DAS KLEINE BUCH VOM MEER – LEUCHTTÜRME
Originalausgabe, Mai 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 by Ankerherz Verlag GmbH, Hollenstedt
© Texte: Stefan Kruecken, Hollenstedt (Hrsg.), Olaf Kanter, Hamburg
© Fotografie: Ankerherz Verlag GmbH
iStock S. 77, 80, 83, 146, 197, 205
Alamy S. 52, 60, 65, 78, 80, 81, 84, 112, 123
Shutterstock S. 84, 85, 183, 184, 185, 186
Imago images S. 102
Leuchtturm-Atlas.de S. 79, 82
Elke Timmermann, Malerin S. 88
Illustrationen: Bernd Muss, Hamburg
Titelgestaltung: Susanne Schmaus, Berlin
Buchgestaltung und Satz: Daniela Greven, Berlin, Susanne Schmaus, Berlin
Lektorat: Olaf Kanter, Hamburg
Korrektorat: Sarah Schroepf, Losheim am See
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar.
Ankerherz Verlag GmbH, Hollenstedt
info@ankerherz.de
www.ankerherz.de
ISBN 978-3-945877-32-6
eISBN 978-3-945877-83-8
Ein Licht über dem Meer
Land in Sicht
Meine schönsten Momente am Leuchtturm
Am Leuchtturm der Ertrunkenen
Roter Sand
Die höchsten Leuchttürme der Welt
Ein Leuchtturm lügt nie
Kennungen eines Leuchtfeuers im Überblick
Die Leuchtturmbauer
Der älteste Leuchtturm
Ganz da hinten, wo der Leuchtturm steht
Feuer über dem Meer
Untergang im Orkan
Das Leuchtturm Abc
Ein Koloss zieht um
Film am Turm: Das wird ein böses Ende nehmen
Wegweiser zur See
Im Lichte des Horrors
An einem Leuchtturm
Auf der Insel der Steine
Die Legende vom sturen Leuchtturm
Warum strahlt der Leuchtturm so hell und so weit?
Verfluchte Nadel
Am Ort der Goldenen Taube
Ar-Men: Die Hölle der Höllen
Romane über Leuchttürme
Das Geheimnis von Eilean Mòr
Die tanzenden Türme
Die letzten Leuchtturmwärter
Kleiner Preuße
Leise Maschinen
Mittsommer auf der Robbeninsel
ÜBER UNSERE LEUCHTTÜRME
Erst vor Kurzem erlebte ich wieder die Magie eines Leuchtturms. Ein Sturm zog über die Insel Ameland, und wir spazierten durch die Dünen. Das Tosen der Brandung war zu hören. Der Turm warf sein Licht hinaus in die Nacht, und ich stellte mir vor, wie es für die Fischer und die Seeleute da draußen auf der Nordsee sein mochte. Welches Gefühl der Sicherheit ihnen dieses Licht schenkte.
Leuchttürme sind nicht nur Seezeichen. Es gibt wohl kaum ein besseres Symbol für das Meer und die Seefahrt, das jeder sofort versteht. Sie sind Fixpunkte in einer Welt, die manchmal aus den Fugen gerät. Sie sind gelegentlich schwer erreichbar, oft geheimnisvoll und stehen immer an Küsten oder auf Inseln, wo die See besonders gefährlich ist. Wenn Kinder vom Urlaub am Meer nach Hause kommen, dann malen sie einen Leuchtturm. Leuchttürme wecken Emotionen.
Die andere Seite: Leuchttürme stehen oft an Positionen, die nicht exponierter sein könnten. An steilen Küsten, auf Riffen, die bei Flut überspült werden, auf unsicheren Sänden. Sie sind den Elementen ausgesetzt, Wind, Brechern, Gezeitenströmen. Wie sie errichtet wurden, welchen extremen Umständen ihre Erbauer ausgesetzt waren, ist noch mal eine ganz eigene Geschichte. Wie bei den Stevensons, einem schottischen Clan, der sich selbst an den unmöglichsten Plätzen ans Werk machte, um Licht an die gefährlichen Küsten ihrer Heimat zu bringen.
Der Arbeitsplatz auf diesen Türmen war, auch wenn Romantiker das gerne verklären, eine Zumutung. Oftmals mussten die Leuchtfeuerwärter viele Monate auf ihrem Posten ausharren, weil widrige Umstände verhinderten, dass die Ablösung landen konnte. Die Einsamkeit – und der Umgang mit einem gefährlichen Betriebsmittel – hat manche Wärter buchstäblich in den Wahnsinn getrieben.
Wir erklären in diesem Buch, wie die Linsen auf den Türmen das Licht bündeln. Wir erinnern uns daran, wie Leuchttürme Filmemacher und Schriftsteller inspiriert haben. Wir erzählen von den höchsten, skurrilsten, von den ältesten und den schönsten Leuchttürmen. Und wir berichten von den bewegendsten Momenten, die wir unter ihrem Lichtstrahl erlebt haben. Wir erinnern uns an eine warme Sommernacht auf einer Robbeninsel. Wir besuchen einen Leuchtturm, der an die Schicksale vieler ertrunkener Seeleute erinnert. Aus der Perspektive eines Seglers schildern wir, was es bedeutet, wenn der Leuchtturm endlich am Horizont erscheint.
Von Pidgeon Point in Kalifornien bis zu den Shetlands im wilden Nordatlantik, von der rauen Bretagne bis zu den lieblichen Schären der Ålands haben wir Leuchttürme besucht. Roter Sand und Westerheversand, den bekanntesten Leuchttürmen Deutschlands, widmen wir eigene Geschichten. Fast alle Türme in diesem Buch haben wir persönlich besucht, und wenn nicht, dann fanden wir Menschen, die sich mit ihnen auskennen.
Die Auswahl fiel subjektiv aus und war rein emotional. Denn es geht uns nicht nur um Wissen und genaue Fakten, sondern auch um ein besonderes Gefühl.
Dieses Buch soll wie ein Besuch auf dem schönsten Leuchtturm sein.
Wir wünschen einen schönen Aufenthalt mit unserem zweiten „Kleinen Buch vom Meer“!
Kameraden, vorbei ist das Fasten,
Ich sehe den Leuchtturm durchs Glas.
Schon flattern um unsere Masten
Die Möwen. Im Wasser schwimmt Gras.
Schon steigen die Türme vom Hafen
Wie Kräuterkäse grün aus dem Grau.
Old sailorboys, heute Nacht schlafen
Wir alle an Land bei der Frau.
Vielleicht noch tanzen wir heute
Und saufen, soviel uns behagt.
Wir haben als Fahrensleute
Solang dem Vergnügen entsagt.
Hei ho! Macht euch sauber, Matrosen!
Bald tritt auf den Kampfplatz der Stier.
Die besten Hemden und Hosen
Warten steif auf die Mädchen am Pier.
Schon seh ich die Tücher sie schwenken.
Denn jeder von uns ist ein Held
Und naht sich mit Auslandsgeschenken.
Hei ho! Heut’ abend rollt Geld!
JOACHIM
RINGELNATZ
Seit ich reisen kann, fahre ich ans Meer. Mit Leuchttürmen verbinde ich besondere Erlebnisse: Stunden, die für immer in Erinnerung bleiben. Drei kleine Geschichten vom Leuchtturm.
Position: Finistère, Bretagne
Koordinaten: 47°47’53,5’’N, 004°22’22’’W
Baujahr: 1893–1897
Feuerhöhe: 64,80 m
Kennung: Blitz, weiß, 5 s
Der neue Tag dämmert noch nicht, vielleicht ist es halb fünf, als wir in die Gassen auf der Pointe de Saint-Pierre rollen. Graue Häuser, gebaut für eine Stadt direkt am Meer. Der große Leuchtturm hat uns gerufen. Sein Nebelhorn war weit zu hören, bis in unser Ferienhaus, einige Kilometer entfernt. Wir parken den Wagen direkt am Turm und setzen uns auf eine Mauer an der Mole.
Der große Leuchtturm, ein wuchtiger Bau aus grauem Granit, einer der höchsten in Europa, wirft seinen Strahl über das Dorf, aber weit kommt er an diesem nassen Sommermorgen nicht. Der Nebel, der wie eine schwere Decke über allem liegt, wird immer dichter.
In diesem Dorf Saint Pierre gibt es drei Leuchttürme, was nicht wirklich erstaunt, denn die Küste gilt als eine der gefährlichsten der Bretagne. Dass er einst so hoch gebaut wurde, noch höher, als es eigentlich geplant war, lag an einem ungewöhnlichen Erbe. Die Marquise Adélaïde-Louise d’Eckmühl de Blocqueville bestimmte in ihrem Testament, dass ein Vermögen in Höhe von 300.000 Francs zur Errichtung eines Leuchtturmes verwendet werden sollte. Zu Ehren ihres Vaters, des Herzogs von Auerstädt und Prinz von Eckmühl, sollte der Turm den Namen d’Eckmühl tragen. Den für einen Franzosen seltsam klingenden Titel hatte der Adlige in der Schlacht nahe dem Dorf Eggmühl bei Regensburg im Jahr 1809 erkämpft.
Doch der Gedanke, dass ihr Vater wegen der Toten eines Schlachtfelds ins kollektive Gedächtnis der Nachwelt einging, behagte der Marquise nicht. Ein Leuchtturm, dessen Licht das Leben von Menschen auf See rettete und an der bretonischen Küste leuchtete, sollte sein Ansehen aufpolieren. Sie verfügte also in ihrem Testament:
„Les larmes versées par la fatalité des guerres, que je redoute et déteste plus que jamais, seront ainsi rachetées par les vies sauvées de la tempête.“
Die Tränen, die durch die Unvermeidlichkeit von Kriegen vergossen werden, die ich mehr denn je fürchte und hasse, werden durch die Leben, die vor dem Sturm gerettet wurden, wiedergutgemacht.
Eine weitere Bedingung der Stifterin war der richtige Standort: Der Turm musste solide gebaut und dort errichtet werden, wo er lange Zeiten überstehen konnte. Die vorgelagerten Klippen der Bretagne, an die im Herbst und Winter wilde Stürme schlagen, schieden damit ebenso aus wie andere exponierte Stellen. Eine Kommission wurde eigens gegründet, die nach gründlicher Untersuchung den Standort Pointe de Penmarc’h festlegte. 122 Meter östlich des alten Leuchtturms, auf dem Grundstück, auf dem das Haus des Wärters abgerissen werden musste, begannen im September 1893 die Bauarbeiten. Sogar ein Pariser Architekt wurde hinzugezogen, der die Dekoration des Turms übernahm. In einer Zeit, in der es viel um Zweckmäßigkeit und weniger um Schnörkel ging, ziemlich bemerkenswert. Eigentlich war eine Bauzeit von zwei Jahren vorgesehen, doch daraus wurde nichts. Der Transport der Materialien über See machte mehr Probleme als gedacht; die Bausteine kamen aus Poulgallec, der Kalk aus den Öfen von Marans, der Portlandzement aus Boulogne-sur-Mer und der Granit aus Brest. Es mangelte an versierten Maurern und Fliesenlegern, und obendrein wurden die Arbeiten von einem schweren Unfall unterbrochen. Als eine Kette brach, stürzten sieben Arbeiter zehn Meter in die Tiefe. Einer erblindete, weil er mit Säure in Kontakt kam.
So wurde der Turm mit zwei Jahren Verspätung am 7. Oktober 1897 eingeweiht, dem fünften Todestag seiner Stifterin. Er steht auf einem Hof, 80 mal 60 Meter, verziert mit Steinbildern von Ankern und fünfzackigen Sternen. 307 Stufen sind es bis hinauf zur Laterne, was die schnellsten Läufer bei einem Wettbewerb in weniger als 50 Sekunden schaffen. Wie fast alle Türme wird er heute vollautomatisch betrieben. Die letzten Wärter schieden im Oktober 2007 aus dem Dienst, kurz nach den Feierlichkeiten zum 110. Geburtstag.
Wir sitzen an diesem kalten Sommermorgen im Nebel auf dem Turm. Die Türen der Fischerhäuschen gehen auf. Männer treten hinaus, stellen die Kragen ihrer Jacken auf, die meisten stecken sich erst mal eine Zigarette an. Einige tragen kleine Taschen, einer hat einen Kaffeebecher, aus dem es dampft. Dann gehen diese Männer schweigend die Pier runter, steigen in ihre Boote und fahren hinaus in dieses Grau, das sie so schnell verschluckt. Sie verschwinden wie hinter einem Vorhang, der sich hinter ihnen schließt, und bald schon wird das Tuckern der Diesel leiser.
Das Nebelhorn brüllt, und wir sprechen darüber, welchen Mut und welche Erfahrung es braucht, dieses Leben zu leben. Jeden Tag hinauszufahren in dieses Nichts, das die Boote verschlingt, in eine graue, weite, wilde Welt, an diesem Morgen nur durchdrungen vom Horn eines Leuchtturms, der ihnen bei der Heimreise wieder den Weg zeigen wird.
Position: Nordspitze der Shetlandinseln
Koordinaten: 60°51’19,5’’N, 000°53’7,4’’W
Baujahr: 1855-1858
Feuerhöhe: 66 m
Kennung: Blitz (2), weiß, 20 s
Wenn das Licht am Ende des ersten Seetages dünner wird, kommt die Silhouette von Shetland in Sicht. Knapp 24 Stunden ist die Islandfähre „Norröna“ vom Hafen Hirtshals in Dänemark dann unterwegs, immer auf einem nördlichen Kurs. Wir sind mit unserer Islandreise, der „Skua-Tour“ an Bord, die wir nach der großen Raubmöwe des Nordatlantiks benannt haben. Torshavn auf den Färöer und Seydisfjördur, ein Fischerdorf tief in einem Fjord an der Ostküste Islands gelegen, sind unsere Ziele, doch eigentlich geht es bei dieser Reise um die 1640 Seemeilen zwischen den Häfen. Es geht um die Seele des Nordatlantiks im Winter, wenn er majestätisch wild ist und rau. Von Kapitän Schwandt stammt der Satz, dass es keinen Ort gibt, an dem man sich so klein und unbedeutend fühlt wie auf dem Nordatlantik im Sturm. Das trifft es genau.
Ich liebe diese Reise, auf der wir immer Wind und Welle erleben. Beaufort sieben bis acht, Wellen bis sechs Meter Höhe sind kein Problem für das Schiff, denn die „Norröna“ wurde für den Nordatlantik gebaut. Ein starkes, breites Schiff mit hohem Freibord, das von vorne aussieht wie ein schwimmender Keil. Die meisten Passagiere stehen stundenlang an Deck und beobachten diese Landschaft aus Grau und aus Blau und weißer Gischt.
Leuchttürme gehören zu dieser Reise. Bei der Abfahrt der weiße Turm von Hirtshals, auf einer Düne. In Thorshavn dann ein kleiner Turm, wie hingestellt für Instagram-Herzchen auf der alten Festung gleich neben dem Hafen. Der schönste Leuchtturm und erste Höhepunkt der Reise ist mein Sehnsuchtsort. Ich freue mich jedes Mal darauf, wenn Muckle Flugga Lighthouse in Sicht kommt.
Er steht auf einem Felsen, an einer Ecke der kleinen Insel Muckle Flugga, die an einen Fantasyfilm erinnert. Unten schlagen die Wellen gegen den Fels. Im rötlichen Abendlicht, wenn es aussieht, als ob der Allmächtige mit Photoshop experimentiert, hat die Szene eine Schönheit, die beinahe theatralisch wirkt. Einigen Passagieren, die hinaus aufs Deck kommen, steht im ersten Moment buchstäblich der Mund offen. Eine Passagierin meinte zu mir, es sei das Schönste, was sie gesehen habe. Was fasziniert mich so an diesem Ort? Er ist so wild, so abgeschieden, so fernab von allem. Muckle Flugga ist der nördlichste Leuchtturm Schottlands und war bis 1995, solange Leuchtturmwärter auf der Insel lebten, der nördlichste besiedelte Ort Großbritanniens. Ein unwirklicher Ort und der Beweis, was Menschen mit ihrem Willen schaffen können. Welche Qual mag es gewesen sein, diesen Turm zu errichten? 1855 wurde mit den Arbeiten begonnen und am 1. Januar 1858 in Betrieb genommen, als „North Unst Lighthouse“ (erst seit 1968 trägt der Turm den heutigen Namen). Drei Leuchtturmwärter lebten auf Muckle Flugga, zwei Teams wechselten sich permanent ab. Man versorgte sie zu früheren Zeiten mit einem Boot, später dann mit einem Hubschrauber.
Mich verzaubert dieser Ort und die Vorstellung, wie es damals auf Muckle Flugga gewesen sein mag. Es ist aber mehr als nur ein romantischer Rückzugsort. Nach einem Tag auf See ist es auf der Islandfähre das erste Mal, dass wieder Land in Sicht kommt. Ich habe durch Muckle Flugga besser verstanden, welche Bedeutung Leuchttürme für Seeleute haben.
Welche Erleichterung es ist, ein Feuer über der See zu sehen.
Position: Deutsche Bucht
Koordinaten: 54°10’54,6’’N, 007°52’56,6’’O
Baujahr: 1952
Feuerhöhe: 82 Meter
Kennung: Blitz, weiß, 5 s
Ich wurde davon wach, dass etwas gegen das Hotelfenster schlug, ein kleiner Ast vermutlich, oder ich hatte das nur geträumt. Der Sturm zog noch immer über die Nordsee und den Roten Felsen. Eigentlich hatten wir nur über das Wochenende auf Helgoland bleiben wollen, doch nun ging keine Fähre rüber aufs Festland, und es wehte so heftig, dass auch der Flieger nicht von der Düne abheben konnte. Obendrein kündigte der Wetterbericht Eisregen an und warnte vor jeder Autofahrt.
Wir saßen also auf Helgoland fest. Es war herrlich.
Ich lag nun wach im Bett. Draußen heulte der Sturm, und ein brummender Ton lag in der Luft. Insulaner haben mir später erklärt, dass er von einer Antenne auf Oberland kommt, die ab einer gewissen Windstärke, so um die neun, zu schwingen beginnt. Der Lichtkegel des Leuchtturms huschte am Fenster vorbei. Es hatte etwas Beruhigendes, ich zählte die Sekunden zwischen dem Signal. Fünf Sekunden.
Ich weckte meine Frau und erklärte ihr, dass wir unbedingt zum Leuchtturm hochmussten. Das war doch irre romantisch! Ihre Begeisterung hielt sich zunächst in Grenzen, doch wenige Minuten später machten wir uns auf den Weg.
Die Treppe hinauf aufs Oberland kann einem lang vorkommen, vor allem in Sturm und kaltem Regen. Immerhin waren wir wach, als wir oben ankamen. Helgolands Gassen haben etwas Unheimliches in einer Sturmnacht. Wir bogen einmal falsch ab, an der Kirche, fanden schließlich aber den Weg und standen vor dem Leuchtturm.
Faszinierend war die Reichweite seines Lichtstrahls. 28 Seemeilen (fast 52 Kilometer) weit schleudert der Turm in klaren Nächten sein Signal hinaus in die Nacht. So weit wie kein anderer Leuchtturm in Deutschland. