Duri Rungger
Fatale Manipulation
Verdächtiger Todesfall in Flims
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1 Unsaubere Konkurrenz
2 Kongressgeflüster
3 Enge Freundinnen
4 Vermeintlicher Durchbruch
5 Gefälschte Resultate
6 Vitamin B
7 Überfällige Sanierung
8 Einsamer Weihnachtsabend
9 Kalte Winternacht
10 Fatale Nebenwirkung
11 Leichter Heimvorteil
12 Spärliche Indizien
13 Herber Verlust
14 Trauernde Witwe
15 Fanatischer Tierschützer
16 Lose Enden
17 Abendliche Besprechung
18 Begabte Wissenschaftlerin
19 Motorisiertes Attentat
20 Faule Ausreden
21 Dringliche Suchaktion
22 Fixe Idee
23 Rücksichtsvoller Giftmischer
24 Verschollene Geliebte
25 Lange Flaute
26 Verzweifelter Ausweg
27 Bedauerliches Missverständnis
Begleitwort und Dank
I Transportprotein
II Gentransport in die Eizelle
III CRISPR-Cas9
IV Genetischer Austausch
V Korrektur einer letalen Mutation
VI Der Wechselbalg
VII Genetischer Code
VIII Korrektur der Pax6AEY11 Mutante
IX Gentransport in Krebszellen
Inhaltsverzeichnis
Impressum neobooks
Fred Sutter trommelte nervös auf das lederne Lenkrad seines Sportwagens. Die Verabredung mit Dr. Ward versprach nichts Gutes. Der Besitzer der «BioEnds» hatte ihn zu einer Besprechung über finanzielle Aspekte eingeladen, ohne durchblicken zulassen, worum es gehen sollte. Da sein Start-up dringend eine Finanzspritze benötigte, durfte Sutter nicht wählerisch sein, auch wenn er Ward nicht kannte. Ein Kollege hatte ihn zwar gewarnt, der Amerikaner sei ein schmutziger Winkeladvokat, der noch nie etwas Wissenschaftliches publiziert habe. Seine Firma «BioEnds» diene nur als Fassade, um bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit andere Unternehmen mit Plagiatsvorwürfen und sonstigen imaginären Vergehen zu erpressen.
Sutter wäre bestimmt nicht eigens angereist, um diesen zweifelhaften Forscher zu treffen, doch da er sowieso an einem Kongress in Basel teilnehmen wollte, konnte er die Sache ohne Aufwand erledigen. Bei seiner Ankunft sah er sich zuerst einmal den Betrieb Wards von aussen an. Die grosse Inschrift mit den Firmennamen war das Eindrücklichste an dem unscheinbaren, frisch gestrichenen Hangar. Anscheinend wurden dort immerhin ein paar Versuchstiere gehalten, denn als er ausstieg, erlitt er einen leichten Asthmaanfall, wie immer, wenn er in die Nähe von Mäusen kam. Er konnte unmöglich sein Auto vor dem Hangar stehen lassen und riskieren, dass Maushaare ins Innere gelangten. So suchte er anderswo nach einem Parkplatz.
Er fuhr sonst gern in seinem weissen, tief gesetzten Toyota GT mit Spezialspoiler, grossen Schürzen und breiten Felgen. Ein eleganter Schriftzug, Tuning by Frey.ch, verriet, dass er für seine Anschaffung mehrmals in den Aargau gereist war, um die Details abzusprechen. Den Ferrari, ein Geschenk seines Vaters zum Doktorexamen, hatte er verkauft, um Geld für die Firma locker zu machen. Doch unabhängig davon, in welchem Auto man sass, war die Suche nach einem freien Parkplatz in Basel offenbar so aussichtslos wie in Zürich und war ihm gründlich verleidet.
«Endlich!» Eine Frau öffnete die Tür ihres Autos und schickte sich an, unzählige Einkaufstaschen darin zu verstauen. Es war unglaublich, wie viel Zeit sie dazu brauchte. Sutter steuerte seinen GT in die freigewordene Lücke. Beim Aussteigen warf er einen Blick auf die Uhr. Er würde zwanzig Minuten zu spät bei Ward eintreffen, doch das kam ihm nicht ungelegen. Die Verspätung würde deutlich machen, dass er sich nicht so leicht beeindrucken liess.
Der dicke, kleine Mann mit roten Haaren in engem Anzug und zu kurzen Hosen musterte den grossgewachsenen, lässig aber elegant gekleideten Besucher eingehend und begrüsste ihn überschwänglich: «Welcome, dear Fred. It's a pleasure to meet you.» Er streckte Sutter die Hand hin und klopfte ihm mit der anderen sanft auf die Schulter.
Diese gönnerhafte Geste ging Sutter derart auf die Nerven, dass er schroffer als geplant antwortete: «Was das Vergnügen betrifft, habe ich so meine Zweifel», sagte er absichtlich auf Schweizerdeutsch.
