King Zeno

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Glyptodont

PAAR IM SCHLAF MIT AXT GETÖTET
Joseph Maggio und seine Frau nachts in Wohnung hinter ihrem Lebensmittelladen erschlagen
BRUDER DES MANNES HÖRTE STÖHNEN NEBENAN

Joseph Maggio, gebürtiger Sizilianer, führte seit sechs Jahren einen kleinen Lebensmittelladen, 4091 Magnolia, Ecke Upperline Street.

Die Räumlichkeiten sind typisch für solche Läden – vorne der Laden, im hinteren Bereich die Zimmer von Maggio und seiner Frau. Eines wurde von Maggios Bruder, einem Friseur, bewohnt.

Der Laden hatte eine kleine und gemischte Kundschaft, halb weiß, halb schwarz. Der Umsatz war nicht groß, aber Maggio und seine Frau konnten davon gut leben.

HATTEN OFFENBAR KEINE FEINDE

Soweit bekannt, hatte das Ehepaar keine Feinde. Beide stammten aus Bauernfamilien und erfüllten sich mit dem Laden den Traum vieler Einwanderer. Sie waren seit fünfzehn Jahren verheiratet. Unter dem Strich ein normales, zufriedenes Paar, das ein langes und friedliches Leben vor sich hatte.

Am Donnerstagmorgen erhielt die Polizei um fünf Uhr dreißig einen Anruf von Andrew Maggio. Er bat sie, sofort

Die Polizeieinheit entdeckte die Leichen des Ehepaars Maggio im Bett. Auf Kehlen und Schädel war mit einer Axt eingeschlagen worden. Schon die Tatsache, dass es ein gutes Dutzend Hiebe waren, obwohl ein oder zwei genügt hätten, beweist die Mordlust. Der Täter wollte offenbar sichergehen …

 

New Orleans States, 24Mai 1918

TERROR: VIER MÄNNER WERDEN OPFER VON BANDITEN; EINER VERLIERT SEINE SCHUHE

Bei drei frühmorgendlichen Überfällen auf insgesamt vier Passanten im Osten von Downtown machte der schwarze Straßenräuber kaum Beute.

Die Opfer der Überfälle: Charles Lowe, Fahrkartenverkäufer in der Union Station; Florin Bodemuller, sechzehn, wohnhaft in 1748 Jackson Avenue; Joseph Tolozzio, Bananenpacker der United Fruit Company; und Richard Boland, Zeitungsverkäufer in der Canal und der Royal Street.

Lowe hatte am Freitagmorgen um zwei Uhr dreißig in einer Bäckerei in der Clio, Ecke Liberty Street zwei Brotlaibe gekauft. Er wartete auf die Straßenbahn, als er von einem Schwarzen mit vorgehaltenem Revolver genötigt wurde, die Hände über den Kopf zu heben. Der Schwarze raubte Lowe dreißig Cent und den blauen Kammgarnmantel.

Bodemuller kehrte um ein Uhr früh vom Tanzen heim, als er an der Jackson Avenue, Ecke Brainard Street von einem Schwarzen mit einem Revolver bedroht wurde. Nachdem

Tolozzio und Boland stiegen Howard Avenue, Ecke Carondelet Street aus der Straßenbahn und sahen sich kurz darauf einem Schwarzen gegenüber, der sie mit vorgehaltenem Revolver zwang, die Hände zu heben. Der Bandit raubte Tolozzio einen Dollar fünfzig und Boland zwanzig Cent in Pennys. Tolozzio und Boland riefen um Hilfe, und der fliehende Straßenräuber feuerte auf sie.

 

The New Orleans Item, 25. Mai 1918

FAHRER EINER BÄCKEREI VON SCHWARZEM STRASSENRÄUBER VERWUNDET

Theodore Blaum, Fahrer einer Bäckerei, in der Nacht von Freitag auf Samstag um zwei Uhr früh durch einen Schuss eines schwarzen Straßenräubers verwundet, liegt im Charity Hospital, sein Zustand ist kritisch. Wie es heißt, sei die Hoffnung auf Genesung gering. Er wurde in die linke Brust getroffen, die Kugel verfehlte das Herz nur knapp.

Blaum verließ eine Gasse auf der Rückseite von 1813 Baronne Street, wo er Brot ausgeliefert hatte, als ohne Vorwarnung auf ihn geschossen wurde. Anschließend, so Blaum, durchwühlte der Schwarze seine Kleider und raubte drei Dollar. Blaum stieg wieder auf seinen Wagen und fuhr zum Krankenhaus. Der Schwarze konnte entkommen.

Einige Stunden zuvor feuerte ein schwarzer Straßenräuber beim Coliseum, in der Nähe der First Street, auf Charlton R. Beattie, US-Staatsanwalt a.D. Dieser blieb

Die Polizei geht davon aus, dass Mr. Beattie und Mr. Blaum Opfer desselben Täters wurden. Die Beschreibungen decken sich. Der Straßenräuber ist etwa fünfundzwanzig, sechzig Kilo schwer und einen Meter siebzig groß. Er trug ein braunes Hemd und eine schwarze Hose.

Mit den Vorfällen des frühen Samstagmorgens sind es nun fünf Raubüberfälle innerhalb von achtundvierzig Stunden. Der Täter war stets ein Schwarzer.

Beattie fügte sich selbst dann nicht, als ihm der Schwarze den Revolver an den Kopf hielt.

«Das mache ich nicht», sagte er, als der Bandit befahl, er solle die Hände über den Kopf heben.

Das Gebrüll des Schwarzen erregte die Aufmerksamkeit von Mr. Baldwin.

«Ich ging auf die Empore, um zu schauen, wer da brüllt», sagte Mr. Baldwin der Polizei, «und erblickte einen Schwarzen, der einem Weißen einen Revolver an den Kopf hielt. Ich schrie den Schwarzen an, der daraufhin die Flucht ergriff, aber noch zwei Schüsse abfeuerte.»

