Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Get Even» bei Balzer + Bray, Imprint von HarperCollins Publishers, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Get Even» Copyright © 2014 by Gretchen McNeil

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von HarperCollins Publishers

Coverabbildung GoGraph; Shuttestock; iStock

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00764-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00764-2

ohne die es kein «Wird schon wieder» gibt

und Rache keine Grenzen

Shakespeare, Hamlet, 4. Aufzug

Bree starrte gebannt auf den Ladebalken, der unschlüssig vor- und zurücksprang. Er schien sie zu verspotten, zeigte dreißig Sekunden, dann sechzig, neunzig, dann wieder dreißig. Na komm schon. Sie schaute den Bildschirm böse an, und ihre Finger tippten ungeduldig auf Ronnys Schreibtisch. Das konnte doch nicht so lange dauern. In Gedanken drohte sie dem Computer, ihn ernsthaft zu beschädigen, wenn er nicht endlich fertig wurde.

«Lass das», sagte Margot gereizt. Sie verlor langsam die Fassung.

«Was soll ich lassen?»

«Die ganze Zeit mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.»

Bree hielt inne. «Wie kannst du überh…» Sie verstummte, weil ein leises Knarren die Stille im Zimmer durchbrach, gefolgt von kaum hörbaren Schritten, als liefen bloße Füße den Flur entlang.

«Was ist los?», fragte Margot.

«Pst!» Bree saß stocksteif da und lauschte, aber die Schritte waren verstummt. Sie drehte sich auf Ronnys Schreibtischstuhl herum zur Schlafzimmertür, die angelehnt war.

Hatte sie die Tür angelehnt? Sie war sich ziemlich sicher, sie weit offen gelassen zu haben. Vielleicht hatte

Oder es ist jemand hier.

Bree saß gegen den Maschendrahtzaun gelehnt auf dem Rasen und ließ ihren Tennisschläger auf den Spitzen ihrer schwarzen Converse-Sneaker auf und ab springen. «Warum haben wir eigentlich immer noch Sportunterricht in der Schule?»

John schnappte sich ihren Schläger. «Das ist eine politische Verschwörung, um die amerikanische Jugend durch systematische Demütigung zu unterdrücken.»

Vier eifrige Tennisspielerinnen trabten an Bree und John vorbei zum letzten freien Platz und begannen, den Ball mit begeisterten, wenn auch ziemlich unkoordinierten Schlägen hin und her über das Netz zu schlagen. In ihren weißen Röcken und Tennisschuhen, die in der hellen Nachmittagssonne leuchteten, hüpften und reckten sie sich wie Marina Sharapova im Grand-Slam-Finale und wirkten ziemlich bescheuert dabei.

«Eine so schicke Schule wie die Bishop DuMaine sollte doch eigentlich virtuellen Sportunterricht anbieten», sagte Bree und legte den Kopf auf die Knie. «Immerhin ist das hier das Silicon Valley. Sollten wir da nicht viel mehr hightech sein?»

Eine schrille Trillerpfeife ertönte von der anderen Seite der Sportanlage. «Deringer! Baggott!» Coach Sampson deutete mit dem Schläger auf sie. «Wir haben noch keine Pause.»

Coach Sampson schüttelte verständnislos den Kopf, um sich dann wieder einem gemischten Doppel zuzuwenden.

«Die erste Woche Schule, und ich hasse den Sportunterricht jetzt schon.» John warf Brees Schläger zur Seite. «Kann dein Dad uns hier nicht irgendwie rausholen?»

Bree zog eine Braue hoch. «Kann deine Mom uns hier nicht rausholen?»

«Wozu ist meine beste Freundin die Tochter des Bundessenators, wenn wir dadurch gar keine Vorteile haben?»

«Wozu ist mein bester Freund der Sohn der Schulsekretärin», äffte ihn Bree nach, «wenn wir dadurch keine Vorteile haben?»

John fuhr sich mit der Hand durch sein schwarz gefärbtes Haar – die einzige Farbe, die nach Bishop DuMaines strenger Kleiderordnung nicht verboten war. «Immerhin habe ich keine Angst zu fragen.»

«Ich habe keine Angst», versetzte Bree.

«Wirst du aber haben.» John zog die Schultern hoch und sagte mit knurrender Yoda-Stimme: «Wirst. Haben. Du.»

Bree verdrehte die Augen. Meistens fand sie Johns albernes Beharren darauf, dass es für jede Lebenslage ein Star-Wars-Zitat gab, ja einigermaßen unterhaltsam, aber heute passte ihr seine gute Laune ungefähr so gut wie ein besonders schlimmer Herpesausbruch.

«Hast du eigentlich von dieser Schulversammlung morgen gehört?», fragte John aus heiterem Himmel.

Bree sog scharf die Luft ein. Konnte er ihre Gedanken lesen? «Morgen ist eine Versammlung?», fragte sie und versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken.

John nickte. «Einberufen von Pater Uberti höchstselbst. Habe mitgehört, als er heute morgen im Schulbüro mit meiner Mutter darüber sprach.»

Bree strich sich den dichten Pony ihrer 20er-Jahre-Frisur glatt und wich Johns Blick aus. «Warum will er denn eine Versammlung einberufen?»

«Was glaubst du wohl.» John beugte sich zu ihr herüber. «Es geht bestimmt um DGM

«DGM geht voll den Bach runter», dröhnte eine Stimme hinter ihnen.

Bree wandte sich um und sah hoch zu Rex Cavanaugh, flankiert von seinen Lakaien Tyler Brodsky und Kyle Tanner, die auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns näher gekommen waren. Sie standen Schulter an Schulter und hatten die muskulösen Arme vor der übertrieben breiten Brust verschränkt. Alle drei trugen die gleichen königsblauen Poloshirts mit der Aufschrift «Maine Men», über ihren Herzen prangte das Wappen der Bishop-DuMaine-Schule.

Pater Uberti selbst hatte die Maine Men, zugleich coole Jungsclique und von der Schule geduldeter Schlägertrupp, ins Leben gerufen – als Antwort auf eine Welle demütigender Racheaktionen, begangen von einer Gruppe, die man nur unter dem Namen

Aber zu Brees großer Befriedigung waren die Maine Men ohnehin ein totaler Reinfall. Nach anderthalb Jahren zeigte der Spielstand aktuell 6:0 für DGM.

