Prolog

– Zwischen Dagebüll und Wyk; Dienstag –

„Mist, ist das ein Schietwetter“, schimpfte Heinz. Er zog die Kapuze der Regenjacke bis zur Nasenspitze. Der kalte Wind fegte ihm um die Ohren. Eine dicke Mütze sollte seinen Glatzkopf vor der Kälte schützen.

Er stand am Heck des Schiffes, mit dem er von Dagebüll nach Wyk auf Föhr fuhr. Eine Hand hatte er am Geländer der Reling, mit der anderen führte er den Zigarettenstummel zum Mund, um kräftig zu inhalieren und ihn dann über Bord zu werfen.

Sturmtief Niklas tobte mit Windstärke zwölf an diesem Dienstag über Deutschland. Alle Fährfahrten hatte die Reederei storniert, sodass Heinz mehrere Stunden an der Schiffsanlegestelle hatte warten müssen. Erst nach siebzehn Uhr flachte der Wind ab. Um Viertel nach sieben wurde endlich eine Fähre in Richtung Wyk eingesetzt.

Der Regen peitschte. Er blieb an Deck, die Wärme im Unterdeck war ihm scheißegal. Kein weiterer Passagier war zu sehen.

Wut stieg in ihm hoch, den Blick auf das aufschäumende Meer gerichtet. Ununterbrochen blies ihm der Wind gnadenlos und eisig ins Gesicht. Mit beiden Händen umklammerte er das kalte Metall des Geländers. „Blöde Weiber! Die jungen Dinger haben sich doch nach oben geschlafen! Anders kann das nicht sein. Damit hat man heute Erfolg. Das lasse ich mir nach den Jahren harter Arbeit nicht gefallen! Querdenker sind nicht gefragt, die sind unbequem und bringen nur Unruhe. Aber ihr werdet sehen, was ihr davon habt. Wartet ab.“

Er schrie sich immer mehr in Rage. Doch niemand hörte ihn, der Wind verschluckte die Flüche sofort. Die aufgewühlte See applaudierte nicht.

Seine Hände zitterten. Mit aller Kraft kämpfte er gegen den Wind, um sich die nächste Zigarette anzuzünden. Schließlich gelang es ihm. Bis in die Lungenspitzen inhalierte er, hustete kräftig, zog an dem Glimmstängel.

Zum wiederholten Mal schickte er Schimpftiraden übers Meer.

Das Handy klingelte. Mit kalten, zittrigen Händen nestelte er es vorsichtig aus der nassen Regenjacke.

„Hallo? Hallooo?“ Er hörte nichts. „Hallooooo! Verdammter Mist!“ Im Display erkannte er, dass es Bernd war. Die Verbindung brach ab. „Scheiße“, brüllte Heinz. „Kein Saft mehr.“

1. Wiedersehen

– Elbtunnel; Mittwoch –

Fünf Kilometer bis zum Elbtunnel. Karla Lang kräuselte die Stirn. Ob es ihr glücken würde, ihn ohne Stau zu meistern? In der Regel gelang es ihr nicht, wenn sie in den Norden fuhr.

Sie rutschte auf dem Fahrersitz vor Freude hin und her. Ein ordentlicher Schluck aus ihrer Wasserflasche erfrischte sie.

„Föhr, ich komme“, rief sie aufgeregt.

Im letzten Jahr hatte sie gemeinsam mit Dirk den Aufenthalt in der friesischen Karibik genossen, wo sie am Südstrand in Wyk in einem Ferienhaus mit Reetdach gewohnt hatten. Von der Terrasse aus hatten sie freie Sicht auf das Meer. Bei klarem Wetter schien die Hallig Langeneß an den Strand heranzurücken. Man hatte das Gefühl, sie fußläufig in ein paar Minuten erreichen zu können.

Jetzt fuhr sie das erste Mal allein in Richtung Norden.

Es war ein gemeinsames Geschenk ihrer Familie und Freunde zum fünfzigsten Geburtstag gewesen. Eine wahrhaft außergewöhnliche Geburtstagsüberraschung. Vier Wochen in einem Haus direkt hinter dem Deich in Utersum. In Strandnähe mit Blick auf die umgebene Inselwelt. Die Nordspitze von Amrum und die Südspitze von Sylt lagen vor ihr.

Vor lauter Vorfreude hatte sie nicht gemerkt, dass der Elbtunnel bereits hinter ihr lag.

„Klasse, wenn alles klappt, erwische ich die Fähre um fünfzehn Uhr.“

Die Sonne schien. Im Radio spielten sie einen Song von Bob Marley: Get Up, Stand Up, Stand Up For Your Rights. Karla sang begeistert mit.

Karla arbeitete gern im Polizeipräsidium Bochum als Leiterin der zweiten Mordkommission. Zwischendurch musste sie aber immer mal wieder den Kopf freibekommen. Die Pause von der Arbeit kam ihr zu diesem Zeitpunkt gerade recht.

Ihr Leben war aufregend, die Ermittlungsarbeit anstrengend. Gut, dass im KK 11 ein hervorragendes Arbeitsklima herrschte. Unter diesen Bedingungen konnten sie die täglichen Herausforderungen stemmen.

Natürlich gab es bei der Aufklärung eines Falles oft Meinungsverschiedenheiten. Wenn aber die Basis der Zusammenarbeit stimmte, machte das nichts. Das Team musste zusammenhalten. Und das tat es. Wenn nötig wurde nächtelang durchgearbeitet. Das war leider häufig der Fall.

Jeder wusste, wie der andere tickte. Logisch – das funktionierte nur mit gegenseitiger Unterstützung. Die Arbeit bereitete Karla nach vielen Jahren immer noch Freude, die tägliche Herausforderung brachte Spannung, die sie mochte.

Das Team wusste, dass Karla die Kunst liebte. Hatte sie die Zeit, griff sie gern zum Pinsel und tauchte ein in die Welt der Farben. Sie besuchte Museen, um sich inspirieren zu lassen. Ein herrliches Ventil im Kontrast zur Arbeit. Die besten Ergebnisse peppten ihr Büro auf.

Das Team des KK11 und der MK hatten sich etwas Besonderes ausgedacht. Es hatte Karla mit einem Gutschein für Farben und Material überrascht. Beim Kunstgroßhandel Dröse in Herbede konnte sie sich nach Lust und Laune eindecken. Die Kollegen hatten Karla erzählt, dass Rolf ihren Geburtstag mit Elan vorbereitet hatte. Er war ihr Chef, Leiter des KK11 und aller sechs Mordkommissionen. Dauerhaft eingespannt, meistens nicht aus der Ruhe zu bringen, ein angenehmer Zeitgenosse.

Aber er konnte auch anders! Zum Beispiel beim Autofahren, wenn es nicht zügig voran ging oder wenn ihn Kollegen oder andere Menschen nervten.

Hinten in ihrem weißen Transporter rappelte es.

Die Kiste mit den Farben, Leinwände, die Staffeleien und ihr Gepäck waren die Ursache. Karla fuhr zügig über die Landstraße zur Schiffsanlegestelle. Es juckte ihr jetzt schon in den Fingern, sich an der Staffelei auszutoben. Ideen sausten durch ihren Kopf und ließen ihr Herz höherschlagen.

Vergnügt sah sie, dass es bis zum Fährhafen nicht mehr weit war. Fünfzig Kilometer bis Dagebüll las sie auf dem Straßenschild. Karla gab Gas.

Da, endlich! Das Schild Dagebüll Mole.

Sie steuerte den Bus in die erste Fahrspur. Eine beachtliche Warteschlange hatte sich aufgereiht. Die Rungholt legte an. Nachdem alle Fahrgäste das Schiff verlassen hatten, kam ein Mitarbeiter der Wyker Dampfschiff Reederei auf sie zu. Sie öffnete die Seitenscheibe.

„Moin, die Reservierungspapiere bitte.“

Karla reichte ihm die Unterlagen, zückte die EC-Karte und bezahlte.

„Geit klor1, die Fähre legt in 15 Minuten ab“, hörte sie den netten Nordfriesen sagen.

„Danke, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“

„Jo.“

Er hob zum Gruß die Hand und stand schon am nächsten Wagen.

Karla schmunzelte.

Sie mochte die Art der Norddeutschen. Vor allem den trockenen Humor. Zack, zack! Alle Informationen kurz, knapp hintereinander. Den friesischen Dialekt liebte sie. Jo ist bei den Nordfriesen ein vollständiger Satz mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Moin, moin schon Gequassel.

Aber wenn die Friesen auf Föhr Fering sprachen, musste sie meistens passen …

Peu à peu kam Bewegung ins Spiel. Die ersten Autos fuhren auf die Fähre. Viele Touristen wollten die Ferien auf der Insel verleben; Ostern stand vor der Tür.

Karla schaute aufs Meer. Gut, dass das Sturmtief Niklas vorbei gezogen war. Es zeigte noch Nachwehen: Ein heftiger Wind und ein ordentlicher Seegang. Sie kniff die Lippen zusammen. Bewegte See mochte sie gar nicht.

Auf dem Autodeck wies man ihr einen Parkplatz zu. Die Autos standen eng aneinander, sodass sie vorsichtig die Tür öffnete. Es fegte ein stattlicher Wind durch das Parkdeck. Rasch zog Karla ihre Jacke an und eine weiße Mütze über die Ohren. Ein paar von ihren dunkelbraunen Locken blitzten hervor.

Im nächsten Augenblick zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken. Kuschelig eingepackt lehnte Karla an der Reling und wärmte ihr Gesicht. An der Wasseroberfläche tanzten die lichtdurchfluteten Schaumkronen. Zufrieden schloss sie die Augen.

Ein starker Ruck riss sie aus den Tagträumen. Die Rungholt legte ab.

In der Jackentasche vibrierte ihr Handy. Dann vernahm sie ihren Klingelton: die Titelmusik von Miss Marple. Dirk strahlte sie auf dem Displayfoto an. Sie liebte seine klaren, grüngrauen Augen.

„Na, mein Schatz, wo bist du?“, begrüßte er sie freudig.

„Auf der Fähre. Sie legt in diesem Moment ab.“

„Oh, klasse! Wie hast du es geschafft, das Schiff um fünfzehn Uhr zu kriegen? Sei ehrlich, deine Reifen qualmen immer noch, oder?“

„Es lag eher daran, dass am Elbtunnel kein Stau war“, erklärte Karla. „Was machst du?“

„Ich? Na, ja, ich sitze bei Kerzenlicht und mit einem Glas Wein in der Badewanne, höre Musik. Genieße …“, provozierte Dirk.

„Oh, jetzt schon Feierabend?“

„Meine Vorlesungen fallen aus. Ich hatte am Vormittag nur noch einen Patienten, danach habe ich die Praxis geschlossen. Das war heute dringend nötig. Das Telefon ist auf ‚Notfall‘ umgestellt, dass die JVA mich erreichen kann. Auch Psychologen müssen mal ausruhen.“

„Gut, ich bin nicht auf Notfall, sondern auf totale Entspannung gepolt. Okay, Dirk, ich melde mich, wenn ich in Utersum angekommen bin. Tschüss.“

„Ich wünsche dir eine bewegte Überfahrt.“

„Ja, is klar, ich habe schon bessere Scherze gehört.“

Ihr Ehemann schmatzte einen dicken Kuss in das Telefon, den Karla erwiderte, bevor sie das Gespräch beendete.

Karla spürte ein flaues Gefühl im Magen. Die raue See bereitete ihr Probleme. Was hatte Dirk mal gesagt? „Visiere einen Punkt in der Ferne an und konzentriere dich darauf. Damit kannst du die Übelkeit austricksen.“

Ihre Konzentration lenkte sie auf den Fähranleger von Wyk.

„Ich schaffe das! Ich schaffe das! Ich schaffe das“, murmelte sie vor sich hin.

Mit beiden Händen umklammerte sie das kalte Geländer der Reling und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Der Hafen von Wyk rückte näher. Das Schiff verlangsamte die Fahrt, die Passagiere setzten sich in Bewegung. Die einen liefen zu den Autos im Unterdeck und die Fußgänger warteten am Ausgang des Schiffes.

Karla stieg in ihren Bus, befreite ihre Locken von der Mütze und startete den Wagen.

Sie fuhr in die Hafeneinfahrt. Den Bus stellte sie auf dem Parkplatz ab und lief in Richtung Sandwall.

Der Himmel riss immer mehr auf. Die Sonne strahlte den geliebten Ort Wyk an.

„Was für ein Willkommensgruß“, freute sich Karla.

„Jetzt erst mal ab ins Café Steigleder! Friesentorte und Cappuccino warten auf mich“, verkündete Karla so laut, dass es alle hören konnten. Sie grinste die Passanten an, die sie kopfschüttelnd anstarrten. Das amüsierte sie.

Im Café erhaschte sie draußen einen schönen Platz. Sie stopfte sich eine Decke in den Rücken. Die Beine wickelte sie mit einer anderen ein. So saß sie windgeschützt hinter einer Glaswand. Die Insel zeigte ihre Schokoladenseite: Auf dem Wasser glitzerten die Sonnenstrahlen. Auf der Promenade lieferten sie ein exzellentes Schauspiel von Licht und Schatten.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie ihren Namen hörte: „Karla? Kaaarla? Ja, du bist es.“

Karla zuckte zusammen und schaute verdattert. „Inge? Ich glaube es nicht! Wo sind denn deine tollen langen Haare geblieben?“

„Unter der Mütze versteckt“. Inge zog die Mütze ab und die Haare flatterten im Wind.

„Was machst du hier auf Föhr?“

„Eine Reha in Utersum.“

„Reha? Was machst du denn in der Reha?“

„Brustkrebs.“

Karlas Betroffenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie nahm Inge in den Arm und drückte sie herzlich. Verlegen wischten sich beide Frauen die Tränen weg.

„Mensch, Inge, dünn bist du geworden. Na ja, dick warst du noch nie. Aber an deiner Schönheit hat sich nichts verändert.“

„Ach, hör auf. Du bist aber auch noch schlanker geworden, liebe Karla.“

„Das ist so gewollt und musste sein.“

„Wieso, bist du krank?“

„Nee, aber ich will im Alter nicht zur Matrone mutieren, ich laufe jetzt Marathon.“

„Klasse! Kein Wunder, dass du durchtrainiert bist.“

„I do my very best”, scherzte Karla. „Jetzt erkläre mir mal genau, was passiert ist.“

Inge setzte sich neben Karla und erzählte: „Es ging alles ruck zuck. Im Dezember wurde ein Knoten in der linken Brust festgestellt. Anfang Januar war die Operation. Jetzt bin ich hier zur Anschlussheilbehandlung.“

„Und? Wie ist deine Prognose?“

„Nicht schlecht, die Wächterlymphknoten sind frei. Das heißt, der Krebs hat noch nicht gestreut. Aber ich will jetzt gar nicht in die Tiefe gehen. Bestrahlung und die Chemo bleiben mir erspart. Ich habe großes Glück gehabt.“

Karla nahm Inges Hand und streichelte sie liebevoll.

„Nun mach dir mal keinen Kopf, ich packe das schon.“

Karla lächelte. „Mensch, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Was für eine Freude, deine Stimme zu hören, die mag ich an dir besonders gern.“

„Du olle Schmeichlerin, jetzt trieft es aus allen Löchern.“ Inge lachte. „Gefühlte zwanzig Jahre, oder mehr?“

„Mehr“, meinte Karla. „Ich hätte mir allerdings bessere Nachrichten bei unserem Wiedersehen gewünscht.“

„Es ist, wie es ist“, antwortete Inge.

„Stimmt.“

„Bist du noch beim Jugendamt in Witten, oder hast du den Rat deines Professors aus Mönchengladbach befolgt? Der wollte doch, dass du Jura und Kriminologie studierst. Ich erinnere mich noch gut daran.“

„Nee, die Stadtverwaltung habe ich vor sieben Jahren verlassen. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich einen Verband für Resozialisation von entlassenen Straftätern in Witten gegründet. Berufsbegleitend studiere ich seit zwei Jahren an der Ruhruni Bochum Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft. Wenn alles klappt, schließe ich zum Ende des Sommersemesters mit dem Master ab. Die Studiengebühren sind zwar krass, nehme ich aber gern in Kauf.“

„Was? Das ist ja ein Hammer, klasse.“ Karla war beeindruckt. „Hut ab! Na, siehst du, auf Umwegen erfüllst du dir noch deinen Herzenswunsch und den deines alten Professors. Und wie schaffst du das neben dem Job?“, wollte Karla genau wissen.

„Meine wöchentliche Arbeitszeit habe ich auf zwanzig Stunden reduziert. Ansonsten kannst du das bei dem Arbeitspensum, das wir im Verein bewältigen müssen, nicht stemmen.“

„Mein Mann Dirk ist Psychologe und Lehrbeauftragter an der Uni Bochum. Er arbeitet in der JVA Bochum ebenfalls an einem Projekt mit, in dem es um Strafgefangene geht, die kurz vor der Entlassung stehen.“

„Sag nur, das ist spannend. Wir haben bisher mit den Sozialarbeitern der JVA zusammengearbeitet. Meist dann, wenn die Entlassung kurz bevorstand.“

„Das denke ich“, lachte Karla. „Wenn du zurück bist, kannst du mit Dirk Kontakt aufnehmen und schauen, wie sich eine Zusammenarbeit organisieren lässt.“

„Oh ja, das ist eine gute Idee.“

„Und wie geht es weiter, wenn du den Master hast?“, fragte Karla.

„Keine Ahnung, einen Schritt nach dem anderen. Meinen Doktor vielleicht?“

„Genauso kenne ich dich, du hattest immer Power bis zum Abwinken. Das ist der beste Weg zum Gesundwerden.“

„Na ja, schauen wir mal, wie sich alles weiterentwickelt. Und du? Arbeitest du noch bei der Kripo?“

„Na klar, ich bin bei der Mordkommission gelandet. Dort bleibe ich bis zur Pensionierung, da kannst du Gift drauf nehmen.“

„Machst du Urlaub oder bist du dienstlich hier?“

„Meine Familie und Freunde haben mir zum Fünfzigsten den Urlaub geschenkt und die Kollegen haben mich mit Malutensilien beglückt. Ich plane nichts, lasse mich treiben, bin kreativ … Alles, was mir guttut, mache ich jetzt und gleich sehr viel davon.“

„Herzlichen Glückwunsch nachträglich! Nach fünfzig siehst du nicht aus, immer noch die sportliche, fitte Karla.“

„Danke.“

„Ich werde auch noch in diesem Jahr fünfzig, wir sind doch ein Jahrgang“, erinnerte Inge sie.

„Genau.“

Karla nahm einen Schluck vom köstlichen Cappuccino. Sie genoss die Friesentorte und ließ die Föhrer Leckerei auf der Zunge zergehen.

