Mein ganzes Leben ist ein Rezept,
mit all seinen Höhen und Tiefen,
von Tag zu Tag.
Pierre Gagnaire, Küchenmeister
Ich nehme den Blick nicht von deinen Händen auf der Krankenhausdecke. Sie sind durchscheinend wie Seidenpapier. Wie Wurzeln, die sich in einem Bachbett verlieren. Dabei weiß ich noch, wie lebendig und eifrig sie früher waren, wenn auch vom Handteller bis zur Kuppe des Zeigefingers ramponiert. Lachend hast du behauptet, du seist der «Meister der Verbrennungen». Zwar hattest du stets ein Geschirrtuch in der Schürze stecken, doch sobald es hektisch wurde, hast du vergessen, es herauszuziehen, und rasch in die Pfanne gegriffen, um mit bloßen Händen die Kalbskoteletts oder Barschfilets umzudrehen. Du hast keinen Mucks von dir gegeben, wenn du dich verbrannt hast, obwohl du die Hände in heißes Öl gehalten oder den Kuchen gleich nach dem Backen aus der Form genommen hast.
Eine Verbrennung verscheucht die vorige, hast du gesagt, den Spruch hattest du von dem alten Bäcker, der dir als Kind beigebracht hat, wie man Brot backt. Und du hast gelacht, wenn ich die Schwielen an deinen Händen berührt habe. Auch habe ich gern mit dem letzten Fingerglied deines Zeigefingers gespielt, das knotig war wie ein Rebstock, und ich bat dich, mir noch einmal zu erzählen, wie es zu dieser Deformierung kam. Du seist damals kaum älter gewesen als ich, hast du erzählt. Du hast am Tisch gesessen, wo deine Mutter den Fleischwolf aufgebaut hatte, um eine Fleischpastete zuzubereiten. Er faszinierte dich, der gusseiserne Apparat, dessen Kurbel du betätigen durftest, während deine Mutter ihn mit Schweinefleischbrocken fütterte. Nur dass du einmal, als sie kurz weg war, deinen Zeigefinger hineingesteckt hast. Zu Fuß musste jemand die große Straße entlanglaufen, um den Arzt zu holen und mit ihm in seiner Pferdekutsche zurückzukommen. Der Onkel Doktor hat deinen Finger untersucht. Damals schickte es sich nicht, einem Arzt Fragen zu stellen. Er trug deinem Vater auf, aus Pappelholz zwei Brettchen zurechtzuschneiden. Du hast die Zähne zusammengebissen, als sie auf deinen Finger gepresst wurden. Anschließend schnitt der Arzt einen Flanellgürtel deines Vaters in Streifen und fixierte sie. Er werde in einem Monat wiederkommen, sagte er.
Als er die Schiene abnahm, war dein Zeigefinger ganz rosa, und das letzte Glied zeigte nach links. Dein Finger sei zwar gerettet, sagte der Doktor, möglicherweise seist du aber wehruntauglich. Dein Vater runzelte die Stirn und erklärte, du werdest deinen Wehrdienst ableisten wie alle anderen auch. Und du hast den Kopf geschüttelt, als du davon erzähltest, und seufzend hinzugefügt: «Wenn er gewusst hätte, dass ich zwanzig Monate in Algerien kämpfen musste.» Dann hast du mit dem Nagel deines verformten Fingers den Topfboden sauber gekratzt und behauptet, er sei äußerst nützlich, um an schwer zugängliche Stellen heranzukommen.
Ich erinnere mich an deinen Zeigefinger auf einem Messerrücken oder einer Teigspritze. Du hast dir immer so viel Mühe gegeben, als müsstest du deine Gesellenprüfung ablegen. Als ich deinen Finger jetzt anhebe, wirkt er leicht und winzig wie der Knochen eines Hähnchens, das aus Käfighaltung stammt. Oft hat es mir in den Fingern gejuckt, an dem verbogenen Glied zu ziehen, um es wieder zu richten. Doch nun packt mich schon bei der Vorstellung das Entsetzen. Nein, das kann ich dir nicht antun. Und selbst wenn du tot wärst, würde ich es nicht machen. Mich verfolgt noch immer eine Geschichte, die wir Kinder uns in der Grundschule erzählt haben. Die Geschichte eines Leichenbestatters. Bei der Totenwäsche hatte der Vater eines Kameraden versucht, das vom Krebs zerfressene Bein des Verstorbenen gerade zu ziehen. Das Bein war dabei gebrochen und der Leichenbestatter sofort gefeuert worden.
