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Über das Buch:

Der 6jährige Fabio hat es nicht leicht: Seine »10 Großväter«, die vielen unverheirateten Brüder seines Opas, reißen sich nur darum, ihn zu den kuriosesten Unternehmungen mitzunehmen. Erst in der Schule merkt Fabio, dass man als Kind auch mit Gleichaltrigen spielen kann – doch da ist seine Rolle als Außenseiter schon vorprogrammiert. Die Kindheit ist die Kindheit am (und über weite Teile auch im) Meer ist für den Jungen ein ebenso großes Abenteuer wie die Entdeckung des Lesens und Schreibens. Und als sein Vater nach einem tragischen Unfall regungslos im Krankenhaus liegt, sind es die selbst verfassten Texte des inzwischen 12jährigen, die eine heilende Wirkung entfalten. »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« ist eine virtuos erzählte Familiengeschichte voller liebenswert-schrulliger Figuren und sommerlicher Italien-Atmosphäre. Mit seinen autobiografischen Zügen ist der Roman gleichzeitig eine Liebeserklärung an die (wortwörtlich lebensrettende) Kraft des Schreibens und der Fantasie.

Über den Autor:

Fabio Genovesi, 1974 in der Toskana geboren, ist am berühmten Badeort Forte dei Marmi aufgewachsen. Er hat als Bademeister, Radsporttrainer, Kellner und Übersetzer gearbeitet, bevor er sich höchst erfolgreich dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren gehört er zu den wichtigsten und beliebtesten Autoren Italiens und wurde mit dem renommierten Literaturpreis Premio Viareggio ausgezeichnet.

FABIO GENOVESI

Meine zehn Großväter,
das Meer und ich

Roman

Aus dem Italienischen von
Mirjam Bitter

penguin

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

Il mare dove non si tocca bei Mondadori, Mailand


Die deutsche Erstausgabe erschien 2019 unter dem Titel

Wo man im Meer nicht mehr stehen kann bei C. Bertelsmann, München.

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von Penguin Books Limited und werden
hier unter Lizenz benutzt.


Copyright © 2017 Mondadori Libri S. p. A., Milano

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by C. Bertelsmann, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro, München

Umschlagmotiv: Doreen Kilfeather / Trevillion Images

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-26944-9
V001

www.penguin-verlag.de

Meinen seltsamen Lehrmeistern

Einige (wenige) Dinge in diesem Roman habe ich erfunden, aber das sind die glaubhaftesten.

Im Dorf gab es auch noch Ettore, Lea, Alessandra, Luca und andere großartige Menschen. Sie kommen in diesem Buch nicht vor, in meinem Leben zum Glück aber sehr wohl.

Erster Teil

Gott segne den kaputten Kahn,
der uns zurückbringt.

JASON ISBELL

Der Fluch

Wie es angefangen hat, weiß niemand. Vielleicht hat einer unserer Vorfahren das Grab eines Pharaos entweiht, vielleicht hat er eine Hexe geärgert oder das heilige Tier eines rachsüchtigen Gottes umgelegt, sicher ist nur, dass auf unserer Familie seitdem ein schrecklicher Fluch lastet.

Das ist schlimm, ist aber so, es war das Erste, was ich in der Schule gelernt habe.

Ach nein, als Erstes lernte ich gleich beim Betreten der Klasse, dass es auf der Welt noch andere Kinder in meinem Alter gab und dass die nur drei oder vier Großeltern pro Kopf hatten. Ich dagegen um die zehn.

Denn mein Opa mütterlicherseits hatte einen Haufen alleinstehender Brüder, die nie geheiratet, ja, nicht mal einer Frau die Hand geschüttelt hatten, sodass aus dieser riesigen Familie nur ich hervorgegangen war, und daher war ich der Enkel von allen.

Sie stritten sich immer darum, wer etwas mit mir unternehmen durfte, und als Opa starb, wurde es noch schlimmer, deshalb hängte Oma Giuseppina einen Zettel an die Platane oben an der Straße, auf dem der Schichtplan der Woche stand: Montag Fischen mit Opa Aldo, Dienstag Jagen mit Opa Athos, Mittwoch Eisessen mit Opa Adelmo, Donnerstag nach Vögeln Ausschauhalten mit Opa Aramis und so weiter, bis alle zufrieden waren. Das Einzige, was der Kalender nie vorsah, war ein freier Tag, den ich mit Kindern in meinem Alter hätte verbringen können. Die sich sehr wohl untereinander trafen und einen Haufen verrückter Spiele kannten, von denen ich an jenem Morgen in der Schule zum ersten Mal hörte: Verstecken, Himmel und Hölle, Blindekuh, sie brauchten nur eines zu nennen, und schon rannten oder hüpften alle los, nach Spielregeln, die mir absurd, ihnen aber völlig normal erschienen, dafür guckten sie komisch, wenn ich sie fragte, wie viele Karpfen sie diesen Sommer gefangen oder ob sie eine Fasanenfeder zum Tauschen hätten.