Der Amerikaner, der seit fünf Jahren in Basel wohnte, sprach kein Deutsch und liess sich nicht beirren. «Please, come in.» Er führte seinen Gast in ein feudal eingerichtetes Büro und kam ohne Verzug auf sein Anliegen zu sprechen – natürlich in seinem breiten, amerikanischen Slang: «Heute stehen zwar ausgezeichnete Techniken zur Verfügung, defekte Gene zu reparieren, es ist aber immer noch umständlich, die intakte Donor DNA zielgerichtet in bestimmte Zellen einzuführen. Ich habe nun durch genetische Manipulation ein Protein Anhang I konstruiert, das Gene selektiv in Eizellen transportiert.» Mit einem bedauernden Achselzucken beteuerte er, diese Technik erfunden zu haben, einige Zeit bevor Sutter seine verblüffend ähnliche Lösung zur Patentierung angemeldet habe.
Ward erklärte, sein Gen Taxi verhalte sich wie Vitellogenin, ein Vorratsstoff des Eidotters, das in der Leber gebildet wurde und durch die Blutzirkulation in den Eierstock gelangte, wo es von Molekülen an der Oberfläche der Eizelle gebunden und ins Innere der Zelle transportiert wurde Anhang II. Das kurze Proteinsignal, mit welchem Vitellogenin an die Eizelle andockte, war in das Transportprotein eingebaut worden, und dieses wurde nun wie das Dotterprotein von den Keimzellen aufgenommen. Im Innern der Zelle sorgte ein weiteres Signal dafür, dass das Shuttle Protein mitsamt dem daran angehefteten Gen in den Kern befördert wurde. Ward unterliess es zu erklären, wie die DNA an das Transportprotein angebunden wurde, vielleicht um den Eindruck zu erwecken, er wolle dem Konkurrenten gewisse Tricks nicht preisgeben. Er schloss seine Ausführungen, indem er hervorhob, dass mit seiner Technik, genetische Manipulation in der Keimbahn durch eine einfache Injektion in die Blutbahn durchgeführt werden könne. Der kleine Einstich sei minimal invasiv und erst noch weit kostengünstiger als in vitro Befruchtung und Implantation genveränderter Embryonen.
Wenn Sutter nicht so verärgert gewesen wäre, hätte er laut gelacht. Die von Ward vorgebrachten Ausführungen standen fast wörtlich in seiner Patentanmeldung. Wenigstens hatte der Usurpator den Text brav auswendig gelernt und klar vorgetragen. Hielt er ihn für blöd? Doch warum versuchte Ward ausgerechnet jetzt, seine Firma schröpfen, um die es finanziell nicht rosig stand?
Vielleicht hatte er erfahren, dass ein Basler Biotech Labor beabsichtigte, eine Lizenz seines anhängigen Patents zu erwerben. Der Chef dieses Unternehmens, ein Freund von ihm, war daran interessiert, Gene in Hühner- oder Wachteleier einzuführen und Proteine von medizinischem Interesse für Testzwecke zu produzieren. Vielleicht hoffte Ward, von dieser Transaktion etwas für sich abzuzweigen.
Ward hatte in seinen Ausführungen nicht erwähnt, dass der gezielte Transport von Genen nur in Amphibien, Vögeln und anderen Arten funktionierte, die dotterreiche Eier bilden. Wenn es ihm wirklich gelungen wäre, die Technik auch an Säugern anzuwenden, hätte er dies hervorgehoben. Das hätte einen riesigen Fortschritt bedeutet und bewiesen, dass Ward seriöse Forschung betrieb. In diesem Fall hätte Sutter sich mit ihm arrangieren müssen. Seine Zürcher Gruppe versuchte zurzeit, leider vergeblich, das Transportprotein so zu verändern, dass es auch in Säuger-Eizellen einwanderte. Zudem war es seiner Equipe kürzlich gelungen auch CRISPR-Cas9 Genscheren an den Shuttle zu binden und zusammen mit der DNA in die Zellen einzuschleusen. Das Anschneiden des Gens, das man verändern wollte, erleichterte den genetischen Austausch um ein Vielfaches. Aber das würde er Ward nicht verraten.
Während er dies überlegte, hatte Sutter nicht mehr richtig zugehört. Er wurde erst wieder aufmerksam, als Ward behauptete, er könne mit Laborprotokollen und datierten digitalen Dokumenten belegen, dass er diese Technik einige Zeit vor Sutter entwickelt habe, doch als kultivierte Leute könnten sie sich bestimmt gütlich einigen.
Sutter überlegte fieberhaft, wie Ward seine unverschämte Behauptung untermauern wollte. Ein falsch datiertes, alt aussehendes Protokoll konnte leicht auf einer Schreibmaschine hergestellt werden. Digitale Dokumente waren noch einfacher zu manipulieren. Doch falls Ward gegen die Patentierung formell Einspruch erheben wollte, würden seine Unterlagen von den Spezialisten des europäischen Patentamts peinlich genau geprüft, die alle diese Tricks kannten. Die Einsprache würde nicht weiter behandelt, wenn Ward nicht zumindest ein notariell beglaubigtes, datiertes Dokument vorbringen konnte. Es war ziemlich sicher, dass der Parasit es gar nicht so weit treiben würde und mit seinem Bluff bloss versuchte, eine gütliche Abfindung herauszuholen.