Noch einmal streichle ich deine Hände. Wenn sie sich doch bewegen würden, und sei es nur um einen Millimeter. Aber sie fühlen sich an wie die Pfannenwender, die du an die Dunstabzugshaube gehängt hast, nachdem du sie beim Wenden der Kartoffelpuffer den ganzen Abend über hattest tanzen lassen. Ich suche im Nachttisch nach dem Duftwasser, das ich dir zu Weihnachten geschenkt habe. Dem Herrenduft Pour un homme von Caron. «Sie werden sehen, für einen Mann seines Alters ist es genau das Richtige», hatte mir die Verkäuferin im Gare de Lyon versichert.
Am 25. Dezember morgens habe ich dich rasiert, und du hast meine Hand angehalten.
«Was ist das?»
«Ein Parfum.»
«So was hab ich noch nie benutzt.»
Du hast zugelassen, dass ich ein paar Tropfen auf deinen Hals auftrage, und gebrummt: «Ein Koch benutzt kein Duftwasser. Das verdirbt ihm die Nase und die Geschmackszellen.» Misstrauisch hast du daran geschnuppert und gesagt: «Was du nicht alles mit mir anstellst.»
Ich beträufele meine Hände mit dem Duft und massiere vorsichtig deine Finger, deine Handteller.
Vor drei Tagen war ich nach der Abendschicht noch nicht müde. Daher beschloss ich, mit dem Lieferwagen durch die Stadt zu fahren. Ich zündete mir eine Camel an und hörte No Quarter von Led Zeppelin. «Dein Gejaule», hast du es genannt. Die Nacht war kalt, die Straßen menschenleer. Ich überlegte kurz, im Café de la Paix noch ein Bier zu trinken, aber ich wollte dich gern sehen. Rasch bin ich zum Krankenhaus gefahren und habe an der Personaleingangstür zur Palliativstation den Code eingetippt, den Florence, die Nachtschwester, mir gegeben hatte. Der Flur lag in einem orange eingefärbten Halbdunkel. Die Tür zu deinem Zimmer stand offen, und im Schein des Nachtlichts sah ich das seltsame Schattenspiel deiner Hände, die Augen hattest du geschlossen. Du hast die Handflächen aneinandergerieben, als würdest du den Mürbeteig für die Zitronentarte kneten, die auf deiner Dessertkarte stand. Anschließend hast du die Finger gespreizt und sie mit der anderen Hand gekniffen. Hast du versucht, kleine Teigstückchen abzureißen? Ich setzte mich auf die Bettkante, sah dir zu und flüsterte: «Papa, du hast nichts verlernt.» Ich rechnete nicht mit einer Antwort. Ich hoffte nur, dass du mich hörtest. Dann vernahm ich hinter mir leise Schritte, die näher kamen.
«Was macht er da?», flüsterte Florence.
«Er knetet. Zuerst dachte ich, er macht einen Mürbeteig, aber es ist ein Brotteig. Jetzt zupft er sich die Teigreste von den Fingern.»
«Es sieht wunderschön aus.»
«Wann wird er uns verlassen?»
«Das entscheidet er.»
Ich habe immer noch Florence’ Worte im Ohr, die nachts bei dir wacht. Es ist Samstagabend, sie hat heute frei. Ehe du vor drei Wochen ins Koma gefallen bist, habt ihr euch über das Kochen unterhalten. Du hast ihr deine Spezialitäten beschrieben, pochierte Eier mit Pfifferlingen und Vin jaune sowie deine eingekochten Weinbergpfirsiche. Auch mit der Schilderung der Zubereitung deiner Klöße hast du ihr eine große Freude gemacht. Doch du hast den Kopf geschüttelt, als ich behauptet habe, sie würde dich umgarnen, um dir deine Rezepte zu entlocken. «Die kriegt sie nicht und auch niemand sonst», hast du zornig lächelnd wiederholt.
Florence empfindet große Zuneigung für dich. Ich merke, dass ihr deine Einsamkeit nahegeht. Sie verschließt die Augen vor dem Zirkus, den ich seit deiner Einlieferung vor sechs Monaten veranstalte. «Das Zeug ist ungenießbar», hattest du beim ersten Bissen entschieden. Folglich habe ich dir «kleine Häppchen» vorbeigebracht, nach denen du verlangtest. Gewissenhaft breitete ich auf deinem Bett eine rot karierte Tischdecke aus und stellte dir einen Teller mit deinen Wunschspeisen hin: Kartoffelsalat, Sellerie-Remoulade, Schinken im Heumantel, Bratkartoffeln mit Heringsfilets, Pastete im Teigmantel. Und dazu ein großes Stück Käse: einen Comté mit vierundzwanzigmonatiger Reifung, etwas Époisses, ein Stück Saint-Marcellin. Du hattest dir sogar Schnee-Eier gewünscht und mir anschließend vorgeworfen, ich hätte «zu viel Vanille» genommen. In meinem Rucksack hatte ich außerdem ein Fläschchen Wein und ein Rotweinglas hineingeschmuggelt. Du hattest einen roten mit würziger Waldbeerennote geordert.
Am Abend, bevor du ins Koma gefallen bist, habe ich dich gefüttert. Apfelkompott mit einem Hauch von Zimt und Zitrone. Damals sprachst du schon nicht mehr. Seither hast du nichts mehr gegessen. Du wirst mit einem Cocktail aus Midazolam und Skenan, einem Beruhigungsmittel und Morphium, intravenös ernährt. Dabei hast du immer gesagt: «Wenn ich irgendwann erfahre, dass ich es nicht mehr lange mache, geht’s ganz schnell.» Ich hätte nie damit gerechnet, dass du zum Sterben so lange brauchen würdest.
Einmal habe ich Florence gefragt: «Warum kann er nicht loslassen?» Nach einem langen Moment des Schweigens antwortete sie: «Und wenn er Ihnen die Zeit geben will, sich von ihm zu verabschieden?» Der Satz hat mich sehr getroffen, er verfolgt mich noch heute. Manchmal fühle ich mich für dein Koma verantwortlich. Mit meinem Gejammer, meinem Kummer, weil ich zurückbleiben werde, füge ich dir Leid zu und halte dich davon ab zu gehen. Einmal wollte ich dir ins Ohr flüstern: «Papa, geh, wenn du willst», aber ich brachte kein Wort heraus.
Als ich dein Krankenhausnachthemd nach oben schiebe, um dich mit dem Duftwasser einzureiben, bemerke ich deine marmorierte Haut, das Blut scheint sich in deinen Adern zu stauen. Heute Nacht wirst du uns verlassen. Das weiß ich, seit ich am Morgen angefangen habe, die Königinpastete für den Valentinsabend vorzubereiten. Die Stammgäste haben sich das Gericht gewünscht, das du ihnen jedes Jahr am 14. Februar serviert hast. Ich fing mit dem Blätterteig an. Er wird zuerst durchgeschnitten, dann mit dem Nudelholz ausgerollt, bevor man Kreise und Ringe aussticht. Anschließend schichtet man diese aufeinander und bestreicht sie mit Eigelb. Als ich sie aus dem Ofen nehme, bin ich vom Ergebnis enttäuscht: Mein Blätterteig ist nicht genug gegangen. Ich weiß nicht, ob ich ihn länger hätte im Ofen lassen sollen. Wie gern hätte ich dich an meiner Seite gehabt, damit du mir einen Tipp gibst. Ich machte das Fenster auf und zündete mir eine Zigarette an, schlürfte meinen Kaffee in einer Nacht mit beginnendem Raureif. Du würdest nie mehr zurückkehren, um in der Küche mit mir zu schimpfen.