Und sie hoffte, dass das so bleiben würde. Zumindest noch für einen Tag.

«Hast du mich gehört?», bellte Rex.

Bree blinzelte in die Sonne. «So klein und schon bei den Sturmtruppen?» John neben ihr prustete.

«Häh?», fragte Rex.

«Was willst du?», sagte Bree extra langsam und betonte dabei jede Silbe.

«DGM sind am Ende», wiederholte Rex. «Ein für alle Mal.»

«Genau», sagte Bree und stand auf. «Weil ihr bisher einen so tollen Job gemacht habt.»

Rex kam mit seinem verschwitzten Gesicht sehr nah an den Zaun, so nah, dass Bree jede einzelne verstopfte Pore auf seiner Nase erkennen konnte. «Wir wissen, dass du damit zu tun hast, Deringer. Warte nur ab bis morgen. Selbst dein Daddy kann dich dann nicht mehr retten.»

John war sofort auf den Beinen und stellte sich schützend zwischen Bree und den Zaun. «Komm runter, Cavanaugh.»

Bree warf den Kopf zurück und lachte ironisch. «Ha, ha, ha. Der Witz war noch nie lustig.»

«Rex!» Ein Typ mit sandfarbenen Haaren und grauenvoller Akne lief herbei. Bree hatte ihn noch nie gesehen, aber den Falten in seinem blauen Maine-Men-Hemd nach zu urteilen, hatte er es gerade erst aus der Verpackung genommen. Ein neuer Rekrut. «Rex, sieh dir das an.»

«Wer bist du?», fragte Rex, den Blick immer noch auf John gerichtet.

«Ronny DeStefano?», antwortete der Neue.

Rex schüttelte den Kopf. «Wer?»

Ronny runzelte verwirrt die Stirn. «Ronny DeStefano. Wir haben uns letzte Woche auf Jezebels Hausparty getroffen.»

Rex sah sich zu ihm um und biss sich auf die Lippen, offenbar musste er sein Neandertaler-Hirn zwingen, sich an die alkoholvernebelte Party zu erinnern. «Neu hier?»

«Ja», erwiderte Ronny leicht verärgert. «Wir haben einen gemeinsamen Freund, weißt du noch?» Er sah ihn mit vielsagendem Blick an. «Wir hatten beide mal ein merkwürdiges Erlebnis …»

«Genau!», unterbrach ihn Rex hastig. «Ronny. Was ist los?»

Ronny nickte in Richtung Fußballfeld. «Da unten läuft was mit Coach Creed. Ich dachte, du solltest …»

«Dann hin», unterbrach ihn Rex. Er stürmte los,

Bree sah John an. «Was war das denn?»

«Keine Ahnung.» John schaute über ihren Kopf hinweg zum Fußballfeld, wo sich jetzt immer mehr Leute versammelten. «Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir es gleich erfahren werden.»

 

Olivia kam aus der Mädchenumkleide, den Schläger in der Hand, und strich ihr Designer-Tenniskleid glatt.

«Also, dieses Outfit sieht total toll an dir aus», sagte Amber, die neben sie getreten war. «Ich finde es super, dass du kein Problem damit hast, Sachen aus der letzten Saison zu tragen.»

«Ach, gar nicht.» Olivia lächelte. Die Hälfte ihrer Garderobe bestand aus von Amber geerbten Kleidern, die diese für die «letzte Saison» hielt.

Peanut setzte sich eine Baseballmütze auf und zog ihren langen Pferdeschwanz hinten heraus. «Wie ärgerlich, dass Dontés Basketballtraining in der Turnhalle stattfindet», bemerkte sie gedankenverloren. «Wenn er dich in diesem Dress sähe, würde er dir wie ein Hündchen hinterherlaufen.»

Olivia erstarrte. «Warum sollte mich kümmern, was Donté denkt?»

Peanut sah sie erstaunt an. «Hast du mir nicht letzte Woche erzählt, dass du gern wieder mit ihm zusammenkommen würdest?»

Das sollte ein Geheimnis bleiben, Peanut.

Amber zog eine Augenbraue hoch. «Liv, Süße.

«Reicheren», vervollständigte Jezebel, die hinzugetreten war, den Satz. Sie zog sich eine weiße Kapuzenjacke über ihre fleischigen Schultern. «Du hast mit ihm Schluss gemacht, erinnerst du dich?»

Olivia biss sich auf die Unterlippe. «Ja.»

«Wenn du noch mal neu mit ihm anfangen willst», fügte Amber hinzu, «wirkt das echt armselig.»

«Unglaublich, dass wir bis Montag warten müssen, bis wir erfahren, welches Stück im Herbst aufgeführt wird», sagte Olivia, um das Thema zu wechseln. Das Letzte, was sie wollte, war noch ein Gespräch mit Amber über Donté Greene. «Diese Spannung macht mich fertig.»

«Ich finde es viel unglaublicher, dass Mr. Cunningham in der ersten Schulwoche fehlt», sagte Jezebel und schüttelte den Kopf. «Was für ein Lehrer tut so etwas?»

Amber holte eine Tube Lipgloss aus der Tasche ihres neuen Designer-Tenniskleides und tupfte sich ein wenig auf die Lippen. «Ich wette ja immer noch auf Mamet.»

Olivia lächelte. Amber war die Letzte, die Insider-Informationen aus der Theatergruppe erreichen würden.

«Was auch immer es wird», sagte Peanut, «darin gibt es bestimmt eine tolle Rolle für dich, Livvie.»

«Wer weiß.» Olivia fuhr sich mit der Hand durch ihre raspelkurze Pixie-Frisur und lachte. «Vielleicht besetzt er mich ja dieses Mal als Junge.»