Sutter fragte sich, ob Ward mit derart plumpen Erpressungsversuchen überhaupt je Erfolg haben konnte. Die grossen Pharmakonzerne verfügten über ausgezeichnete Anwälte, aber vielleicht zogen sie es manchmal vor, einen für sie unbedeutenden Betrag abzugeben, um keine Zeit bei der Einreichung eines Patents zu verlieren. Da kannte er sich nicht aus, aber möglich war alles. Von irgendwas musste Ward in den letzten Jahren ja gelebt haben. Wie dem auch sei, aus seinem Start-up, würde der Betrüger keinen Franken herausholen.
«Sie sind einfach lächerlich, Mister Ward, bye-bye.» Sutter schmetterte die Tür hinter sich zu, lächelte die entsetzte Empfangsdame freundlich an und wollte das Haus verlassen, als Ward den Kopf aus seinem Office steckte und ihm zuschrie: «Don't think this is over!»
~
Der gentechnologische Kongress «GeneMed 2018» fand im Kongresszentrum statt. Sutter hoffte, mit seinem Vortrag einigen Investoren seine Forschungsprojekte, die wohl seit Monaten in ihren Schubladen lagen, in Erinnerung zu rufen. Er stellte seinen GT im Parkhaus ab, registrierte sich im Kongressbüro und ging danach über den Messeplatz zum Hotel Hyperion. Bei der aktuellen Lage seines Start-ups hätte er gescheiter in der Jugendherberge Unterschlupf gesucht. Doch wer mit Geschäftsleuten und Unternehmern Beziehungen anknüpfen wollte, musste einen soliden Eindruck erwecken, unabhängig davon, ob die entsprechenden Gesprächspartner nicht auch besser in einer bescheidenen Unterkunft übernachtet hätten.
Der Kongress wurde von einer professionellen Agentur organisiert, die saftige Teilnahmegebühren abkassierte. Für Vertreter von Start-ups war die Teilnahme glücklicherweise kostenlos. Die Pharmaindustrie, in deren Auftrag der Kongress organisiert wurde, wollte wohl die kleinen Forschungsstätten zumindest so lange leben lassen, bis sie brauchbare Resultate produzierten und aufgekauft werden konnten.
Im Zimmer hängte Sutter seinen dunklen Anzug und die Hemden in den Kleiderschrank, verstaute die Wäsche in der Kommode und duschte ausgiebig, um die letzten Maushaare loszuwerden. Die Eröffnung des Meetings war auf fünf Uhr angesetzt. Er stellte den Weckruf in seinem iPhone auf vier und legte sich aufs Bett in der Hoffnung, ein Nickerchen zu machen. Doch an Schlaf war nicht zu denken.
Ward war nicht das einzige Problem, das ihn beschäftigte. Viel grössere Sorgen bereitete ihm der finanzielle Zustand seiner Firma, die er vor drei Jahren gegründet hatte. Eigentlich hatte er vorgehabt, an einer Universität unbeschwert seiner Forschung nachzugehen. Am Anfang standen seine Chancen dafür gut. Mit einer Dissertation über den Transport von Proteinen von der Zelloberfläche, durchs Zytoplasma in den Zellkern hatte er seinen Doktortitel erworben und danach einen Postdoc Aufenthalt in Cambridge angetreten. Dort hatte er das Shuttle Protein entwickelt, das Gene gezielt in Froscheier transportierte – und dessen Funktionsweise ihm Ward heute freundlicherweise nochmals erklärt hatte. Diese Technik bedeutete einen beachtlichen Fortschritt im Hinblick auf die genetische Veränderung von Embryonen, doch für eine medizinische Anwendung war sie nur interessant, wenn sie auch auf Säugetiere angewendet werden konnte. Erstaunlicherweise war der Chef des Gastlabors damit einverstanden gewesen, Mäusen Zutritt in sein Amphibienheiligtum zu gewähren.
Sutters hochfliegende Pläne waren jäh geplatzt. Kaum hatte er angefangen, mit Mäusen zu arbeiten, entwickelte er eine Allergie gegen Maushaare und erlitt heftige Asthmaanfälle, wenn er auch nur in die Nähe der Tiere kam. Unter diesen Bedingungen war es unmöglich, sein Projekt weiterzuführen. Als Postdoc konnte er nicht wie gewisse Professoren in einem Büro sitzen und die Mitarbeiter die praktische Laborarbeit am anderen Ende des Gebäudes durchführen lassen. Doch dies war die einzige Möglichkeit, seine Forschung fortzuführen. Mit seiner noch geringen Erfahrung waren seine Aussichten, eine feste Forschungsstelle oder gar Professur zu erhalten minimal. Vielleicht hätte sich ein medizinisches Forschungslabor oder die Pharmaindustrie für seine Technik interessiert. Doch dort bestand die Gefahr, dass ein Projekt von einem Tag zum anderen abgesetzt wurde, weil es zu langsam voranging oder im Betrieb andere Schwerpunkte gesetzt wurden. Zudem wollte er schon immer seine Forschung selbständig planen und durchführen. Die einzige Möglichkeit, dies trotz seines Asthmas zu verwirklichen, bestand darin, ein Start-up zu gründen, in dem er das Sagen hatte.