Du hast mir kein einziges Rezept erklärt. Zumindest nicht so, wie man es in der Schule lernt. Es gab keine Notizen, keine Mengenangaben, keine Anweisungen, ich musste mir alles mit Augen und Ohren aneignen. Wenn du zu mir gesagt hast: «Tu Salz dran», fragte ich: «Welches Salz? Wie viel?» Du hast dann die Augen verdreht, meine Fragen gingen dir auf die Nerven. Plötzlich packtest du meine Hand und gabst etwas grobes Salz hinein: «Du tust dir Salz in die hohle Hand, um die Menge abzuschätzen. Das kann doch nicht so schwer sein, in der hohlen Hand lässt sich alles abmessen.» Wenn du von einem «Esslöffel Mehl» gesprochen hast, musste ich erraten, ob es sich um einen gestrichenen oder gehäuften Esslöffel handelte. Auch konnte ich dir nie die Garzeit entlocken. Du sagtest nur: «Du hast ein Messer und Augen, das reicht dicke, um zu wissen, ob etwas fertig ist oder nicht.»
Als ich heute Morgen Krebse im Gemüsesud kochte, habe ich mich von neuem gefragt, wo du das Rezeptbuch versteckt haben könntest. Das Buch ist wie eine Luftblase, die an der Oberfläche meines Gedächtnisses zerplatzt. Manchmal bedarf es nur einer Kleinigkeit, und sie taucht wie im Traum über meinem Herd auf. Neulich habe ich nach einer Idee für die Farce eines Brathähnchens gesucht, als mir einfiel, dass du gerne einen Löffel Frischkäse verwendet hast. Vor mir taucht ein Bild auf: Es ist Sonntag, ihr sitzt beide im Bett, Mama und du, das Kopfkissen im Rücken. Sie hat das Kochbuch auf dem Schoß, kaut auf ihrem Bleistift. Du bist genervt von ihren Fragen und trommelst listig gegen deine Kaffeeschale. «Na, Chef, wird das noch was mit dem Rezept für die Hähnchenfüllung?», fragt sie. Du hasst es, wenn man dich «Chef» nennt. Du versenkst die Nase in deinen Kaffee und brummst: «Du stopfst dem Hähnchen halt einen Löffel Frischkäse in den Arsch.»
Wie oft kam mir diese Szene in den Sinn, wenn ich zögernd vor meinen Töpfen stand? Wie oft habe ich, allein am Herd, im Geiste in deinem Rezeptbuch geblättert? Ich sehe es in Mamas Händen, den Ledereinband, hinter dem ihre Schrift gleichmäßig dahinfließt, um Zutaten, Garzeiten, Kniffe und Geschmacksrichtungen wiederzugeben. Ich, der ich seit jeher Béchamelsoße hasse, hätte mich gern über ein Blatt Papier gebeugt und sie Schritt für Schritt erlernt, anstatt auf all deine Bewegungen zu lauern.
Stattdessen hast du eines Tages in einem Anfall kalter Wut beschlossen, es verschwinden zu lassen.
Heute Nachmittag habe ich Lucien abgeholt, damit er nicht aufs Mofa steigen muss. Deine Krankheit hat ihn altern lassen, und die Arbeit in der Küche fällt ihm zunehmend schwer. Er, der stets aufrecht am Ofen stand, krümmt sich wie eine Weidenrute. Ich habe nie gehört, dass du ihn als Commis bezeichnet hättest. Du sagtest immer «Lulu», «der gute Lulu». Lucien ist eher wortkarg. Trotzdem hat er mich heute Nachmittag im Lieferwagen gefragt: «Wie geht’s ihm?» Ich antwortete: «Unverändert», hatte nicht den Mut, ihm zu gestehen, dass du am Abend sterben würdest. Du bist Lulus ganzes Leben, das weißt du.
Er bindet sich die Schürze um und schlüpft in seine Clogs. Unterzieht die Blätterteigpasteten einem prüfenden Blick. Dann sieht er die Trüffel, die ich kurz vorm Servieren raspeln will. Warum er lächle, frage ich: «Weißt du noch, was der Alte für ein Gesicht gemacht hat, als du seiner Leberpastete Trüffeln beigemischt hast? Er hat gesagt, das sei nicht mehr sein Rezept, du hättest zu viel Geld und würdest es zum Fenster rauswerfen.» Du hast beim Kochen niemals Trüffeln verwendet. «Zu umständlich, zu teuer. Und außerdem erstickt die Trüffel alle anderen Aromen», hast du behauptet. Du hast immer auf Morcheln geschworen. Jene, die es bei Lulu in der Gegend gibt, er hat sie dir körbeweise mitgebracht.