Die Rolle der Krebspatientin Vivian Bearing im Theaterstück Wit von Margaret Edson letzten Frühling war Olivias beste Leistung bisher gewesen. Mr. Cunningham hatte ihr eine Glatzenperücke besorgt, aber Olivia hatte alle schockiert, als sie sich ihre rötlich blonden Locken zur Premiere kurzerhand abrasiert hatte. Sie hatte es nie bereut – jede einzelne Vorstellung war ausverkauft gewesen, und sie war jeden Abend mindestens drei Mal wieder vor den Vorhang gerufen worden.

«Tja, wir werden es bald erfahren», sagte Amber, warf ihre braune Mähne zurück und wandte sich um. «Los, Mädels. Tennis war …»

Sie verstummte. Olivia drehte sich um und sah Rex wie einen Wilden über den Platz rennen, Tyler und Kyle im Schlepptau. Ein dünner Typ, den Olivia noch nie gesehen hatte, hetzte hinter ihnen her.

«Hi, Baby!», rief Amber Rex zu. Sie posierte herausfordernd in ihrem kaum vorhandenen Kleidchen.

«Jetzt nicht!», rief Rex und hob abwehrend die Hände. Er und seine Kumpel rannten ungebremst an ihr vorbei.

Amber blieb der Mund offen stehen. «Was zum Teufel?»

«Was ist denn da los?», fragte Peanut.

«Keine Ahnung.» Olivia schaute zu der großen Schülergruppe hinüber, die sich auf dem Hügel über dem Fußballfeld versammelt hatte. Rex und sein

Amber hob das Näschen in den Wind. Wie ein Hai, der noch das kleinste Tröpfchen Blut im Wasser wittern konnte, erspürte sie Klatsch und Tratsch aus kilometerweiter Entfernung. Ein listiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

«Ich glaube, der Sportunterricht wird deutlich interessanter als gedacht.»

 

Sollte Kitty jemals daran gezweifelt haben, dass Coach Creed eine Lektion verdient hatte, dann war ihr Mitleid spätestens jetzt vergessen.

«Beweg deinen Arsch, Baranski!» Coach Creeds Gebell schallte über die Tartanbahn zum Volleyballfeld herauf, wo Kitty das Schulteam zum Aufwärmen einige Runden laufen ließ.

Sie blieb stehen. Unter ihr versammelten sich immer mehr Schüler auf dem Hang, der sich bis hinunter zum Fußballfeld neigte. Sie verteilten sich auf unterschiedlichen Höhen, alle in ihre blau-goldenen Sportuniformen gekleidet, und hatten den Blick auf den Fuß des Hügels und die pausbackige, keuchende Gestalt von Theo Baranski gerichtet.

Coach Creed ragte über ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Er spannte seine Brustmuskeln an wie ein Kampfsportler. «Die erste Schulwoche, Baranski, und du kommst schon nicht mehr mit.»

Theos Gesicht war hochrot und nass, vielleicht war es Schweiß, vielleicht waren es seine Tränen, vielleicht

Sie kniff die Augen zusammen. Die Scham, die richtige Antwort nicht zu wissen. Die Angst, dass Ms. Turlow sie ausschimpfen würde …

Wie kann es sein, dass du das einzige asiatische Kind auf diesem Planeten bist, das keine Mathematik kann?

«Wie kann es sein, dass du der einzige Mensch auf diesem Planeten bist», dröhnte Coach Creed, «der seinen Arsch nicht diesen Hügel hochbekommt?»

Mika trat neben Kitty. «Der Arme hat schon genug Probleme, auch ohne Coach Creed, der ihn ständig so anschnauzt.»

«Ich weiß», erwiderte Kitty leise. Theo war letzten Frühling auf die Bishop DuMaine gekommen, und seitdem terrorisierte Coach Creed ihn.

Mika nahm das Schweißband ab und schob sich die krausen schwarzen Locken zurecht. «Theo bekommt einen Herzinfarkt, wenn er noch einmal diesen Hügel hinaufgejagt wird. Wir sollten etwas unternehmen.»

Das haben wir bereits.

Sosehr Kitty auch eingreifen und helfen wollte – sie durfte es nicht riskieren. Sie hatte gehofft, dass Coach Creed Theo wenigstens in der ersten Schulwoche in Ruhe lassen würde, damit DGM etwas Zeit hatte, den Plan in Gang zu setzen. Aber Fehlanzeige.

«Weißt du», sagte Mika nachdenklich. «Das

Kitty lächelte. «Das ist eine tolle Idee.»

Die Menge unten wurde unruhig, als sich Amber Stevens hindurchdrängelte. Sie lächelte vergnügt in Theos Richtung. «Sieh an, was für ein schwitzendes Schwein!»

«Super», murmelte Mika. «Die Oberzicke ist gekommen.»

Amber ließ den Blick über den Hügel schweifen, als sie sich mit der Würde einer Königin an ihre Untertanen wandte. «Ich meine, habt doch einfach ein bisschen Selbstachtung und haltet Euch von Double-Cheeseburgern fern.»

«Beweg dich!», brüllte Coach Creed. «Ist mir völlig egal, wenn es dich umbringt. Schlepp deinen Arsch jetzt da hoch!»

Auf einmal löste sich John Baggott aus der Menge. «Scheiß drauf», sagte er laut und marschierte den Hang hinunter.

 

Margot blieb mitten auf dem Hügel stehen. Sie fühlte sich klebrig und ungemütlich in ihrem übergroßen Trainingsanzug und rang nach Atem. Unter den Schichten aus Baumwolle und Mikrofaser hämmerte ihr das Herz in der Brust, nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung, sondern ebenso vor Wut. Sie sah zum Fußballfeld hinunter und verfolgte Coach Creeds neueste Attacke auf Theodore Baranski.

Margot begriff die Grausamkeit seiner Erniedrigung genau. Er wusste, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren, dass alle ihn für seinen unförmigen Körper verurteilten und leise «fetter Arsch» vor sich hin murmelten, weil sie annahmen, dass sein Übergewicht allein seine Schuld war. Margot wischte sich mit dem Sweatshirt-Ärmel den Schweiß von der Stirn. Sie wollte Theo helfen, aber wie sollte das gehen, ohne den Plan von DGM zu ruinieren?

Plötzlich schlenderte die große, geschmeidige Gestalt von John Baggott zu Coach Creed und Theo hinüber.