Sutter war schon immer ein Mann der schnellen Entschlüsse gewesen. Er gab seinen Posten in England auf, kehrte nach Zürich zurück und verbrachte einige Monate damit, Patentanwälten und Industriechefs seine Idee aufzutischen und Sponsoren zu suchen. Die 140'000 Franken Bundesfördergeld reichten knapp aus, um die Vermittler zu bezahlen, und er war nahe daran aufzugeben. Da überraschte ihn sein Anwalt mit der Ankündigung, ein privater Investor sei bereit, drei Millionen zu investieren – ohne Auflagen zur Arbeitsweise, aber gegen einen saftigen Anteil an eventuellen Gewinnen oder am Übernahmepreis durch eine Grossfirma.
Während er sein Start-up einrichtete, erkrankte sein Vater und starb wenige Monate danach. Als früherer Besitzer einer kleinen Fabrik für Präzisionsinstrumente hatte er ein stattliches Vermögen angehäuft, das nun an seinen Sohn überging. Neben der Villa am Zürichberg, in der Sutter jetzt wohnte, gehörte auch das inzwischen leerstehende Fabrikgebäude an der Viaduktstrasse zur Erbmasse. Dieses war ideal dazu geeignet, ein Forschungslabor samt abgesonderten Tierställen darin unterzubringen. So stand der Gründung seiner Firma «KOKI» nichts mehr im Weg. Sutter zog die Brauen hoch. Die Bezeichnung «KOKI» klang selbst nach drei Jahren noch seltsam in seinen Ohren und er wunderte sich, dass bis heute keiner versuchte hatte, Coca-Cola bei ihnen zu bestellen. Aber so ausgefallen er auch war, der Name war zutreffend. KO und KI standen für knock-out, knock-in, die gängigen Bezeichnungen für das Ausschalten und Einfügen eines Gens im Erbgut der lebenden Zelle. Die Auswahl an möglichen Firmenbezeichnungen war sowieso nicht gross gewesen. Namen, die ihm lieber gewesen wären, wie Genetec, Medtech, Transgene, Newgene, Genecorr und viele mehr, waren bereits durch andere Firmen besetzt.
Wie bei jeder Forschung ging die Arbeit langsamer voran als erhofft. Sutter hatte nicht erwartet, nach so kurzer Zeit bereits Gewinne zu erzielen, aber auch nicht vorausgesehen, dass die vorhandenen Mittel so rasch dahinschwinden würden. Die läppischen drei Millionen Anfangskapital waren mit der Einrichtung des Labors, dem Ankauf von Apparaten, Enzymen und Chemikalien sehr rasch geschrumpft. Die Löhne für zwei Wissenschaftler, einen Techniker, der auch die Tiere betreute, und eine engagierte Sekretärin, die halbtags bezahlt wurde, aber ganztags arbeitete, hatten den Rest besorgt. Seit einigen Monaten bezahlte er die Leute und das Verbrauchsmaterial aus dem ererbten Vermögen.
Sein Patent für das Transportprotein lag nun seit zehn Monaten beim europäischen Patentamt und mittlerweile wurde der Recherchebericht erstellt. Wenn das Verfahren weitergehen sollte, musste er bald die weitere Prüfung beantragen und das kostete. Die Suche nach einer neuen Finanzierung war, neben dem wissenschaftlichen Interesse, ein weiterer Grund den Kongress zu besuchen, an dem viele Investoren, private Marktanalysten, sowie Planungsbeauftragte und Direktoren der pharmazeutischen Grossfirmen teilnahmen.
Sutter schaute auf die Uhr. Es war erst halb drei. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte zu schlafen, fuhr aber gleich wieder hoch, als die anderen ungelösten Probleme in seinem Kopf aufstiegen. Eines davon war seine Ehe mit Eva. Er hatte die viel umworbene Prinzessin des Zürcher Nachtlebens vor zwei Jahren geheiratet. Ihre Vermählung war sogar der NZZ ein Bildchen in der Klatschspalte der Sonntagsbeilage «Gesellschaft» wert gewesen. Er hatte Evita, wie sie sich gerne nannte, im Zürcher Nachtleben kennengelernt. Sie flirtete mit vielen, unterhielt aber keine dauerhafte Beziehung und hatte sich ihren Beinamen «Prinzessin-eine-Nacht» redlich verdient. Plötzlich kannte sie nur noch ihn und eh er es sich versah, standen sie vor dem Standesbeamten. Anfänglich verlief ihr Zusammensein glücklich. Doch als er begann, private Mittel in die Firma zu stecken, verschlechterte sich die Beziehung zusehends. Inzwischen war er zur bitteren Erkenntnis gelangt, dass Evita ihn nur heiraten wollte, weil er ein ansehnliches Vermögen geerbt hatte. Sie musste dies aus einer der Klatschspalten erfahren haben, die sie bevorzugte.
Letzte Woche war es zum Eklat gekommen. Als er sie bat, ihren Kaufrausch ein wenig zu zügeln, hatte sie ihn nur verächtlich angesehen und am Tag danach triumphierend ein halbes Dutzend Einkaufstaschen der teuersten Geschäfte der Stadt auf seinen Schreibtisch geknallt, worauf er umgehend ihre Kreditkarte sperren liess. Seither sprach sie nur noch davon, wie teuer ihn die Scheidung zu stehen kommen werde.