„Ich muss los.“ Inge schaute auf die Uhr und sprang auf. „Der Bus fährt gleich zurück zur Klinik. Ich muss noch zur Powergymnastik.“

„Kann ich dich mitnehmen? Meine Ferienwohnung ist in Utersum.“

„Nee, komm du erst mal an, wir sehen uns. Wenn du magst, können wir was verabreden.“

„Klar, lass uns die Handynummern austauschen“, schlug Karla vor.

„Ach, schau mal. Hier habe ich das Veranstaltungsprogramm für April für dich, in der Klinik liegen genug aus. Dann weißt du, was auf der Insel angeboten wird. Im Föhrer Kunstmuseum läuft eine tolle Ausstellung und im Dörpshus in Nieblum ebenfalls. Die Vernissage im Museum war leider schon und morgen Nachmittag wird die Ausstellung in Nieblum eröffnet. Zwei Wittener Künstlerinnen stellen im Dörpshus aus und sind auch bei der Museumsausstellung dabei.“

„Ach ja, wer?“

„Violetta Fey und Lena Beck“, antwortete Inge.

„Nee, das glaube ich nicht. Die beiden haben den ersten und zweiten Kunstpreis aus der Jürgen-Grume-Stifung in Witten gewonnen.“

„Genau, stimmt. Leider habe ich die Preisverleihung im Märkischen Museum verpasst. Da war ich schon hier auf Föhr“, erzählte Inge.

„Und ich habe es in der Presse gelesen, hatte aber keine Zeit hinzugehen.“

„Eine Freundin hat mir berichtet, dass es unter den Bewerbern für den Preis Zoff gegeben haben soll. Den Gewinnerinnen gönnte man den Preis nicht und es wurde schmutzige Wäsche gewaschen. Vor allen Dingen haben die männlichen Künstler interveniert. Auch Kunstkritiker haben mitgemischt.“

„Neider gibt es viele unter den Künstlern.“

„Na gut, wenn du von der Kunst leben musst, geht es oft ums nackte Überleben!“

„Das ist richtig, doch deshalb muss man sich keinen Schlagabtausch in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzwerken liefern“, regte sich Karla auf.

„Stimmt“, pflichtete ihr Inge bei, „Violetta und Lena stellen jedes Jahr im Dörpshus aus. In diesem Jahr wurden sie auch für die Museumsausstellung ausgewählt.“

„Erstklassig, das haben sie verdient. Danke für die Infos, Inge. Hast du Lust, morgen Nachmittag mit mir in Nieblum die Vernissage zu besuchen?“

„Klar, gern.“

„Wann ist die Eröffnung?“

„Um fünfzehn Uhr. Sie wurde wegen der Osterfeiertage auf den Nachmittag verlegt, sonst findet sie immer abends statt.“

„Ich stehe pünktlich um halb drei vor der Klinik und hole dich ab.“

„Du kannst auch in der Cafeteria der Klinik auf mich warten.“

„Ich finde dich, Inge, da kannst du sicher sein. Und außerdem habe ich deine Handynummer.“

„Jetzt muss ich los, tschüss, wir sehen uns“, rief Inge und rannte im Affentempo in Richtung Bushaltestelle.

Karla lehnte sich entspannt zurück, blätterte im Veranstaltungskalender und verspeiste die restliche Torte. Die Beine ausgestreckt mit dem Gesicht zur Sonne, sog sie die klare Seeluft ein.

„Hallo Ruhrpottkollegin! Huar komst dü dach faan daan2?

„Ach nee, Piet Dirksen! Die gesamte Inselpolitsei3!“, scherzte Karla. „Komm du mir mit Fering um die Ecke. Du weißt doch, dass ich der nordfriesischen Sprache nicht mächtig bin. Ich komme geradewegs aus Bochum!“

„Hü gunngt di det4?“

„Gut, siehste doch.“

Piet strahlte Karla an und sagte: „Tu doch nicht so, du verstehst Fering gut. Nix los in der Großstadt? Da musst du nach Föhr kommen, um dir Arbeit zu suchen, oder machst du hier Urlaub?“ Piet grinste über das ganze Gesicht. Der friesische Polizeihauptkommissar stellte das Fahrrad ab und fläzte sich auf den Stuhl neben ihr. Die Mütze nahm er ab. Piets strubbelige rote Haare leuchteten in der Sonne.

„Jau Piet, ich mache Urlaub, und zwar allein, ohne Dirk. Vier Wochen auf Föhr. Ein Geburtstagsgeschenk von Familie, Freunden und Kollegen.“

„Du hattest Geburtstag? Wie alt bist du denn geworden? Fiartig5?“

„Du alter Schmeichler, Föftig6“, antwortete Karla in Fering.„Nicht mehr lange bis zur Pensionierung.“

„Mann, Mann, Mann, dann bist du ja auch kein junges Täubchen mehr“, neckte sie Piet. „Mensch, darauf müssen wir einen trinken.“

„Das machen wir Piet, nur nicht jetzt und heute. Ich muss noch fahren. Wenn mich die Inselpolitsei betrunken erwischt, bin ich dran …“

„Oha, darauf kannst du wetten. Ruf mich an, oder komm auf der Wache vorbei, dann verabreden wir was. Huar wenest dü7?“

„In Utersum, Klaf8!“

„Gut gewählt, da kannst du ja die schönsten Sonnenuntergänge genießen.“

„Meine Familie hat alles ausgesucht. Ich bin schon ganz gespannt.“

„Du wirst begeistert sein. Ich muss weiter, damit die Insel sauber bleibt. Hier ist immer was zu tun. Nicht wie bei euch in der Großstadt.“

„Ja, sicher.“ Karla schüttelte den Kopf. „Tschüss Piet, bis bald.“

„Mach’s gut, Karla.“ Der lange Piet schwang sich auf sein Rad und fuhr in Richtung Hafen.

Karla zahlte. Gemächlich schlenderte sie über den Sandwall, schaute sich das Sortiment in den netten Boutiquen an, kaufte ein paar frische Lebensmittel und lief zurück zum Auto, um ihr Ferienquartier anzusteuern.


2. Preisträgerinnen

– Föhr, Wyk; Mittwoch –

Violetta und Lena saßen bei Fietis in der Mittelstraße und bestellten Lachs. Sie liebten dieses Restaurant. Es war für sie in Wyk das beste. Sie stießen mit einem Glas Prosecco auf ihren Erfolg an. Allerdings war die Freude bei Violetta etwas getrübt.