«’tschuldigung!», sagte er mit heiterer Stimme. Sein kantiges Gesicht strahlte. «Ich unterbreche ja auch nur ungern, aber bist du nicht Theo Baranski?»

Margot erschrak. Was machte John da? Warum stoppte Bree ihn nicht?

Coach Creed wirbelte herum. «Was willst du, Baggott?»

John hielt Coach Creeds wütendem Blick ruhig stand. «Ich komme gerade aus dem Schulbüro», sagte er und lächelte weiter. «Pater Uberti hat mich gebeten, Theo aus dem Unterricht zu holen. Irgendein Notfall.»

Die Vorstellung, dass Pater Uberti persönlich John Baggott gebeten haben sollte, etwas für ihn zu erledigen, war lächerlich, aber wenn er John nicht einen Lügner nennen wollte, konnte Coach Creed kaum etwas einwenden.

«Ein Notfall also», wiederholte der Coach.

Coach Creed schüttelte verächtlich den Kopf, als John Theo den Hügel hinaufbegleitete. «Du bist ein Jammerlappen, Baranski», rief er ihnen hinterher. «Du auch, Baggott. Und ich bin noch nicht fertig mit euch!»

Margot stand noch wie angewurzelt da, als Creed längst wieder aufs Feld gerannt war und auch die anderen Sportkurse ihr Training wieder aufgenommen hatten. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie merkte, dass sich noch drei weitere Umrisse auf dem Hügel dunkel gegen die helle Nachmittagssonne erhoben: Kitty Wei, Bree Deringer und Olivia Hayes.

Sie sahen einander an, und es war, als würden sie alle dasselbe denken. Noch vor einer Stunde hätte ein Racheplan gegen Coach Creed keinen speziellen Verdacht erregt. Aber jetzt würde Brees bester Freund ganz oben auf Pater Ubertis Liste der Verdächtigen stehen. Und diese Nähe zu einem echten DGM-Mitglied war zu groß, um sich noch sicher zu fühlen. Sollten sie die Sache abbrechen?

Alle Blicke richteten sich auf Kitty. Sie würde wissen, was zu tun war.

Ohne zu zögern, fuhr sich Kitty mit der Hand quer über die Brust, von der linken zur rechten Schulter, dann ließ sie den Arm zur Seite fallen und ging fort.

Margot atmete langsam aus. Die Botschaft war eindeutig: Ihr Plan gegen Coach Creed stand.

Margot kaute auf ihrem linken Zeigefingernagel herum, während sie mit ihrem Politikkurs zur Versammlung in die Turnhalle ging. Das Stimmengewirr der plaudernden Schüler wurde hin und wieder vom Quietschen der Gummisohlen auf dem auf Hochglanz polierten Ahornparkett unterbrochen, aber Margot nahm es kaum wahr. Sie war nervös bis in die Haarspitzen – fast als wäre es ihr erster Einsatz mit DGM und nicht schon ihr siebter –, und sie brauchte all ihre Selbstdisziplin, um nicht einfach vom Schulgelände zu rennen und ihre Eltern anzubetteln, sie gleich am nächsten Morgen in der öffentlichen Highschool anzumelden.

Komm runter.

Margot hatte genau gewusst, worauf sie sich einließ, als sie sich «Don’t Get Mad – Get Even» anschloss. Das Motto lautete ab jetzt: Wir regen uns nicht auf, wir zahlen es ihnen heim!

Sie erinnerte sich lebhaft an den Moment, als wäre es gestern gewesen – und nicht im Religionskurs vor zwei Jahren, in ihrem ersten Jahr an der Bishop DuMaine. Kitty, Margot, Bree und Olivia waren zufällig zusammen in einer Projektgruppe gelandet, die gemeinnützige Arbeit leisten wollte. Die vier Mädchen waren grundverschieden: keine gemeinsamen

Eigentlich keine Überraschung. Es gab ein extremes Ungleichgewicht zwischen den wohlhabenden Schülern an der Bishop DuMaine und denen, die sich die Privatschule durch ein Stipendium finanzieren mussten, zwischen den privilegierten Schülern und den anderen, nicht privilegierten. Mobbing gab es ständig und überall – von reichen Mädchen, die sich über die ärmeren Schülerinnen lustig machten, weil sie billige Klamotten trugen, bis hin zu Prügeleien in den Umkleiden und Erpressungen in der Mittagspause – und Pater Uberti hatte stets weggesehen. Ihm waren nur gute Testergebnisse und herausragende sportliche Leistungen wichtig, denn beides trieb die Zahl der Anmeldungen an seiner Schule in die Höhe.

Als die vier Mädchen also während eines nachmittäglichen Treffens ihrer Projektgruppe auf den letzten Mobbingvorfall in der Schule zu sprechen kamen und Kitty halb im Scherz bemerkte, dass man es dem Fußball-Schulteam eigentlich mit gleicher Münze heimzahlen sollte, hatte Margot – die schmerzhaft hatte erfahren müssen, was passierte, wenn eine Schulleitung Mobbing duldete – sofort zugestimmt. DGM war geboren.

Dennoch war Margot heute immer noch so aufgeregt wie beim ersten Mal. Sie kniff die Augen zusammen und atmete langsam und leise durch die zusammengebissenen Zähne. Denk dran, was Dr. Tournay

So zügig es ging, schob sie sich durch die vielen Schüler hindurch auf die Tribüne zu. Die Spannung in der Turnhalle war mit Händen zu greifen und verstärkte nur Margots Kribbeligkeit. Sie musste sich immer wieder selbst daran erinnern, dass sie etwas sehr Wichtiges tat. Sie konnte nicht einfach die Zeit zurückdrehen und den Albtraum auslöschen, der die Junior High für sie gewesen war, aber sie konnte immerhin dafür sorgen, dass niemand anders dasselbe Mobbing ertragen oder zu derselben verzweifelten Entscheidung gelangen musste wie sie vor vier Jahren.

