir an diesem Abend teuer.
Ich ließ meine Freunde noch etwas zappeln, setzte das Bierglas an und wischte mir nach einem herzhaften Schluck mit dem Handrücken den Mund ab. »Das Bewerbungsgespräch werde ich so schnell nicht vergessen. Der große Häuptling Falkenstein hat mich grausam in die Zange genommen. Aber – ich habe die Zusage bekommen. Den Vertrag haben sie gleich gestern abgeschickt, und er liegt bereits bei mir zu Hause auf dem Küchentisch.«
Vincent klopfte mir heftig auf den Rücken. »Cool. Dann kann ich dir ja ohne schlechtes Gewissen Zinsen auf mein Darlehen berechnen.«
Zuvor hatte ich noch geglaubt, den Abend mit den beiden aus finanziellen Gründen sausen lassen zu müssen, doch Vincent schoss mir ohne zu zögern einen stattlichen Geldbetrag vor. Ich durfte mich auf meine Freunde verlassen. Martin hätte auch für mich geradegestanden, doch Vincent war der Schnellere gewesen. Dennoch verdunkelte sich meine Laune. Die vielen Nebenjobs hatten mein Studium verlängert, darüber hinaus aber außer Lebenserfahrung und dem überlebensnotwendigen Kleingeld wenig gebracht. Ein Hamsterrad, eine Sackgasse. Wie bei meinen Eltern. Mein Vater, ein kleiner Angestellter, konnte sich und die Familie gerade mal soeben über Wasser halten. Meine Mutter war Hausfrau und gemeinnützig engagiert. Nützlich, aber eben gemein, dass sie nie etwas dafür bekam. Darum hätte ich meine Eltern auch nie um Geld gebeten. Nur um keinen falschen Eindruck zu hinterlassen: Meine Eltern waren immer für mich da, aber ich wollte sie einfach nicht mit meinen – hoffentlich temporären – finanziellen Sorgen belasten. Mein Bruder war ein anderes Thema. Er führte eine florierende Softwarefirma und verdiente gutes Geld. Ich konnte ihn aber unmöglich anpumpen. Wir pflegten keinen Kontakt mehr. Seit der Geschichte mit der Katze.
Der Anpfiff zur Verlängerung brachte mich wieder in die Realität zurück. Ich schüttelte die trüben Gedanken ab und nahm einen kräftigen Schluck Bier. Es standen wegweisende Entscheidungen an. Ich klärte meine Freunde auf.
»Langsam, langsam. Wer sagt denn, dass ich Falkenstein zusagen werde? Ich habe ja auch die Offerte vom Internationalen Roten Kreuz in Genf. Zwei Bewerbungsgespräche, zwei Treffer! Es gibt Leute, die etwas breiter aufgestellt sind als du«, sagte ich im Scherz zu Vincent.
Martin war sofort Feuer und Flamme. »Das ist ein No-Brainer. Die Stelle beim IKRK ist für dich mit deinem Abschluss in Internationalem Recht der absolute Knaller. Du kannst die Welt bereisen, machst etwas Wertvolles und verdienst auch noch gutes Geld.«
»Gutes Geld«, höhnte Vincent. »Das sind doch nur Brosamen im Vergleich zu einem Bankerlohn.« Vincent hatte bereits während des Jurastudiums bei einer renommierten Anwaltskanzlei gejobbt und war am Tag nach der Schlussprüfung dort direkt eingestiegen. Er verdiente im sechsstelligen Bereich. Mit seinem ersten Lohn hatte er sich eine standesgemäße teure Armbanduhr zugelegt. Außerdem liebte er elegante Kleidung. An diesem Abend trug er ein eng geschnittenes Hemd, eine gut sitzende italienische Stoffhose und weiße Designer-Sneakers. Er war durch und durch Genussmensch, ein Genießer wie aus dem Bilderbuch. Mit seiner selbstsicheren und humorvollen, leicht ins Ironische fallenden Art und seinem Aussehen, groß gewachsen, dunklen Haaren und sportlicher Figur, war er überall ein gern gesehener Gast und ging selten alleine nach Hause. Man durfte sich von seiner extrovertierten Masche aber nicht blenden lassen. Vincent war ein ehrlicher, loyaler Typ und vor allem ein toller Freund, auf den man sich in schwierigen Situationen immer verlassen konnte. Martin war anders. Auf den ersten Blick. Er war eher der introvertierte, ruhige Charakter mit einer pragmatischen Lebenseinstellung. Er war Jurist bei einer Flüchtlingsorganisation und beriet sowohl Asylsuchende als auch staatliche Institutionen. Viel Geld zu besitzen, verderbe den Charakter, so Martin. In der Konsequenz verzichtete er nicht auf ein gutes Gehalt, aber gab alles gleich wieder aus. Am liebsten für teure Reisen an die entlegensten Flecken der Erde. Auch Martin war ein gut aussehender Typ, machte sich aber wenig aus Statussymbolen und Anzügen. An diesem Abend war er in Jeans und schwarzem T-Shirt unterwegs. Ich bin mir sicher, dass er damals heimlich trainierte. Seine Bizepse waren jedenfalls klar definiert und wölbten sich beachtlich.
