Die Arbeit an diesem Roman wurde durch das Aargauer Kuratorium gefördert.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2020
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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Die Zeichnungen auf den Seiten 50/51, 83, 134, 171, 195 und 235 stammen von Rafael Koller (rafaelkoller.ch).
Coverabbildung Rafael Koller
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ISBN 978-3-644-00802-1
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00802-1
Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und all diese vier mit mir? Und mich mit Ihnen?
Und uns alle sechs mit den Amöben in eine Richtung und mit dem eingeschüchterten Schizophrenen in einer anderen?
— Geist und Natur, Gregory Bateson
Mein Herz ist wild, wie die Wolke der Nacht
Und sehnsuchtstoll – oh Du!
Die will der ganze weite Himmel sein
Und sie weiß nicht wozu.
Die Wolke der Nacht ist mit dem Wind allein.
— Das Lied von der Wolke der Nacht, Bertolt Brecht
Im Winter des Jahres 20xx beschäftigte die Schweizer Medien das Verschwinden eines Mannes, der erst nur R.A. (Name der Redaktion bekannt), dann Robert A., und schließlich, als jede Hoffnung, ihn wiederzufinden, aufgegeben war, bei seinem vollen Namen genannt wurde: Robert Akeret.
Auch mich schlug das Verschwinden dieses Mannes in seinen Bann, und ich verfolgte den Fall durch mehrere Blätter. Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ließ sich nicht zu Spekulationen herab, sie trug vielmehr nüchtern die Tatsachen zusammen: Aufbruch am 3. August, mehrtägiger Aufenthalt in Singapur, Weiterflug nach Port Moresby, der Hauptstadt Papua-Neuguineas. Zudem veröffentlichte die Zeitung Auszüge aus den teils rätselhaften Nachrichten, die Akeret via Satellitentelefon an eine Kontaktperson in Zürich geschickt habe.
In einem Essay, der im Feuilleton des TAGES-ANZEIGER erschien, wurde Akeret in eine Reihe gestellt mit drei anderen manischen Suchern: mit Gilgamesch, der Unsterblichkeit sucht in Form eines Krautes; dem heiligen Antonius, der in der Wüste Zuflucht vor den Versuchungen des Fleisches finden will; und Kapitän Ahab auf der Jagd nach dem schrecklich weißen Wal, an den er sein Bein verloren hat. In Akeret vereinten sich, so die Autorin, bestimmte Eigenschaften dieser drei. So habe Akeret, wie Antonius, dem Altbekannten den Rücken gekehrt, um aufzubrechen ins Ungewisse. Wie Ahab sei er besessen von einer halb-mythischen Kreatur – in seinem Fall ein Zwischenwesen, das den Menschen mit dem Tierreich verbinde und für das es zwar in den Sagen vieler Kulturen Namen gebe, doch noch keinen wissenschaftlich anerkannten. Und wie Gilgamesch strebe Akeret danach, Unsterblichkeit zu erlangen, denn er wollte dem Wesen seinen eigenen Namen geben und sich so verewigen in den Büchern der Naturwissenschaften.
Die kritische Kommentarspalte einer Lokalzeitung bezeichnete den Verschollenen als lebensmüde und verantwortungslos. Zudem sei die Berichterstattung fahrlässig, sei doch ein WERTHER-EFFEKT zu befürchten, die Nachahmung einer solcherart romantisch verklärten Expedition. Sollten nun Dutzende beeinflussbarer junger Männer in fernen Regenwäldern auf der Jagd nach Hirngespinsten einen elenden Hungertod sterben, trügen die Medien zumindest einen Teil der Verantwortung.
Der BLICK erging sich in Mutmaßungen. So wurde ein Häuflein menschlicher Knochen präsentiert, Akerets Überreste, wie es hieß, auf denen sich angeblich die Wetzspuren eines Messers fanden. Überhaupt gefiel es der Redaktion, ständig darauf hinzuweisen, dass im heutigen Papua-Neuguinea noch immer Kannibalen lebten.
All diese Artikel las ich begierig. Es war eine Geschichte wie aus anderen Zeiten, ein antikes Epos mit einem Helden, der auszieht, um unsterblich zu werden. Zudem, und das war für meine Faszination wohl entscheidend, entdeckte ich unverkennbare Parallelen zwischen Akeret und mir. Er stammte aus nicht-akademischen Verhältnissen, machte – wie ich! – eine Lehre zum Drucker und versuchte sich dann ohne Studium auf einem Gebiet, auf dem ein universitärer Abschluss die Regel ist: Er widmete sich der Biologie, insbesondere der Zoologie.
Es war, als zeigte mir sein Beispiel einen möglichen anderen Verlauf meines Lebens auf – und sind das nicht die Geschichten, die uns am meisten fesseln? Das Leben zwingt uns zu entscheiden, und mit jeder Entscheidung bleibt eine Daseinsmöglichkeit ungelebt. Die Geschichten der anderen aber versetzen uns in eine wundersame Gleichzeitigkeit der Möglichkeiten.