Gerade als sich ihre Nerven ein wenig zu beruhigen begannen, rammte sie etwas Schweres in den Rücken und ließ sie nach vorn stolpern. Sie riss den Kopf hoch und sah gerade noch, wie ihr großer Wanderrucksack, den sie wenige Momente zuvor noch über der Schulter getragen hatte, zur Seite schleuderte und so schwer auf dem Boden aufschlug, dass der Verschluss aufsprang und der Inhalt sich in alle Richtungen verstreute.

Ihr Angreifer wirbelte herum und ließ seinen eigenen fast leeren Rucksack auf den Boden neben ihren fallen. Rex Cavanaugh.

«Was zum Teufel machst du da, du Anfängerin?», brüllte Rex. «Pass doch auf, wo du hingehst.»

Margot verkniff sich die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie schaute auf die Schulsachen und ihre anderen Utensilien, die auf dem Turnhallenboden verstreut waren. Irgendwo dazwischen musste die Fernbedienung liegen! Sie fiel auf die Knie und sammelte

Rex schnappte sich seinen Rucksack. «Nicht mal ein ‹Entschuldigung› kriegst du hin. Blöde Kuh.»

Stifte, einzelne Zettel, ein paar Notizblöcke. Aber keine Fernbedienung. Margot griff nach ihrem Rucksack. Sie riss Klettverschlüsse auf, öffnete zahllose kleine Innentaschen und durchwühlte alles nach dem handtellergroßen Gerät. Bitte sei da.

Im Laptop-Fach umschlossen ihre Finger die Plastikfernbedienung, heil und unbeschädigt. Margot seufzte. Katastrophe abgewendet.

Die Lautsprecher knisterten, als der Hausmeister das Mikrophon auf der Bühne aufstellte. Die Versammlung würde gleich beginnen.

Der Schreckmoment gab Margots Entschlossenheit einen Schub. Sie ließ sich vom Strom der anderen Schüler mitziehen und schob sich in eine der Sitzreihen auf der Tribüne, die Fernbedienung fest in der Hand. Sie wagte es nicht, sich umzusehen und nach Bree und Olivia Ausschau zu halten, nur Kitty entdeckte sie sofort auf einer Bank in der ersten Reihe neben Mika Jones. Kitty wirkte so ruhig und gefasst. Sie trug Jeans und dazu eine blau-weiße Bishop-DuMaine-Laufjacke. Das lange schwarze Haar hatte sie sich zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, der wippte, als sie mit Mika flüsterte. Margot fragte sich, ob Kitty wirklich so entspannt sein konnte oder ob ihre Gelassenheit eine lange geprobte Fassade war.

Die Seitentür wurde aufgerissen, und Pater Uberti marschierte in die Turnhalle. Er war klein und

Zwei Menlo-Park-Polizisten folgten ihm in die Turnhalle.

Sofort war die Panik wieder da. Nicht in ihren wildesten Träumen hatte Margot an die Polizei gedacht.

Was, wenn sie erwischt wurden? Sie würde verhaftet oder – noch schlimmer – der Schule verwiesen werden. Sie würde die Chance auf Harvard oder Yale verlieren, und ihre Eltern … ihre Eltern würden sie umbringen.

Margots rechtes Bein zuckte so heftig auf und ab, dass sie sich sicher war, die ganze Reihe müsste den Takt ihrer Nervosität spüren. Unauffällig stützte sie sich auf ihr Knie und versuchte sich zu beruhigen, aber ihr Herz hämmerte völlig außer Kontrolle, und auf ihrer Oberlippe bildete sich Schweiß. Panikattacke in drei … zwei … eins …

«Alles in Ordnung mit dir?», fragte eine Stimme ganz dicht an ihrem Ohr.

Margot stieß einen erschrockenen Laut aus. Sie fuhr

«Alles in Ordnung mit dir?», wiederholte er.

Margot öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber jede Fähigkeit zu vernünftigem Denken hatte sie verlassen. Sie konnte nur noch in das schönste Gesicht starren, das sie je gesehen hatte.

Nicht, dass er besonders einzigartig aussah. Er hatte typisches kalifornienblondes Haar mit von der Sonne ausgeblichenen Strähnen. Seine Haut war gebräunt, und mit seinen breiten, muskulösen Schultern wirkte er, als verbrächte er seine Wochenenden gern auf dem Surfbrett in Santa Cruz. Aber leicht schief lächelnd und umgeben vom Hauch eines würzigen Aftershaves, brachte er Margots Herz wieder zum Rasen, nur dieses Mal aus einem ganz anderen Grund.

«Tut mir leid», sagte er mit diesem Lächeln, das sich ein wenig nach links neigte, wie ein Schiff im Wind. «Ich wollte dich nicht erschrecken.»

«Du hast mich nicht erschreckt», zwang sich Margot zu erwidern.

«Oh!» Er zog die Brauen erstaunt zusammen. «Okay. Ich habe nur … es sah so aus, als hättest du dich erschrocken.»

Scheiße, Margot. Versuch, nicht wie eine Idiotin zu klingen.

«Ich meine», fing sie an, «ich habe nur gerade nachgedacht. Über die Kurse. Ich muss eine ziemlich große Hausarbeit schreiben.»

«Am dritten Schultag?»

«Ähm, ja genau», redete Margot schnell weiter. «Es

Der Junge blinzelte noch mal überrascht, dann neigte er den Kopf ein wenig zur rechten Seite, als wollte er sein schiefes Lächeln ausgleichen. «Ich heiße Logan Blaine», sagte er schlicht. «Ich bin neu hier.»

«M-Margot», sagte sie und hätte sich verfluchen können, wie eine Idiotin über ihren eigenen Namen zu stolpern. «Margot Mejia.»

«Schön, dich kennenzulernen, Margot.»

Margot wollte gerade etwas erwidern, als vereinzeltes Gelächter aus den Zuschauerreihen ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Coach Creed stand fast ganz oben auf der Tribüne und schaute wütend auf den ebenfalls immer noch stehenden Theo Baranski hinunter, der ihn aus seinem runden Gesicht erschrocken ansah.

«Baranski!», bellte Coach Creed lauter als nötig. «Warum sitzt du nicht auf deinem Platz?» Er deutete in einem großen Bogen auf die Tribünen. «Die gesamte Schule wartet auf dich, damit die Versammlung beginnen kann. Würdest du uns darüber unterrichten, warum du Schwierigkeiten hast, einen Platz zu finden?»