Einmal war ich mir sicher gewesen, es gefunden zu haben, das verfluchte Rezeptbuch. Lulu hielt im Hinterhof ein Nickerchen, du warst unterwegs, um Kirschen für deine Clafoutis zu pflücken. Ich habe die Satteltaschen an Lulus Mofa durchsucht und neben dreckigen Lumpen die Ecke eines Ledereinbands erspäht. Ich wollte ihn gerade herausziehen, als Lulu mich ertappte: «Was suchst du da, Junge?», fragte er ohne jegliche Wut in der Stimme. Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, Lulu anzulügen, ehrlich und bescheiden, wie er war. Daher flüsterte ich: «Ich dachte, ich hätte Papas Rezeptbuch gesehen.» Lulu ermunterte mich, den Inhalt seiner Satteltasche herauszuholen. Das Leder gehörte zu einem alten Schutzumschlag, in dem sorgfältig gefaltete Zeitungsseiten steckten: «Damit wickele ich beim Angeln den Fisch ein. Und auch Gemüse und Pilze», erklärte er mir. Mit hängenden Armen stand ich da. Unfähig, Lucien zu erklären, dass ich ständig an das Rezeptbuch denken musste, seit mein Vater versucht hatte, es im Kohleherd zu verbrennen. Nachdem er seine Satteltasche wieder verschlossen hatte, sagte Lucien sanft: «Vergiss das Buch, dein Alter wird sonst fuchsteufelswild.»
Für Lucien bist du «der Alte», seit ihr als Zwanzigjährige in Algerien gekämpft habt und du sein Unteroffizier warst. Du brauchtest in der Küche nie einen Befehl auszusprechen. Nach allem, was du mir erzählt hast, konnte Lulu damals schon deine Gedanken lesen, wenn du in den Felsen nach einer Grotte suchtest, in der sich die Fellachen versteckt haben könnten. Er sah es dir an, wenn dir eine Soße nicht schmeckte, und hatte immer Butter und Mehl zur Hand, um sie damit zu retten.
Für den Aperitif heute Abend sollte er Käsewindbeutel vorbereiten. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich den ganzen Platz für die Königinpastete brauchte. Außerdem bindet Lucien gern Guillaume ein, den Lehrling, dem er sein Rezept verraten hat. Bei dem Jungen ist er erstaunlich wortgewandt. Er hat ihm gezeigt, wie man die Windbeutel mit einem Esslöffel formt. Ich will mich nicht beschweren, aber so viel Geduld habe ich bei dir nie erlebt.
Bevor die Gäste kamen, haben wir einen kleinen Imbiss zu uns genommen. Lucien und Guillaume haben sich das Fleisch am Gerippe des Masthuhns geteilt, ich habe mir einen Windbeutel genehmigt. Mir war nach einem guten Wein, darum ging ich in den Keller und suchte eine Flasche Beaune Vigne de L’Enfant Jésus aus, die du mir geschenkt hattest. Lucien warf mir einen Blick à la Buster Keaton zu. Ich holte drei schöne Stielgläser. «Probier mal», sagte ich zu Guillaume, «der ist richtig gut.»
Ich wünschte, du hättest gesehen, wie Lucien und ich die Pasteten angerichtet haben. Guillaume hatte die Teller vorgewärmt. Das Fleisch haben wir in die Mitte gegeben, die Klößchen und die Soße neben die Pasteten. Ich habe die Trüffeln geraspelt. Chloé, die junge Aushilfsbedienung, hat sich nicht getraut, die Teller von der Durchreiche zu nehmen. Ich wollte wissen, ob sie ihr zu heiß seien. Überhaupt nicht, war ihre Antwort, meine Pasteten seien einfach zu schön, so etwas habe sie noch nie gesehen, in den Restaurants, in denen sie bisher gearbeitet habe, nahm man industriell gefertigte Pasteten und die Füllung aus der Dose. Ich musste an deine Worte denken: «Hier machen wir alles selbst, sonst kann man nicht von Kochen sprechen.»