Einen Fasan hatten sie noch nie gesehen, und beim Karpfen wussten sie nicht einmal, was das überhaupt ist, deshalb beobachtete ich sie am ersten Tag nur von Weitem, diese geheimnisvollen Wesen, die so viele Spiele, aber so wenige Opas hatten, als wäre ich auf dem Mars gelandet, in einer Klasse Außerirdischer.

Als ich am Ende meines ersten Schultags hinter Mama nach Hause radelte, fühlte ich mich wirklich wie ein Raumfahrer, der von einer Weltraummission zurückkehrt, von einem so weit entfernten und unmöglichen Ort, dass ich trotz der altbekannten Straßen Angst hatte, den Weg in meine Welt nicht mehr zu finden. Die aus einer kurzen Sackgasse bestand, in der sich jeder Opa ein Häuschen gebaut hatte und wo nur wir wohnten; am Anfang der Gasse hing sogar ein Holzschild, auf dem von Hand geschrieben stand:

WILLKOMMEN IM DORF MANCINI
BETRETEN VERBOTEN

Und wie bei der Rückkehr eines Raumfahrers wartete auf der Gasse eine große Menschenmenge auf mich: nämlich meine Verwandten, die mich nicht einmal absteigen ließen, sondern gleich umringten und wissen wollten, wie es war, wie es mir ging, ob mir jemand etwas angetan hatte.

Ich sagte ihnen aber nicht, wie es mir ging, denn ich wusste es selbst nicht. Ich sah meine vielen Opas nur einen nach dem anderen an, und es kam mir vor, als sähe ich sie zum ersten Mal. Dann fragte ich, ob ich sie ab sofort Onkel nennen dürfe.

»Da hast du es!«, riefen sie Mama zu. »Siehst du? Wir hätten ihn nicht zur Schule schicken sollen!«

Und ich war ihrer Meinung, eigentlich wollte ich da nie wieder hin. Doch Mama sagte, dass dann die Carabinieri kämen und mich ins Gefängnis stecken würden. Ich ließ mir erklären, wie es im Gefängnis war, und im Grunde war das ziemlich ähnlich wie in der Schule, nur dass man bis nach Lucca fahren musste. Also ging ich doch weiter zur Schule, die kleinen Außerirdischen wurden meine Klassenkameraden, und meine vielen Opas wurden zu Onkel Aldo, Onkel Athos, Aramis, Adelmo, Arno und so weiter. Alle trugen Namen, die mit A anfingen, wie ihre Eltern, die Arturo und Archilda geheißen hatten, bis auf den Letztgeborenen, der mein echter Opa gewesen ist und der unbedingt Rolando heißen sollte. Sie hatten alles Mögliche erwogen, neun Monate lang deswegen gestritten und ihn schließlich Arolando genannt.

Ich schwör’s, Arolando. Und warum er unbedingt Rolando heißen sollte, weiß keiner. So ist das in meiner Familie, hinter jedem Unsinn gibt es eine unendliche Geschichte, Millionen Erzählungen, die bei jedem Millimeter unseres schiefen und krummen Wegs hervorschießen, mit tonnenweise genauestens ausgeführten Einzelheiten. Aber von den wirklich wichtigen Dingen war nie etwas bekannt. Niemand sprach davon, und weil niemand davon sprach, wusste man nichts mehr darüber, so wurden aus Geheimnissen Rätsel.

Wie eben der Grund für den Namen Rolando-Arolando, aber vor allem diese Geschichte mit dem Fluch, der auf uns lastet, von dem niemand weiß, wann das angefangen hat und warum. Ich wusste nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab, bis zu jenem Nachmittag des Jahres 1980, als ich sechs Jahre alt war und in die erste Klasse ging.

Ich stand in Signora Teresas Laden und packte ein Wassereis mit Zitronengeschmack aus, während Mama sich mit ihr über die Theke hinweg unterhielt.