Und so begann ich zusammenzutragen, was aus schriftlichen Quellen zu erfahren war, sprach auch mit Akerets Mutter, die mir seine Notizbücher zur Durchsicht überließ. Bei deren Lektüre erfuhr ich nicht ein einziges persönliches Detail über Akeret, aber alles darüber, welche Wissensgebiete ihn begeisterten. In seiner Büchersammlung stieß ich auf die unterstrichenen Passagen, die diesem Roman vorangestellt sind. Die mit hartem Bleistift gemachten Hervorhebungen stammen, davon gehe ich aus, von Akeret selbst.
Besonders der besagten Kontaktperson, die anonym bleiben möchte – in diesem Roman erscheint sie als Professorin Dr. Unland –, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie hat mir Akerets Wesen aufgeschlossen, wie wohl niemand sonst es gekonnt hätte.
Ich habe darauf verzichtet, dieser Geschichte den Anschein zu geben, sie beruhe bis ins Kleinste auf wahren Begebenheiten. Man könnte sagen: Ich habe faktische Anhaltspunkte mittels Vorstellungskraft miteinander verbunden. Dem Leser, der Leserin sei daher geraten, diesem Roman keine Details aus dem Leben Robert Akerets zu entnehmen und als Anekdoten zu verbreiten.
Zürich, Oktober 20xx
Als ich mir Akeret das erste Mal vorstelle, befindet er sich auf einem Boot, und das Einzige, was er vermisst, ist eine ordentliche deutsche Toilette. Nicht, dass eine solche sein Heimweh lindern würde – er ist ja kein Deutscher –, doch ist sie so gebaut, wie er sich eine vollkommene Toilette erträumt. Die deutsche Toilette hat eine hübsche kleine Liegefläche, auf der die Ausscheidungen begutachtet werden können, nicht bloß ein zum Wasser sich öffnendes Loch. Westliche Wasserklosetts hatten sie zuletzt in Singapur gesehen, doch immer solche französischer oder amerikanischer Bauweise, niemals deutsche Flachspüler. Im ganzen Archipel waren Hocktoiletten vorherrschend, und die waren nichts anderes als mit Porzellan umkleidete Löcher, über denen man erbarmungswürdig in die Hocke gehen musste, um sich zu entleeren.
Warum nur, fragte sich Akeret, gab es im ganzen Archipel keine einzige Toilette, auf der es sich zivilisiert sitzend scheißen ließ?
Er übernahm gedanklich gern die Rolle des Kolonialherren, ohne wirklich zu glauben, die Europäer seien den Asiaten überlegen, im Gegenteil: Er war der Überzeugung, dass Europa im Untergang begriffen sei und bald nur noch unbedeutendes Westkap Asiens wäre.
Die Hocktoiletten hatten die tägliche Untersuchung seiner Exkremente stark erschwert, aber nun, auf dem Boot, das bloß über ein Plumpsklo verfügte, war sie nahezu unmöglich. Was man ausschied, fiel gleich ins Meer. Darum hatte er Mansur um einen überzähligen Blechteller gebeten, und er erhielt ihn auch, konnte aber auf die Frage, wozu er ihn benötige, nichts entgegnen außer einer gestammelten Ausrede.
Mansur fand es ohnehin bald selbst heraus. Er hatte Akeret mit dem Teller hinter den Vorhang verschwinden sehen, der das Plumpsklo abschirmte, und das recht eigenartig gefunden. Gerade als Akeret seinen Kot auf dem spiegelnden Blechteller betrachtete, steckte Mansur seinen Kopf durch den Vorhang und grinste.
Das bedurfte einer Erklärung. Akeret nahm den eingeschweißten Bogen hervor, auf welchem die BRISTOL-STUHLFORMEN-SKALA abgebildet war, von Typ 1 bis Typ 7, neben jeder Ziffer eine anschauliche Zeichnung. Anhand dieser Skala ermittle er jeden Morgen einen Wert, den er in sein Notizheft eintrage, und dieses zeigte er nun Mansur zum Beweis, dass er kein Koprophage, kein Kotfresser, war.
Mansur warf einen Blick auf die Notizen und nickte beflissen, doch grinste er noch immer.
Es war eine Skala von bemerkenswerter Einfachheit, die den verwirrend zahlreichen Erscheinungen der Welt eine feste Nummer zuwies. Es gab noch weitere solcher von Akeret bewunderter Ordnungssysteme. So hatte Beaufort den Wind, Mendelejew die Elemente, Werner die Farben geordnet – und Carl von Linné natürlich die Tiere und Pflanzen. Nur im Wissen um solche Systeme war die Unübersichtlichkeit der Welt zu ertragen.
Bei Typ 1 handelte es sich um kleine feste Kügelchen, dem Kot eines Kaninchens ähnlich, die mit Verstopfung einhergingen und auf Wassermangel hinwiesen. Typ 7 dagegen war völlig flüssig, ohne feste Bestandteile.
Natürlich, erklärte er Mansur, dürfe es so weit niemals kommen, denn Durchfälle nach Typ 7 führten in den Tropen rasch zu einer lebensgefährlichen Austrocknung des Körpers. Aber nicht nur die Beschaffenheit spiele eine Rolle, auch Farbe und Geruch seien in die Wertung miteinzubeziehen.
Mansur fragte ihn nun mit Blick auf den Blechteller, ob es nicht genug Frühstück gegeben habe, und zog dann den Kopf unter schallendem Gelächter hinter den Vorhang zurück.