„Mensch, Violetta, jetzt freu dich doch endlich mal über unseren Erfolg. Immerhin hast du den 1. Kunstpreis im ­Märkischen Museum Witten gewonnen.“ Lena knuffte Violetta, um sie aufzumuntern. Violetta stützte ihren Kopf in ihre Hände und schaute Lena traurig an.

„Wenn diese Neider nicht wären, die uns den Erfolg nicht gönnen und uns alles mies machen würden, dann könnte ich mich wirklich freuen. Und diese schreckliche Hetze im Netz. Ich darf gar nicht daran denken …“

Jetzt wurde Lena energisch, klemmte ihre blonden Locken hinter die Ohren und drückte die Hand ihrer Freundin.

„Dann lass es doch. Was störst du dich daran? Wir sind mit einer Ausstellung im Dörpshus in Nieblum und vor allen Dingen im Föhrer Kunstmuseum gemeinsam mit namhaften Künstlern vertreten. Du weißt, dass das ein Privileg ist?“

Violetta nickte und nippte an ihrem Glas. „Genau, und sie werden es uns noch mehr neiden.“

Lena setzte sofort noch einen drauf: „Und, meine Liebe, erinnerst du dich? Die Galerie Luzia Sassen hat uns aufgenommen, will uns in ihrer Galerie in Köln ausstellen und unsere Arbeiten auf allen nationalen und internationalen Messen zeigen. Ist das etwa nichts? Wenn das keine Anerkennung ist, dann weiß ich es auch nicht. Ob die anderen neidisch sind oder nicht, was stört uns das. Wir sind hier, um unseren Erfolg zu feiern. Das haben wir verdient. Schließlich haben wir dafür hart gearbeitet.“

„Ja sicher, wir haben hart gearbeitet … Aber der Museumsfunk hat geflüstert, dass wir den 1. und 2. Kunstpreis nur abgesahnt haben,weil wir dem Stifter auf dem Schoß gesessen haben.“

„Jetzt hör auf! Sonst werde ich richtig sauer!“, wies Lena sie zurecht.

„Vielleicht bin ich naiv. Ich begreife nicht, dass man sich so untereinander zerfleischen muss. Okay, Kunst ist ein hartes Geschäft, die Konkurrenz ist groß. Jeder will sein Schäfchen ins Trockene bringen, vor allen Dingen, wenn es dein Broterwerb ist. Die reichen Künstler mit ihren Mäzenen, die können sich viele Sperenzkes9 leisten, wir nicht. Wir müssen dafür richtig was tun. Aber die Kunst ist nicht nur Broterwerb, sondern auch Leben und Leidenschaft.“

„Besser hätte ich es nicht sagen können.“ Lena schaute Violetta nachdenklich an. Beide versprachen, zumal sie sich schon seit der Kindheit kannten, sich aus diesem Machtgehabe rauszuhalten, ihre Leidenschaft vor die bösartige Konkurrenz zu stellen und weiterhin zielsicher ihren Weg zu gehen.

Der nette Chefkoch vom Fietis kam an den Tisch und wollte den leckeren Lachs servieren.

„Meine Damen, was ist los? Jetzt gibt es was für den Gaumen. In meinem Lokal wird kein Trübsal geblasen. Lassen Sie es sich schmecken!“

Lena und Violetta erschraken, schauten den Chefkoch verdattert an und konnten endlich wieder lächeln.

„Du hast ja recht, wir genießen jetzt das Essen und versuchen, die Geschehnisse zu vergessen und auf unsere Erfolge zu schauen.“

„Das hört sich schon besser an. Guten Appetit. Mhm, das riecht schon so lecker.“ Lena prostete ihrer Freundin zu und Violetta erhob ebenfalls ihr Glas.

In aller Ruhe genossen sie das Menü, während draußen der Wind kräftig durch die Straßen fegte. Sie schmiedeten Pläne, plauderten über die gelungene Vernissage im Föhrer Kunstmuseum und freuten sich auf die Eröffnung der Ausstellung am Donnerstag im Dörpshus.

Fast gleichzeitig legten sie anschließend ihr Besteck auf den Teller und rieben sich die Bäuche.

„War das gut“, ließ Violetta verlauten. Dabei schüttelte sie ihre langen schwarzen Haare und ihre grüngrauen Augen schimmerten im Sonnenlicht. Schon griff sie wieder zur Speisekarte.

„Lena, ein Dessert? Was Süßes geht doch immer? Oder?“

„Na klar. Und ein Prosecco ebenfalls“, grinste Lena.

Der Chef vom Fietis verstand sofort und nahm die Bestellung auf.

„Und eins sage ich dir. Nach dem Essen machen wir eine Strandwanderung, sonst werde ich noch dick und fett.“

„Ist schon gut“, besänftigte Lena ihre Freundin. „Ich bin dabei.“

3. Urlaub

– Föhr, Utersum; Mittwoch –

Mit Blick nach draußen, eingewickelt in eine dicke Decke, lag Karla müde auf dem Sofa in ihrer Ferienwohnung. Die Terrassentür hatte sie geöffnet. Eine kühle Brise wehte herein, die ihr guttat. Von der Couch aus konnte sie das Meer sehen. Links schaute sie auf Amrum, rechts lag Sylt mit dem blinkenden Leuchtturm vor ihr. Der Himmel zeichnete mit verschiedenen Rottönen ein grandioses Naturereignis direkt vor ihren Augen.

Sie rief Dirk an.

„Na, bist du fertig mit baden?“

„Oh ja, jetzt liege ich auf der Couch vor dem Fernseher und lasse mich berieseln.“

„Ich kann es mir vorstellen. Dem Anschein nach geht es dir ohne mich gut.“

„Wie man es nimmt, im Augenblick sieht es danach aus.“

„Na dann, ich kann ja mal über eine Urlaubsverlängerung nachdenken“, frotzelte Karla.

„Och nee, so war das nicht gemeint.“

„Also vermisst du mich?“

„Na klar, mein Täubchen. Bist du gut in deiner Ferienwohnung angekommen?“

„Ja, alles prima. In Wyk habe ich übrigens Inge Bergheim getroffen.“

„Ach, Inge? Von ihr hast du ja ewig nichts gehört.“

Karla erzählte ihm die Geschichte von Inge, berichtete ihm auch, dass sie Piet schon gesehen hatte und dass die Wittener Kunstpreisträgerinnen in Nieblum und Alkersum ausstellten.

