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Elisabeth Wendelspiess

Gefährliche Playoffs

Eishockey-Krimi

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Impressum

Dieses Buch ist ein Kriminalroman, der im Umfeld des Schlittschuhclubs
Bern spielt. Den Eishockeyclub und die »Arena« gibt es wirklich.
Jedoch ist die gesamte Handlung vom Anfang bis zum Schluss frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Die verwendeten Fachbegriffe aus der
Eishockeywelt sind im Roman bei der ersten Erwähnung kursiviert und
werden im Glossar am Ende des Buches erläutert.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Hiller, Bern

ISBN 978-3-8392-6668-7

Widmung

Für Rolf

Zitat

»Ach, da kommt der Meister!

Herr, die Not ist groß!

Die ich rief, die Geister

werd ich nun nicht los.«

[Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling]

Prolog

Er stand da, schweißgebadet und zitternd. Sein Gegenüber grinste süffisant und kratzte sich den Bart. Es konnte nicht sein, dass dieser arrogante Journalist sein ganzes Leben zerstörte, seine Karriere, alles, was er aufgebaut hatte. Wie hatte der Typ es bloß geschafft, von seinen Problemen zu erfahren? Er war immer sehr vorsichtig gewesen. Nun drohte seine ganze heile Welt zu platzen, gleich einer Seifenblase. Paff!!!

»Du bringst mir morgen Abend 500.000 Franken, in kleinen und gebrauchten Scheinen. Gleiche Zeit, gleicher Ort. Wenn nicht …«, er sah ihn drohend an und schwang seine Pilotenbrille in der rechten Hand hin und her, »bist du übermorgen die Hauptschlagzeile in der Eishockeypresse!« Mit Schwung landete die Brille auf der Nase. »Dann bist du erledigt und kannst einpacken!« Der Journalist fuhr sich über seine Vollglatze und die kalten, überheblichen Augen stachen auf sein Opfer.

Er musste seine Hände kneten, um das Zittern zu unterdrücken. Seine Nackenmuskeln zogen sich schmerzhaft zusammen. Nein, das konnte nicht sein! Wo sollte er in der kurzen Zeit so viel Geld hernehmen? Er hatte diesem Mann schon mehrmals erklärt, dass es nicht möglich sei, doch der Erpresser zeigte keine Einsicht. Das war ihr letztes Treffen. Wenn er nicht zahlen konnte, würde alles an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Er musste eine andere Lösung suchen. Ein übler Gedanke schlich sich in sein Hirn. Er musste den Kerl endgültig loswerden.

»Okay«, antwortete er. »Ich werde da sein.«

Das widerliche Grinsen im Gesicht seines Gegenübers wurde breiter. »Siehst du, es geht doch!«

Das war genug. Eine eisige Ruhe überkam ihn, das Zittern war weg. Sein offenes Golfbag stand auf zwei Stelzenfüßen neben ihm. Er zog den schwersten Schläger heraus und packte ihn fest mit beiden Händen. Paff!!!

Erstes Kapitel

Freitag, 11.9., abends, erstes Heimspiel

Es war September, endlich begann in Bern die Eishockeysaison. Carole Lemaire, Ehefrau des kanadischen Cheftrainers, stand bei den Spielerfrauen des Schlittschuhclubs Bern im unteren Sitzplatzbereich der Arena. Es war viel zu warm für Eishockey, trotzdem genoss Carole die spezielle Atmosphäre fünfzehn Minuten vor dem Spiel. Das ausverkaufte Eisstadion auf der Berner Allmend vibrierte. Der Eishockeyvirus ging wieder um. Die Fans gegenüber auf der großen Stehrampe veranstalteten ein Höllenspektakel. Trommelwirbel ohne Ende und skandierte Rufe zur Unterstützung des Clubs – »SCB! SCB!« – wehten laut durch die Arena. Geschwenkte Fahnen in den schwarz-gelb-roten Clubfarben brachten Bewegung in die steil aufsteigende Masse der begeisterten Anhänger. Der eigenartige und unvergleichliche Geruch nach Eis, Beton und Menschenmenge lag in der Luft. Gleich würde ein riesiges Banner über den Köpfen der Fans aufgezogen werden, ein Zeichen der Verbundenheit mit dem Club und den Spielern. Für Carole war dies ein Moment der Spannung, in dem die Stimmung ein erstes Mal dem Höhepunkt entgegenfloss. Die Gesichter der Zuschauenden verschwanden nach und nach unter dem gigantischen Tuch und ein eindrücklicher Bärenkopf offenbarte sich in einer Wellenbewegung, der in Flammen zu stehen schien. Inmitten des Kopfes erhob sich ein weißer Umriss der Altstadt von Bern mit dem Münster, rundherum prangten die Clubbuchstaben in schwarz, umrundet von gelb und rot. Die Rufe der treuen Stehplatzfans in der Mitte der ganzen Längsfront drangen gedämpfter durch den Stoff. Carole hatte bei diesem Ritual immer das Gefühl, dass sich der Bär in diesem Augenblick von seinem Tuch lösen und über das Spielfeld schweben würde, kampfbereit und ungeduldig auf den Beginn des Spiels. Dann rollte das Banner weg.

Das Licht wurde gedämpft, unter den Spotlampen mit dem SCB-Emblem und einer ohrenbetäubenden Geräuschkulisse lief Alan, der langjährige Animator des Clubs, aufs Eisfeld, begrüßte die Zuschauerinnen und Zuschauer zum ersten Spiel und verlangte: »Gäbet mir äs S!«

»S!«, grölte die Menge.

»Gäbet mir äs C!«

»C!«

»Gäbet mir äs B!«

»B!«

Und alle brüllten: »SCB! SCB!«.