Akerets Assistent Blum, der die Szene beobachtet hatte, konnte darüber nicht lachen, nicht einmal schmunzeln. Auch ihm hatte Akeret die Skala in aller Ausführlichkeit dargelegt. Wie sollten Verdauungsreste Aufschluss geben über zukünftiges Befinden? Für Blum stand das Kot-Orakel auf derselben Stufe des Aberglaubens wie die Vogelschauen des Altertums, bei denen die Auguren aus dem Flug der Vögel die Zukunft lasen – die der Menschen wohlgemerkt, nicht die der Vögel.
Wie immer, wenn Akeret gewisse Verschrobenheiten an den Tag legte, bereute Blum, sich diesem Unterfangen angeschlossen zu haben. Er fürchtete, Akeret könnte seinen (noch kaum vorhandenen) akademischen Ruf beschädigen. Meist beruhigte er sich dann mit dem Gedanken an Alfred Russell Wallace, einem Genie vom Schlage Darwins, der den Archipel ausgiebig bereist und beinahe zeitgleich mit Darwin die treibende Kraft hinter der Entstehung der Arten entdeckt hatte. Auch Wallace war obskuren Ideen verfallen, hielt spiritistische Séancen ab, um mittels Gläserrücken mit seinen verstorbenen Geschwistern zu kommunizieren. Solche Ausschweifungen konnten sich allein Geistesgestörte und Genies leisten. Blum hoffte inständig, Akeret sei ein Genie.
Seit Mansur hinter das Geheimnis der Kotschau gekommen war, fragte er Akeret jeden Morgen, welche Nummer er eingetragen habe. Er zeigte den Daumen nach oben, wenn die Antwort Drei lautete oder Vier, denn diese beiden Formen waren ideal: wurstförmig mit gefurchter Oberfläche und wurstförmig mit glatter Oberfläche. Es machte ihn stolz, wenn er, als Koch, zu guten Werten beitragen konnte, und doch fand er diese Neigung, natürliche Dinge zu messen und in Kategorien zu zwängen, recht merkwürdig.
Zwar ordnete auch er die Natur, doch waren seine Kategorien andere. Für Mansur bildeten Pflanzen, die gegen Kopfweh halfen, eine Gattung, und solche gegen Hautausschlag, Durchfall oder Bauchweh je eine weitere. Die weibliche Ameise, deren Hinterleibssekret gegen Schnupfen half, stand der Flechte, welche dieselbe Wirkung hatte, näher als der männlichen Ameise, mit deren Kieferzangen sich Schnittwunden schließen ließen.
Und dann gab es natürlich noch Tiere und Pflanzen, die in den zahlreichen Sagen des Archipels eine wichtige Rolle spielten: BABIRUSA etwa, ein Wildschwein mit furchteinflößend gebogenen Hauern, auf dessen Rücken nach sulawesischer Vorstellung die Erde ruhte, die zu beben beginnt, wann immer das Schwein sich an einer Palme reibt.
Oder die BETELNUSS, welche Hainuwele, die Kokosblütengeborene, dem molukkischen Mythos zufolge den Männern bei einem rituellen Tanz anbieten soll. Stattdessen präsentiert sie ihnen Porzellanteller, goldene Ohrringe und andere wertvolle Gegenstände, die auszuscheiden sie fähig ist.
Diese und andere Geschichten waren Mansur auf seinen Schiffsreisen durch den Archipel erzählt worden. Er hatte seine Heimat, den Süden Sulawesis, mit sechzehn Jahren verlassen und sich geschworen, nie wieder dorthin zurückzukehren. Mansur sah nicht nur das, was war, sondern immer auch die Geschichten, die damit zusammenhingen. Dieser die Wirklichkeit anreichernde Blick schien den BULE, den Weißen, abhandengekommen zu sein. Sie beschränkten sich auf nichtssagende Äußerlichkeiten und Zahlen – wobei Akeret ein für einen Wissenschaftler ausgesprochen lebendiges Interesse an Sagen und Mythen zeigte.
Der andere, sein Name war Blum, hatte seit dem Vorabend ihrer Abreise kein Wort mit ihm gewechselt und ging ihm aus dem Weg, soweit dies möglich war auf einem Boot. Fanden sie sich aber, unbeabsichtigt, allein zu zweit wieder, dann herrschte von beiden Seiten unbeirrbares Schweigen. Sie verzichteten sogar auf die kleinen Geräusche, die Menschen machen, um zu zeigen, dass sie sich der Anwesenheit des anderen bewusst sind und diese achten. Mansur war es recht, er mochte Blum nicht besonders.
Der Grund ihres Streits war nichtig gewesen. Mansur hatte Jonah, ihrem einheimischen Steuermann, aufgetragen, vor der Abreise Waffen zu besorgen, und Jonah brachte zwei Gewehre, die wohl illegal gedruckt worden waren. Sie bestanden aus buntem Plastik und wirkten wie Wasserpistolen, waren aber, wie Jonah betonte, tödliche Waffen, mit denen die hiesigen Gangster, die man RASKOLS nannte, ihre Bandenkriege führten.