„Du meine Güte, da hast du ja in den paar Stunden auf der Insel echt was erlebt.“

„Das kannst du laut sagen. Wenn das so weitergeht, schreibe ich darüber einen Roman, oder einen Krimi, wenn es der Stoff hergibt.“

„Gegen einen Roman habe ich nichts, aber das mit dem Krimi lass mal, den schreibst du jeden Tag im Dienst.“

„Übrigens, Inge hat zusammen mit einem Kollegen den Verband für Resozialisation von entlassenen Straftätern Witten gegründet.“

„Ach, das ist ja interessant. Ich weiß, dass die Sozialarbeiter mit einem Verband Kontakt haben.“

„Jetzt muss ich unbedingt was essen, mein Magen hängt mir auf den Schuhsohlen. Ich laufe gleich zur Sehliebe, aber vorher rufe ich noch Rolf an.“

„Lass das, Karla, wer weiß, was er dir erzählt. Schon ist es mit der Ruhe vorbei und du fährst womöglich noch zurück nach Bochum, falls es einen Fall zu lösen gibt. Dafür kenne ich dich zu gut, Miss Marple!“

„Wieso? Hast du was gehört? Steht was in der Zeitung?“

„Nee, aber bei euch im Präsidium ist doch immer was los, vor allen Dingen, wenn du Urlaub hast.“

„Ich rufe ihn trotzdem an.“

„Tu, was du nicht lassen kannst. Wenn du dir was in den Kopf gesetzt hast, kann man dich nicht davon abbringen. Bis dann, schlafe gut.“

„Du auch.“

Gleichzeitig schmatzten sie einen Kuss durchs Telefon.

Karla hielt ihr Handy in der Hand und starrte es an.

„Scheiß was drauf“, sagte sie und wählte Rolfs Nummer.

„Karla? Sorry, ich bin etwas im Stress! Frauenleiche im Muttental. Heute gefunden. Ich bilde gerade eine Mordkommission. Wie geht es dir? Bist du gut angekommen?“, spulte Rolf im Telegrammstil ab.

„Ich habe es geahnt, kaum bin ich weg, passiert wieder was. Weißt du Näheres über die Frau?“

„Nee, wir sind mit unseren Ermittlungen erst am Anfang.“

„Gibt es schon Fotos? Wenn ja, schick sie per E-Mail.“

„Spinnst du, Karla, geht’s noch? Selbst wenn ich schon welche hätte, schicke ich dir nix. Du hast Urlaub, schon vergessen?“, wies Rolf sie zurecht. „Wir bekommen das hier schon hin, auch ohne dich.“

„Das glaube ich dir. Aber wenn ich euch helfen kann, lass es mich wissen.“

„Meine liebe Karla“, antwortete Rolf pathetisch, „du genießt jetzt deinen Urlaub. Wir erledigen hier unsere Arbeit. Wenn du ausgeruht zurückkommst, zählen wir auf dich, dann kannst du auch wieder Morde aufklären.“

„Okay, mach’s gut und viel Erfolg bei den Ermittlungen.“

„Na klar. Dir viel Spaß, tschüss.“

4. Polizeipräsidium

– Bochum; Mittwoch –

„Chef? Gibt es schon etwas Neues?“

„Jau, komm rein, Klaus.“

Klaus Pfeffer setzte sich vor Rolfs Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. Dabei zupfte er seinen Schal zurecht, den er über einer grauen Lederjacke trug.

Rolf hatte gerade den Telefonhörer aufgelegt.

„Lass mich wetten“, sagte Klaus. „Das war Karla, ne?“

„Du kennst unser aller Lieblingskollegin ja haargenau“, scherzte Rolf.

„Na klar, wie geht es ihr?“

„Sie ist gut angekommen. Ich Dussel habe ihr von der Leiche im Muttental erzählt. Stell dir vor, sie wollte ein Foto von dem Opfer und vom Fundort.“

„Nee, ne, du hast ihr doch hoffentlich nichts geschickt?“

„Sehe ich so aus, Klaus?“

„Natürlich nicht. Aber Karla kann manchmal hartnäckig sein. Uns beide wickelt sie doch um den Finger, wenn sie will“, grinste Pfeffer.

Rolf schob die grau melierten Haare verlegen mit der schwarzen Hornbrille aus dem Gesicht. Eine typische Handbewegung, die zeigte, dass er nachdachte oder ihm etwas unangenehm war.

„Jetzt an die Arbeit, Klaus, es gibt viel zu tun.“

„Kein Problem, Chef. Franzi und die Kollegen haben den Fundort im Muttental schon gesichert. Der Zeuge Walter Weiß ist auch schon befragt. Adresse und Telefonnummer haben wir. Falls wir noch was wissen wollen, können wir ihn jederzeit kontaktieren.“

„Gute Arbeit, Klaus.“

„Ich fahre jetzt zum Fundort Muttental, Flöz Finefrau.“

„Alles klar.“

„Chef!“ Lotter stürzte herein und unterbrach das Gespräch.

„Wat is?“, entgegnete Rolf ungehalten.

Frank Lotter stand schwitzend, völlig aufgelöst, mitten im Raum.

„Chef, eine weitere Frauenleiche!“

„Was? Machst du Scherze, Frank?“

„Ne, Rolf, mach ich nicht. Die Tote wurde in der Nähe vom kleinen Haarmannstempel auf dem Hohenstein gefunden. Sie wurde genau wie die Tote im Muttental in einem Baum drapiert und an Armen und Beinen festgebunden.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Mutter mit Kind, eine Andrea Denk.“

Rolf wandte sich zu Klaus: „Gibt es schon Hinweise zur Todesursache der ersten Toten?“

„Wenn ich vor Ort bin, berichte ich dir, sobald ich Näheres weiß, okay?“

„Okay. Lotter, du fährst jetzt mit Elke zum Hohenstein. Hurtig! Und befragt die Zeugin.“

„Das haben die Wittener Kollegen bereits erledigt! Bin schon weg“, rief Lotter.

Auch Klaus Pfeffer stand auf und sie verließen gemeinsam das Büro.

Rolf lehnte sich zurück, um seine Gedanken zu sortieren. Er nahm den Telefonhörer und wählte die Nummer von Tina Fritz in der Polizeiinspektion Witten.

„Rolf?“, hörte er die Kollegin sagen.