Der Trommeldonner war ohrenbetäubend, im Fahnenmeer tobte ein Sturm. Die Spotscheinwerfer wechselten die Farben und feurige Flammen stachen aus zwei mobilen schwarzen Gasöfen auf dem Eis. Die Spielfläche schien zu beben und die »Mutzen«, wie die Berner Spieler nach ihrem Wappentier, dem Bär, genannt wurden, warteten darauf, das Eis zu betreten. Ein Spieler nach dem andern wurde von Alan in der Reihenfolge der Rückennummern per Vornamen und von der jubelnden Menge per Nachnamen aufs Eisfeld geholt. Auf dem großen Videotron erschienen jeweils Bild, Nummer und Name des Spielers, der gerade einlief. Der Videotron war das elektronische Prunkstück in der Arena. Es handelte sich um einen Multimediawürfel; umrahmt von einem elektronischen Bildring oben und einem gelben Lautsprecherring unten, hing er vom Dach des Stadions. Auf allen vier Seiten präsentierte der Würfel je einen riesigen Bildschirm.

Vom Bandeneingang aus fuhr jeder Spieler einzeln auf Schlittschuhen zwischen den Flammen hindurch auf das geheimnisvoll beleuchtete Eis und wurde von den Anhängern frenetisch begrüßt.

»U mit dr Nummer 78 dr Ryan …«, röhrte Alan in sein Mikrofon.

»Martin!«, antworteten die Zuschauenden im Chor.

Ryan Martin, der kanadische Stürmer des SCB, lief elegant auf seinen Kufen ein, schwang den Stock zur jubelnden Menge, machte einen lustigen Bogen und reihte sich bei seinen Kollegen auf der rechten blauen Linie ein.

Carole merkte, dass sein Blick zu ihrem Sektor ging und er ihr mit einem Lächeln zuzwinkerte. Unauffällig blickte sie in die andere Richtung, wo bereits die nächste Nummer ausgerufen wurde.

Viele Spieler tauschten beim Einlaufen Blicke mit ihren Frauen oder Freundinnen, das war nichts Ungewöhnliches. Dass Ryan so offensichtlich zu ihr schaute, der Frau des Trainers, war ihr peinlich. Seit ein paar Monaten machte Ryan ihr den Hof, unauffällig natürlich, doch beharrlich, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Es hatte im April auf dem Mannschaftsfest am Ende der letzten Saison begonnen. Im ungezwungenen Rahmen wurde gefeiert, getanzt, gegessen und natürlich zu viel getrunken. Als Frau des Trainers hatte sie die Aufgabe, mit allen zu sprechen und für gute Stimmung zu sorgen. Vor allem mit der kanadischen Kolonie war das immer amüsant und anregend. Alle vier ausländischen Spieler des SCB und ein kleiner Teil des Staff stammten aus Kanada. Carole verstand sich gut mit ihren Landsleuten. Die Spieler und ihre Familien kamen oft zu ihr, um einen Rat einzuholen oder sich auszutauschen. Schließlich hatte sie schon einige Jahre in Europa gelebt und war nun die zweite Saison in Bern. Sie wusste, was es hieß, die Kinder außerhalb des Heimatlandes großzuziehen, oft den Wohnort zu wechseln und mit dem Heimweh umzugehen.

Ryan war anders gewesen, jung, lebenslustig und ungebunden. Er wollte keinen Rat und keine Weisheiten von ihr. Nein, er interessierte sich von Anfang an für sie und zeigte ihr das. Zum Glück diskret, schließlich war Harry, ihr Ehemann, ebenfalls auf der Party gewesen. Und er war Ryans Chef. Soweit sie ihn einschätzen konnte, war Ryan nicht dumm und auch nicht nur auf ein schnelles Abenteuer aus. Charmant hatte er sich ihr genähert und sie aus seinen dunklen Augen glücklich angelächelt. Er sah unbestritten gut aus. Sie hatten etwas abseits der Menge im Garten zusammen ein Glas Wein getrunken und alberne Zweisamkeiten ausgetauscht, als schon lange die Sterne am Himmel standen. Ein hübscher Partyflirt, das hatte ihr ganz gut gefallen, musste sie sich im Innersten eingestehen. Mehr war da nicht. Sie war über 20 Jahre älter als Ryan und wusste, wo sie hingehörte. Im Sommer hatte sie ein paar Mal belanglose Grüße von Ryan über Harry ausgerichtet erhalten, der in den Ferien Kontakt zu seinen Spielern hielt. Ihre ganze Familie war in Montreal vereint gewesen und sie hatten den Heimaturlaub genossen. Ryan, der in einem Ort an der Pazifikküste wohnte, war viel zu weit weg für ein Treffen gewesen. Und seit das Sommertraining in Bern begonnen hatte, war sie ihm aus dem Weg gegangen. Wie es schien, hatte er sie nicht vergessen.

Der Torjubel der Menge riss sie aus ihren Gedanken. Der SCB hatte soeben das erste Tor geschossen. Die Fans gegenüber schwenkten ihre schwarz-gelb-roten Fahnen und johlten freudig. Sophie, die Ehefrau des kanadischen Torschützen Orlando Lee, die rechts von ihr saß, umarmte sie überschwänglich und meinte zu ihr: »Wenn das kein gutes Zeichen ist! Bin ich froh, dass das Knie hält.«

Beim ersten Spiel war das ganze Umfeld des Clubs für gewöhnlich sehr nervös. Für Sophie galt das besonders. Orlando, der zweite Center, hatte sich am Ende der letzten Saison am Knie verletzt und der Arzt war sich nicht sicher gewesen, ob er der neuerlichen Belastung einer ganzen Saison gewachsen sein würde. Den ganzen Frühling und Sommer hatte er beim Aufbautraining geschuftet und Sophie war seine Seelentrösterin gewesen. Sie hatte drei kleine Kinder zu versorgen. Der älteste Sohn ging in die erste Klasse, das Mädchen besuchte den Kindergarten und der Jüngste war ein Krabbelkind. Sophie hoffte sehr, dass die Familie nicht schon bald eine neue Bleibe suchen musste! Sie hatte sich Carole anvertraut und gesagt, dass die Vertragsverlängerung mit dem SCB auf wackeligen Beinen stehen könnte, falls die Verletzung nicht komplett verheilt sei. Sophie wollte unbedingt in Bern bleiben, aber das Schicksal von Spielerfrauen war oft nicht vorhersehbar. Sie kannte das aus eigener Erfahrung. Als Harry aktiver Eishockeyprofi gewesen war, musste die Familie oft umziehen. Sie kannte einige Städte in Kanada, den USA, Schweden, Deutschland und jetzt Bern in der Schweiz.