Akeret wirkte nicht begeistert, als Mansur ihm die Waffen brachte, er sagte, er habe ihm nicht den Auftrag dazu erteilt.
Ob er denn nicht wisse, fragte Mansur, dass es im Hochland menschenfressende Stämme gebe?
Bevor Akeret antworten konnte, mischte Blum sich ein: Diese menschenfressenden Stämme – er zeichnete Gänsefüßchen in die Luft – seien doch bloß eine Erfindung der Europäer, im Versuch, fremde Ethnien zu Kannibalen abzuwerten, um mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit über sie zu bestimmen. Diese Haltung habe zum Kolonialismus geführt und zu Gräueln wie den Völkerschauen, den HUMAN ZOOS, in die ganze Dörfer verschleppt worden waren.
Nein, entgegnete Mansur ganz ruhig. Diese Stämme töteten und fräßen Menschen, und sie bräuchten Gewehre, um sich notfalls zu wehren.
Akeret warf schmunzelnd ein, dass Blum eben Schweizer sei, was bedeute, dass er zwar blind mit einem Gewehr umgehen könne, gleichzeitig aber so neutral sei, dass er gar nicht wisse, auf wen er schießen solle.
Niemand lachte.
Beinahe drei Wochen, bevor Akeret mit dem Blechteller ertappt wurde, hatte er ohne Ziel den Zug bestiegen, um sich in seinem kleinen Land noch ein wenig umzuschauen. Es war der erste August, Nationalfeiertag, und ihn hatte Wehmut ergriffen, für die er sich schämte. Wieder und wieder hatte er auf dieses Land, in dem er geboren und aufgewachsen war, geschimpft, es langweilig und verstockt genannt. Die schlimmste Eigenart seiner Landsleute war, wie er fand, alles klein zu halten und das Erhabene, das Weitschweifende, das Weltumspannende nicht zu würdigen – und damit auch sein Vorhaben nicht. Das zeigte sich schon an der Sprache, einer Mundart, welche die Verkleinerung liebte und die entsprechende Endung allen unmöglichen Wörtern anhängte. So wurde selbst ein Schlaganfall zum Kalauer, zum Schlägli verniedlicht.
Die Ablehnung der anderen, die Akeret deutlich zu spüren glaubte, war ihm Bestätigung. Es gab nichts Schlimmeres für ihn als laues, unwidersprochenes Tun, denn dass niemand sich daran störte, zeigte, wie unbedeutend es war. Sein Vorhaben dagegen war von einer Kühnheit, die nicht in dieses Land und in diese Zeit passte. Akeret wollte eine einfache und große Tat vollbringen in einem Jahrhundert der Zerstreuung, in dem die Wissenschaften zersplittert waren in unzählige Teilgebiete. Viel zu lange war ihm gewesen, als lebe er sein Leben falsch, so wie man falsch schwimmen kann und all seine Kraft aufwendet, um nur den Kopf über Wasser zu halten.
Nun, wenige Tage vor seiner Abreise in die ersehnte Ferne, ergriff ihn aber, gewissermaßen vorauseilend, ein lästiges Heimweh. Er hatte in einem leeren Viererabteil Platz genommen, in seinem Schoß ein Buch, das er gut kannte, das ihm wie ein Freund war. Akeret gab acht, den Buchrücken nicht zu überdehnen, er wollte jene unschönen Falten vermeiden, wie sie sich bei alten Menschen zwischen Nase und Oberlippe bilden.
Manchmal blickte er auf, ließ seinen Blick über das Sommerland springen, dabei die Hand im Buch, angeschmiegt an das raue, kühle Papier. Dann schlug er es wieder auf, las manche Sätze mit bewegten Lippen, auch zweimal, dreimal hintereinander. Manche Sätze las er sich selbst flüsternd vor, sodass ein Beobachter ihn für einen Geistlichen hätte halten mögen, der sich in seine Heilige Schrift versenkt.
Als er beim nächsten Halt aufschaute, fiel sein Blick auf die Bahnhofsuhr, und ihm wurde bewusst, dass er vor erst zehn Minuten eingestiegen war. Lesen ist wie Träumen, dachte er, es dehnt die Zeit.
Da setzte sich ein Mann ihm gegenüber, was ihn irritierte, hatte er doch gelernt, sich Fremden nur so weit wie nötig zu nähern. Der Mann trug einen grauen Bart und einen Fischerhut auf dem Kopf, er machte einen leutseligen Eindruck. Bestimmt war er Stammgast in einer Beiz und grüßte, wenn er durch sein Quartier ging, viele Leute.
Akeret versenkte sich ins Buch und vermied es, den Blick zu heben und aus dem Fenster zu schauen, denn der Mann schien nur darauf zu lauern, ein Gespräch zu beginnen. Akeret war kein redefreudiger Mensch, konnte aber in manischen Redefluss verfallen, wenn man ihn zu einem seiner Spezialgebiete befragte. Sprache diente ihm zur Übermittlung von Informationen, weswegen er auf Höflichkeitsformeln verzichtete, auch wenn er wusste, dass dies harsch und unfreundlich wirken mochte. Er sah keinen Sinn im Aussprechen von Floskeln, von denen beide Seiten wussten, dass sie nicht ehrlich gemeint waren, und so fühlte er oft über Tage keinen Drang zu sprechen, und sein Schweigen entrückte ihn den Menschen.