„Habt ihr schon Infos für mich?“

„Haben wir, wir laufen hier schon zur Hochform auf. Ich bin über beide Funde im Bilde.“

„Hätte ich mir denken können. Ihr seid immer so fix. Ich komme gleich zu euch rüber, um die Ergebnisse zu sichten. Die Mordkommissionen MK2 mit Klaus Pfeffer und MK3 mit Frank Lotter sind am Start. Ist die Gerichtsmedizin im Muttental angekommen?“

„Klar, Dr. Breming ist da, Dr. Windeisen haben wir angerufen. Sie ist auf dem Weg zum Hohenstein. Kann bei dem Verkehr über die A 40 dauern.“

„Mhm, das kennen wir ja. Bis gleich.“

„Bis gleich.“

Rolf legte auf und atmete tief ein. Er packte sein Brötchen aus. Er biss hinein, zäh wie Leder, schlürfte eilig den restlichen, kalten Kaffee und schüttelte sich. Sein Magen krampfte sich zusammen. Seit einiger Zeit verspürte er immer häufiger einen kurzen, stechenden Schmerz in der Magengegend. Er aß meistens zu schnell und trank viel zu viel Kaffee. Rolf ignorierte die Warnung seines Magens. Er zog das verknitterte Sakko an, darüber eine dicke, schwarze Lederjacke. Verzweifelt suchte er seine Brille auf dem übervollen Schreibtisch, beim Suchen fiel sie ihm vom Kopf.

„Mann, bin ich ein Schussel“, sagte er. Dabei dachte er an seine Exfrau, die ihm genau das immer wieder vorgeworfen hatte.

‚Jetzt nicht, Greta! Verschwinde aus meinem Kopf. Ich muss mich mit anderen Dingen beschäftigen.‘ Zügig verließ Rolf das Büro.

In Gedanken vertieft lief er in Richtung Aufzug. Dort begegnete ihm ein Kollege, der ihm gerade bis zu den Achseln reichte.

„Tachchen, auch noch im Dienst?“, ließ dieser zuckersüß verlauten.

„Ja sicher, sieht so aus, oder? Und Sie?“

Rolf wollte die Antwort gar nicht wissen. Vielmehr nervte ihn die Fragerei. Dummes Gequatsche brauchte er jetzt nicht. Er drückte auf den Knopf neben dem Aufzug.

In dem Augenblick schnellte der Arm des Kollegen hoch. Er hielt ihm sein Smartphone direkt unter die Nase.

„Hier, guck mal. Das ist mein Garten, hier mein Haus und das ist mein neues Auto.“

„Ja, schön, wer will das wissen? Kennen wir uns? Und seit wann duzen wir uns?“, erwiderte Rolf sichtlich gereizt und stieg in den Aufzug ein.

Der kleine, dicke Kollege gesellte sich zu ihm, grinste ihn an und redete ununterbrochen weiter auf ihn ein.

Rolf stellte seine Ohren auf Durchzug, verließ den Aufzug als sie das Erdgeschoss erreicht hatten und lief auf die Pforte zu, hinter der die diensthabende Kollegin saß. Im Hintergrund hörte er den Beamten immer noch brabbeln, der in seinem Redefluss vergaß, aus dem Aufzug auszusteigen.

„Na Rolf, durftest du mit unsem Kollegen Benno Aufzug fahren?“

„Wieso? Kennst du ihn?“

„Nicht wirklich, ich weiß nur von den anderen Kollegen, dass er nervtötend sein kann. Anscheinend hat er nicht genügend zu tun.“

„Jau, scheint so. Nervend ist er, da gebe ich dir recht. Egal, ich muss jetzt los.“

Sie winkte ihm zu und wünschte ihm einen schönen Feierabend.

„Daraus wird nix“, rief Rolf. „Das wird eine lange Nacht.“

„Oh je, aber für mich auch.“

„Halt die Ohren steif.“

Rolf hob seine Hand zum Gruß und öffnete die schwere Eingangstür. Ein kalter Wind pfiff ihm entgegen. Die Ausläufer des Sturmtiefs waren immer noch zu spüren. Fröstelnd rannte er zum Auto. Er schaute auf die Uhr: „Na prima, zehn nach sechs“, brummte er vor sich hin.

Wenig später quälte sich der Hauptkommissar vom Präsidium durch die Bochumer Innenstadt. Feierabendverkehr. Auf der A 44 nahm er die Ausfahrt Witten-Zentrum, fuhr über den Crengeldanz in Richtung Rathaus. Die Fußgängerampel an der Bushaltestelle vor dem Rathaus zeigte rot, doch alle liefen kreuz und quer über die Straße. Rolf betätigte unablässig die Hupe und eines der Kiddies zeigte ihm den Mittelfinger. Rolf überlegte anzuhalten und auszusteigen, ließ es jedoch sein und fuhr zur Wache an der Casinostraße. Jetzt gab es Wichtigeres als den Mittelfinger eines kleinen, schlecht erzogenen Rotzlöffels.

Sein Magen knurrte. Wie gerne wäre er jetzt in Sebos Café eingekehrt, um was Leckeres zu essen. Aber: keine Zeit!

Da alle Dienstparkplätze in der Casinostraße belegt waren, parkte er direkt vor dem Eingang. Eine Betonfigur der Künstlerin Christel Lechner, ein Polizeibeamter in Uniform, stand direkt vor ihm. In der gesamten Stadt Witten begegnete man diesen Alltagsmenschen der Künstlerin. Rolf fand sie bemerkenswert. Dem Beamten aus Beton klopfte er im Vorbeigehen auf die Schulter, bevor er den Eingangsbereich betrat.

„Hallo Jungs“, rief er den Kollegen an der Anmeldung zu.

„Hallo Rolf, wartet mal wieder viel Arbeit auf dich?“

„Jau, das könnt ihr wohl sagen.“

„Dann mal tau“, rief ihm der junge Beamte zu.

„Ach übrigens, mein Auto steht direkt vor der Tür.“

„Ach nee, sag nur, deinen Wagen kennt hier jeder. Er ist nicht zu übersehen“, lachten die Diensthabenden. „Geht klar.“

Das hörte Rolf schon nicht mehr. Er nahm mehrere Treppenstufen auf einmal und lief zu Tinas Büro. Sie saß am Computer und hatte die ersten Fotos auf dem Bildschirm. Rolf trat an ihren Schreibtisch. Ihr frisches Parfum stieg ihm angenehm in die Nase.