«Ich …» Theo schaute auf die Bank neben sich herunter. Nur ein sehr kleines Stück war noch frei, vielleicht genug Platz für einen dünnen Fünftklässler, aber Theo war weder dünn noch ein Fünftklässler. Margot erschauderte und wartete auf den unvermeidlichen Wutausbruch von Coach Creed, aber diesmal blieb Theo diese Entwürdigung erspart. Ein Mädchen am

«Gerettet von einem Mädchen.» Coach Creed lachte höhnisch auf. «Wie traurig.»

Logan beugte sich noch weiter vor, seine Lippen jetzt ganz nah an Margots Ohr. «Ist der immer so ein Arschloch?»

«Coach Creed?»

«Ja. Der Typ verdient es, öffentlich ausgepeitscht zu werden.»

Margot warf Logan einen Blick zu und schaute dann wieder zu Pater Uberti, der zum Mikrophon ging. Sie hielt die Fernbedienung fest in der Hand.

«Ja», sagte sie leise. «Ja, das stimmt.»

Bree beobachtete, wie Pater Uberti die schwarzen Lederquasten seines Gürtels durch die Hände gleiten und sie dann fallen ließ. «Setzt euch.»

Sofort wurde es still in der Halle. Niemand flüsterte, niemand lachte. Selbst John saß regungslos; sein Blick war auf die Bühne gerichtet.

«Danke», sagte Pater Uberti ohne einen Funken Aufrichtigkeit. Er räusperte sich ungewöhnlich heftig, als wollte er seine Stimmbänder für ihre Durchschaubarkeit bestrafen. «Ich habe diese Versammlung einberufen, um eine dunkle Gefahr anzusprechen, die die reine Seele unserer Schule bedroht.»

Er machte eine bedeutungsschwere Pause und legte die Hand auf das Kreuz, das um seinen Hals hing, als wollte er damit den besonderen Schmerz betonen, den man ihm persönlich angetan hatte. Bree musste den Drang unterdrücken, sich in ihren Schoß zu übergeben.

«Wir wollen dieses Schuljahr auf befreite Weise beginnen – frei von der ständigen Bedrohung durch den anonymen Schüler – oder die Schülergruppe –, die unter dem Kürzel DGM bekannt ist.»

Stille. Bree hatte überraschtes Gemurmel erwartet, aber offenbar war der Anlass dieser Versammlung ungefähr so vorhersehbar gewesen wie die Tatsache, dass Liberace schwul war.

Bree biss sich auf die Unterlippe, um ihr Lächeln zu verbergen, als Sergeant Callahan ans Mikrophon trat. Sie liebte den gefährlichen Kitzel ihrer DGM-Aktionen, und zwar so sehr, dass sie sich meistens freiwillig für die besonders riskanten Aufgaben meldete. Natürlich war sie es gewesen, die am Wochenende in die Schulturnhalle einbrechen durfte, um ein geheimes Videogerät zu installieren. Manchmal wünschte sie sich beinahe, erwischt zu werden. Von der Bishop DuMaine zu fliegen, würde ihren Dad ganz sicher wahnsinnig machen. Und selbst wenn er seine ständige Drohung wahr machte, sie auf eine Klosterschule an der Ostküste zu schicken, wäre es das wert – allein damit sie mit Genugtuung zusehen könnte, wie sein missbilligendes Gesicht vor hilfloser Wut dunkelrot anlief.

«Guten Morgen», sagte Sergeant Callahan knapp. «Auf die Bitte von Pater Uberti hin hat das Menlo Police Department eine Hotline für anonyme Hinweise zu DGM eingerichtet. Wir bitten euch, Augen und Ohren offen zu halten. Jeder Hinweis, egal wie unwichtig er erscheinen mag, kann uns weiterhelfen.»

John stützte sein Kinn auf Brees Schulter. «Klingt ja nach einer richtigen Hexenjagd», flüsterte er.

«Danke, Sergeant Callahan.» Pater Uberti schüttelte die Hand des Polizisten und wandte sich dann wieder an die Schüler. «Wir hoffen, dass diese Schritte zur Festnahme der Täter führen, deren böswillige Angriffe in den letzten drei Semestern die Schüler der Bishop-DuMaine-Schule terrorisiert haben.»

Böswillig? Bree schloss die Augen, um sie nicht für alle sichtbar zu verdrehen. Böswillig war eher das Mobbing, das an seiner Schule täglich passierte, und darum scherte sich Pater Uberti einen Feuchten. Und weil er nichts dagegen unternahm, musste Don’t Get Mad es an seiner Stelle tun.

«Jetzt wird euch die Vizepräsidentin der Schülervertretung, Kitty Wei, eine kurze Präsentation des Leadershipkurses zeigen.»

Kitty war fünfzehn Zentimeter größer als Pater Uberti, sie musste das Mikrophon auf die höchste Stufe stellen und sich immer noch vorbeugen, um hineinzusprechen. «Guten Morgen, Leute!» Sie lächelte breit und sprach mit fester Stimme. «Seien wir ehrlich, ein Teil von uns ist doch irgendwie auch neidisch auf DGM

Ein Murmeln ging durch die Halle. In Brees Ohren klang es, als wären die Schüler der Bishop DuMaine derselben Meinung.

«Aber wir wollen natürlich, dass unsere Schule ein sicherer Ort der Geborgenheit für jeden von uns ist», fuhr Kitty fort. «Also haben wir ein kleines Video darüber zusammengestellt, was wir tun können, um den Namen Bishop Du Maines zu ehren und hochzuhalten.»

Und es war das Signal, auf das Bree gewartet hatte.

Kitty lächelte. «Ich hoffe, unsere kleine Präsentation gefällt euch», sagte sie und trat vom Mikrophon weg.

 

Kitty beobachtete Pater Uberti aus dem Augenwinkel. Er holte eine sperrige Fernbedienung aus den Tiefen seines Gewandes und richtete sie auf ein kleines Fenster ganz oben in der gegenüberliegenden Wand. Der Videoplayer im Technikraum erwachte zum Leben und warf das Logo der Bishop-DuMaine-Schule klar und riesig auf die Leinwand über ihrem Kopf.