Dennoch, ein Leben ohne Zuschauer erschien Akeret sinnlos. Ob diese Zuschauer nun aber Freunde waren oder Bewunderer, war im Grunde gleich. Er verstand, was vereinsamte Menschen in den Selbstmord trieb: Weil niemand ihr Leben wahrnahm, machte es für sie keinen Unterschied, ob sie lebten oder nicht. Wenn sie sich nun zwischen einem Dasein, das ihnen Qualen bereitete, und dem sinnenlosen Nichts entscheiden mussten, dann wählten sie verständlicherweise Letzteres, das Nichts. Das waren Leute, die im Zug Selbstgespräche führten und zu denen niemand sich setzte. Aber es waren keine Verrückten, es waren nur Einsame, vom Verschwinden Bedrohte, die sich durch lautes Sprechen ihres Daseins vergewisserten und der Unsichtbarkeit zu entgehen suchten.
Akeret hegte die Sorge, auch er könnte eines Tages so werden und nicht mehr merken, wie seine Gedanken den Weg zur Zunge fänden. Wenn niemand sich zu ihm setzte, die anderen Abteile aber gefüllt schienen, betastete er fahrig sein Gesicht, um darin zu suchen, was die anderen abstieß. Deshalb war er nicht nur unangenehm berührt, als der Fremde sich ohne Zögern in seinem Abteil niederließ, sondern auch – tatsächlich – erleichtert.
Es ging ein Geruch von warmer, etwas muffiger Gemütlichkeit von dem Fischhutträger aus, ein Geruch, der in Altkleidersammlungen herrschte. Obwohl Akeret die Stirn gerunzelt hielt, um zu zeigen, wie sehr ihn das Lesen beanspruchte, sprach der Mann ihn an.
Das sehe aus wie ein recht schweres Buch, sagte er heiter, und Akeret verstand nicht, was er ihm eigentlich mitteilen wollte. Er hatte oft Mühe, die unausgesprochenen, verborgenen Absichten der Menschen zu erraten, und wenn dann noch Worte hinzukamen, die mehrere Bedeutungen hatten, wie eben das Wörtchen schwer, dann wurde ein scheinbar einfacher Satz zum unlösbaren Rätsel.
Nein, sagte er nach einer zu langen Pause, das Buch sei nicht schwer, das Papier besitze bei geringer Dichte ein hohes Volumen, was für englische Bücher typisch sei – sie seien immer viel leichter, als man vermute. Deutsche Bücher dagegen seien schwerer, wohl weil man Wissen gleichsetze mit Gewicht und allzu leichten Büchern misstraue. Auch er selbst spüre beim Lesen gern eine gewisse Schwere auf den Oberschenkeln.
Der Mann zog ein zerknittertes Taschentuch aus seiner Hose, die sich über den unteren Teil seines Bauches spannte. Während er sich die Nase schnäuzte, prüfte Akeret seine Möglichkeiten. Er wusste, dass es unhöflich wäre, einfach den Sitzplatz zu wechseln, und so blieb er sitzen und beachtete den Fischerhutträger nicht weiter.
Doch schon meldete sich der Mann wieder zu Wort. Er wollte wissen, worum es in dem Buch ging, und Akeret begann in einer langatmigen Rede, dessen Thematik auszubreiten. Er tat es nicht, um sie dem Mann begreiflich zu machen, sondern vielmehr um sich selbst zu beweisen, dass er alles verstanden hatte.
Der Titel, der Titel des Werkes laute ON THE TRACK OF UNKNOWN ANIMALS, begann er stockend, mit leiser, betonungsarmer Stimme und schaute dabei aus dem Zugfenster. Ihn hemmte die Angst, einen Satz zu beginnen, dessen Ende er nicht würde finden können, sich in immer weiter verschachtelnden Sätzen zu verlieren. Und so verstummte er wieder, um sich die Sätze zurechtzulegen.
Bernard Heuvelmans, fuhr er fort, habe mit diesem Buch den Grundstein gelegt für die Kryptozoologie, die Wissenschaft von der Suche nach unbekannten Arten. In seiner Jugend habe sich Heuvelmans sowohl für Jazz als auch für die Evolution begeistert, und Ende der Dreißigerjahre wurde er in Brüssel mit einer Arbeit zur Zahnstruktur des Erdferkels promoviert. Bald darauf wurde er eingezogen und geriet in deutsche Gefangenschaft. Nach dem Ende des Krieges trat er als Jazzsänger auf. Über Akerets Gesicht spielte ein leises Lächeln, dessen er sich nicht bewusst war. Er hatte nun Vertrauen in seine Stimme und seinen Vortrag gefasst, jedes gesprochene Wort ergab das nächste.
Die Arbeit als wissenschaftlicher Autor, fuhr er ein wenig lauter fort, habe Heuvelmans aber nie aufgegeben. Heuvelmans begeisterte sich für die Sagen über angebliche Fabelwesen und die These, dass solche Sagen stets einen wahren Kern hätten. Seiner Arbeit über mythische Kreaturen blieb die Unterstützung seiner Universität jedoch versagt. Die Kryptozoologie habe leider, so Akeret, nie den Ruf einer seriösen Wissenschaft erwerben können. Dazu beigetragen hätten vor allem amerikanische Forscher – er zeichnete Gänsefüßchen in die Luft –, die etwa behaupteten, es existiere noch heute eine Population von Dinosauriern im Kongobecken.