Der Laden lag ganz in der Nähe des Mancini-Dorfs, und ich war dort groß geworden. Im wahrsten Sinne des Wortes, als Neugeborener legte Teresa mich nämlich jede Woche auf ihre Waage für Schinken und Mortadella und sagte Mama, wie viel ich zugenommen hatte.

Offensichtlich war ich an dem Tag aber noch nicht groß genug geworden, denn Mama und sie sprachen in Andeutungen miteinander, damit ich nichts verstand, damit jenes Geheimnis mir nicht zu nahe kam, das mich sonst schlagartig hätte altern lassen.

Kurze und seltsame Sätze, Wispern und Blicke, Worte, die hier und da abprallten, wie bei einem Tennismatch, wo ich das Netz war und jede Information über mich hinwegzufliegen hatte, ohne mich je zu berühren. Aber wie im Tennis kam immer mal eine Aussage etwas zu kurz heraus und landete auf mir, also schnappte ich kleine Stücke Sinn auf wie etwa: Vor der ganzen Klasse, Teresa, oder: Was für eine Schande, die Lehrerin wird mindestens Anzeige erstatten, was für eine Schande!

Ich lutschte mein Zitroneneis, schaute in die Luft und versuchte die Teile zusammenzusetzen, und ein bisschen ärgerte ich mich darüber, dass Mama und Teresa mich ihre Gespräche nicht verstehen lassen wollten. Aber gleichzeitig musste ich lachen, denn die Geschichte, die die beiden Tennisspielerinnen vor mir geheim zu halten versuchten, kannte ich viel besser als sie beide und besser als die ganze Welt.

Denn ich war es ja leider gewesen, der morgens im Unterricht gesessen hatte.

Die Lehrerin hatte gerade die Urgeschichte erklärt und war bei den Höhlenmenschen angelangt, die gekrümmt herumliefen und so behaart waren wie Affen, aber ich zeichnete dabei einen riesigen Dinosaurier in mein Heft. Es tat mir einfach zu leid, dass die Dinosaurier irgendwann alle ausgestorben waren, deshalb machte ich den hier superstark, mit Kiemen, damit er unter Wasser atmen konnte, und mit Flügeln, damit er vor Gefahren davonfliegen konnte, so würde er sich retten, wenn die Sintflut oder ein anderes Unglück kam, und wenn das schrecklichste Unglück von allen auf Erden erschien, nämlich die Menschen, konnte er sie sofort von der Welt wegmampfen.

Aber ausgerechnet, als ich die vielen, vielen langen Zähne in seinem aufgerissenen Maul zeichnete, was besonders schwierig war und wobei man sehr genau sein musste, ging plötzlich die Tür auf, schlug wie eine Bombe gegen die Wand, und durch den Ruck rutschte mir die Hand weg, und so malte ich einen Strich über das Blatt, der die Arbeit eines ganzen Vormittags zunichtemachte.

Normalerweise ist es aber ja so, dass dir bei einem Ruck zwar kurz das Herz stehen bleibt, doch dann beruhigst du dich, und alles ist wieder in Ordnung. Aber diesmal schaute ich nach dem Ruck hoch, und da wurde die Angst hundertmal schlimmer. Denn dort, mitten in der halb aus den Angeln gerissenen Tür stand Onkel Aldo mit Zigarette im Mund und diesen zusammengekniffenen Augen, die er immer bekam, wenn ihn etwas ärgerte, zum Beispiel wenn der Wein zu Essig oder eine Ampel rot wurde.

Und vielleicht kannte auch die Lehrerin diesen Blick, denn erst war sie aufgesprungen und hatte gefragt: Darf ich fragen, wer Sie sind?, doch dann hat mein Onkel auf die Bänke gezeigt, und sie hat sich mit gesenktem Kopf zu uns in die erste Reihe gesetzt.

»Also Kinder, hört gut zu«, sagt mein Onkel mit einer Stimme, die klingt, als schlage jemand einen Aschenbecher aus Marmor gegen eine Wand aus Schmirgelpapier. »Heute Morgen vergesst ihr mal den ganzen Scheiß, den sie euch hier sonst beibringen. Heute reden wir mal über etwas Ernsthaftes. Seid still und nervt nicht rum, dann lernt ihr das sofort und richtig, verstanden?«

Wir nicken alle, sogar die Lehrerin.

»Gut. Dann fangen wir an. Gebt mir den Maschendraht.«

Aber Maschendraht ist keiner da.