Mit einem Seufzer stieg er vom Bett. Er durfte sich nicht stundenlang mit solch düsteren Gedanken quälen, sonst drehte er durch. Ein kleiner Spaziergang würde ihm guttun. Er bummelte vom Messeplatz die Clarastrasse hinunter zum Rhein. Es war nicht viel los an diesem Montag. Viele Geschäfte blieben den ganzen Tag geschlossen und von vorweihnachtlicher Hektik war nichts zu spüren, auch wenn die Schaufenster mit Kerzen, Kugeln und anderem Krimskrams bereits weihnachtlich geschmückt waren – sechs Wochen vor Weihnachten. Die amerikanisch angehauchten Weihnachtsmänner passten überhaupt nicht zum aussergewöhnlich warmen Wetter und hätten sich in ihren dicken roten Pelerinen bestimmt zu Tode geschwitzt, wenn sie nicht aus Plastik gewesen wären.
Auf der Brücke blieb Sutter stehen, schaute lange in den Rhein und konnte seine Sorgen langsam verdrängen. Erleichtert stieg er durch den Rheinsprung zum Münsterplatz hoch, bestellte im «Zum Isaak» einen Kaffee und las in der Zeitung. Dann wurde es Zeit, ins Hotel zurückzukehren und sich zurechtzumachen. Die Eröffnung fand im noblen Hotel Les Trois Rois etwas unterhalb der Rheinbrücke statt. Im Vorbeigehen bereute Sutter ein wenig, seinen Stadtbummel nicht gleich in Schale gemacht zu haben. Das hätte ihm erspart, nochmals die ganze Clarastrasse hinauf- und hinunterzugehen.
Als Sutter aus dem Lift in die Eingangshalle des Hotels Hyperion trat, waren dort zahlreiche Kongressteilnehmer versammelt, wie aus dem Logo auf ihren Namensschildern ersichtlich war. Die Frauen hatten sich schön gemacht und die meisten Männer trugen Anzug und Krawatte. Im Vergleich zu einem Kongress für Mediziner, an denen vor allem die mit teurem Schmuck behangenen Begleiterinnen versuchten, sich gegenseitig auszustechen, hielt sich der Aufwand in Grenzen. Die anwesenden Investoren kreuzten zu diesem Anlass in eher legeren Tenues auf und die Wissenschaftler konnten sich sowieso keine Massanzüge leisten. Einige ältere Semester mit wildem Haarwuchs waren wohl Molekularbiologen. Die Studenten, die bei ihnen standen, trugen abgetragene Jeans und ausgelatschte Sneakers. Sutter musterte den Rest der Versammlung, entdeckte aber niemanden, den er kannte. So ging er zielbewusst auf den Ausgang zu. Wie wenn sie auf dieses Signal gewartet hätte, folgte ihm die versammelte Menge.
Während die Prozession den Messeplatz überquerte, amüsierte Sutter sich über die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die ihm folgte, und trotzdem waren alle diese Kongresse ähnlich. Leute, die sich bereits kannten oder soeben erst herausgefunden hatten, dass sie auf demselben Gebiet arbeiteten, diskutierten angefressen über technische Details der genetischen Rekombination, stritten sich darüber, ob in Zellkulturen gewonnene Resultate vertrauenswürdig seien, oder gaben sich Tipps, welche Quelle von CRISPR am preisgünstigsten und doch zuverlässig sei. Andere begnügten sich mit Spekulationen darüber, wie lange wohl die Begrüssungsansprache dauern würde und was es danach zu essen gebe. Unmittelbar hinter Sutter schrie ein Amerikaner in sein Handy und erkundigte sich bei seinen Leuten, was auf dem Dia zu sehen sei, das ihm heute per E-Mail zugestellt worden war – und was zum Teufel er in seinem Talk dazu sagen könne. Das war wohl einer dieser eingefleischten Kongresspilger, der seit Wochen nicht mehr in seinem Institut gewesen war und endlich wieder ein neues Resultat in seinen Vortrag einbauen wollte, den er schon dreimal unverändert vorgetragen hatte. Die Erklärung schien kompliziert zu sein, denn der Mann blieb stehen und suchte in seiner Tasche nach einem Kugelschreiber.
An seiner Stelle schlossen zwei Männer mittleren Alters zu Sutter auf und dieser hörte einen Teil des Gesprächs mit: «Ich habe gerade erfahren, dass wieder eines der Start-ups, in das ich investiert habe, Pleite gemacht hat. Das ist bereits das vierte Mal, dass ich meinem Geld auf Nimmerwiedersehen sagen kann. Jetzt habe ich nur noch ein Eisen im Feuer.»
«Man sagt ja, wenn man bei einer von zehn Investitionen einen grossen Coup landen könne, habe man Glück gehabt – und ausgesorgt. Du musst eben weiter investieren», riet ihm sein Begleiter.
«Dazu fehlt mir langsam das Kapital. Aber ich habe eine Möglichkeit, mich gesundzubeten. Die ‹RareMed› hat kürzlich vielversprechende Fortschritte gemacht, kommt aber anscheinend nicht mehr dazu, ihre interessanten Projekte fertigzustellen, bevor sie Pleite geht. Der Besitzer versucht nun, sich von Jaccard finanzieren zu lassen.»
«Und da willst du mitmischen? Gegen den sind wir doch Zwerge.»