Er legte seine Hände, nachdem er sie für die Gänsefüßchen erhoben hatte, nicht mehr zurück auf die Oberschenkel, sondern begann, lebhaft zu gestikulieren – freilich ohne sein Gegenüber anzublicken.
Die Kryptozoologie aber sei, um es mit den Worten von Heuvelmans zu sagen, keine okkulte oder arkane Wissenschaft. Man könne nur ahnen, wie sie sich entwickelt hätte, wenn sich frühzeitig eine nüchterne Schweizer Schule als Gegengewicht gebildet hätte. Das Fach wäre heute wohl selbstverständlicher Teil der an der Universität gelehrten Zoologie, und – Akeret lächelte – es gäbe Studenten, die ihre Dissertationen zu Tatzelwurm, Chupacabra oder Igopogo schrieben.
Auf der anderen Seite, fuhr er ernst fort, stehe die ebenfalls wenig hilfreiche Behauptung, die Erde sei vermessen und vollständig durchforscht, ein Irrglaube, der sich zu allen Zeiten finde – auch bei großen Forschern. So habe Georges Cuvier im Jahre 1812 verkündet, es könnten keine großen Vierfüßer mehr entdeckt werden. Eine Behauptung, die bloß noch von jener Charles H. Duells übertroffen werde, dem Vorsteher des amerikanischen Patentamts, der 1899 zu wissen glaubte: Alles, was erfunden werden kann, ist erfunden worden.
Akeret, dem die Fähigkeit fehlte, laut zu lachen, stieß verächtlich Luft aus. Der Fremde ihm gegenüber ließ keine Geräusche hören, doch das sollte Akeret erst später auffallen, nachdem er mit seiner Rede am Ende war.
Ein Jahr später, fuhr er fort, habe Max Planck mit der Entdeckung der Quanten die ganze Physik in Unordnung gebracht und die Voraussetzung geschaffen für Fernsehen und Atombombe. Und ein Angestellter eines anderen Patentamts, nämlich desjenigen in Bern, habe bewiesen, dass weder Zeit noch Raum universale Konstanten sind, sondern das Licht, ja, das Licht!
Akeret war der festen Überzeugung, dass die Entdeckung der Quanten in der Zoologie kurz bevorstand, und er glaubte, dass es an ihm sei, diese Wende herbeizuführen. Diesen Gedanken auszusprechen, hätte er sich allerdings nicht einmal Fremden gegenüber getraut. Er wollte nicht überheblich oder größenwahnsinnig erscheinen.
Cuvier hat sich geirrt, sagte er nach einer kurzen Pause. Wenige Jahre später habe man auf Sumatra den SIAMANG entdeckt, einen schwarzen Gibbon mit auffallend langen Armen. Und auch der Gorilla habe bis ins 19. Jahrhundert als Fabelwesen gegolten. Die wenigen Sichtungen wurden angezweifelt, so auch die Schilderung des karthagischen Admirals Hanno, der von einer Insel in der Insel berichtet hatte, auf der wilde, am ganzen Körper dicht behaarte Weiber lebten. Die Dolmetscher hätten sie GORÍLLAI genannt.
Noch immer blickte Akeret aus dem Fenster, ließ seinen Blick in festem Takt über die Landschaft springen. Er spürte kalten Schweiß seinen Rücken hinabrinnen, während ein Wort immer rascher dem nächsten folgte, es gab keine Möglichkeit mehr innezuhalten. Ihm wurde ein wenig schwummrig, und er musste sich ermahnen, gleichmäßig zu atmen.
Es lasse sich heute nicht klären, ob Hanno damals Exemplare jener Art entdeckte, die wir heute unter dem Namen Gorilla kennen, oder nicht vielmehr Schimpansen oder sogar einen Menschenstamm. Vermutlich verbanden sich mehrere Geschöpfe zu einer einzigen mythischen Kreatur, in einem Prozess ähnlich der Verdichtung, wie Freud sie in seiner Traumdeutung beschreibt. Im Traum könne die Schwester gleichzeitig Mutter und Ehefrau sein – so wie Cetus, das Seeungeheuer, gegen das Perseus und Herakles kämpfen, gleichzeitig Pottwal, Riesenkrake und Walhai ist.
Siamang und Gorilla, fuhr er atemlos fort, seien nicht die einzigen großen Vierfüßer, die nach 1812 entdeckt wurden und damit Cuvier widerlegten. Viele davon, etwa der GROSSE PANDA, der RIESENKALMAR und das OKAPI, waren Legenden, bevor sie Wirklichkeit geworden sind. Die Oberfläche der Erde sei zwar restlos von Satelliten erfasst, aber das treffe auch zu auf Mars und Jupiter, und nur ein Idiot würde behaupten, diese Planeten seien deshalb auch restlos erforscht. Und habe nicht, fiel Akeret jetzt ein, ein Mann mit Namen Bayliss vor einigen Jahren auf Google Earth einen Berg in Mosambik entdeckt, dorthin eine Expedition geführt und Dutzende neuer Arten entdeckt?