»Ruhe, na gut, von mir aus auch normalen Draht.«

Doch auch davon haben wir keinen im Klassenzimmer.

»Was? In dieser Schule gibt es aber auch gar nichts! Also gut, hört zu, dann erkläre ich halt nur mit Worten, wie man das macht, aber seid still und rührt euch nicht, sonst werde ich wütend und alles geht drunter und drüber.«

Er presst die Zigarette zwischen zwei Fingern zusammen, nimmt einen so starken Zug, dass das Ende erst funkelt und dann aufflammt, anschließend reißt er sie sich aus dem Mund und schnippt sie Richtung Fenster. Nur dass das Fenster geschlossen ist, weshalb die Zigarette von der Scheibe abprallt und auf den Boden unter Mirko Turinis Bank rollt. Mirko will sie wegschubsen, aber mein Onkel brüllt: »Stillhalten habe ich gesagt!«, also rührt er sich nicht, verharrt so starr, wie er nur kann, und versucht möglichst geräuschlos zu ersticken.

Unterdessen fängt mein Onkel an, über den geeigneten Ort für einen Hühnerstall zu räsonieren, der weit genug vom Haus entfernt sein muss, weil die Hühnerkacke stinkt, aber auch nicht zu weit entfernt sein darf, weil man sonst nicht mitkriegt, wenn Füchse oder Marder kommen.

Und alle hören ihm aufmerksam zu, auch wenn sie kein Wort verstehen. Alle außer mir, der ich es nur zu gut verstehe. Denn darüber, wie man einen Hühnerstall baut, haben wir erst gestern gesprochen, als mein Onkel mich mitnehmen wollte, um Kakis in Onkel Arnos Obstgarten zu klauen. Der Garten liegt am Ende unserer Gasse, und wenn Arno seinen Bruder Aldo sieht, schießt er auf ihn, mit einem Gewehr, das mit Salz geladen ist, doch wenn ich mitkomme, dann nicht. Wenn ich dabei bin, geht zwar ein Schuss los, aber Onkel Aldo ruft schnell: Der Junge ist bei mir, der Junge!, also schießt Arno nur in die Luft, ruft: Dieb, verfluchter Dieb!, und während er nach einem Stock sucht, hauen wir ab.

Aber gestern konnte ich nicht mitkommen, ich musste noch meine Hausaufgaben fertig machen.

»Deine was?«

»Meine Hausaufgaben.«

»Was sind denn das für neue Sitten?«

»Ich gehe doch jetzt in die Schule, Onkel, und die Lehrerin gibt uns Aufgaben für zu Hause.«

»Und wie viel bezahlt dir die Lehrerin für die Hausaufgaben?«

»Nichts, glaube ich. Ich mache sie gratis.«

»Siehst du, wenn du sie gratis machst, kannst du sie machen, wann es dir passt, also auch einfach gar nicht.«

»Aber dann wird die Lehrerin wütend.«

»Und mit welchem Recht? Wenn sie dich nicht dafür bezahlt, kann sie nichts von dir verlangen. Hör zu, sie kommt nämlich auch nicht gratis in die Schule, weißt du, sie wird dafür bezahlt.«

»Echt?«

»Klar, sonst würde sie ihren Arsch nie im Leben da hinbewegen. Eigentlich müsste sie die Hausaufgaben machen, hat aber keine Lust und wälzt sie auf dich ab. Lass dich nicht verarschen, vergiss den Quatsch und komm mit.«

»Aber ich kann nicht, Onkel, das lässt mir dann keine Ruhe. Mir fehlt nur noch diese Matheaufgabe hier, wenn ich die gemacht habe, können wir los.«

»So ein Scheiß! Na gut, gib her, lass mal sehen, wir machen das eben zusammen. Ich habe dir Schreiben beigebracht, da kann ich dir auch Rechnen beibringen.«

Das mit dem Schreiben stimmte. Als ich noch ganz klein war, verbrachte ich die Abende mit ihm, den anderen Onkeln und Opa Arolando, der damals noch lebte und mit uns viele Buchstaben aus einer großen gelben Papierrolle ausschnitt, große Buchstaben, die wir anschließend auf ein rotes Tuch klebten, sodass daraus Wörter wurden, und die dienten dann als Transparent bei den Umzügen der Kommunistischen Partei. So habe ich Schreiben gelernt, sie zeigten mir, wie ein A aussieht, und ich schnitt einen Haufen As aus, dann ein B, dann C und so weiter. Als ich in die Schule kam und die Lehrerin uns das Alphabet erklärte, konnte ich es wirklich schon richtig gut. Auch wenn ich anfangs verwirrt war, weil meiner Meinung nach zwei Buchstaben fehlten. Sie sagte Nein, es seien alle da, von A bis Z, und da verstand ich, dass Hammer und Sichel nicht zum Alphabet gehören, obwohl meine Onkel mich viele davon ausschneiden ließen. Von da an hatte ich dann keine Probleme mehr im Italienischunterricht.