Ihre Gedanken wandernden zurück an die Anfänge. Harry und sie hatten sich in der Eishockeyabteilung der englischsprachigen Universität in Montreal kennengelernt. Schon damals war sie begeistert von Eishockey gewesen. Ihre ganze Familie liebte den schnellen Sport. Ihr Vater hatte in einer Studentenliga gespielt und seine vier Kinder schon von klein auf in Schlittschuhe gesteckt. Sie hatten viele Spiele in verschiedenen Ligen besucht und waren auch ins Stadion der Montreal Canadiens gepilgert, um sich Spiele in der höchsten nordamerikanischen Liga anzusehen, der NHL. Ihre drei Brüder und sie hatten unentwegt gespielt, im Winter auf Eis, im Sommer überall auf Schul- und Vorplätzen. Zum Leidwesen des Vaters war sie, die Drittgeborene, technisch und spielerisch am begabtesten. Die zwei großen Brüder machten ihre Mängel an Fingerspitzengefühl mit Kraft wett. Doch der Vater hatte bald eingesehen, dass es bei beiden nicht für eine Profikarriere reichen würde. Insgeheim war dies sein Wunsch gewesen. Der jüngste und dritte Bruder hingegen schien talentiert zu sein und hatte die Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit des Vaters geerbt. Ihr selbst fiel das Eishockeyspiel leicht, sie war schnell auf den Kufen. Für das Unidamenteam hatte dies locker gereicht und sie hatte einige Saisons erfolgreich als Stürmerin gespielt. Daneben hatte sie ein Psychologiestudium abgeschlossen. Zwischendurch war ihr Harry, der junge, gutaussehende und eishockeybegeisterte Student der Betriebswirtschaft begegnet, der bald Profispieler geworden war.

»Tooor!« Diesmal umarmte sie Valeria Kilchenmann, die exaltierte Freundin des Torhüters Andres Siegenthaler, die links von ihr saß. Sie war zwar nett, aber manchmal ging sie ihr mit ihrer übertriebenen Art ziemlich auf die Nerven. Die Gute schwang ihr neues Louis-Vuitton-Täschchen hoch in die Luft, damit es ja alle sahen. Der SCB hatte bereits das zweite Tor erzielt. Carole freute sich für Harry. Er hatte es nicht leicht gehabt. Lange war es unsicher gewesen, ob sein Jahresvertrag verlängert würde. Die zweite Saison war jetzt bestätigt. Wenn in der Meisterschaft alles gut ging, würden sie zwei weitere Jahre in Bern bleiben können. Freudig beobachtete Carole, wie sich die Spieler auf dem Eis umarmten, die Helme aneinanderschlugen und sich über das Tor freuten. Genau so durfte es weitergehen.

In der ersten Pause streifte Carole sofort nach der Pausensirene durch das Stadion. Das war eines ihrer eigenen Rituale. Zunächst lief sie an der Pressetribüne vorbei. Dort hielt sich eine beachtliche Anzahl von Journalisten auf. Fast alle starrten in kleine Computer oder Tablets, die sie vor sich auf den Tischen hatten. Einzelne Gesichter kannte sie vom letzten Jahr, zum Beispiel den sympathischen Radiojournalisten, der im Lokalradio live über die Spiele berichtete. Und natürlich den bekanntesten Eishockeyspezialisten der Schweiz, der seit Jahrzehnten über den Eishockeysport in Printmedien schrieb. Er hieß Jean-Pierre Cornati, aber alle nannten ihn kurz »Schämpu« und er wurde ebenso verehrt wie gefürchtet. Harry hatte letztes Jahr ziemlich oft seine spitze Feder zu spüren bekommen. Der Mann musste ein weitverzweigtes Netzwerk in Europa und Nordamerika aufgebaut haben, denn er wusste bestens Bescheid, auch hinter den Kulissen, und seine Berichte brachten meistens Bewegung in die Eishockeyszene. Er war der wohl am meisten beachtete Journalist der ganzen Liga, denn die Clubverantwortlichen waren auf ihn angewiesen. Sein Wort zählte wie sonst keines. Cornati war gerade in ein angeregtes Gespräch mit Fabian Schneeberger, dem Sportchef des SCB, verwickelt, sodass Carole an beiden vorbeischleichen konnte, ohne gesehen zu werden.

Sie drückte sich weiter durch die Menge. Weil das Stadion restlos ausverkauft war, gab es sehr viele Leute, die zu den verschiedenen Restaurants und Verpflegungsständen unterwegs waren oder einfach herumstanden und diskutierten. Carole genoss die Atmosphäre. Im Ganzen fasste das Stadion 17.031 Zuschauende und im Schnitt besuchten über 16.000 Personen die Meisterschaftsspiele, was europaweit ein Rekord war. Carole gefiel es hier im unteren Sitzplatzbereich viel besser als auf der VIP-Tribüne einen Rang weiter oben mit all den Sponsoren, Reichen und besseren Geschäftsleuten. Hier konnte sie durch die dichten Massen streifen, ohne dass sie gleich jeder erkannte. Sie hatte es geschafft bis zur Bar des Arena-Restaurants vorzustoßen, wo sie sich einen Kaffee genehmigte. Dann war es höchste Zeit, an ihren Platz zurückzukehren, denn das zweite Drittel begann bald.