Mr. Blaum ist verheiratet.

 

VERDÄCHTIGER IM AXTMORDFALL AUF FREIEM FUSS
Hält Kreuzverhör durch Polizeichef stand

Andrew Maggio, seit Donnerstag im Zusammenhang mit den Morden an Bruder und Schwägerin inhaftiert, die einen Lebensmittelladen in der Magnolia Street betrieben, wurde am Samstagabend von Superintendent Mooney auf freien Fuß gesetzt.

«Ich bin unschuldig, und es ist entsetzlich, dass mir unterstellt wird, ich hätte meinen Bruder ermordet», meinte Maggio. «Ich sage bei anderer Gelegenheit mehr dazu, heute Abend kann ich nicht darüber sprechen.»

 

New Orleans States, 26. Mai 1918

SECHSTER ÜBERFALL DURCH BEWAFFNETEN BANDITEN KOSTET OPFER FAST DAS LEBEN

Auch am Samstag kam es zu einem Raubüberfall, dem sechsten seit Mittwoch. Täter war in allen Fällen ein Schwarzer, der seine Opfer mit einem Revolver bedrohte.

Neuestes Opfer des Straßenräubers wurde J. E. Ragan, Aufseher der Illinois Central Railroad in der Union Station.

Mr. Ragan war auf dem Heimweg. Gegen dreiundzwanzig Uhr sprang ein Schwarzer an der Ecke Baudin, Rendon Street aus dem Versteck und befahl Ragan, die Hände über den Kopf zu heben. Dieser gehorchte nicht, sondern

POLIZEIEINHEIT AM TATORT

Eine mit Flinten bewaffnete Polizeieinheit unter dem Kommando von Senior Captain Capo durchkämmte das Viertel, leider ergebnislos.

Der Straßenräuber entkam am Samstagabend nicht, ohne ein verräterisches Beweisstück zu hinterlassen. Die Polizei konnte einen dunklen Schlapphut sicherstellen, den Mr. Ragan dem Schwarzen bei dem verzweifelten Versuch entriss, ihn bis zum Eintreffen von Unterstützung festzuhalten.

 

New Orleans Times-Picayune, 26. Mai 1918

STRASSENRÄUBER ERBEUTET KLEIDUNG

Am frühen Sonntagmorgen wurde der Polizei ein weiterer Raubüberfall gemeldet, von einem bewaffneten Schwarzen an einem Weißen begangen. Richard Bray, siebzehn, büßte an der Ecke Banks, Clark Street einen Dollar vierzig und ein Kleiderbündel ein.

Die Personenbeschreibung deckt sich mit der des Schwarzen, der wenige Stunden zuvor J. E. Ragan bedroht und mehrere Schüsse abgefeuert hatte. Der Straßenräuber ließ bei der Flucht wieder den Hut zurück.

Polizisten nannten es Instinkt. Nicht Gespür, Fertigkeit oder Talent – Instinkt. Entweder man besaß ihn, oder man besaß ihn nicht. Die Wahrheit aus einer Lüge zu filtern. In einer überfüllten Straßenbahn den Gauner zu wittern. Eine Mutter zu überreden, den eigenen Sohn zu verraten. Den Kniff zu finden, der einem Mann die Zunge löste. Verdrehung des Handgelenks um dreihundertsechzig Grad? Ein Stoß in die zarte Haut der Kniekehle? Kartoffelsack um den Hals binden? Und vor allem: zu merken, wenn man kaltschnäuzig belogen wurde. Da hatte er massive Defizite. Zumal, wenn die betreffende Person eine Frau war, noch dazu die eigene Frau. Nein, das war ungerecht – Maze hatte ihn nie belogen. Jedenfalls soweit er wusste. Und hätte Maze ihn belogen, dann hätte er das nicht gemerkt, deshalb war es sowieso egal. So funktionierte sein Gehirn nun mal, in geschlossenen Kreisläufen, es stellte sich stets in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage.

Bill verfügte über zwei Fähigkeiten, die jeder Polizist brauchte: eine genaue Beobachtungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Er hatte beide zusammen mit auf den Weg bekommen, sie glichen dem zweiköpfigen Jungen, der mit beiden Mündern grinste. Beobachtung und Gedächtnis, das waren treue, alte Gefährten, die ihn nie im Stich gelassen hatten, wenngleich sie im letzten Jahr eher Fluch als Segen gewesen waren. Neunzehn Minuten waren verstrichen, seit sich Obitz und Dodson von ihm und Charlie Breaux getrennt hatten, und er konnte sich fotografisch genau an jede Person

Die stille Straße war ein Vorwurf, aber was hatte Bill erwartet? Bürgerwehren auf Patrouille? Eine marschierende Kapelle? Die Familien in diesem Viertel, eingeklemmt zwischen dem Massiv namens Irish Channel und dem Strudel namens Storyville, viele kürzlich mit dem Dampfer aus Nestern wie Naples oder Queenstown gekommen, igelten sich nachts ein und überließen die Straßen den Besoffenen, Gaunern und Dieben. An allen größeren Kreuzungen standen elektrische Straßenlaternen, aber die meisten Glühbirnen waren kaputt. Der reine Irrsinn: Die Stadt verpulverte sechs Millionen Dollar für den Bau eines überdimensionierten Kanals, der den Mississippi River mit dem Lake Pontchartrain verbinden sollte, verschlampte aber die Wartung der Straßenlaternen? Andererseits nützten sogar funktionierende Lampen wenig, weil die Blocks sehr lang und über weite Strecken in Finsternis getaucht waren.

Charlies Hinkebein schlurfte über den Kies, eine unbeholfene Perkussion, die den dunklen Häuserreihen ihr Nahen verriet. Schritt-Schlurf, Schritt-Schlurf, Schritt-Schlurf.