In Mathe aber schon, und nicht zu knapp. Es ist nicht nur so, dass ich Mathe nicht verstehe, Mathematik macht mich sogar richtig traurig, ich brauche nur daran zu denken, dass sie existiert, schon habe ich einen bitteren Geschmack im Mund, wie wenn mir ein Foto von Opa Arolando in die Hände fällt, auf dem er lächelt, wo ich ihn doch so lieb hatte und es mir ungerecht erscheint, dass er, wie die Dinosaurier, ausgestorben ist und nicht mehr wiederkommt. Und was im Fall der Mathematik nie wiederkommt, ist die Lebenszeit, die man vergeudet, während man ihre absurden Probleme zu lösen versucht, wie eben das von gestern:

Der Bauer Pino besitzt 20 Hühner, die jeden Tag 10 frische Eier legen. Eines Morgens jedoch wacht Pino auf und bemerkt, dass 5 Hühner aus dem Hühnerstall abgehauen sind und weitere 5 Hühner der Fuchs gestohlen hat. Armer Pino, wie viele Eier kann er an diesem Tag zum Markt tragen?

Ich las es laut vor und hoffte einen Moment lang wirklich, dass mein Onkel mir die Lösung sagen würde. Ohne Erklärungen, ohne mich durch Nachdenken selbst darauf kommen zu lassen, einfach nur die Anzahl der Eier und tschüss, Hausaufgaben. Dann schaute ich hoch und sah seine ins Leere starrenden, aufgerissenen Augen, und da war klar, dass es nicht so laufen würde. Er schüttelte langsam den Kopf, verzog angewidert den Mund, riss mir das Heft aus der Hand und rollte es so fest zusammen, als wollte er es erwürgen.

»Was soll das denn? Wie schafft man es, dass einem gleich fünf Hühner in einer einzigen Nacht entwischen, wie schafft ein Fuchs das, dir gleich fünf auf einmal zu klauen! Dieser Pino ist ein Idiot, was bringen sie euch in der Schule denn da bei?«

»Das weiß ich nicht. Aber weißt du die Lösung?«

»Klar weiß ich die! Die Lösung ist Null ! Dieser Idiot Pino verkauft kein einziges Ei, bescheuert wie er ist, verfährt er sich bestimmt und kommt gar nicht erst beim Markt an!«

Darauf nahm er den Stift und malte eine Null auf die Seite, so groß wie mein Kopf. Er fuhr sie so oft und so stark nach, dass es aussah wie ein durchdrehendes Rad, dann wie ein Strudel, der voller Wut herumwirbelte, mein Onkel hörte erst auf, als er das Blatt und mehrere Blätter darunter durchlöchert hatte. Dann packte er mich am Arm und zog mich fort, raus an die frische Luft und zu den vielen Vögeln, die, schlau wie sie waren, gleich davonflogen, weit weg von ihm, und er ließ mich erst los, als wir am Ende der Straße angekommen waren, damit wir uns auf den Boden legen und unter Onkel Arnos Zaun durchschlüpfen konnten.

Onkel Aldo brütete aber immer noch darüber, denn während wir wie Schlangen durch den Mais krochen, zischelte er weiter vor sich hin: Zehn Hühner auf einen Schlag … was für ein Depp … arme Kinder, was bringen sie euch da nur bei, arme Kinder …

Dann ging der Tag zu Ende und die Nacht begann, und in meiner Familie bringt es nie etwas, eine Nacht darüber zu schlafen. Im Gegenteil, das macht alles nur schlimmer. Wenn dich bei uns im Dorf etwas wütend macht und du im ersten Moment etwas Schlimmes tun würdest, mach es also besser gleich, ohne darüber nachzudenken, denn wenn die Nacht kommt, kochst du noch mehr vor Wut, und am Morgen danach ist es noch hundertmal schlimmer. Und der Morgen danach war eben genau heute Morgen, als mein Onkel in die Schule gekommen ist und die Klasse in Beschlag genommen hat. Und jetzt erklärt er uns gerade, wie man einen anständigen Hühnerstall baut.