Valeria zupfte sie aufgeregt am Ärmel und zeigte ihre frisch manikürten Fingernägel in hellrot. »Schau, Carole, Ryan beginnt in der Startformation für das zweite Drittel. Ich finde ihn toll, er ist nett und sieht extrem gut aus. Und diese dunklen Locken! Vor zwei Wochen war er bei uns zu Besuch.«

Jaja, dachte Carole, betrachtete ihren abgesplitterten Nagel am Zeigefinger und ließ sie schwatzen. Kein Wunder, dass Valeria für Ryans Lockenpracht schwärmte. Ihr Freund Siegenthaler neigte schon gefährlich zu einer Halbglatze, was unter der Goalie-Maske wenigstens auf dem Eis nicht zu sehen war. Wenn Valeria wüsste, dass Ryan sich überhaupt nicht für Modepüppchen interessierte …

Mit dem Dröhnen der Pausensirene schloss das zweite Drittel. Carole hatte das Geschehen auf dem Eis intensiv verfolgt und war ganz zufrieden mit dem Gebotenen. Der SCB führte mit 4 : 1. Sie versuchte, einen Blick auf Harry zu erhaschen, doch ihr Mann stürmte wie immer als Erster in die Katakomben des Stadions. Harry war heute den ganzen Tag sehr angespannt gewesen. Klar, zu Beginn der neuen Saison gehörte das dazu. Aber irgendetwas hatte Carole irritiert, sie spürte, dass Harry noch mehr unter Druck stand als sonst. Letztes Jahr hatte er im Sinne eines »Troubleshooters« begonnen. Fünf Wochen nach Saisonbeginn hatte die Führung des SCB Harrys Vorgänger fristlos entlassen und Harry war zunächst für den Rest der Saison eingesprungen. Das entsprach ganz seinem Naturell. Wo Not am Mann war und es schnelle Entscheidungen brauchte, blühte Harry auf. Carole erinnerte sich gut daran, wie sie in Montreal zu Hause gemütlich beim Frühstück gesessen hatten, als Harrys Agent anrief. Ob er nicht Lust habe, einen Trainerposten in Europa anzunehmen, genauer in der Schweiz. Harry hatte einfach zugesagt. An die Debatte mit ihm am Frühstückstisch wollte sie lieber nicht mehr genau zurückdenken. War das die Auszeit gewesen, die sie zusammen genießen wollten? Harry war im Anschluss sofort nach Bern gereist und sie hatte sich damit abzufinden gehabt, dass erneut ein Umzug geplant und durchgeführt werden musste. Das war sie einerseits gewohnt und andererseits gab es viel weniger zu tun, da die Kinder nicht mitkamen und inzwischen ihr eigenes Leben führten. Harry nicht zu folgen kam für Carole gar nicht infrage, sie hatte sich für dieses Leben entschieden und wollte sich voll darauf einlassen. Selbst wenn die Ehe mit Harry nicht immer einfach war und sie sich in den letzten Jahren mehr Zeit und Zweisamkeit mit ihm gewünscht hätte, hatte sie ihre Beziehung nie angezweifelt. Außerdem hatte sie selbst begonnen, eine Kindermannschaft zu trainieren, als ihr jüngstes Kind auf die Highschool gekommen war. Dort konnte sie umsetzen, was sie in ihrer Trainerausbildung gelernt hatte. Harry hatte sie immer dazu ermuntert. Parallel zur Kindererziehung hatte sie das kanadische Trainerdiplom erworben. Fast niemand wusste davon. Einen großen Teil hatte sie über ein Fernstudium absolvieren können, die praktischen Inhalte jeweils dort, wo Harry gearbeitet hatte. Als sie es endlich geschafft hatte, war sie sehr stolz gewesen. Sie hatte an verschiedenen Orten Kindermannschaften gecoacht und erste Erfahrungen gesammelt. Nachdem Harry die Mannschaft der Ottawa Senators übernommen hatte, fand sie einen Agenten, der sie an ein ambitioniertes Junioren-Schulteam vermittelte. Das hatte ihr große Freude bereitet und sie war mit ihrem Team ziemlich erfolgreich gewesen. Nach drei Jahren war Harrys Vertrag nicht verlängert worden und sie hatten gemeinsam beschlossen, sich eine Auszeit zu gönnen.

Valeria stupste Carole an der Schulter und fragte, ob sie nicht mit ihr etwas trinken wolle. Sie willigte ein, Mitfiebern gab Durst. Die beiden machten sich auf den Weg ins Arena-Restaurant. Unvermittelt schrie Valeria geziert auf und winkte wie verrückt. Etwas weiter vorn stand Sibille, die Frau von Luc Marti, dem CEO des SCB. Der CEO war verantwortlich für das gesamte operative Geschäft des Clubs und damit Harrys oberster Chef.

Carole lächelte erfreut, Sibille war im Gegensatz zu ihr und den Spielerfrauen nicht immer in der Arena anzutreffen. Trotzdem war sie bei ihnen sehr beliebt. Carole mochte ihre extrovertierte und unkomplizierte Art. Sie hatten sich bald nach ihrer Ankunft in Bern kennengelernt, nachdem Carole eine der Juniorenmannschaften des SCB übernommen hatte. Dank ihrer Ausbildung und Erfahrung hatte sie der SCB sofort für die Moskitos engagiert, die Juniorinnen und Junioren zwischen zehn und zwölf. Natürlich für ein Butterbrot, doch stand der Lohn für Carole nicht im Vordergrund. Deutsch hatte sie schon in Deutschland gelernt. Der Umgang mit den Kindern war dadurch ziemlich unkompliziert, außer dass sie manchmal berndeutsche Mundartausdrücke nicht sofort verstand. Eine Mutter hatte auf ihre Frage, ob es ihrem Sohn im Training gefalle, mit »Äuä de scho« geantwortet. Was in Bern so viel bedeutete wie »Ja, klar!«. Sibilles Sohn Dennis wurde eines ihrer Trainingskinder. Nach dem ersten Training hatte Sibille Carole spontan zu sich nach Hause eingeladen. Sie hatte ihr sehr geholfen, sich in Bern einzuleben, und sie trafen sich oft in der Freizeit.