«Gefällt mir nicht, Billy», sagte Charlie. «Ist verdächtig.»

«Zu verdächtig.»

Drei Uhr früh. Bill hatte seit der letzten Mütze Schlaf eine ganze Tagesreise hinter sich gebracht. Er war in aller Frühe aufgestanden, um bei einer Veranstaltung im Rathaus, bei der im Rahmen eines Frühstücks für den Kauf von Kriegsanleihen geworben werden sollte, für Sicherheit zu sorgen; mittags wurde er zur Ecke Annunciation, Second Street gerufen, wo eine Sechsjährige vor die Straßenbahn gelaufen war; um siebzehn Uhr, er hatte für die Aufnahme des Mädchens im Charity Hospital gesorgt, sollte er auf der Wache eine Einweisung für eine Streife erhalten, die wegen des schwarzen Straßenräubers für die ganze Nacht angesetzt war. Sie fand mit drei Stunden Verspätung statt, weil Superintendent Mooney mit dem Verhör von Andrew Maggio beschäftigt war, Bruder des abgeschlachteten italienischen Lebensmittelhändlers. Mooney wirkte bei den spektakulärsten Fällen gern federführend mit, und vor dem Raubzug des Straßenräubers war das der Mord am Ehepaar Maggio. Der einzige Verdächtige war Andrew Maggio, ein Friseur, der angab, das Gemetzel mitangehört zu haben, dann aber auf freien Fuß gesetzt werden musste, weil man ihn nicht weichkochen konnte. Mooney wies seine Leute erst gegen einundzwanzig Uhr ein. Bill und Charlie waren jetzt sechs Stunden ohne Ablösung auf Streife.

«Ich bin hundemüde», sagte Charlie. «Meine Füße summen schon.»

«Müde. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das ist. Müde.»

«Das ist, als hätte dein Gehirn höllischen Durst.»

«Mein Gehirn hat längst vergessen, was Müdigkeit ist.»

«Das ist, als würden deine Füße einem Fremden gehören.»

Bill empfand vor allem panische Rastlosigkeit. Er wusste, dass der Verrückte irgendwo lauerte, und deshalb waren seine Sinne aufs Äußerste geschärft. In der quälenden Stille der

Deshalb glich der Schuss einem Donnerschlag.

Noch ein Polizeiinstinkt: auf Schüsse zulaufen. Bill hatte diesen Instinkt nie besessen und sich obendrein oft gefragt, ob es ihn tatsächlich gab, aber seit seiner Rückkehr nach New Orleans sehnte er sich nach einer Feuertaufe, und dies war die erste Gelegenheit. Er folgte Charlie nach Downtown, wo die Schüsse ertönt waren. Ihre Beine flogen auf und ab wie Kolben, grüne Schleimfäden spritzten auf ihre Hosen.

Kurz vor der Calliope Street stießen sie auf zwei Männer, die auf der Treppe eines Shotgun Cottage aufeinanderlagen. Der größere – bestimmt neunzig Kilo schwer und gut einen Meter achtzig groß – mit unnatürlich hochgerecktem Gesäß auf dem anderen. Seine Mütze lag auf dem Boden, der Mond erhellte seine strohblonden Haare und die Messingknöpfe der Uniformjacke. Der kleinere, unter ihm liegende Mann war kaum zu sehen. Bill begriff sofort, dass es Harry Dodson war, der von Teddy Obitz plattgedrückt wurde.

«Runter von mir.» Dodson klang wie ein Ballon, dem die Luft ausging.

Charlie blieb mitten im Gehen stehen, wie ein Automat, der auf einmal keinen Saft mehr hatte. «Bist du das, Harry?»

«Zieht ihn runter

Sie zerrten an den Schultern des Hünen, aber Big Blond rührte sich nicht vom Fleck. Harry ächzte gequält.

«Was is’n los, Big Blond?», fragte Charlie. «Du tust Harry weh.» Der arme Charlie war seit jeher ein Schwachkopf, und wenn er Schiss hatte, verblödete er fast völlig.

«Teddy wurde erschossen, Charlie.»

«Big Blond wurde erschossen?»

Sie nahmen einen neuen Anlauf. Dieses Mal zogen sie an

«Hat’s dich auch erwischt?», wollte Charlie wissen.

Harry schüttelte den Kopf. Er saugte die Nachtluft ein und verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte er sie vor noch mehr Schmutz schützen. «Ist Teddys Blut», sagte er. «Aus dem Bauch.»

«Das war dieser Mistkerl», sagte Bill. «Wo steckt er?»

Harry hustete feucht und schleimig. Er atmete komisch. Er quetschte Laute hervor, die wie «Telefon» klangen.

«Welches Telefon?», fragte Charlie.

«Unten in der Baronne. Richtung Battlefield.»

Mehr musste Charlie nicht hören. Er rannte los – es war ein krummbeiniger, hoppelnder Sprint. Genug Instinkt für zwei.

Angesichts der beiden Kollegen, die auf der Treppe saßen und ihn anglotzten – einer japsend wie ein Fisch auf dem Trockenen, der andere mausetot –, wurde Bill klar, dass er etwas sagen musste, etwas Beruhigendes. Er suchte nach passenden Worten, aber die Gewalt hatte ihn erschüttert. «Ich verspreche …», begann er. «Ich verspreche …»

«Los!», rief Harry.

Charlie war schon fast einen Block weiter. Bill rannte ihm nach, stolperte aber nach den ersten paar Schritten über einen losen Stein und knallte auf das Straßenpflaster. Als er auf die Beine kam, war Charlie verschwunden. Dieser Abschnitt der Baronne hatte keine Lücken – die Häuser standen dichtgedrängt –, und als er die Ecke erreichte, war niemand zu

Fünf Palmenspaliere verliefen quer über die grasbewachsene Plaza vor der Union Station. Elektrische Kugellampen, an schwarzen, hohen Pfosten hängend, umringten das Ganze. Die Palmen warfen Schatten wie lange Finger auf den Rasen. Die Palmenalleen auf der Plaza waren ein naheliegendes Versteck, die Palmwedel glichen riesigen Händen mit gespreizten Fingern, die ein Geheimnis hüteten.