Um 21:30 Uhr habe ich Lucien, Guillaume und Chloé den Rest überlassen und bin ins Krankenhaus gefahren. Heute Abend herrscht ein Nebel, den man mit dem Messer schneiden kann. Ich setzte mich im Park auf eine Bank, um noch eine Zigarette zu rauchen. Ich musste an das Oktoberlicht auf den goldenen Blättern denken, während ich dich im Rollstuhl draußen herumgefahren habe. Du hast mich angeraunzt, als ich eine Zigarette angezündet habe: «Hör auf mit dem Mist, du hast doch gesehen, wohin es mich gebracht hat.» Ich habe gefragt, warum du ein Leben lang Gitanes ohne Filter geraucht hast, vom ersten Kaffee in der Küche bis um dreiundzwanzig Uhr, wenn du deinen Edelstahlherd geschrubbt hast. «Sie haben mir geholfen durchzuhalten», hast du geantwortet, und ich wusste, dass ich nicht weiterfragen durfte.
Als ich dein Zimmer betrat, war mir klar, dass es unser letzter gemeinsamer Abend wäre. Ich reibe deine Haut mit Duftwasser ein, versuche das bisschen zu frisieren, was dir an Haaren noch geblieben ist, nachdem dir die Strahlenbehandlung den Kopf verbrannt hat. Ich weiß, dass du meinetwegen in diese letzte Therapie eingewilligt hast in der Hoffnung, dem Tod noch ein paar Wochen abzuringen. Aber ich mache mir Vorwürfe, dass ich dir diese schrecklichen Strahlen im Krankenhauskeller zugemutet habe. Ich berühre deinen Mund, der sich wie trockenes Brot anfühlt. Dann befeuchte ich deine Lippen mit ein paar Tropfen Vigne de l’Enfant Jésus, nehme das Glas von deinem Nachttisch, schenke mir einen kleinen Schluck ein und sage: «Auf dich, Papa.» Den Wein kippe ich in einem Zug hinunter. Ich habe ein flaues Gefühl im Bauch, je schwächer deine Atmung wird.
Ich erinnere mich an den ersten Tropfen Wein, den ich zusammen mit dir getrunken habe. Ich dürfte etwa zehn gewesen sein. Wir waren an einem grauen Sonntagmorgen im Januar nach Corgoloin gefahren. Du warst Stammgast bei einem Winzer, der eine raue Stimme hatte und das «R» rollte. Ihr habt jedes Fass verkostet. Der Winzer redete viel, du gabst nur wenige Worte von dir, nachdem du den Wein in deinem Mund hin und her gerollt hattest. Wir saßen auf einem Hauklotz, du hattest Ziegenkäserondelle mitgebracht und einen Laib selbstgebackenes Brot. Mir hat der Pinot noir zu dem würzigen Käse sehr gut geschmeckt.
Die Uhr an deiner Wand zeigt halb elf. Ich ziehe meine Schuhe und meinen alten braunen Troyer aus, setze mich zu dir auf die Bettkante, schlinge die Arme um dich und sage: «Vorhin hätte man eine Fliege summen hören können, als sie ihre Königinpasteten gefuttert haben. Nur das Klappern der Messer und Gabeln war zu hören, am Ende standen bloß noch die blankgeputzten Teller da. Und du hast recht mit der Trüffel, sie ist überflüssig, außer vielleicht in einem Omelett. Ohne dich hätte meine Kochkunst keine Richtung, keinen Geschmack. Ohne Worte hast du mir Dinge beigebracht. Jetzt kannst du gehen, Papa. Wir hatten ein gutes Leben zusammen, auch wenn es nicht jeden Tag zu sehen war. Ich liebe dich und werde dich immer lieben. So wie ich Mama liebe und immer lieben werde.»
Während eines langen Atemzugs fällt dein Brustkorb in sich zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft gelassen wird. Ich küsse dich und decke dich bis zum Hals zu. Als ich die Tür schließe, flüstere ich der Krankenschwester im Flur zu: «Es ist vorbei.»
Draußen kriecht mir der kalte Nebel unter die Kleider. Ich frage mich, wie es dir in der eisigen Erde ergehen wird. Lucien erwartet mich in der Küche, er liest auf der Arbeitsplatte die Zeitung. Ich wiederhole: «Es ist vorbei», und verteile den restlichen Rotwein auf zwei Gläser. Automatisch ziehe ich die Tischschublade auf. Als könnte ich darin das Rezeptbuch finden, aber dort liegt nur ein Päckchen Papiertaschentücher. Du hast es also mit ins Grab genommen. Die leere Schublade wirkt auf mich, als würdest du ein zweites Mal sterben.