Als Sibille sie jetzt entdeckte, umarmte sie Valeria und Carole fröhlich. Dabei zwitscherte sie: »Hallo, meine Schätzli!« Sie erklärte ihnen, dass sie sich aufgerafft habe, Luc und Dennis zum ersten Spiel zu begleiten. Mittlerweile sei es ihr in der Loge zu langweilig geworden. Sie lud die beiden zu einem »Cüpli«, einem Glas Prosecco, an der Bar des Arena-Restaurants ein und folgte ihnen danach zu den Plätzen der Spielerfrauen, kurz bevor das dritte Drittel begann.

Der SCB hatte das Spiel im Griff. Zwar erzielte der Gegner kurz nach Beginn des Drittels ein Tor, aber das rüttelte die Spieler auf und in der Folge konnte die Berner Mannschaft drei weitere schnelle Tore erzielen. Damit war das Spiel gelaufen. Carole sah die Erleichterung auf der Spielerbank. Harry war sichtlich weniger gestresst. Er konnte in Ruhe Anweisungen erteilen und die vierte Linie, die mehrheitlich aus jüngeren Spielern bestand, die sich noch entwickeln und beweisen mussten, bekam mehr Eiszeit.

Niels Schneckenburger, Harrys Assistenztrainer, sah weniger bleich aus als zuvor. Niels war ein eigenartiger Typ. Ständig getrieben davon, Harry alles recht zu machen, wirkte er oft fahrig und auf eine besondere Art kompliziert. Carole konnte nicht sagen, dass ihr Niels besonders sympathisch war. Aber solange Harry mit ihm zufrieden war, spielte das keine Rolle. Während der letzten Saison hatte er sich als eine treue Stütze für Harry erwiesen. Er hatte schon von klein auf für den SCB gespielt, war mit allen wichtigen Personen im Club und in der schweizerischen Eishockeyszene vernetzt, kannte alle und jeden. Das war für Harry äußerst wichtig gewesen, denn auf diese Weise hatte er es geschafft, sich schnell und effizient in sein Umfeld einzuarbeiten und seine Trainerarbeit aufzubauen. Niels war in jungen Jahren ein Spieler der ersten Mannschaft des SCB gewesen, der bei den Fans wegen seiner ungestümen Art sehr beliebt war, ein sogenanntes »Enfant terrible«. Zwei Saisons hatte er in Lugano im Südtessin gespielt, danach war er zum SCB zurückgekehrt. Für keine Provokation und keine Prügelei war er sich zu schade gewesen. Mit seiner impulsiven Spielweise hatte er oft ein bereits verloren geglaubtes Spiel wenden können. Seine Checks waren legendär und hatten bei den Gegnern für viel Verunsicherung gesorgt. Manchmal uferte diese impulsive Art aus. Nach seiner Karriere, die er wegen eines Hüftleidens hatte relativ früh beenden müssen, war er voll abgestürzt. Alkohol, Drogen und andere Exzesse hatten sein Leben bestimmt. Wüste Frauengeschichten wurden durch die Presse gezogen und es hätte sehr schlecht für Niels enden können, wenn nicht der damalige CEO des SCB sich seiner angenommen hätte. Er kam in einen harten Entzug und durfte sich danach um eine Juniorenmannschaft des SCB kümmern. Daraufhin hatte er in der Schweiz die klassische Trainerausbildung absolviert und war seit vielen Jahren im Staff des SCB. Vor drei Jahren war er von seinem zweiten Abstecher aus Lugano zurückgekehrt. Die zwei Jahre dort als Assistenztrainer hatten ihm zwar gefallen, aber er blieb Berner durch und durch. Der SCB war sein ganzes Leben und er verdankte ihm sehr viel. Carole fand, dass es Niels an einer gewissen Spur Humor und Empathie für seine Spieler fehlte, um ein großer Trainer zu werden. Sie hatte ihn während der Trainingseinheiten im letzten Jahr oft beobachtet. Er war ein harter Bursche ohne Gespür für Zwischentöne und Carole bezweifelte, dass er jemals ein guter und erfolgreicher Headcoach werden würde. Das konnte ihr egal sein, wichtig war, dass er zum jetzigen Zeitpunkt loyal zu Harry stand. Ein erster Erfolg würde dies bestätigen.

Der Schlusspfiff ertönte, das Spiel war 7 : 2 gewonnen und alle um Carole herum freuten sich über den gelungenen Saisoneinstand. Ryan hatte drei Tore erzielt und würde beim nächsten Spiel ein spezielles Trikot tragen dürfen. Der Spieler jeder Mannschaft in der obersten Liga, der in der Summe die meisten Tore geschossen und vorbereitet hatte, bekam das Topscorer-Trikot und dazu seinen persönlichen gelben Helm mit roten Flammen. Damit war für alle im Spiel ersichtlich, dass er die meisten Scorerpunkte erzielt hat. Ein Sponsor bezahlte dafür Geld und unterstützte mit einem beachtlichen Betrag die Eishockeyjunioren in der Schweiz. Als Juniorentrainerin hielt Carole das für eine gute Sache und gönnte Ryan diese besondere Ehre. Er war wirklich ein ausgezeichneter Flügelstürmer und auf dem besten Weg, ein Superstar und Publikumsliebling zu werden. Die Menge feierte ihn laut und ausgiebig. Die Spieler des SCB jubelten gemeinsam mit ihren treuen Fans und genossen den Ausklang des ersten Spiels in der Arena sichtlich.