Billy streifte zwischen den Palmen umher, wobei die starren Wedel seine Mütze streiften. Ein scharfer Schmerz durchschoss sein Handgelenk – er hielt den Revolver zu fest. Er nahm die Waffe in die linke Hand und bewegte die rechte, bis die Taubheit verflog. Er sah Teddy Obitz vor sich, auf den Stufen des Cottage liegend und in die Unendlichkeit starrend. Detective Obitz: der klügste Ermittler der Stadt, vor dem Krieg Billys Förderer, treu, gewieft, stark. Wenn ein Mann wie Obitz der Gewalt zum Opfer fiel, dann konnte ihr jeder zum Opfer fallen, dann kam man gegen ihr finsteres Schlummerlied nicht an. Billy fand es hilfreich, sich das ins Gedächtnis zu rufen.

Er stürmte auf die erste Allee, die Waffe schussbereit, und schaute abwechselnd nach links und rechts. Nur eine ebene, rechteckige Rasenfläche, dahinter noch ein Palmenspalier. Er horchte auf ein Rascheln, aber das Gras dämpfte alles, und die Stille dröhnte wie ein Horn in seinen Ohren.

«New Orleans Police Department!» Bill rief zwar, kam sich aber vor wie ein Feigling, denn er duckte sich hinter den Blättern. Allerdings war er hier, auf dieser Plaza mitten in New Orleans, nur halb anwesend. Er befand sich zugleich in einem finsteren Lindenwald in der Nähe der elsässischen Grenze, wo Zweige sein Gesicht zerkratzten, Kletten in den Strümpfen hingen und das Blut in seinem Gehirn pulsierte.

Die Blätter bebten.

«Du kannst mich nicht sehen», sagte Bill. «Aber ich sehe dich. Ich ziele mit einem Revolver auf dich.»

Die Wedel klatschten lauter, sie applaudierten. Die Nacht war eine Weile still. Dann wieder ein Rascheln, und ein schwarzer Keiler preschte ins Freie.

Ein dicker Brocken, sicher hundertfünfzig Kilo schwer, seine Hauer schimmerten im Mondschein. Die borstige Flanke war silbergrau gestreift, die Stirn glich der Rückseite eines Schaufelblatts, die Winkel seines breiten und clownhaften Mauls reichten fast bis zu den Ohren. Der Keiler interessierte sich jedoch nicht für Detective William J. Bastrop. Er grunzte, ein Ton wie der eines Lufthorns, als wollte er irgendeine Aussage unterstreichen. Er preschte in Richtung Baronne Street. Bill beobachtete, wie er über die Bordsteinkante setzte, wie

«Bill!»

Eine ferne, aber deutliche Stimme. Sie ertönte aus Richtung Downtown. Einen Polizeiinstinkt hatte er dann doch: Wenn sein Kollege rief, rannte er hin. Bill spurtete zum Ende der Plaza. Er scherte nach rechts aus, eilte durch die Rampart Street.

«Bill!» Charlies Stimme klang immer noch schwach – er war mindestens einen Block entfernt.

Er gelangte zur Mündung des New-Orleans-Kanals. Hier war er eine Zielscheibe, ohne selbst etwas sehen zu können. Er folgte der Rampart Street, passierte die Texas Gas Station in der Julia Street und erreichte ein Betriebsgelände von den Ausmaßen eines ganzen Blocks. Die Aufschrift des Schildes lautete: LOUISIANA DEMOLISHING COMPANY, HECTOR SCHMITZ, PROP. Das Tor stand offen. Dahinter türmten sich amputierte Zypressen mit gut fünfundzwanzig Meter langen Stämmen.

Hinter dieser mächtigen Wand aus Stämmen ertönte ein Schmerzensschrei.

«Er haut ab!», schrie Charlie.

Bill machte sich bereit. Er ging leicht in die Knie, um seinen Körperschwerpunkt zu verlagern, hob die Waffe und betete stumm, aber inbrünstig.

Dann stürmte eine laut stammelnde Gestalt hinter dem Wall aus Baumstämmen hervor, und Bill fragte sich kurz, ob es der Keiler war, der nun schnaubend, mit weit

Bill fiel auf, dass die rechte Gesichtshälfte des Straßenräubers fehlte. Der Mann stolperte und riss einen Arm hoch. Er drehte die Hand hin und her, als würde er eine unsichtbare Glühbirne herausschrauben. Das Heulen wurde noch lauter und kulminierte in mehreren Detonationen.

Dann trat Stille ein.

Charlies körperlose Stimme ertönte hinter dem Holz. «Hast du ihn erwischt?»

Bill bemühte sich, Wörter zu formen.

Charlie pirschte um die Ecke. «Ist wohl nervös geworden, als er dich gehört hat», sagte er, indem er sich zögernd näherte. «Als ich ihn entdeckt habe, hat er geratzt.»

«Er hat geratzt?»

«Jetzt schläft er todsicher.»

Hinter Bill wurden Schritte hörbar.

«New Orleans Police Department!», rief jemand. «Hallo! NOPD

«Wir sind’s, Harry.» Charlie hob die Hände. «Bastrop und Beaux.» Charlie gab Bill durch einen Wink zu verstehen, den Revolver zu senken.

Bill wurde bewusst, dass er die Waffe noch auf den am Boden liegenden Toten richtete.

Er drehte sich um und erblickte Harry Dodson, der sich durch das Tor zwängte. In dem hohen Eingang wirkte Harry winzig. Er hatte die blutdurchtränkte Jacke ausgezogen, trug aber noch die Mütze. Lustig, dachte Bill. Ein winziger Bulle im Unterhemd, mit Mütze, aber ohne Uniform. Ein lustiger Anblick.