Es ist ein Sonntagmorgen im Winter, ich bin vielleicht fünf Jahre alt. Ein sonniger Tag schickt seine Strahlen durch die Fensterläden. Du kannst dich noch so sehr bemühen, auf Zehenspitzen zu gehen, auf dem Weg hinunter in die Küche knarren die hölzernen Stufen. Du machst den Kohleherd an, stellst den großen Kochtopf in die Spüle und lässt ihn mit Wasser volllaufen, du brauchst immer heißes Wasser, wenn du am Herd stehst. Wir können dir noch so oft sagen, dass es dafür den Wasserkocher gibt, du brauchst Wasser, das auf dem Ofen simmert. «Simmert, nicht kocht», sagst du. «Bei hundert Grad tötet Wasser alles ab.» Dann hört man die Kaffeemühle ächzen. Du verabscheust den Espresso aus der Kaffeemaschine, den die Gäste im Restaurant bekommen. Du brauchst deine «Kasernenbrühe», wie du sie nennst. Eine Mischung als Arabica- und Robustabohnen, die einen verbrannt schmeckenden, säurehaltigen Kaffee ergibt. Du kochst immer eine Menge, die für ein ganzes Regiment reichen würde, eine große Metallkanne voll. Am Rand des Ofens hältst du ihn bis zur letzten Tasse heiß, bis du zum Schlafen nach oben gehst. Außer dir trinkt niemand dieses «starke Gebräu», wie Lucien sagt, während er seinen Tee ziehen lässt.
Als ich den Kaffee im oberen Stockwerk rieche, stehe ich auf. Ich tappe zu eurem Schlafzimmer, um mich zu vergewissern, dass Mama noch schläft. Ich habe eine Heidenangst davor, ihr Bett leer vorzufinden, weil sie ausgezogen ist. Eine seltsame Angst schnürt mir die Kehle zu. Dabei hat sie am Abend zuvor noch gesagt: «Ich hab dich lieb», als ich mich in meinem Bett an sie geklammert habe. Ich muss sie vor dem Einschlafen immer ganz fest an mich drücken. Abends riecht Mama nach Nivea, derselben Creme, die sie mir auf die Lippen schmiert, wenn die Kälte ihnen zugesetzt hat. Du rufst mir vom Schlafzimmer nur «Gute Nacht, Junge» zu. Und gestern Abend hast du hinterhergeschoben: «Backst du morgen mit mir eine Brioche?» Lachend habe ich ja geschrien, woraufhin Mama murmelte: «Mich lässt du morgen aber ausschlafen, du Quälgeist.» Heute Morgen öffne ich vorsichtig die Tür und sehe zwischen der Bettdecke und dem Kissen, in das sie ihren Kopf versenkt hat, eine rotbraune Strähne. Papa pfeift in der Küche vor sich hin.
Als ich bei dir am Herd auftauche, habe ich meinen Teddy im Arm, einen alten, zerschlissenen Plüschbären. «Bist du schon aufgestanden», sagst du und tust wie immer überrascht. «Komm mit deinem Teddy nicht zu dicht ans Feuer, du hast ihm schon ein Ohr versengt. Hast du Hunger?» Ich schüttele den Kopf. Du packst mich bei der Taille und hebst mich auf die Arbeitsplatte. Der Edelstahl an meinem Po ist eiskalt, die Kälte geht durch den Schlafanzug. Vorsichtig übergießt du das Kaffeepulver mit einer Kelle voll Wasser, das du aus dem Kochtopf schöpfst. Ich liebe diese unbekümmerte, konzentrierte Geste. Du schenkst dir schon etwas Kaffee ein, obwohl die Kanne noch nicht voll ist, und lehnst dich neben mir an die Arbeitsplatte. Dann versenkst du die Nase in den Becher, bläst und atmest gleichzeitig ein. Du tastest nach deinem Päckchen Gitanes. Entnimmst ihm eine Zigarette und klopfst sie mehrmals auf den Edelstahl. Du zündest dein Feuerzeug an, indem du es über den Oberschenkel rollst, und nimmst einen langen Zug, der bis in die hintersten Winkel deiner Lungen vordringt. Nur der Kontakt mit deiner warmen Haut lässt mich den bestialischen Tabakgestank mögen, weiß der Himmel, warum.