Zweites Kapitel

Mittwoch, 21.10., frühabends, in der Trainingshalle der Arena

Carole war in der Trainingshalle des SCB. Diese moderne Eishalle befand sich ebenfalls in der Arena, etwas unterhalb des eigentlichen Eisstadions und war direkt mit den Katakomben verbunden. Dort leitete sie am frühen Abend das Mittwochstraining ihrer Jugendmannschaft. Die Kinder waren voll bei der Sache und ein munteres Auf und Ab mit vielen Pucks und Pässen war auf dem Eis zu sehen. Bei den Moskitos wurde bereits auf dem ganzen Eisfeld gespielt. Es ging darum, alle Eishockeyregeln zu beherrschen und zu lernen, den Körper im Spiel einzusetzen. Carole liebte es, mit den Kindern zu arbeiten und sie Übungen ausführen zu lassen. Die Jungs und Mädchen in diesem Alter waren sehr lernfähig und freuten sich, wenn man auf sie einging. Besonders Dennis, Sibilles elfjähriger Sohn, hatte sich heute große Mühe gegeben, alle Übungen perfekt durchgeführt und seine Mitspielerinnen und -spieler motiviert, gut mitzumachen. Zum Schluss wurde immer ein Spiel fünf gegen fünf gespielt, mit wechselnden Linien. Dennis hatte gerade ein Tor geschossen und jubelte freudig über das Eisfeld. Carole war sehr zufrieden mit ihm. Die anderen Kinder zogen ebenfalls super mit. Es war eine wahre Freude, mit ihnen zu arbeiten, und es gab Carole innere Befriedigung und Erfüllung. In fünf Minuten würde sie das Training für heute beenden.

Harry und die erste Mannschaft hatten parallel zu ihrem Juniorentraining nebenan in der großen Stadionhalle eine Eiszeit laufen. Carole sah auf die Uhr, wahrscheinlich war das Training der ersten Mannschaft schon vorbei. Sie hatte Harry gefragt, ob sie danach nicht zusammen nach Hause fahren und dort einen gemütlichen Abend verbringen wollten. Harry hatte geantwortet, dass er leider einen auswärtigen Termin mit dem Präsidenten des kanadischen Eishockeyverbands habe. Dieser sei extra aus Kanada gekommen, um mit den verschiedenen kanadischen Trainern in Europa zu sprechen. Carole erinnerte sich an den grau melierten Herrn aus der Zeitung, Josh Campbell, der die Fäden im kanadischen Eishockeyverband zog. Ob es vielleicht um die jährliche Bildung des »Team Canada« ging, das in der Altjahreswoche in Davos beim Spengler Cup mitspielte, dem bekannten und traditionsreichen Eishockeyturnier? Bei diesem Treffen wollte Carole natürlich nicht stören. Etwas traurig war sie schon. In letzter Zeit hatte ihr Harry sehr wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht und sie fühlte sich, gerade was ihre Ehe anging, vernachlässigt. Was sollte sie mit dem freien Abend anstellen?

»Carole, Schätzli, wie geht es dir?« Sibille stand freudestrahlend neben ihr und umarmte sie.

Lachend erwiderte Carole die Umarmung und antwortete, es gehe ihr sehr gut. Die Kinder seien toll und hätten sich wunderbar weiterentwickelt.

Sibille beobachtete ihren Sohn, der in diesem Moment ein weiteres Tor geschossen hatte, und meinte zu Carole, dass Dennis große Fortschritte mache und sehr gern in ihr Training komme. Ihr ginge es gut, sie sei froh, dass der SCB im Moment hervorragend in der Tabelle stehe und die meisten bisherigen Spiele gewonnen habe. Dann sei Luc immer besonders gut gelaunt und zu Hause laufe es besser, als wenn er gestresst sei. Es sei ja nicht selbstverständlich, gut in die neue Saison zu starten. »Letztes Jahr um diese Zeit, bevor ihr gekommen seid, war hier das Chaos«, sagte Sibille.

»Kommst du Dennis abholen?«, erkundigte sich Carole.

»Ja, und dann hab ich mich mit Paula verabredet. Sie holt Bent ab.«

In dem Moment kam Paula auf die beiden zu, im Schlepptau ihren Mann, Chris Shine, den kanadischen dritten Center des SCB. Bent, der neun Jahre alt war und das Talent seines Vaters geerbt hatte, konnte gut mit den Größeren mithalten und war allen schlittschuhläuferisch klar überlegen. Deshalb durfte er bereits mit den älteren Moskitos bei Carole trainieren. Da Chris hier auftauchte, um seinen Sohn abzuholen, musste das Training der ersten Mannschaft bereits beendet sein.

»Hallo zusammen, wie geht es euch?«, fragte Paula.

Während sich alle freudig begrüßten, sah Carole aus dem Augenwinkel, dass Ryan weiter hinten das muntere Treiben auf dem Eis beobachtete. Was hat der hier zu suchen?, dachte sie, er wird garantiert kein Kind abholen. Sie beendete das Training mit drei langen Schlusspfiffen und alle Kinder strömten vom Eisfeld direkt auf sie und die anderen Erwachsenen zu.

Die Kinder lachten und erzählten ihren Eltern vom Training. Paula musste Bent trösten, da Dennis ihn mit seiner neu erlernten Englischvokabel »bad« damit aufzog, dass er heute schlecht gewesen sei. Wütend beklagte sich Bent bei seinem Vater, weil er heute im Schlussmatch kein Tor erzielt habe.

Carole sah, dass Ryan von hinten zu ihr herschaute. Ihr wurde etwas komisch zumute. »Tschüss, Kinder, das Training ist für heute beendet. Wir sehen uns bald. Genießt den Abend!«, rief sie.

»Carole, kann ich kurz mit dir sprechen?«, vernahm sie von hinten eine leise Stimme. Ryan stand direkt vor ihr.

»Ja, natürlich«, sagte sie. »Warte in den Katakomben auf mich, ich muss mich bloß umziehen.« Im allgemeinen Gewusel sah sie, wie Sibille, Paula, Chris und die anderen ihr zuwinkten und die Kinder zur Garderobe begleiteten.

Carole hatte, da sie die einzige Trainerin war, eine kleine fensterlose Garderobe mit Einzeldusche für sich allein in den hinteren Katakomben, die früher als Sanitätszimmer genutzt worden war. Sie nannte sie ihr »Kabäuschen«. Dort hatte sie sich ein kleines Büro eingerichtet und konnte in Ruhe ihre Trainingsstunden vorbereiten oder über ihren Computer nach Kanada telefonieren. Sie duschte und zog sich um. Währenddessen fragte sie sich ständig, was Ryan wohl mit ihr besprechen wollte. Da hörte sie ein Klopfen an der Tür. Sie öffnete und er stand vor ihr.