Harry kam näher, beruhigt durch Charlies Stimme. Beim Anblick der Leiche erschrak er heftig. Er beugte sich über

«Ist er doch, oder?», fragte Bill.

Harry Dodson drehte sich zu Bill um, sein Mund war zu einem verzerrten Grinsen erstarrt.

«Harry? Das ist er doch, richtig? Dieser Kerl hat Big Blond erschossen.»

Harry war nicht verwirrt, wie Bill begriff. Sondern entsetzt.

«Das ist er Harry – korrekt?»

«Billy», sagte Charlie.

Bill überhörte ihn. Er wünschte sich, Harry würde den Mund aufmachen.

«Harry?», sagte er, nun lauter. «Das ist der Mann, oder? Der Straßenräuber?»

Seine Stimme klang in seinen Ohren wie die eines Fremden. War es die eines Fremden? Die des am Boden liegenden Toten? Je länger er nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt. Ja, die Leiche sprach zu ihm. Charlie glotzte blöde, Harry starrte ihn ernst an, und der Tote brüllte derweil mit der verbliebenen Mundhälfte. Er flehte durch seine blutigen, zertrümmerten Zähne, er schrie. «Das ist er – stimmt doch, Harry, oder? Das ist der Straßenräuber, der Big Blond erschossen hat. Ist doch richtig, Harry, wie? Harry?»

26. Mai 1918 – Uptown

Ein fetter, rothaariger Kerl stand im fahlen Bonbonlicht der Straßenlaterne vor der Gasse. Seine Haltung – gebeugt und grinsend, die feisten Arme vor der breiten Brust verschränkt – wirkte so lässig und selbstsicher, als hätte er sich

«Sir.» Isadore nickte, zwei unbeholfene Kerle, die auf dem Weg zur Arbeit aneinander vorbeikamen.

«Ich kenn dich nicht.» Der Paddy wirkte so selbstzufrieden wie ein Kleinkind, das soeben den ersten vollständigen Satz von sich gegeben hatte.

«Ich weiß, was Sie denken», sagte Isadore. Die St. Charles Avenue war so still, dass er die Vibrationen der Straßenbahngleise im Schotter hören konnte, obwohl die Bahn noch nicht in Sicht war. «Sie fragen sich, ob ich irgendwas im Schilde führe.»

«Irgendwas.» Der Mann war fast genauso voluminös wie die Mülltonnen neben ihm. «Gab da ein paar Vorfälle mit einem schwarzen Straßenräuber. Vielleicht hast du ja davon gehört.»

«Ich wohne in der Nähe», log Isadore. «Weiter hinten im Block.»

«Ach was?»

«Wirklich sonderbar», wagte er anzumerken, «dass ich Sie hier noch nie gesehen habe.» Er fragte sich, wo Bailey steckte. Hoffentlich war er so klug gewesen, sofort heimzukehren, nachdem sie sich beim Anblick der Polizisten getrennt

«Und bei wem hast du dich eingenistet?»

«Meine Alte arbeitet hier für’n paar feine Leute.»

«Welche Leute?»

Isadore lachte – vielleicht zu laut, aber das Lachen war das einzige Ventil für seine Wut. So erging es ihm oft, dann schlug seine Furcht plötzlich in Wut um. Es machte ihn wütend, die ganze Zeit Angst haben zu müssen. Es machte ihn wütend, und es war anstrengend, stets um sein Leben bangen zu müssen, wenn er das Verbrechen beging, eine falsche Straße zu nehmen, die falsche Person anzusehen, das Falsche zu sagen oder auch das Richtige, nur leider mit der falschen Betonung. Ganz zu schweigen davon, die falsche Hautfarbe zu haben oder gar keine Farbe, nicht weiß genug zu sein, um unbehelligt zu bleiben, und nicht dunkel genug, um unsichtbar zu sein. In den Momenten, wenn er mit seiner Angst konfrontiert wurde – wenn er in finsterer Nacht auf der weißesten Straße von New Orleans einem Paddy mit roter Rübe gegenüberstand, der das gesetzlich verbriefte Recht hatte, ihn zu töten –, dann empfand er fast etwas wie Erleichterung. Ihm konnte nichts Schlimmes mehr passieren. Denn es passierte schon. Dieses Bewusstsein linderte seine Angst, oder anders gesagt seine Wut, und er war auf einmal hellwach.

Er konnte nicht verraten, dass er seine Frau besuchen wollte, denn wenn die Tiltons Wind davon bekämen, würde man sie feuern. Er konnte nicht weglaufen, weil der Wachmann ihn dann erschießen würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Er konnte weder nach Battlefield zurückkehren noch weiter aufs Geratewohl durch die Nacht ziehen, denn er hatte gerade behauptet, in diesem Block zu wohnen. Er konnte gar nichts tun. Ein vertrautes Gefühl.

«Ich rede sie bloß mit Sir und Missus an.» Isadore sprach jetzt in einem lispelnden Singsang, für den er sich im Stillen hasste, er hatte einen schwarz geschminkten Weißen vor Augen, der ein Buck-and-Wing-Tänzchen hinlegte. «Dann jedenfalls», ergänzte er, «wenn ich Gelegenheit dazu habe. Meine Arbeit bringt es mit sich, dass ich bis in die Puppen auf den Beinen bin.»

Der Wachmann nickte. «Und welche Arbeit wäre das?»

«Sir?» Isadore schaute verstohlen zur Gasse. Sie war keine zehn Meter entfernt. Der Hintereingang zum Haus der Tiltons befand sich auf halber Strecke der Gasse.

«Du schiebst Nachtschichten.»