Sutter hörte aufmerksam mit, was der hinterhältige Investor im Schilde führte. Immerhin war der Chef der «RareMed» ein Freund von ihm und erst noch an seinem Shuttle Protein interessiert.
«Ich habe Jaccard heute vorgeschlagen, die ‹RareMed› nicht zu sanieren. Wenn die Bude keine Finanzspritze erhält, könnte ich ihre Resultate günstig übernehmen und mit riesigem Gewinn weiterverkaufen. Ich habe Jaccard angeboten, ihm einen Anteil abzugeben.»
Sutter war nahe daran, diesem Dreckskerl seine Meinung zusagen. Er wurde von seinem Vorhaben durch eine junge Unbekannte abgehalten, die sich bei ihm einhängte. «Halte mich fest, sonst kratze ich diesem Aasgeier die Augen aus.» Sie sagte dies so laut, dass der Angesprochene es hören musste.
Sutter kam der Bitte nach und fasste die Aufgebrachte am Oberarm. Während sie weitergingen, musterte er seine neue Bekanntschaft verstohlen. Sie war klein und zierlich. Ihr krauser, schwarzer Haarschopf liess vom Gesicht nur die kleine, leicht aufgeworfene Nasenspitze sehen. Er wollte sie eben ansprechen, als er hörte, wie hinter ihnen der Begleiter des Intriganten diesen anfauchte: «Sie hat recht mit dem Aasgeier. Du bist ein mieser Spekulant und eine Schande für unsere ganze Gilde. Such dir eine andere Gesellschaft.»
Sutters Begleiterin stiess ihn mit dem Ellbogen derart heftig in die Seite, dass er sich krümmte. «Es tut gut zu hören, dass es noch ehrliche Leute gibt. Jetzt kannst du mich loslassen, aber darf ich eingehängt bleiben? Ich bin Silvia Grossmann.»
«Fred Sutter,» stellte er sich seinerseits vor. «Bist du in der Forschung tätig?» Aus ihrer vorherigen Reaktion nahm er dies als gegeben an.
Sie lächelte verlegen. «Wenigstens vorläufig. Ich weiss bloss nicht, wie lange noch.»
«Postdoc ohne Resultate, Assistentin auf limitiertem Posten, Angestellte eines Pleite-Unternehmens, oder Geburt des ersten Kindes und kein Platz in der KITA?», fragte Sutter unverblümt.
«Mit dem zweiten Vorschlag liegst du richtig. Es geht um einen auslaufenden Forschungskredit, von dem auch mein Lohn bezahlt wird.» Sie zögerte nicht, Sutter ihre Lage zu schildern: Nach ihrer Dissertation in Immunologie wollte sie neue Antibiotika entwickeln. Ein Assistenzprofessor in Basel hatte die Idee aufgenommen und zusammen mit ihr einen Forschungskredit beim Nationalfonds beantragt. Sie arbeitete zwei Jahre an diesem Projekt, als ihr Chef eine Professur in Deutschland erhielt. Er wollte sie zwar mitnehmen, doch ihr Thema passte nicht ins Programm des dortigen Instituts, und sie wollte es nicht fallen lassen. Wenigstens durfte sie an der Uni weiterarbeiten, bis der Kredit in knapp einem Jahr auslief. Eine Verlängerung war ausgeschlossen, weil ein Gesuchsteller beim Nationalfonds nicht den eigenen Lohn beantragen durfte und die Universität keine Verpflichtungen eingehen wollte.
«Ich habe ähnlich Sorgen. Meinem Start-up geht das Geld auch bald einmal aus. Darauf müssen wir nachher anstossen! Aber erzähl mir von deiner Suche nach neuen Antibiotika. Das ist heute vordringlich und niemand will sich damit beschäftigen.»
Silvia erklärte, dass sie aus allen möglichen und unmöglichen Organismen Pilzen, Algen, Pflanzen und afrikanischen Froscheiern Extrakte hergestellt habe. Nun sei sie daran zu prüfen, ob der eine oder andere dieser Stoffe fähig war, das Wachstum von Bakterien zu hemmen.
Sutter hatte selbst mit Xenopus gearbeitet und erkundigte sich, weshalb sie ausgerechnet in Eiern dieser Krallenfrösche nach Antibiotika suche. Sie erklärte, dass diese Tiere sich auch in verdrecktem Wasser entwickeln konnten und eine gute Abwehr gegen Infektionen besitzen mussten. Ob diese Resistenz einem Antibiotikum zuzuschreiben war, wusste sie noch nicht. Sie hatte schon aus verschiedenen Organismen Präparate herstellen können, die das bakterielle Wachstum hemmten. Nun musste sie nachweisen, dass es sich nicht bloss um Giftstoffe handelte, die man medizinisch nicht verwenden konnte. Solche Untersuchungen waren aufwendig und mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, kaum zu bewältigen. Sie hoffte, an diesem Treffen ein Labor zu finden, mit dem sie zusammenarbeiten konnte.