»Oben bringt ihr rundum ordentlich Stacheldraht an. Am besten zweimal rum. Oder auch dreimal, Stacheldraht kann man nie genug haben. Wenn dann nämlich ein Huhn aus Versehen abzuhauen versucht oder irgendein wildes Biest eindringen will, findet ihr sie am Morgen danach erhängt da oben baumeln, und so habt ihr auch gleich das Problem gelöst, was es zum Abendessen gibt. Verstanden, Kinder? Na, habt ihr das verstanden oder nicht?!«

Und alle nicken mehrfach, auch die Lehrerin, während ich bloß versuche, mich hinter dem Rücken der Mitschülerin vor mir zu verstecken. Was schon mit einem normalen Kopf schwierig wäre, doch mit meinem Lockenkopf, bei dem die Haare in alle Richtungen abstehen, erst recht. Aber ich muss es schaffen, denn wenn Onkel Aldo mich sieht und mich anspricht, kommt heraus, dass ich sein Großneffe bin, und ich glaube, das ist nicht schön. Im Allgemeinen nicht, aber heute Morgen ganz besonders.

»Gut, also mit dem Hühnerstall sind wir durch, machen wir mit dem Gemüsegarten weiter. Wie sät man ordentlich aus? Fangen wir mit den Tomaten an, ihr nehmt …«

»Was ist denn hier los?« Von der Tür kommt eine andere Stimme, die ihm das Wort abschneidet. Sie ist so kräftig wie seine, und kräftig ist auch Mauro, der Hausmeister, der mit offenem Kittel in die Klasse kommt, weil die Knöpfe über seinem Bauch nicht zugehen.

Mein Onkel dreht sich ruckartig um, und genauso ruckartig springt die Lehrerin von ihrer Bank auf: »Mauro, endlich! Ich bitte Sie, entfernen Sie diese Person, sie ist mit Gewalt eingedrungen und hat uns in Geiselhaft genommen.«

Mauro schaut sie an, schaut meinen Onkel ganz ernst an, hebt dann die Hände, läuft auf ihn zu und brüllt: »Mensch Aldo, altes Haus! Was machst du denn hier?!« Sie umarmen sich und klopfen sich kräftig auf die Schultern.

»Nichts, Mauro, ich bringe den Kindern hier ein paar nützliche Sachen bei.«

»Ah, sehr gut, das wurde auch Zeit!«

»Wie, das wurde auch Zeit!?«, sagt die Lehrerin. »Mauro, sind Sie jetzt auch noch verrückt geworden?«

»Nein«, antwortet mein Onkel mit weit aufgerissenen Augen, »verrückt seid ihr! Was bringt ihr den Kindern denn da bei? Bescheuerte Bauern, die nicht wissen, wie sie ihre Arbeit richtig machen, mit nutzlosen Problemen vergeudete Nachmittage. Statt Fortschritt gibt es hier nichts als Rückschritte, früher wusste man ganz viel, jetzt weiß man gar nichts mehr. Bald fängt das zwanzigste Jahrhundert an, und so entlassen wir die Kinder ins neue Jahrhundert.«

»Hören Sie, im zwanzigsten Jahrhundert sind wir schon seit einer Weile.«

»Ach so, na dann umso schlimmer! Deshalb habe ich heute Morgen zu mir gesagt, es reicht, bin hierhergekommen und bringe den Kindern etwas bei, was ihnen wirklich nützt.«

»Amen«, sagt Mauro. »Du sprichst mir aus dem Herzen! Klar, aber warum ausgerechnet heute?«

»Wieso, was ist denn heute?«

»Na, heute ist doch Schlachtfest bei Oreste, oder? Ich muss noch bis Mittag hierbleiben, aber danach nehme ich die Beine in die Hand.«

Mein Onkel starrt ihn einen Augenblick lang nur an, dann schlägt er sich eine Hand vor den Mund. Aber hinter der Hand kommen trotzdem massenweise Flüche hervor, Beleidigungen des HERRN und der Madonna und aller um sie herum auf den Kirchenbildern.