«Ich spiele in Kneipen, Sir.» Isadore bemerkte seinen Fehler schon, da hatte er den Satz noch nicht beendet. Die meisten Kneipen waren in District oder Battlefield. Er hätte genauso gut behaupten können, Huren auf den Strich zu schicken, Karten zu spielen oder Kokain zu strecken. Er hätte auch behaupten können, ein Komplize des Straßenräubers zu sein.

Der Paddy grinste weiter wie erstarrt, aber sein Blick schärfte sich wie ein Foto im Entwicklerbad.

«Wenn ich keine regulären Auftritte habe, meine ich», fügte Isadore hinzu. Er hätte beim Klang seiner Stimme am liebsten gekotzt. «Im New Orleans Country Club», log er. «Economy Hall. An den Wochenenden finden Sie mich in Spanish Fort, da spiele ich bei den Picknicks feiner Pinkel.

«Jass.» Der Mann spuckte aus. «Is doch keine Musik.»

«Nein, Sir. Aber der Jass ernährt mich.»

«Und wo ist dein Instrument?»

Tja, das war mal eine gute Frage. Das gespenstische Grinsen des Wachmanns wurde noch breiter, im Schein der Straßenlaterne füllten sich seine Wangenfalten mit Schatten. Die Straßenbahngleise summten lauter. Isadore senkte den Blick so demonstrativ verblüfft auf seine Arme, als würde ihm erst jetzt dämmern, dass sein Kornett fehlte. Der Webley-&-Scott-Revolver lastete schwer auf seiner Hüfte.

«Mr. Webley im Country Club?», erwiderte er. «Mr. Webley bewahrt unsere Instrumente über Nacht auf, damit wir sie nicht nach Hause schleppen müssen.» Isadore sprach jetzt schnell – vielleicht zu schnell – und hätte wohl weitergeredet, aber der Wachmann bohrte sich plötzlich einen Wurstfinger ins Auge. Er wühlte mit dem Finger in der Höhle, als wollte er den Augapfel ausgraben.

«Hab da was drin», murmelte der Paddy. «Irgendwas, das nicht rausgeht.» Isadore versuchte, seinen Ekel zu zügeln, während der Mann seinen Schmuddelfinger immer tiefer in den Schädel bohrte. «Der Arzt hat Silbernitrat verschrieben. Aber mit dem Gehalt, das ich vom Nachbarschaftsbund erhalte …» Er wühlte weiter. Die Gleise rumpelten; die nächste Straßenbahn war sicher nur noch fünf Blocks entfernt. Und in der Bahn säßen bestimmt Bullen. Heute Nacht waren die Polizisten überall in der Stadt auf Streife.

«Wie viel kostet die Medizin, Sir?»

«Hä?», sagte der Paddy und zog den Finger aus dem Auge. Isadore hätte schwören können, dass die Kuppe von einer wachsartigen Substanz bedeckt war. «Ungefähr einen Dollar, würde ich meinen.»

«Würden Sie eine bescheidene Spende für Ihren Augen-Fonds akzeptieren?» Isadore griff in seine Tasche und kramte hinter den aufgerollten Scheinen nach Kleingeld. «Hier sind zweiundsiebzig Cent. Mehr habe ich nicht.»

Der Wachmann brummte gereizt, nahm das Geld aber an. «Na komm. Ich begleite dich nach Hause.»

«Ich kenne den Weg. Sie setzen besser Ihren Rundgang fort.»

«Sei nicht albern. Ist eine gefährliche Nacht. Du wohnst also in diesem Block?» Er verstummte kurz. «Oder in der Gasse?»

Die Männer starrten einander eine Weile an.

«In der Gasse.»

Der Paddy bedeutete Isadore mit einer großmütigen Geste, er solle vorangehen.

Die Gasse, gesäumt von den Lieferanteneingängen der Villen, lag voller Müll: ein demolierter Spülkasten, ein Kinderwagengestell, eine geborstene Palette mit dem Aufdruck RIZZOS GROC. Isadore sah seine eigene Leiche mit dem Gesicht nach unten in der Gasse liegen, noch ein weggeworfenes, kaputtes Ding. Die Tür der Tiltons war die vierte, etwa zwanzig Schritte entfernt. Isadore umklammerte den Griff des Revolvers. Im Mondschein schienen die Abwasserpfützen, über denen Moskitos schwärmten, grünlich zu glühen. Eine Ratte beäugte ihn aus einem Nest von Hühnerknochen und rieb ihre Pfoten wie ein Weinsäufer die Hände vor einem Feuer. Würden die Ratten seinen Körper früher finden als Orly, falls ihn der Wachmann niederschlüge? Der Paddy ging so dicht hinter ihm, dass er den Gin im Stoppelbart riechen konnte. Er hörte das feuchte Ausatmen des Mannes. Isadore wirbelte herum, ohne groß nachzudenken,

Keinen Herzschlag später stand er vor der kleinen Hintertür zur Villa der Tiltons. Er warf einen Blick über die Schulter – der Wachmann lag noch reglos auf dem Rücken – und riss die Tür auf. Seine verblüffte Frau stand ihm gegenüber. Sie trug einen dicken braunen Bademantel aus Musselin, den sie auf Taillenhöhe mit einer Kordel geschlossen hatte.

«Izzy!»

«Nicht reden.» Er schloss die Tür hinter sich. «Kann man die abschließen?»

«Nein, kann man nicht», flüsterte sie. «Was tust du denn hier?»

Mitten in dem winzigen Raum stand eine Kupferlaterne auf einem Puppentisch, der mit einem grünen Öltuch bedeckt war. Die Laterne warf die wogenden Wellen eines schwarzen Ozeans auf die Wände.

«Mach die Laterne aus», sagte er.

«Warum flüstern wir?»

«Ich wollte dich überraschen. Ein Wachmann hat mich entdeckt und wurde misstrauisch.»

«Mr. Boyle. Wo ist er?»