Die junge Forscherin geriet in Rage: «Die Medizin hat nun neunzig Jahre lang Antibiotika für jede Kleinigkeit verwendet, Erkältungen, Ohrenschmerzen und andere Lappalien. Noch schlimmer, die Bauern füttern systematisch ihre Viecher damit. Jetzt haben sich resistente Keime entwickelt und immer mehr Leute sterben an banalen Infektionen. Natürlich werden die wenigen noch wirksamen Antibiotika jetzt vermehrt in der Schweinezucht eingesetzt und die pharmazeutische Industrie unternimmt wenig, neue Produkte zu entwickeln. Die sind nicht an Medikamenten interessiert, die leicht herzustellen sind und zu einem vernünftigen Preis abgegeben werden müssten. Pillen, die sie zu fünftausend Franken das Stück verkaufen können, sind da viel attraktiver.»
Sie waren vor dem Eingang des Hotels Les Trois Rois angekommen. In der Eingangshalle schlug Sutter vor: «Wollen wir zusammenbleiben, heute Abend? Ich sollte hier einen Freund treffen, der für dich interessant sein dürfte. Er teilt deine Ansichten und erforscht seltene Krankheiten, die für die industrielle Forschung anscheinend auch finanziell uninteressant sind. Vielleicht könnt ihr euch zusammentun.»
~
Die Ansprache zur Kongresseröffnung war kurz und knapp. Dafür war der Aperitif reichhaltig und der Champagner wurde freigiebig nachgegossen. Sutter fühlte sich wohl in der Begleitung seiner Zufallsbekanntschaft mit ihrem verschmitzten Kinderlächeln. Nur eines beunruhigte ihn. Sein Freund Peter Frei war nirgends zu sehen. Erst als er mit Silvia eine Runde durch das Vestibül drehte, sah er den Chef der «RareMed», der in Gesellschaft eines mächtigen Kolosses an einem Tisch an der Fensterfront zum Rhein sass. Sutter kannte den Giganten nur vom Sehen. Jaccard war in der Branche als zahlungskräftiger und weitsichtiger Investor bekannt. Das Gespräch schien beendet. Die zwei Männer verabschiedeten sich mit einem Handschlag. Sutter machte sich bemerkbar, und Peter steuerte sofort auf ihn zu.
«Fred, du glaubst es nicht. Jaccard hat mir soeben zugesagt, fünf Millionen in meine Projekte zu investieren – mit Aussicht auf weitere Darlehen. Wir haben schon lange davon geredet, doch er wollte sich erst später entscheiden. Doch heute, gleich bei meiner Ankunft hier im Hotel hat er mich angesprochen und erklärt, er wolle den Vertrag rasch abschliessen, natürlich vorbehaltlich einer genaueren Prüfung. Ein gewiefter Kenner der Branche habe ihm heute geschildert, wie weit die Forschung in der «RareMed» gediehen sei. Da habe er sich entschlossen, sofort einzusteigen.
Sutter glaubte, zu wissen, wer dieser Branchenkenner war, und bewunderte Jaccard für dessen Haltung. Silvia schien dasselbe zu denken und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. Erst jetzt wurde Frei auf sie aufmerksam und sah seinen Freund fragend an.
«Entschuldigt, dass ich euch nicht vorgestellt habe. Peter Frei, Silvia Grossmann. Ich glaube, ihr habt euch viel zu erzählen, aber zuerst stossen wir auf deinen Erfolg an, Peter. Dabei liefern Silvia und ich dir eine Hintergrundinformation zum raschen Sinneswandel deines Investors und über den gewieften Kenner der Branche, der ihn dazu bewogen hat.»
Die Teilnehmer wurden in den Speisesaal gebeten und, kaum hatten die drei sich gesetzt, kam Peter auf die Sache zu sprechen, die Sutter am Herzen lag: «Wir haben schon ein paar Mal darüber geredet, aber jetzt könnte ich es mir endlich leisten: Wie viel würdest du für die Nutzung deines anhängigen Shuttle Patents verlangen? Wir haben einige Gene isoliert, von denen wir vermuten, ihre Produkte könnten eine Krankheit positiv beeinflussen. Um ihre Wirkungsweise zu prüfen, müssen wir kleine Mengen davon herstellen. Dazu möchten wir deinen Gen-Transporter mit angehefteten Genen in den Blutkreislauf von Wachteln einspritzen, und könnten dann aus den Eiern die entsprechenden Proteine isolieren.
«Ich würde dir die Nutzung am liebsten gratis überlassen, zumindest bis du saftige Gewinne erzielst, aber ich kann mir das leider nicht leisten. Ich brauche dringend Geld für meinen Laden. Wir können morgen darüber reden. Ich muss noch ein wenig nachrechnen.» Sutter hatte zwar sehr präzise Ideen bezüglich des Preises, wollte sich und den Freunden aber nicht das ganze Nachtessen mit Feilschen verderben.
Während des Essens besprachen Silvia und Peter eine mögliche Zusammenarbeit und wurden sich einig, dass Silvia ihren Kredit an der Uni aufbrauchen und danach in Peters Labor an ihrem Projekt weiterarbeiten solle. Darauf begannen die beiden zu fachsimpeln und als Aussenseiter in diesem Gebiet dachte Sutter, dass sie ebenso gut hätten über Finanzen reden oder Witze erzählen können. Nach dem Dessert machte er sich auf die Suche nach Jaccard, dem sein Patentanwalt und Vermittler die Projekte der «KOKI» zwar schon unterbreitet hatte, aber ein persönliches Gespräch würde vielleicht ein wenig Bewegung in die Sache bringen. Leider war der Investor bereits gegangen.