Kaufhausmusik dudelte, und eine Reihe von Fotos erschienen und verschwanden wieder. Darauf waren Schüler aller Staturen, Größen und Hautfarben zu sehen, die lachten, für die Kamera posierten und fröhlich auf dem Schulhof ihr Mittagessen aßen. Es war genau die Sorte Jugendparadies, die sich Erwachsene für ihre Kinder wünschten, eine Welt, in der alle verständnisvoll, kooperativ und nett waren, die elterliche Illusion einer modernen Highschool.

Nur dass die Schüler der Bishop DuMaine es besser wussten. Diese Highschool war kein Paradies, sie war ein brutaler Ort.

Die Dudelmusik verklang, und eine glockenklare Stimme begann zu sprechen. «An der Bishop DuMaine

Kittys Herz klopfte ihr bis zum Hals. Der Film auf der Leinwand flackerte verzerrt. Das Abspielgerät, das Bree am Wochenende installiert hatte, übernahm jetzt die Kontrolle.

Margots Technik funktionierte perfekt, wie versprochen.

Ein neues Bild tauchte auf der Leinwand auf: ein Schlafzimmer, unordentlich und schmuddelig. Ein sehniger Arm zerrte einen Stuhl heran, und die muskulöse Gestalt von Coach Creed erschien und setzte sich direkt vor die Kamera.

«Ich heiße Richard Creed», sagte er und zeigte sein bestes Scheißegal-Lächeln. «Aber ihr könnt mich Dick nennen.» Er trug ein blaues Turnhemd, das zwei Größen zu klein war, und seine massigen Arme sahen aus, als hätte er sie mit Bratfett eingerieben. Er wies mit dem Daumen auf sich selbst. «Und ich bin hier» – jetzt zeigte er auf sein imaginäres Publikum in der Kamera – «um Ihnen drei Gründe zu nennen, weshalb ich den Titel America’s Next Fitness Model gewinnen werde.»

«Oh Gott!» Coach Creeds Ausruf durchbrach die überraschte Stille in der Halle. Kitty konnte ihn von der Bühne aus nicht sehen, sondern nur die allgemeine Unruhe in den höheren Bankreihen hören, als er mit schweren Schritten nach unten marschierte.

Pater Uberti packte Kitty grob am Ellenbogen. «Was ist da los?», zischte er. «Was ist das?»

Kitty schaute auf ihn hinunter und wünschte sich verzweifelt, zumindest einen Hauch von Olivias

Das Video zeigte jetzt eine neue Szene, in der Coach Creed hinter einem vornehm geschnitzten Holzschreibtisch saß. Hinter ihm standen Bücherregale, die zu beiden Seiten eines großen Fensters bis an die Decke reichten. Die Läden waren geöffnet, sodass man draußen den sonnenbeschienenen Rasen der Bishop DuMaine Preparatory School erkennen konnte.

Die gesamte Schule schien den Atem anzuhalten. Alle kannten diese Aussicht.

«Mein Büro?», knurrte Pater Uberti.

«Grund Nummer eins», sagte Coach Creed und zeigte auf die Regale voller Fachliteratur. «Ich bin nicht nur ein Fitness-Guru, sondern auch Wissenschaftler.» Er lehnte sich in Pater Ubertis Ledersessel zurück und legte einen Fuß im Turnschuh auf den Schreibtisch, direkt neben ein gerahmtes Bild vom Papst. «Weshalb ich natürlich schlauer bin als das durchschnittliche Model. Dennoch habe ich mein Aussehen nicht meiner Intelligenz geopfert, wie man sieht.»

«Was für ein Volltrottel!», rief jemand.

Die nächste Szene zeigte eine Ganzkörperaufnahme von Coach Creed. Er hing an einer Stange und machte Klimmzüge. Zu seinem hautengen Tanktop trug er blaue Laufshorts mit goldenen Rändern aus den Siebzigern, die so unangemessen kurz waren, dass Kitty schon befürchtete, durch das Beinloch jeden Moment

Das Publikum brach in Gelächter aus.

«Ausschalten!», schrie Coach Creed. Er rannte über das Basketballfeld auf die Bühne und riss Pater Uberti die Fernbedienung aus der Hand. Dann marschierte er zum Bühnenrand und wedelte das nutzlose Gerät in Richtung Technikfenster. «Mach schon, du Scheißding! Aus!»

Im Video machte Creed angestrengt einen weiteren Klimmzug. «Fünfzig.» Er ließ sich zu Boden fallen. «Grund Nummer zwei: fünfzig Klimmzüge», keuchte er. «Einer für jedes meiner Lebensjahre. Dick Creed wird nicht älter, sondern immer besser.» Er posierte wie ein Bodybuilder. «Ja, das gefällt euch, was?»

Schallendes Gelächter erklang, die Menge wurde immer ausgelassener. Pater Uberti nahm das Mikrophon. «Mr. Phillips», sagte er. «Öffnen Sie den Technikraum. Sofort!»

Der Hausmeister war schon an der Tür und suchte hektisch nach dem richtigen Schlüssel an seinem Bund. Kitty lächelte in sich hinein. Er hing nicht dran. Olivia hatte den Schlüssel zum Technikraum gestohlen, und Bree hatte ihn weggeworfen, nachdem sie den Videoplayer installiert hatte. Nach ein paar Sekunden rannte Mr. Phillips aus der Turnhalle, vermutlich, um den Ersatzschlüssel zu suchen.

Coach Creed schleuderte die Fernbedienung auf den Boden und stürmte zur verschlossenen Tür, wo er mit seinen fleischigen Händen wie wild an der

Auf der Leinwand änderte sich die Szene erneut, und in der Halle wurde es wieder still. Alle Schüler und die Hälfte der Lehrer saßen gespannt ganz vorn auf ihren Sitzbänken und schauten erwartungsvoll. Ein Schwimmbecken war zu sehen. Es schien ein bewölkter Tag zu sein, aber das graue Wetter hielt den zukünftigen Reality-Show-Star Dick Creed natürlich nicht auf. Er posierte auf einem Strandtuch am Rande des Wassers. Sein blaues Turnhemd und die kurzen Laufshorts hatte er gegen eine Badehose eingetauscht, und seine alternde, viel zu stark gebräunte Haut hing schlaff von seinem Körper. Der Bauch erinnerte an einen alten Ballon, aus dem die Luft entwichen war – eine unangenehme Mischung aus straff und schlaff, bei deren Anblick Kitty unwillkürlich an Captain Kirk in den alten Star-Trek-Folgen denken musste, die ihr Dad so liebte.