Akeret kam in den Sinn, wie er Blum die Anekdote bei ihrem ersten Treffen erzählt hatte und der darüber nicht entzückt, sondern empört gewesen war. Der Berg sei, so Blum, den Einheimischen sicherlich wohlbekannt gewesen, ebenso die unentdeckten Tiere, und das zeige einmal mehr, dass diese sogenannten Entdeckungen immer nur aus der Sicht des Europäers welche seien. Für den Europäer existiere nur, was mit Worten aus seiner Sprache benennbar war. Man denke an die lächerlichen Namen, mit denen James Cook die neuseeländischen und australischen Küsten überzogen hatte: LUNCHEON GROVE, wo die Mannschaft das Mittagessen einnahm; der WET JACKET ARM, ein Meeresarm, auf dem die Seefahrer von schwerem Regen durchnässt wurden; das CAP TRIBULATION, Kap Drangsal, bei dem sie auf ein Riff aufliefen, um schließlich, über HOPE ISLAND, in der WEARY BAY zu landen, der erschöpften Bucht. Und jeder dieser unsäglich banalen Namen habe einen alten, vermutlich heiligen Namen ausgelöscht!
Akeret hatte während Blums Ausbruch betreten geschwiegen, denn genau das war sein Ziel: den Namen einer sagenhaften Kreatur durch einen lateinischen ersetzen, um ihr wissenschaftliche Geltung zu verschaffen. Zudem hielt er James Cook für einen großen Entdecker. Aber das behielt er für sich, er wollte nicht schon vor der Abreise streiten, es würden sich dazu genügend Gelegenheiten angesichts weit wichtigerer Fragen bieten.
Akeret holte tief Atem und sah nun erstmals wieder in das Gesicht des Fischerhutträgers. Er benötigte einige Sekunden, um dessen Ausdruck zu entschlüsseln: Es war blanke Ratlosigkeit. Da erst wurde ihm bewusst, dass er sich wieder einmal zu einem seiner atemlosen Monologe hatte hinreißen lassen, ohne auf Zeichen des Interesses bei seinem Gegenüber zu achten, wie seine Mutter es ihm eingeschärft hatte: Kopfnicken, Zwischenfragen, erhobene Augenbrauen. Aber wenigstens hatte er nun seine Ruhe, denn offenbar wagte der Mann nicht, ihm noch eine Frage zu stellen.
Kurz darauf fand sich Akeret in einem Dorf wieder, in dem er nie gewesen war, wartete neben anderen Leuten am Zebrastreifen. Als die Ampel umschaltete, war er, wie meistens, der Erste, der die Straße betrat. Lange Zeit hatte er geglaubt, die Wartenden ließen, aus welchem Grund auch immer, absichtlich einige Sekunden verstreichen, und es ihnen gleichgetan. Bloß eine seltsame Gewohnheit der Menschen mehr, die er nachahmte, ohne ihren Sinn zu verstehen. Auch in der Schule hatte er geglaubt, es melde sich auf die Frage des Lehrers niemand, weil sowieso jeder die Antwort kannte, da sie offensichtlich war. Irgendwann aber ging ihm auf, dass die anderen die Antwort nicht kannten, wie auch die wartenden Fußgänger nicht schneller reagieren konnten.
Er erinnerte sich beinahe lückenlos an einmal Gesehenes oder Gehörtes, wenngleich er sich angewöhnt hatte, so zu tun, als sei er so vergesslich wie alle anderen. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass es als unhöflich galt, allzu genau zu erinnern, was jemand gesagt hatte. Niemand sah sich gern mit der eigenen Widersprüchlichkeit konfrontiert – und noch weniger in Form eines wörtlichen Zitats.
Wenn Akeret, wie jetzt, durch die Straßen ging, dann immer fürchtend, man könnte ihm ansehen, wie einsam er war. Er gab sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, er habe es eilig, denn schließlich war der Eilige auf dem Weg zu jemandem. Wer sich aber an die Fersen dieses vor sich hin summenden und flüsternden Gehenden geheftet hätte, dem wäre klargeworden, dass er sich nie mit jemandem traf. Er ging durch Städte, bestieg Züge, wanderte durch Landschaften, doch immer allein, allein.
Was aber flüsterte er, was summte er?
Es gab für Akeret nichts Beruhigenderes als die Wiederholung, und so lief ein bestimmter Satz wieder und wieder durch seinen Kopf. Wenn er sicher war, dass niemand die Bewegung seiner Lippen sehen und ihn für einen der Einsamen halten konnte, sprach er ihn leise vor sich hin. Noch besser aber war eine Melodie, die ohne Anfang war und ohne Ende und die, summte er sie, ihn erlöste von seinem niemals ruhenden Geist.
Von einigen Balkonen wehte die Landesflagge, im hellen Himmel platzte sinnlos Feuerwerk. Sobald es dunkel wäre, schlüge der Himmel farbige Funken, und überall sähe man hohe Feuer, die zur Feier des Tages entzündet wurden. Vor soundso vielen Jahren war es seiner Schwester eingefallen, am Rande eines solchen Feuers über die glühenden Kohlen zu spazieren, wobei sie sich die Füße so stark verbrannte, dass sie keine Schmerzen mehr spürte.