Es war spät, als sie sich vor dem «Les Trois Rois» von Peter verabschiedeten, der seinen Prinzipien getreu in einer preisgünstigen Unterkunft beim Spalentor übernachtete. Arm in Arm kehrten Silvia und Sutter ins «Hyperion» zurück und nach einem Schlummertrunk an der Hotelbar wurde es Zeit, schlafen zu gehen. Vor dem Lift fasste Silvia Sutter bei der Hand. «Ich bin so aufgeregt und glücklich, eine Lösung meiner Probleme gefunden zu haben, dass ich heute sicher nicht schlafen kann. Leistest du mir ein wenig Gesellschaft?»
Gina Berri sass im «Sprüngli» Café am Paradeplatz im ersten Stock und nippte an einem Prosecco. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen, doch heute war sie verabredet. Evita hatte den Tisch reserviert. Sie musste gute Kundin hier sein, sonst hätte man ihr kaum über Mittag einen Platz am Fenster zugewiesen. Gina sah sich im Café um. Das Lokal war gerammelt voll und schien das bevorzugte Ziel einzelner oder kleiner Gruppen von Frauen zu sein. Immerhin waren auch einige Paare anwesend, und sogar drei Herren ohne Damenbegleitung hatten es gewagt, hier einzukehren. Am Tisch neben ihr sass eine prächtig aufgemachte junge Frau, die besser ausgesehen hätte, wenn sie ihre aufgespritzten Lippen nicht so knallig rot bemalt hätte. Sie sah aus, als hätte sie vergessen, ihren Schnuller herauszunehmen. Bei ihrer Ankunft hatte sie ihren beigen Nerzmantel auf dem noch leeren Stuhl an Ginas Tisch abgelegt und sie dabei herausfordernd angesehen. Sie schien sich sicher, dass kein Mensch es wagen würde, sie zurechtzuweisen. Das wäre auch riskant gewesen, denn sie war von zwei massigen, kahl geschorenen Männern begleitet, die wohl ihre Leibwächter waren und argwöhnisch die anderen Kunden im Lokal musterten, als ob jeden Moment einer von ihnen eine Kalaschnikow unter dem Tisch hervorziehen und ihren Schützling erschiessen könnte. Gina nahm an, dass sie die Tochter eines Potentaten eines östlichen Landes sei. Die Sprache, in der sich die drei unterhielten, kannte Gina nicht.
Wo blieb Evita? Sie war schon über zehn Minuten verspätet. Das sah ihr ähnlich. Evita war nie pünktlich, aber diesmal hatte sie angerufen und in ihrer Kindersprache «ganz, ganz dringend» ein Zusammentreffen verlangt. Gina konnte nur hoffen, dass ihre Freundin zu selbst angesetzten Verabredungen bloss eine halbe Stunde zu spät kam und nicht, wie sonst üblich eine ganze. Was auch immer, in fünf Minuten würde sie sich etwas zu Essen bestellen, und dann gehen. Um zwei Uhr musste sie bei der Arbeit sein. Trotzdem hoffte sie, Evita wiederzusehen. In ihren wilden Jahren waren sie zusammen durch Kneipen und Nachtlokale gestreift, hatten harmlosen jungen und oft auch älteren Männern den Kopf verdreht und sich zu teuren Drinks einladen lassen. Manchmal hatten sie sich zwei ähnliche Typen als Zielobjekte ausgesucht und gewettet, wer das erwählte Opfer rascher ins Bett lotsen könne. Evita hatte fast immer gewonnen. Bei dieser Erinnerung lächelte Gina müde.
In ihrer damaligen Clique war Fred Sutter ein wichtiger Pol gewesen. Als er nach seinem Studienabschluss nach England verreiste, war es etwas ruhiger geworden. Nach seiner Heimkehr war sie – für ihre Verhältnisse sehr lange – nur noch mit ihm ausgegangen. Diesmal gab es keine Rivalität mit Evita, die gerade eine kurze Freundschaft mit einem grossspurigen italienischen Industriellen pflegte, ihn aber rasch wieder entsorgte, als sie herausfand, dass er pleite war.
Auch ihre Freundschaft mit Fred hatte ein abruptes Ende gefunden. Eines Abends feierte neben ihnen an der Bar eine reizende blonde Studentin mit ihrem Begleiter ein bestandenes Examen. Fred hatte sich sofort in die Schönheit verguckt und die beiden zu Champagner eingeladen. Danach waren Fred und die Kleine nur noch für sich da und kümmerten sich nicht mehr um ihre versetzten Anhängsel. Fred musste danach eine längere Beziehung mit der Studentin gepflegt haben, denn er zeigte sich nicht mehr in den gewohnten Lokalen. Das Nächste, was sie von ihm hörte, war, dass sein Vater gestorben sei und ihm ein riesiges Vermögen hinterlassen habe, und kurz danach hatte Evita sie gebeten, bei der Vermählung als Trauzeugin zu amten. Wenn es um eine gute Partie ging, war Evita wirklich schnell. Das musste sie ihr lassen.