«Grund Nummer drei.» Er zog die linke Braue hoch. «Seien wir ehrlich, Dick Creed ist doch ein sexy Stück männliches Fleisch. Die Damen lieben es und können gar nicht genug davon bekommen. Also werden sie jede Woche einschalten, um mehr von mir zu sehen, das kann ich garantieren.» Er nahm ein Glas Sekt in die Hand und prostete in die Kamera. «Schlau, stark und sexy. Dick Creed ist alles – und noch viel mehr. Meinen Sie nicht auch, dass dieses Gesamtpaket ein Vorsprechen verdient hat?» Er zwinkerte noch einmal, dann wurde das Bild schwarz.

Niemand rührte sich. Die ganze Halle hielt den Atem

Schwarze Buchstaben auf weißem Grund. Eine unverkennbare Schrift, die aussah, als wäre sie auf einer altmodischen Schreibmaschine getippt.

Mit den besten Grüßen

von DGM

Es hatte fast den ganzen Tag gebraucht, bis Margot sich nach der Versammlung wieder beruhigen konnte. Das Zittern in ihren Händen wurde auch während des Politikkurses nicht schwächer, und als es nach Ende der sechsten Stunde zur Pause klingelte, spürte sie ihr Herz immer noch bis zum Hals schlagen.

Normalerweise ging es bei den Aktionen von DGM nicht so sehr um öffentliche Demütigung als darum, die Machtlosen mit den Mächtigen ein wenig mehr auf Augenhöhe zu bringen, aber Coach Creed war ein besonderer Fall. Sie hatte schon befürchtet, dass eine Ader in seinem Kopf platzen und er direkt vor ihnen auf dem Basketballfeld zusammenbrechen könnte, der Tatbestand wäre dann wohl Totschlag. Aber dennoch: Theos Gesichtsausdruck war unbezahlbar gewesen. Sie hatte sein Lächeln beobachtet, das zuerst nur aufgeflackert war und dann immer sicherer wurde, bis er über das ganze Gesicht strahlte. Außerdem hatte sie gesehen, wie ein Klassenkamerad zwei Reihen hinter ihm die Hand ausstreckte und ihm auf die Schulter klopfte. Dann noch einer und noch einer. Sie hatten alle begriffen, dass Theo endlich Genugtuung verspürte für all das, was Coach Creed ihm angetan hatte.

Der Gerechtigkeit war Genüge getan worden.

Margot hielt den Atem an, als sie die Haustür öffnete, und lauschte nach Anzeichen dafür, dass ihre Eltern zu Hause waren. Aber alles war still. Das Haus war leer.

Sie schloss und verriegelte die Tür hinter sich und atmete tief und erleichtert aus. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war, zwanzig Fragen über ihren Tag zu beantworten.

Es war nicht so, dass sie ihre Eltern je ganz allein lassen würden. Es gab immer eine Liste mit Aufgaben auf dem Küchentresen, als wäre sie noch ein zwölfjähriges Schlüsselkind, das ohne strenge Anweisungen den ganzen Tag Eiscreme essen und Trickfilme gucken würde.

Auch die heutige Liste war ein wahres Meisterwerk ihrer Mom.

14:45 Ankunft zu Hause

14:50 Kleiner Snack (Apfel oder Banane und eine Scheibe Käse)

15:00–16:00 Mathehausaufgaben (wenn früher fertig, die nächste Aufgabe erledigen)

16:00–17:00 Zusätzliche Aufgaben erledigen, die von der Bishop DuMaine zur Verfügung gestellt sind

17:15–18:00 Aufgaben für die Stanford-Aufbaukurse

18:00–19:00 Abendbrot mit der Familie

19:00–19:30 Dreißig Minuten Fernsehen, entweder Nachrichten oder Quizshow

19:30–20:00 Duschen

20:00–23:00 Wenn deine Übungen für Stanford und alle anderen Hausaufgaben fertig sind, darfst du lesen, was dir Freude macht

Natürlich meinte ihre Mom mit was dir Freude macht, dass sie einen Klassiker der Weltliteratur von einer der Listen auswählen durfte, die für die Fortgeschrittenen-Literaturkurse in Harvard, Yale und Stanford vorgeschrieben waren. Margot lachte freudlos. Es gab doch nichts Schöneres, als den Tag mit drei Stunden Chaucer oder Hardy abzuschließen.

Und ihre Eltern wunderten sich ernsthaft, warum sie versucht hatte, sich umzubringen.

Margots Selbstmordversuch vor vier Jahren war ein absoluter Schock für ihre Mutter und ihren Vater gewesen. Es war nicht so, dass es keine Warnzeichen gegeben hätte: Margot hatte alles getan, um ihr Unglück zu zeigen. Sie hatte wochenlang jeden Morgen geweint und auf keinen Fall in die Schule gehen wollen. Sie hatte ihren Eltern vom Mobbing erzählt, davon, dass sie keine Freunde hatte, dass sie sich selbst hasste. Aber ihre Eltern hatten es einfach nicht glauben wollen – als hätten sie damit zugeben müssen, dass sie keine guten

Für Margot ging es nur noch darum durchzuhalten.

Noch siebenhundertundzweiundzwanzig Tage, dann würde sie auf dem College sein, hoffentlich an der Ostküste. Dann würde sie frei von allem sein – von ihren Eltern, ihrer Vergangenheit und all den Erinnerungen, die sie nicht losließen.

Mit einem schweren Seufzer zog Margot ihren Rucksack zu sich heran. Siebenhundertundzweiundzwanzig Tage.

Aber erst die Mathehausaufgaben.

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