»Sorry, sorry, Carole, es ist vertraulich, darf ich reinkommen? Es hat mich niemand gesehen. Alle sind schon weg.«

»Ja, bitte«, sagte Carole.

Ryan trat ein, schloss die Tür und ging vorsichtig auf sie zu. »Wegen neulich …«, begann er. Da stand er, in seiner ganzen männlichen Pracht, mittelgroß, mit Jeanshose, farbigen Turnschuhen, lockerem hellblauem Hemd über seinem athletischen Oberkörper, mit seinen wundervollen dunklen Locken, seinem spitzbübischen Gesichtsausdruck und seinen tiefgründigen dunklen Augen. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden und starrte ihn an. »Schau mich nicht so an!«, sagte er rau.

»Weshalb denn?«, antwortete Carole. Sie konnte erst recht nicht wegschauen, er war ein Eros und er erregte sie. Sie konnte nichts dagegen tun.

Er machte einen Schritt auf sie zu, ergriff ihre Hände und sagte: »Deshalb.« Er zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Carole erwiderte seinen Kuss, ohne nachzudenken.

»Komm«, sagte er warm, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. »Ich kenne einen Ort, an dem wir entspannen können.« Er hatte ihre Hand nicht losgelassen und zog sie aus ihrem Garderobengang durch die Katakomben am Eingang zur Trainingshalle vorbei in Richtung Stadioneisfläche. Es brannte nur die Notbeleuchtung. Abrupt blieb er stehen und holte einen Schlüssel heraus. Sie standen vor der Garderobe der ersten Mannschaft! Das war verbotenes Gelände für jeden, und vor allem jede, die nicht zur ersten Mannschaft oder zum allerengsten Staff gehörten. Ryan öffnete die Tür, führte sie hinein und schloss ab.

Beeindruckt sah sie sich um.

»Komm, es ist niemand da. Wir machen es uns jetzt gemütlich.«

Vorbei an modernsten Fitnessgeräten betraten sie die eigentliche »heilige Halle«. In der Mitte des großen Raumes stand ein Tisch. An den Wänden, dicht an dicht in einer Art offenem Garderobenabteil mit Kleiderhaken, hatte jeder Spieler seinen eigenen Sitzplatz mit seiner Ausrüstung und persönlichen Sachen. Alles war fein säuberlich beschriftet und mit Name, dem SCB-Logo und der Spielernummer versehen, vom eigenen Bodenteppich bis zu den Schlittschuhen, die von der Decke hingen. Trotz der luxuriösen Ausstattung roch es hier nicht anders als in jeder anderen Hockeygarderobe. Na ja, vielleicht ein bisschen edler! Tief sog sie den vertrauten Geruch nach Ausrüstung und Ausdünstung ein.

Manchmal haftete Harry ein Hauch dieses Geruchs an, wenn er nach dem Training oder nach dem Spiel nach Hause kam. Harry? Was tat sie? Aus mehreren Gründen hatte sie hier nichts zu suchen. Sie spürte immer noch Ryans Hand in ihrer.

»Dort hinten rechts ist mein Platz, meine 78.« Er setzte sich hin und hob sie auf seinen Schoß. Sie küssten sich hemmungslos. Carole vergass alles rund um sich, da waren nur Ryan und seine wundervollen Lippen. Gefühlte 100 Stunden später zog er Carole in den hinteren Nassbereich. Dieser war riesig und in verschiedenen Farben gefliest. Duschen, Lavabos, Spiegel und verschiedene Kalt- und Warmwasserbecken reihten sich aneinander. In einer Ecke befand sich ein Whirlpool, in dem etwa sechs Personen Platz hatten. Ryan drückte einen Knopf und gurgelnd begann das Wasser einzulaufen. Ganz langsam wandte er sich ihr zu, strich ihr übers Haar und hauchte: »Du bist schön.«

Er öffnete ihre Blusenknöpfe, ihre Hose. Sie half ihm ebenso, sich aus der Kleidung zu schälen. Die Wanne war voll, das Wasser warf leichte Blasen. Sie ließen sich in den Pool gleiten. Carole genoss das prickelnde Gefühl des Wassers. Ryans Hände waren nicht weniger aufregend.

»Schau«, lachte er spitzbübisch wie ein kleiner Junge. »Es gibt eine Unterwasserlichtshow.«

Von allen Seiten kam rotes, blaues, gelbes und grünes Licht durch das Blubberwasser geschossen, die Außenbeleuchtung wurde gedimmt.

»Toll«, stöhnte sie. Dann küssten sie sich und versanken im Pool. Es war himmlisch. Eng umschlungen tauchten sie an die Wasseroberfläche, wo sie sich Luft schnappend anschauten. »Schau mich nicht so an«, wiederholte Ryan.

»Doch«, entgegnete Carole und zog ihn mit sich in eine unendliche Welle der Leidenschaft.

Sie lagen in der Wanne, nebeneinander, ohne Blasen im Wasser, und hielten sich an der Hand, rangen befriedigt nach Luft. Carole brachte kein Wort hervor. Sie war überwältigt von dieser sinnlichen Erfahrung. Ihr Hirn war leer und sie wollte nicht daran denken, wie es weitergehen sollte. Sie wünschte sich nur, diesen Augenblick in Ruhe zu genießen.

Ein grauenhafter Schrei klang von weither, aber noch klar als Schrei erkennbar.

»Hörst du das?«, fragte Ryan.

Ein weiterer, zwei, mehrere, dann ein unverkennbares und wiederkehrendes »Hilfe!«.

»Was ist das?« Entsetzen wuchs in Carole.

»Wir müssen nachschauen«, meinte Ryan. Schon war er aus dem Wasser, hatte ein Handtuch für sich geschnappt, warf Carole ein anderes hin und begann, sich abzutrocknen und anzuziehen.

Geschockt machte Carole es ihm nach. Wo war das verfluchte Genießen geblieben? Sie musste unbedingt schauen, dass sie alle ihre Klamotten fand und ein einigermaßen passables Bild abgab. Niemand durfte jemals erfahren, dass sie hier unten mit Ryan im Allerheiligsten der ersten Mannschaft des SCB gewesen war.