Du drückst die Zigarette aus und klatschst in die Hände: «Ran an die Brioche!» Du holst einen Hefewürfel aus dem Vorratsraum. Ich darf ihn in eine kleine Schüssel bröseln, in die du schon Milch gegossen hast. Ich schnüffele an der Mischung, der Duft berauscht mich. Er erinnert mich an Mamas süßsäuerlichen Geruch im Sommer. Du lässt neben den Eiern einen Regen aus Mehl niedergehen. Genau wie beim Salz wiegst du nichts ab. Du jonglierst mit dem Löffel, der dir als Messgefäß und als Probierlöffel dient. Ihn hast du immer zur Hand. Wenn du ihn in Bratensaft oder in Rhabarberkompott getaucht hast, spülst du ihn kurz in einem Krug mit Wasser ab, genau wie das übrige Besteck, das du während der größten Hektik benutzt. Rasch trocknest du ihn an deinem Geschirrtuch ab. Du boykottierst die weiße Uniform der Köche und die Kochmütze. Trägst stets blaue Schürzen über einem weißen T-Shirt und einer Jeans, die nackten Füße stecken in Holzpantoffeln mit schwarzem Leder. Manchmal schlägst du mit dem Löffel zwischen zwei Gerichten auf dem Herdrand den Takt und summst dabei ein Lied von Sardou oder Brassens. Sonntags hörst du in der Küche Kassetten. Vor allem Graeme Allwright. Den Text von Jusqu’à la ceinture kennst du auswendig. Mit aufgerissenen Augen brüllst du: «On avait de la flotte jusqu’au cou et le vieux con a dit d’avancer.»*Uns stand das Wasser bis zum Hals, doch der Blödmann schrie nur: Vorwärts Männer! Anschließend sagst du: «Jetzt machst du mir aus dem Mehl einen Haufen, so als wäre es Sand.» Mit großem Vergnügen tauche ich meine Hände in das Mehl, das sich zwischen meinen Fingern wie Seide anfühlt. Ich rutsche zur Seite, schiebe das weiße Puder auf dem Edelstahl zusammen und genieße die Berührung. Genauso sehr liebe ich die Kruste eines Steaks an meinen Fingern, Zwiebelhäutchen, Zimtstangen und die samtene Haut eines Pfirsichs im August.
Wir wohnen in einer Kleinstadt, in der das Meer nur ein ferner Traum ist. In dem Gässchen, das hoch zum Rathausplatz führt, gibt es eine seltsame Höhle, sie scheint direkt in den Felsen gehauen zu sein. Für mich mit meinen fünf Jahren ist der Fischladen ein gruseliges Loch. Der Chef hat den gleichen schrecklichen Mund wie seine Petersfische. Er zieht ständig die Nase hoch und scheint sommers wie winters erkältet zu sein. Wenn er von seinem Weißwein trinkt, den er mit einer Handvoll Nordseekrabben serviert, denkt man, er hätte den Mund voller Steine. Ich klebe am Aquarium, wo mich der Tanz der Forellen hypnotisiert und traurig stimmt. Ich vergieße Tränen über ihren bevorstehenden Tod, wenn ihnen mit dem Holzknüppel eins übergebraten wird. Es ist die gleiche Traurigkeit, die ich bei Mama spüre, wenn ich sie allein in eurem Bett überrasche, wo sie zum Fenster blickt.
Kürzlich lag sie nackt in den zerwühlten Laken. Sie hatte mich nicht kommen sehen und rauchte eine von deinen Gitanes. Im Qualm der Zigarette wirkte sie ganz weit weg. Ich weiß, wann sie in ihre Bücherwelt versunken ist, aber jetzt schien sie mir in einem Anderswo zu sein, in dem weder Papa noch ich Platz hatten. Zum Glück drehte sie sich abrupt um, als ich auf mein Bonbon biss. Schnell zog sie die Bettdecke bis zu den Schultern hoch und lächelte mich an.