»Das hatte ich ganz vergessen, Mauro, verdammte Sch…, das hatte ich ja ganz vergessen. Schlachtfest bei Oreste, und ich bin hier und verplempere meine Zeit mit diesen Trotteln!«

Darauf stürzt er zur Tür und verschwindet, ohne sich zu verabschieden. Na ja, schön wär’s gewesen. Stattdessen hält er inne, dreht sich noch einmal zur Klasse um und zeigt mit dem Finger auf mich. »Ach, Mauro, siehst du den Hässlichen da mit den vielen Locken? Das ist mein Enkel, behalt ihn für mich im Auge.«

Erst nach diesen Worten haut Onkel Aldo ab, und alle drehen sich zu mir um, auch die Lehrerin. Ich starre auf das abgenutzte Holz der Schulbank und würde am liebsten wie ein Holzwurm hineinschlüpfen, mir einen kleinen Tunnel graben und für immer in Frieden dort drinnen leben. Denn Holzwürmer sieht man nie, ein Holzwurm hat nicht so viele Locken auf dem Kopf, sondern gar keine Haare, und vor allem hat er keine Verwandten. Ein Holzwurm verschwindet, wann er will, und hinterlässt keine Spuren, abgesehen von einem klitzekleinen Loch.

Hier dagegen verschwindet nur mein Onkel, mit Mauro, der ihm hinterherruft: Okay, ich behalte ihn im Auge, aber leg du mir ein paar Würste beiseite! Während die Lehrerin ans Pult zurückgeht und sagt, dass er nicht herumschreien soll, dann sagt sie das auch zu uns, denn alle in der Klasse wiederholen jetzt die Schimpfwörter, die sie von meinem Onkel gehört haben, vor allem die Flüche, die ihnen besser im Gedächtnis geblieben sind als die Anleitungen, wie man einen perfekten Hühnerstall baut, und die sie nie mehr vergessen werden.

Und auch wenn es wahrscheinlich nicht genau das ist, was Onkel Aldo im Sinn hatte, kann man doch sagen, dass er uns heute Morgen wirklich etwas beigebracht hat.

Mehr noch: Seine Lektion hatte so großen Erfolg, dass sie sogar das Mäuerchen um die Schule überwunden hat und sich im Ort verbreitete, schließlich hörte ich sie gerade häppchenweise in dem Tennismatch zwischen Mama und Signora Teresa. Und je hitziger ihr Gespräch wurde, desto weniger achteten sie darauf, über mich hinweg zu zielen, ihre Worte flogen nah an meinem Kopf vorbei, streiften mich sogar, und am Ende kam dann der erschütternde Moment, in dem ich diesen Satz verstand, der vollständig und klar und zugleich so schreckenerregend war. Als Mama sagte: Zum Glück haben sie nicht die Polizei gerufen, ich weiß echt nicht mehr weiter, hob Teresa die Hände zum Himmel und seufzte: Da kann man nichts machen, Rita, du weißt doch, der Fluch ist schuld.

Das hat sie gesagt, ich schwör’s, und ich hörte auf, an meinem Zitroneneis zu lecken, ich hörte auf zu atmen, dann fragte ich mit der letzten Luft, die mir geblieben war: »Welcher Fluch?«

Schlagartig unterbrachen die beiden Tennisspielerinnen ihr Match, schauten zu mir herunter, und Teresa hielt sich den Mund zu. Doch was sie gesagt hatte, war gesagt, ich hatte es gehört, und das Eis lief mir langsam in vielen klebrigen Streifen über die Finger wie die Tentakel eines Kraken, die die Hand umschlangen, das Handgelenk, den Arm und langsam weiter bis zum Herzen drangen. Und Kraken sind superschlaue Tiere, Onkel Aramis sagte immer, dass alle Fische im Meer, sogar der Seebarsch, der am schlausten ist, im Vergleich mit Kraken Idioten sind. Aber man brauchte gar nicht so klug wie die Kraken zu sein, sogar ich begriff, dass das mit dem Fluch schwerwiegend war und ich mehr darüber wissen musste.

»Mama, welcher Fluch?«

»Hä? Was redest du denn da, welcher Fluch?«

»Onkel Aldos Fluch, hat Teresa gesagt.«

»Ach was, da hast du dich verhört.«

»Ist Onkel Aldo verflucht?«

»Ach was, das ist Unsinn, der vor langer Zeit im Ort über unsere Familie verbreitet wurde. Das kann dir doch wurst sein.«

»Das ist mir überhaupt nicht wurst! Wenn es um unsere Familie geht, betrifft es viele Menschen, die ich lieb habe. Auch dich, Mama.«

»Ja, ich gehöre zwar zur Familie, aber mich betrifft es nicht, mach dir keine Sorgen.«

»Ah, zum Glück. Dann betrifft es mich also auch nicht«, sagte ich. Und das sind so Sachen, bei denen die anderen, wenn man das so dahinsagt, sofort antworten sollten: Aber nein, wo denkst du hin, dich betrifft es am wenigsten von allen, du hast wirklich gar nichts damit zu tun!