»Komm, beeil dich«, drängte er.

Sie hörten die verzweifelten Hilferufe im Hintergrund und rannten in Richtung Tür. Während Ryan sie öffnete, das Licht ausmachte und wieder abschloss, bat Carole ihn, absolutes Stillschweigen über das soeben Gewesene zu halten, was immer jetzt geschehe. »Versprichst du mir das?«

»Natürlich!«, versicherte er. »Los jetzt, jemand braucht unsere Hilfe.«

Die Rufe wurden immer lauter. »Es kommt von links oben, bei den Pressesitzplätzen.«

Sie stürzten zur Spielerbank des Gegners. Carole sah eine völlig aufgelöste Frau, die sich im Gang an einem Tischchen der Presseplätze festhielt und um Hilfe rief. Sonst war niemand da.

»Hallo, hallo!«, rief Ryan von unten. »Was ist passiert?«

Die Frau reagierte nicht.

»Sie steht unter Schock. Ich klettere über die Spielerbank zu ihr und du kommst von oben übers Restaurant. Okay?«, schlug Ryan vor.

Carole schaute nochmals zur verängstigten Frau. »Ryan, ich glaube, es ist Frau Berisha, eine der Reinigungsfrauen, die im Restaurant und oben putzt. Versuch, sie zu beruhigen. Ich komme, so schnell ich kann.«

Sie trennten sich. Carole erhaschte einen letzten Blick auf Ryan, der mit einem Hechtsprung die Mauer erklomm. Dann rannte sie zurück zum Treppenhaus, das weiter oben zu den Logen führte. Mit fahrigen Fingern öffnete sie das Schloss, drückte die Tür auf und rannte den Gang entlang, der weiter hinten zu den Toiletten führte und schließlich ins Arena-Restaurant. Alle Tische waren verlassen und es brannte nur die Notbeleuchtung. Bevor sie die erste Tür erreichte, die nach draußen in den äußeren Ring des Sitzplatzbereiches führte, stolperte sie fast über einen verlassenen Putzwagen, der den Weg versperrte. Er stand direkt vor dem Eingang zum Medienraum der Presseleute. Die Tür war nur angelehnt, innen brannte jedoch volles Licht. Carole fand das eigenartig. Leise schob sie den Putzwagen auf die Seite und schlich sich an. Sie schob die Tür vorsichtig auf. Warum brannte hier drinnen das Licht? Es war überhaupt niemand da, der Putzwagen befand sich davor. Was hatte die Reinigungsfrau erschreckt?

Carole blickte mit ungutem Gefühl in den Raum. Das Blut gerann ihr in den Adern und sie hielt den Atem an. Auf dem Boden lag eine Person. Regungslos. Das durfte nicht wahr sein. Jetzt war ihr klar, warum die arme Frau Berisha geschrien hatte. Langsam betrat Carole den Raum. Der Mensch lag auf dem Bauch, alle Viere von sich gestreckt. Es war ein Mann von mittlerer Statur mit Vollglatze, sein Gesicht war nicht zu erkennen, dafür war rund um seinen Kopf eine riesige Blutlache zu sehen. Eine Pilotenbrille schwamm darin. Entsetzt ging Carole auf die Person zu, ohne etwas zu berühren, oder irgendwo anzustoßen. Sie beugte sich nach unten und berührte das Handgelenk des Mannes. Die Haut fühlte sich kühl an. Sie versuchte, einen Puls zu erspüren, da war nichts. War der Mann tot? Was sollte sie tun? Sie näherte sich dem Kopf des Mannes, an dessen Seite eine hässliche Wunde klaffte und sah von der anderen Seite sein Halbprofil. Sein Bart war graumeliert, er war nicht mehr ganz jung und seine Augen starrten ins Leere! Um Gottes willen, das war Schämpu Cornati, der berühmte Eishockeyjournalist!

Was konnte sie unternehmen? Ryan? Der musste bei Frau Berisha sein. Schnell raffte sie sich auf und rannte nach draußen ins Stadion, bog rechts ab, dann die erste Treppe links, den Sektor neben den Pressesitzen hinunter. Dort stand er in der sechsten Reihe und hielt Frau Berishas Hand. Die Frau aus dem Balkan mittleren Alters mit leichten grauen Strähnen im hochgesteckten Haar saß teilnahmslos auf einem Klappsessel.

»Ryan?«, schrie Carole.

»Wo bleibst du nur solange«, raunte er Carole zu, sodass Frau Berisha es nicht mitbekam. Die Reinigungskraft weinte leise vor sich hin.

»Im Presseraum«, stotterte Carole.

»Was war denn da? Es war nichts aus ihr herauszubringen«, forschte Ryan. »Ich habe einen Krankenwagen kommen lassen.«

»Das ist gut«, entgegnete Carole. »Dort oben liegt Schämpu Cornati tot in einer Blutlache.«

Ryan starrte sie entgeistert an.

Erst jetzt fiel ihr die dämmerige Stimmung im leeren Stadion auf. Es war totenstill bis auf das leise Schluchzen von Frau Berisha. Der Videotron hoch oben warf reflektierende Schatten aufs Eis und es war kalt. »Wir müssen die Polizei benachrichtigen«, stellte Carole fest.

»Gut, mach du das«, bestimmte Ryan. »Du warst in deiner Garderobe, als du die Schreie gehört hast, und bist dann über das Restaurant am Medienraum vorbei hier zu uns hinausgekommen. Ich habe die Schreie im Kraftraum gehört, wo ich trainiert habe, und bin der Reinigungsfrau von unten über die Spielerbank zu Hilfe geeilt. Nachdem du Cornati gesehen hast, bist du zu uns dazugestoßen. Vorher haben wir uns seit deinem Trainingsende nicht gesehen.«

»Ja«, erwiderte Carole erschöpft. »Ich rufe jetzt die Polizei an. Der Krankenwagen wird wohl bald da sein.«