Isadore löschte die Laterne, kehrte zur Tür zurück und horchte auf Geräusche. Er hörte nur seinen eigenen flachen Atem. Dann ließ er den Blick zum ersten Mal durch Orlys mondhelles Zimmer schweifen – er hatte sie oft bis zur Tür begleitet, aber nie gewagt einzutreten. Das Zimmer war kaum höher als zwei Meter. Vor einer Wand stand ein schmales Bett, das Bettzeug war zerwühlt. Ein winziger ovaler, brauner Läufer bedeckte den übrigen Fußboden. Das Zimmer war winzig, aber blitzsauber. Ganz hinten, zwischen Puppentisch

«Hier sind wir sicher», sagte Isadore schließlich. Selbst wenn dieser Boyle wieder zu Bewusstsein käme, wüsste er nicht, wohin Isadore verschwunden war. Er würde wohl annehmen, Isadore sei durch die Gasse geflohen.

«Warum bist du hier?»

«Um dich zu besuchen.»

Orly sah ihn eindringlich an.

«Ich war aufgeregt nach dem Auftritt. Lief echt gut heute. Wir kamen so richtig in Schwung. Das Blut in unseren Adern fing plötzlich an zu kochen.»

Orly schlug ihn auf den Mund.

«Wie blöd bist du eigentlich?» Sie zügelte sich, um nicht laut zu werden, und wiederholte leise: «Wie blöd bist du eigentlich?»

Isadore rieb seinen Mund. Eine Welle der Erschöpfung schlug über ihm zusammen. Er lehnte sich gegen den Tisch.

«Du wärst fast draufgegangen.» Das sagte sie ganz sachlich. Ihre braunen Augen – sonst so offen, warmherzig, verführerisch – verengten sich zu Schlitzen. «Mr. Boyle ist ein Monstrum.»

«Ach, komm schon.»

Sie zeigte hinter sich, vermutlich auf das Zimmer, in dem die zwei Kinder der Tiltons schliefen. «Weißt du nicht, wie rasch ich gefeuert werden kann?» Er merkte, dass sie zitterte, obwohl sie wütend war. Sie zitterte sonst nie. Sie ließ sich aufs Bett sacken. «Ich liebe dich, Izzy, aber du bringst Unheil mit nach Hause.»

«Der Wachmann weiß nicht, dass ich hier bin.»

Er seufzte. Seit einiger Zeit betonte sie dieses Wort jedes Mal. Schwer zu sagen, ob sie das bewusst tat oder nicht, aber es schwang der Vorwurf darin mit, dass er seine Pflichten als Ehemann vernachlässigte, nicht genug Geld zur Unterstützung der Familie mit nach Hause brachte. «War eine lange Nacht im Savocca’s», sagte er, «und auf den Straßen ist die Hölle los …»

Sie warf ihm einen verkniffenen, bohrenden Blick zu. «Du warst in der Spelunke von Joe Savocca?»

«… weil dieser Straßenräuber sein Unwesen treibt, aber der beunruhigt mich weniger als die Bullen. Heute Nacht sind sie zahlreicher als Termiten ausgeschwärmt, um sich jeden schwarzen Hurensohn vorzuknöpfen, den sie auf der Straße aufstöbern.»

«Heute Morgen hast du vom Ferrantelli’s gesprochen …»

«Savocca’s. Mensch, du hättest Sore Dick sehen sollen …»

Sie ließ ihn reden, bis er außer Puste war. Sie hatte sich darauf gefreut, ihn mal richtig anzuschnauzen, aber das musste nicht gleich sein. Er schien es ihr jedoch nicht leicht machen zu wollen. Er rief sich halbherzig in Erinnerung, dass er nichts Falsches getan hatte. Jedenfalls nicht, was Orly anging. Er gab sich immerhin wegen ihr mit Bailey ab. Nur durfte er das leider nicht erzählen.

Sie nickte geduldig, langmütig – wenn die Kinder der Tiltons Ausflüchte für irgendwelchen Mist, den sie verzapft hatten, vorbrachten, nickte sie sicher auch so. «Du hast im Savocca’s gespielt», sagte sie verständnisvoll.

«Ja, wie gesagt.»

«Und wo ist dein Horn?»

«Lustig, das hat der Paddy auch gefragt.»

Nein, nicht nach Gosse, aber sie war nahe dran. Es war Angst – Angst roch ähnlich wie Schweiß, nur schärfer, wie ein Giftpilz.

Sie schüttelte den Kopf. «Verschwinde.»

«Was?»

«Verzieh dich ans andere Ende der Gasse.»

«Und der Wachmann?»

«Entweder bewusstlos oder hinüber, das hast du doch selbst gesagt.» Sie rieb zerstreut ihren Bauch. Auch eine neue Angewohnheit. Es sah aus, als wäre sie die ganze Zeit hungrig. «Dieser Job sorgt für unser einziges regelmäßiges Einkommen.»

«Dick hat sich bereiterklärt, mein Horn aufzubewahren. Er wohnt gegenüber vom Savocca’s. Das Kornett ist bei Dick.»

Sie schwieg eine Weile und versuchte, seine Miene zu deuten. «Na schön», sagte sie schließlich etwas milder. Sie erhob sich vom Bett. «Gib mir deine Jacke.»

«Danke, Baby.» Er zog die Jacke aus und reichte sie ihr. Er knöpfte das Hemd auf. Er war so richtig alle. Hätte im Stehen pennen können, gegen die Wand gelehnt. Wenn er bedachte, wie klein ihr Bett war, würde ihm wohl auch nichts anderes übrigbleiben. «Heute Abend haben wir saugut gespielt, ehrlich. Wir waren so richtig in Form. Wir sind in die Vollen gegangen. Donner und Blitz. Ein Tornado. Und weißt du was? Die Leute kapieren es langsam.»

Als er aufblickte, hielt sie das Geldbündel. Sie hatte die Jacke aufs Bett geworfen. Die Taschen waren umgekrempelt.