Die kleine, quirlige Tina ist eine hervorragende Aktenfrau‘, dachte er. Sie arbeitet sorgfältig und achtete auf jedes winzige Detail.‘

„Hallo, Rolf.“ Tina drehte sich nur kurz um und zeigte auf den Bildschirm. Was Rolf sah, war ein Bild des Grauens. „Das ist die Leiche vom Muttental. Sie wurde in der Nähe vom Flöz Finefrau oberhalb des Maximusstollens gefunden.“

Rolf sah, dass sie im unteren Teil eines hohlen, vom Sturm abgebrochenen Baumes hing.

„Ach du Scheiße!“ Der Kommissar hielt vor Entsetzen die Hand vor den Mund.

„Warte mal, da kommen auch die ersten Fotos vom Hohenstein.“

Tina öffnete sie und sagte: „Wie es Lotter geschildert hat: Die Tote wurde ebenfalls unten im Baum aufgehängt.“

„Tina, ich fahre auch raus. Das muss ich mir genauer ansehen. Wenn mich nicht alles täuscht, könnten wir es mit einem Serientäter zu tun haben.“

In Windeseile verließ er die Polizeiinspektion.

Die Kollegen hinter der Glasscheibe der Anmeldung staunten nicht schlecht, als er nach gerade mal zehn Minuten wieder in seinem Wagen saß.

„Na klar“, rief Rolf und schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad.

Ein Taxifahrer stand mitten auf der Casinostraße. Er sammelte einen Betrunkenen ein, der wohl eine lange Nacht hatte. Rolf hupte. Endlich setzte sich das Taxi in Bewegung.

Rolf bog links ab und stand wieder. Die Ampel zeigte Rot. Sein Handy spielte die Musik von Metallicas Nothing Else Matters.

„Klaus, wat gibbet?“, rief Rolf über die Freisprechanlage.

„Wo bist du?“

„Ich bin auf dem Weg zu euch. Lasst alles, wie es ist und sagt Lotter Bescheid. Ich will mir den Fundort am Hohenstein ebenfalls ansehen. Das Bild ist ja erschreckend.“

„Geht klar, Chef. Wir haben die Lage im Griff und Dr. Breming wartet, bis du alles gesehen hast.“

„Prima, bis gleich.“

Die Ampel zeigte Grün und Rolf gab Gas. Er konnte bis zum Haus Witten durchfahren. Erst an der Brücke stoppte ihn wieder eine Ampel, die aber kurz danach wieder umsprang.

‚Kaum zu glauben, mal kein Stau auf der Ruhrbrücke‘, dachte Rolf, fuhr Richtung Bommern und bog rechts in die Rauendahlstraße ein.

Am Parkplatz Finefrau war schon mächtig was los. Immer mehr Schaulustige und Pressevertreter versammelten sich am Fundort. Die Kollegen von der Schutzpolizei waren damit beschäftigt, die Lage im Griff zu behalten.

Rolf beschwichtigte die aufgeregten Reporter mit seiner lauten, kräftigen Stimme: „Wir werden so bald wie möglich eine Pressekonferenz geben, in der wir Sie ausführlich informieren. Bis dahin bitte ich Sie höflich, uns die notwendige Ermittlungsarbeit machen zu lassen.“

„Dürfen wir denn berichten, dass eine Leiche gefunden wurde?“

„Bitte seien Sie so freundlich und warten Sie ab, bis unser Pressesprecher sich bei Ihnen meldet, damit wir fundierte Aussagen an die Öffentlichkeit geben.“

„Okay“, ließ der junge Reporter verlauten und trat den Rückzug an.

Auch die anderen Medienvertreter und Fotografen entfernten sich. Rolfs natürliche Autorität zeigte immer wieder schnell Wirkung.

Rolf Sahner lief mit Entschlossenheit auf die Schaulustigen zu.

„Leute, Leute, Sie behindern die Polizeiarbeit. Bitte haben Sie Verständnis, dass es noch keine näheren Informationen gibt und räumen Sie unverzüglich das Feld.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Aber damit war der Drops gelutscht und die neugierigen Bürger zogen allmählich von dannen.

Der Kommissar lief ein Stück den Fußweg hinunter und stapfte querfeldein durch das Dickicht, um an den Fundort zu gelangen.

Dr. Walter Breming, Klaus Pfeffer und Ulf Schmidt von der Spurensicherung warteten ungeduldig auf ihn.

„Da bist du ja endlich“, riefen sie ihm entgegen.

Walter Breming untersuchte das Opfer.

Rolf blieb wie paralysiert stehen und ließ das Gesamtbild auf sich wirken. Er hatte schon viele Mordopfer gesehen, aber dieser Anblick berührte ihn besonders. Lag es an der jungen Frau? Der Auffindsituation? Er wusste es nicht.

Die Leiche hing in einem ausgehöhlten Baum. Um ihren Hals und an den Händen und Füßen war ein Stahldrahtseil geschlungen. Rolf sah, dass sie mit dem Seil in der Baumhöhle fixiert worden war. Der leblose Körper hing im unteren Teil des Baumes. Er bildete somit optisch eine Einheit, so, als wäre sie schon immer mit dem Baum verwachsen gewesen.

Rolf flüsterte: „Das wirkt wie ein Kunstwerk. Eine Installation.“

Er betrachtete die junge Frau genau. Sie hatte rot gefärbte, lange, glatte Haare, die bis zur Hüfte reichten. Eine große, silberne Creole schmückte ihr rechtes Ohr. Das linke Ohrläppchen war eingerissen und blutig. Bekleidet war sie mit einem petrolfarbenen Spitzen-T-Shirt, das an einigen Stellen zerrissen war. Der kurze Minirock war zerknittert und verschoben. Die farblich auf das T-Shirt abgestimmte Strumpfhose löchrig. Ein in Silber gefasster Mondstein baumelte an einer langen Kette. Schwarze, hochhackige Stiefeletten zierten ihre Füße. Am rechten Zeigefinger trug sie einen auffälligen Silberring. Den Mittelfinger der linken Hand schmückte ein Mondsteinring. Hunderte von Fliegen flogen um das Opfer herum. Es stank bestialisch.

Der Gerichtsmediziner sprach ihn an. Rolf zuckte zusammen. „Solche Seile benutzen Künstler zum Aufhängen ihrer Arbeiten. Schauen Sie, Sahner, zum krönenden Abschluss bespritzte man das Opfer mit Farbe. Dieser Schleier bedeckte ihr Gesicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie vor dem Aufhängen erstickt.“ Dr. Brehming öffnete die Augenlider der Toten.