Am Ende des Dorfes betrat er ein Wäldchen, das sich zu einem Fluss hin absenkte. Er wähnte sich so lange allein, bis er auf einen vollbesetzten Parkplatz stieß. Im Sommer wurden die Menschen recht vorhersehbar, sie bewegten sich von Schatten zu Schatten, von Gewässer zu Gewässer.
Akeret verabscheute den Sommer. Es war eine Zeit des ständigen Geblendetseins, auch war alles durchdrungen von einem geruchlichen Gemisch aus Heu, Sonnencreme und Bratwurst. Als Herbstgeborenem war ihm der Geruch von moderndem Holz, von zerfallenden Blättern, von nasser Erde viel vertrauter. Diese Gerüche hatten sich in seinem Innern als Gewissheit niedergeschlagen, dass alles vergänglich war. Sommerdüften aber misstraute er, wie er auch den Sommergeborenen misstraute, diesen leichtblütigen Menschen mit Sprossen auf den Wangen und sonnendurchwirktem Haar. Jedes Jahr freute er sich, wenn er die ersten Anzeichen des Herbstes erkannte, etwa das Abkühlen und Längerwerden der Schatten. Dann ging es nicht mehr lange, bis die Leute ihre lächerlichen kurzen Hosen zu Hause ließen und stattdessen elegant wehende Übergangsmäntel trugen sowie einen melancholischen Gesichtsausdruck, sodass Akeret, der im Sommer geradezu mürrisch wirken musste, unter ihnen nicht weiter auffiel.
Er ging hinab ans Ufer und sichtete eine wild überwucherte Insel, die darauf wartete, dass Kinder sie eroberten und ihr Königreich aus Dreck ausriefen. Bestimmt war diese Insel Teil einer fremden Erinnerung an eine Kindheit voller Abenteuer, und es schmerzte ihn, dass es nicht seine eigene war. Auf den Kiesbänken des Ufers lagen die Menschen und ließen sich von der Sonne bescheinen, als wären sie Kaltblüter, die ihren Körper nur auf diese Weise warm halten konnten. Manche pumpten Gummiboote auf, um sich dann, musikhörend und biertrinkend, den Fluss hinabtreiben zu lassen.
Es war Akeret unangenehm, seinen Schatten im Vorübergehen auf die ruhenden Körper legen zu müssen, es war, als berühre er sie dadurch ungewollt. Wenn sein Schatten so über ihre geschlossenen Lider strich, dachten sie wohl, ein Vogel oder eine Wolke oder ein Flugzeug habe die Sonne verdunkelt.
Aber es war kein Vogel, keine Wolke, kein Flugzeug, sondern der Schatten von Robert Akeret, dessen Namen sie nicht kannten, aber schon bald kennen würden, schon bald.
Der Flughafen von Dubai, wo Akeret und Blum auf dem Weg nach Singapur zwischengelandet waren, machte den Eindruck schäbiger Eleganz. Alles sollte wohl edel und luxuriös wirken, doch das meiste, was golden glänzte, war tatsächlich nur Farbe und blätterte bereits ab. Die fossilen Schätze waren erschöpft, Dubai war in das Zeitalter des Zerfalls eingetreten, und in tausend Jahren wäre die Stadt bloß noch Legende wie Angkor oder Babylon.
Doch würden, überlegte Akeret, von dieser Stadt kaum Ruinen bleiben, die einer Besichtigung wert wären. Das verschwenderisch verbaute Glas würde zerfließen und wieder zu Sand werden, der Stahl von der Meerluft gefressen. Allein die Betonstrukturen würden längere Zeit überdauern, aber wer sollte in tausend Jahren in diese Wüste reisen, um schludrig geschalte Säulen von skelettierten Hochhäusern zu fotografieren? Die aufgeschüttete Insel vor der Küste, einst einer Palme nachempfunden, sah heute schon aus, als hätte eine gigantische Hand sie meerwärts gewischt.
Solchen Visionen des Zerfalls gab sich Akeret in der Wartehalle des Flughafens hin, als Blum einige feuchte Krümel eines Caesar-Sandwiches auf seine Knie spuckte. Nachdem Akeret sie mit ausladender Geste fortgewischt hatte, fiel sein Blick auf eine Anzeige: Die Temperatur betrug genau zweiundzwanzig Grad Celsius, die Luftfeuchtigkeit dreiundfünfzig Prozent, und er konnte sicher sein, dass im Flughafen von Singapur dasselbe Klima herrschen würde.
Akeret überliefen wohlige Schauer angesichts dieser vollkommenen Vorhersehbarkeit. Im Grunde, dachte er, bildeten die Flughäfen der Welt eine einzige, unzusammenhängende Klimazone, ein Reich von autoritär regierten Stadtstaaten. Er empfand heimlichen Genuss dabei, sich diesem Regime zeitweise zu unterwerfen und Anweisungen zu befolgen, deren Zweck er nicht verstand. Dass ihm, dem Entscheidungsschwachen, so viele Entscheidungen abgenommen wurden, empfand er als Erleichterung.