«Wenn du elf Dollar Trinkgeld kassiert hast, muss es ein wahrer Orkan gewesen sein.»

«Orly.»

«Wir haben es richtig krachen lassen.»

«Du bringst irgendein Unheil mit nach Hause. Mit zu uns.»

«Baby …»

Sie wies auf die Tür.

«Und wohin?»

«Zu meiner Mutter. Oder wohin auch immer. Ich bin müde.»

Er fragte sich, was sie täte, wenn er sich einfach auf den Boden fallen ließe und schnarchte. Sie würde ihm vermutlich Kopfnüsse verpassen, bis er aufwachte.

Sie stopfte das Geldbündel wieder in die Tasche und hielt ihm die Jacke hin, als wäre sie ein Müllsack mit einer toten Ratte darin. Er wollte sich in ihre Arme sinken lassen, aber sie wich aus und ließ die Jacke auf seine Schulter fallen. Er bückte sich, um ihr einen Kuss zu geben, doch sie riss den Kopf zurück. Ihre Augen waren feucht.

«Ich nehme an, du hast dich nicht nach dem Kanal erkundigt?», fragte sie, indem sie den Blick von ihm abwandte.

Er erstarrte. Er wusste nicht, was sie meinte.

«Ich habe dich etwas gefragt.»

«Welchen Kanal meinst du?»

«Die Erdarbeiten, Izzy.»

Richtig. Vor einigen Tagen hatte sie ihm eine Anzeige aus der Times-Picayune der Tiltons ausgeschnitten. Man suchte Männer für ein großes Bauprojekt am Ostrand der Stadt. Man hob ein Flussbett aus, das den Mississippi im schmalsten Abschnitt der Stadt, dem Ninth Ward, mit dem See verbinden sollte. Das versprach, eine schmutzige Schufterei zu werden. Er war zu niedergeschlagen, um weiter zu lügen.

«Ich habe mich noch nicht erkundigt. Mache ich aber noch. Versprochen.»

Isadore ging zu ihr und hob langsam das Tuch. Draußen vor der Tür, einen guten Meter entfernt, stand der Fettklops. Ein Auge war zugeschwollen. Er neigte den Kopf zur Seite und horchte.

«Ich bringe ihn um», sagte Isadore halblaut.

Sie presste ihm eine Hand auf den Mund.

Sie betrachteten durch das zerschlissene Tuch die Silhouette der Melone des Mannes, ein Hügel, dunkler als die stockdunkle Nacht. Hatte Boyle sie gehört? In Isadore breitete sich die Angst aus wie Schimmel.

«Die Kinder erwachen frühestens um sieben», flüsterte Orly. «Der Wagen von Rizzo, dem Lebensmittelhändler, kommt um sechs. Ich kenne den Fahrer, Reginald.»

«Woher?»

«Pst.»

«Woher kennst du den Fahrer Reginald?»

«Er liefert täglich um sechs die Lebensmittel.» Sie saugte Luft durch die Zähne. «Er lässt dich hinten auf den Lieferwagen steigen und versteckt dich hinter ein paar Säcken Reis oder so. Der Laden liegt zwischen der Danneel und der Terpsichore Street. Von dort kannst du unbehelligt heimkehren.»

Sie entfernte sich auf Zehenspitzen vom Fenster. Er hörte die Federn des Bettes unter ihrem Gewicht knarren. Er zählte bis fünfzehn, dann schaute er wieder hinaus. Boyle war weg. Die Melone des Paddys tanzte durch die Gasse zur Carondelet Street.

Orly drehte sich zur Wand um, und Isadore zog den Revolver aus dem Hosenbund, um ihn in die Jacke zu stopfen.

«Orly», sagte er, «ich werde es tun.»

«Er hat uns nicht gehört.»

«Ich meine nicht den Wachmann. Ich meine das Slim Izzy Quartet.»

«Ich weiß, Liebling», sagte sie nach einer Weile. «Ich weiß, dass du das tun wirst.»

«Wir haben es fast geschafft. Das Savocca’s brummt. Letzte Woche war Kid Ory da. George Baquet kommt zwischen seinen Gigs im Funky Butt. Außerdem die Leute, die Shows buchen wollen – aus dem Country Club und der Jackson Hall. Sogar der Conférencier aus dem Butt, der Nachschub für die Bühne sucht. Sie müssen mich nur hören.» Es überraschte ihn selbst, wie energisch er klang. Und nach Orlys Schweigen zu urteilen, war auch sie überrascht. Doch er hatte den starken Drang, sein Können unter Beweis zu stellen. Trotz Orlys Lob glaubte er, auch sie noch nicht ganz überzeugt zu haben. Er trug das Geheimnis seiner Genialität mit sich herum wie Bauchschmerzen. Wenn er spielte, fühlte er sich erleichtert, aber die Erleichterung ging nie tief genug, und es gab zu vieles, was ihn von der Musik trennte: Geldsorgen, seine Hautfarbe, die abwehrende Reaktion der Menschen auf originelle Klänge.

«Warum liegst du auf dem Fußboden?», fragte Orly.

«Wenn ich vor der Tür liege, kann sich Mr. Boyle keinen Zutritt verschaffen.»

Sie holte zischend Luft. Die Bettfedern knarrten. Isadore konnte im Dunkeln sehen, dass Orly ihren Bauch rieb.

«Das muss dir nicht leidtun», sagte Orly leise. «Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.»

«Ich helfe beim Ausheben des Kanals. Und ich organisiere mir ein paar große Auftritte.»

«Hm.»

«Ich liege hier auf dem Boden und flehe dich an, Frau.»

«Du lügst wie gedruckt.»

«Ich flehe um deine Barmherzigkeit.»

Sie lachte gedämpft. «Na gut, du harter Bursche.» Ihre Stimme war jetzt so leise, dass er die Ohren spitzen musste, um sie zu hören. «Und jetzt komm zu mir ins Bett.»