Stattdessen blieb Mama aber kurz still. Sie schaute mich an, dann Teresa, dann wieder mich: »Das ist Unsinn, Fabio, das ist nur ein Märchen.«

»Gut, wenn es ein Märchen ist, dann erzähle es mir.«

»Nein, das ist ein blödes und dummes Märchen.«

»Und Onkel Aldo, der hat etwas damit zu tun, stimmt’s?«, frage ich. Aber ich brauche gar keine Antwort, es reicht schon, den beiden Tennisspielerinnen ins Gesicht zu sehen, um zu begreifen, dass Onkel Aldo so viel damit zu tun hat, dass er fast nichts anderes mehr tun kann. »Aha, dann lass ich es mir von ihm erzählen, wenn wir wieder zu Hause sind!«

Und ich schwöre, dass ich dabei gar keine Hintergedanken hatte, ich hatte das nicht aus strategischen Gründen oder aus Berechnung gesagt, ich wollte einfach nur wirklich wissen, worum es geht, wenn die anderen es mir also nicht sagen wollten, würde ich eben meinen Onkel fragen. Der es mir sofort gesagt hätte, und zwar auf die entsetzlichste Art. Also holte Mama tief Luft, steckte das Brot und die Milch und die letzten Reste des Einkaufs in eine Tüte und gab sie mir, der ich sie mit eisverklebten Händen entgegennahm. Zu Teresa sagte sie, sie solle alles auf die Rechnung setzen, und zu mir: »Ach nichts, Fabio, das ist eine dumme Geschichte über die Männer unserer Familie. Es heißt, wenn sie nicht spätestens mit vierzig heiraten, werden sie verrückt. Das ist alles.«

Dann lief sie zu ihrem Fahrrad, stieg auf und sah sich um, ob ich nachkomme. Aber ich stand stocksteif, wie angewurzelt vor dem Laden.

Ich hatte diese Geschichte von den Männern, die verrückt werden, zwar nicht wirklich verstanden, aber verrückt zu werden war nicht schön, und unter den Männern meiner Familie waren viele Menschen, die ich lieb hatte. Verdammt, sogar ich selbst gehörte zu diesen Männern! Und wenn es eine absurde Art und Weise gab, diese furchtbare Enthüllung abzuschließen, war es genau dieses Das ist alles, das Mama mit dem Versuch eines Lächelns ans Ende gesetzt hatte.

»Ja, Mama, aber … aber vierzig Jahre sind ganz arg lang, oder? Ich meine, mit vierzig ist man richtig alt, und wenn man da verrückt wird, merkt das gar keiner, stimmt’s? Es ist ja schon schwer, überhaupt so alt zu werden. Auch bei dir, Mama, bei dir dauert es noch ganz lange, bis du vierzig wirst, oder?«

Sie sah mich eine ganze Weile nur an, dann meinte sie: »Lassen wir’s gut sein!«, und fuhr los.

Und ich hinterher, die Tüte an den Lenker gehängt, ganz klebrig und mit Zitronengeschmack. Ein Tritt in die Pedale, zwei, der Laden entfernte sich in meinem Rücken, und ich hoffte, dass auch diese Geschichte mit dem Fluch dort bliebe, weit weg von mir, immer weiter weg.

Aber Geschichten sind wie der unbesiegbare Dinosaurier, den ich morgens in der Schule malen wollte, bevor Onkel Aldo gekommen war und alles durcheinandergebracht hatte. Geschichten kommen von weit her, können aber unter Wasser atmen und haben riesige Flügel, um dich überall einzuholen.

Wie der verzweifelte Schrei, der mich von hinten anfiel, so laut, dass ich mich so oder so umgedreht hätte, auch wenn sie nicht meinen Namen geschrien hätte. Es war Signora Teresa, auf der Schwelle ihres Ladens, die Hände zum Himmel gereckt:

»Heirate, Fabio! Es reicht, wenn du heiratest, dann wird alles gut! Heirate, Fabio, um Gottes willen!«