Die Meinungen meiner beiden Freunde, welche Stelle denn nun vorzuziehen sei, waren – nicht überraschend – einander entgegengesetzt. Das Gespräch wogte hin und her. Für meine Entscheidungsfindung war dies nur bedingt hilfreich. Ich sprach daher das eigentliche Problem an.
»Jungs, vielen Dank für die gut gemeinten Tipps. Ehrlich gesagt, finde ich die Jobofferte vom Roten Kreuz attraktiver. Wie Martin schon gesagt hat: Büro in Genf, viel reisen, internationales Umfeld, internationales Recht, cooles Team, sinnvolle Arbeit, Lohn absolut okay.«
Martin hob den Daumen. Vincent schüttelte den Kopf. Ich fuhr fort.
»Der Hund liegt ganz woanders begraben. Mein Problem ist – wobei es eigentlich gar kein Problem ist …«
Ich rang um die richtigen Worte. Meine Freunde blickten mich fragend an.
»Also, um es auf den Punkt zu bringen …«
Auch der zweite Anlauf haperte. Vincent trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch und Martin machte kleine Kreisbewegungen mit seinen Händen. Schließlich brachte ich den Satz zu Ende.
»Sophie will mit mir zusammenziehen.«
Die Überraschung war geglückt. Vincent schlug mit beiden Händen flach auf den Tisch. Die Fußballfans schauten erschrocken zu uns herüber. Sogar der bullige, freundliche Türsteher blickte kurz durch die Tür in die Bar hinein, zog sich aber gleich wieder zurück, als er uns sah – keine Gefahr.
»Philipp, du alter Schwede. Jetzt beneide ich dich zum ersten Mal. Wie hast du das denn eingefädelt?« Vincent war immer noch außer sich.
Ich bestellte die nächste Runde Bier. Die Kellnerin offerierte ihrerseits drei Shots.
»Jetzt seht ihr mein Dilemma. Die Qual der Wahl. Wenn ich nach Genf gehe, könnte ich nicht mit Sophie zusammenziehen. Sage ich der Bank zu, würde ich mit meiner Traumfrau zusammenziehen können, müsste aber die Stelle beim Roten Kreuz sausen lassen.«
Für Vincent war der Fall sofort klar. »Da gibt es doch gar nichts mehr zu diskutieren. Du kannst mit der hübschesten Frau aus unserer Unizeit zusammenziehen, Banker werden, einen fetten Lohn einsacken, zehn Kinder zeugen und trotzdem in Saus und Braus leben. Wenn du hier noch überlegen musst, mache ich mir echt Sorgen um meinen Kleinkredit.«
Das Gegenargument von Martin kam prompt. »Geld ist nicht alles, Vinc. Aber mein Argument zielt auf etwas anderes ab. Nimm es mir bitte nicht übel, Philipp. Wir sind schon immer ehrlich zueinander gewesen. Sophie ist eine tolle Frau, keine Frage. Aber wie groß ist die Chance, dass ihr in fünf Jahren noch zusammen seid? Du solltest nicht deinen Traum opfern, weil dir kurzfristig das Blut vom Hirn in die Hose gerutscht ist. Und wenn es Sophie ernst ist, kommt sie vielleicht mit dir nach Genf. Oder ihr versucht eine Fernbeziehung und testet die Tiefe eurer Gefühle aus.«
Vincent lachte laut. Er liebte kontroverse Streitgespräche, wie es sich für einen Anwalt gehörte. Die Fronten waren gesetzt und verschoben sich nicht mehr im weiteren Verlauf des Abends. In einem Schützengraben lag Martin, bewaffnet mit Menschenliebe und Tugendhaftigkeit. Auf der anderen Seite feuerte Vincent aus vollen Rohren mit schwerer Munition: Geld, Karriere, Sex. Ich war überfordert und beschloss, mich zu betrinken.
In vino veritas.
In der Zwischenzeit war auch die Verlängerung des Halbfinales vorbei. Es kam zum unvermeidlichen Elfmeterschießen. Eine fiebrige Anspannung machte sich breit, vor allem unter den Anhängern der Three Lions. Wir fragten uns, ob die Engländer überhaupt einmal ein Elfmeterschießen bei einem wichtigen Turnier gewonnen hatten. Es fiel uns kein Beispiel ein. An diesem Abend geschah jedoch ein Wunder. Alle fünf Torschützen der Engländer (Shearer, Platt, Pearce, Gascoigne und Sheringham) waren erfolgreich und hämmerten oder schoben den Ball vorbei am deutschen Keeper ins Tor. Es gab dabei nur einen Haken: Dasselbe gelang auch den deutschen Spielern Häßler, Strunz, Reuter, Ziege und Kuntz. Dann kam es, wie es immer kam: Southgate scheitere und Andy Möller (ausgerechnet Möller) schoss die Deutschen ins Finale.
Die Stimmung war im Eimer, und die Bar leerte sich rasch. Wir blieben noch lange sitzen. Die Fernsehübertragung wich der Musik, die im weiteren Verlaufe des Abends immer lauter und härter wurde. Nach einer Weile füllte sich die Bar langsam wieder, diesmal mit bekannten Gesichtern, die nichts mit Fußball am Hut hatten. Damals durfte man noch überall rauchen, und so wurde munter drauflos gepafft.
Unsere Diskussion war mit der Zeit ins Philosophische gerutscht. Jeder kennt diese intensiven Abende, in welchen man – unterstützt durch reichlich Alkohol – die Welt mit völlig neuen Augen sieht und einem die klügsten Ideen förmlich zufliegen, die kompliziertesten Probleme plötzlich in einer nie dagewesenen Klarheit erscheinen und lösbar werden. Leider bleiben von diesen Visionen und Geistesblitzen am nächsten Morgen meist nur verschwommene Erinnerungen übrig. Die Gedanken des Vorabends erscheinen kindisch, die Logik ist verschwunden, und die Welt dreht sich weiter in gewohnten Bahnen. In einer solch trunkenen Euphorie versuchten wir an jenem Abend nun meine Entscheidung für einen der beiden Jobs fundiert herzuleiten. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben. Es wurde uns bewusst, spätestens nach der sechsten Runde Bier, dass ich an einer Wegscheide, ja an einem Point of no Return stand und ein Abbiegen in die falsche Richtung mein Glück, wenn nicht sogar meine ganze Zukunft aufs Spiel setzen würde. Wir entlarvten zunächst die moderne Multioptionsgesellschaft, in der wir lebten und in welcher man eine bisher nie gekannte Anzahl an Wahlmöglichkeiten habe, was früher nie der Fall gewesen sei – früher, da man einfach den Beruf des Vaters angenommen und die Nachbarstochter oder womöglich gar die eigene Cousine geheiratet habe, selbstverständlich ohne eigenes Mitspracherecht. Heute dagegen, dozierte ich, offerierten uns Liberalismus, Demokratie und gesellschaftlicher Pluralismus zwar Freiheit, aber eben auch den Zwang zur permanenten Selbstbefragung und zu schwierigen Entscheidungen. Vincent versuchte mein Dilemma kopfgesteuert anzugehen. Ich müsse endlich erwachsen werden und durch den Gebrauch simpler Vernunft meiner Unmündigkeit entfliehen. Er zwang mich, für die beiden Jobofferten sämtliche Pros und Kontras auf Bierdeckel zu schreiben, sie zu gewichten und gegeneinander aufzurechnen. Dieses nüchterne Kosten-Nutzen-Kalkül, quasi gefühlsferne Abwägen müsse in letzter Konsequenz zur bestmöglichen Wahl führen, weil nur diese Methodik in unserer Epoche einer alles durchdringenden Ökonomie, basierend auf Algorithmen und Mathematik, eine – wenn auch nicht absolute – Objektivierung meiner Entscheidung gewährleisten könne. Mit der Objektivierung war es aber so eine Sache, weil sich unsere Lieblingskellnerin irgendwann weigerte, neue Bierdeckel zur Verfügung zu stellen. Martin nutzte die Unterbrechung, um gegen diese Rechnerei zu opponieren, die, so Martin, der realen Komplexität des Lebens nicht einmal nahe kommen würde. Nur die Intuition, also der Bauch und nicht der Kopf, sei in der Lage, eine reale Komplexitätsreduktion zu erreichen, welche dann ihrerseits die Grundlage für die richtige – oder besser gesagt, die bestmögliche Entscheidung sei. Vincents Behauptungen seien so falsch wie Kleriker keusch, da sich die Welt und die Umstände dauernd änderten und es gerade deshalb wesentlich effektiver und ehrlicher sei, einfach auf seine Gefühle zu hören.
Ich versuchte verzweifelt die beiden gut gemeinten Modelle miteinander zu verbinden. Um zwei Uhr morgens verkündete ich das finale Ergebnis meiner Überlegungen – wenn ich mich richtig erinnere, lief gerade Rammstein im Hintergrund. Mit wässrigen Augen und lauter Stimme offenbarte ich meinen Freunden, dass ich nicht nur Sophie liebte, sondern mir auch nicht vorstellen könne, auf unsere gemeinsamen Männerabende zu verzichten und es die Tiefe und Qualität unserer Freundschaft sowieso mit jeder eheähnlichen Beziehung aufnehmen würden. Meine Entscheidung stand definitiv fest. Sie war folgenschwer, für mich und viele andere.
Sophie war Jungfrau, das heißt, sie war intelligent, immer gut strukturiert, ruhig und zurückhaltend, was auf manche kühl oder gar misstrauisch wirken konnte. Aber ich liebte sie natürlich nicht wegen ihres Sternzeichens. Was mir damals im Hörsaal als Erstes auffiel – ich gebe es zu –, war ihr Äußeres. Vincent hatte in einem Punkt vollkommen recht: Sophie war eine äußerst attraktive Frau, ein echter Hingucker. Sie war groß gewachsen, 1,78 Meter, um genau zu sein, hatte eine sportliche Figur, ohne jemals Sport zu treiben, lange, pechschwarze Haare, eine sanfte, blasse Haut und dazu dunkelblaue Augen, in denen man zu versinken drohte. Warme Sommeraugen. Ihre neidischen Kommilitoninnen nannten sie heimlich »Schneewittchen«. Es umgab sie ein Grundrauschen an Gerüchten, was mich herzlich wenig interessierte und ihre Einzigartigkeit nur noch betonte. Aber da war noch mehr. Bei ihr spürte ich einfach das gewisse Kribbeln im Bauch. Sophie übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus. Wenn sie mich mit ihrer sanften und melodiösen, fast schon tiefen Stimme ansprach, war ich hin und weg. Zu meinem endgültigen Verderben hatte sie eine kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Kaum sichtbar, aber sehr sexy. Ich musste mich immer zusammenreißen, nicht fortwährend daraufzustarren. Beim Sprechen schlug Sophie mit der Zunge immer leicht gegen die Öffnung. Ihr »s« erinnerte an das englische »the« und klang wie das sanfte Summen einer Honigbiene. Da war eine magische Aura, wobei dieser Begriff Sophie nicht gerecht wurde: Auf mich hatte sie die Strahlkraft eines Kernreaktors. Nun war es nicht so, dass sie ihre Vorzüge ausnutzte – ganz im Gegenteil. Sophie trat immer sehr bescheiden auf und war – wie ich früher auch – eine ziemliche Einzelgängerin.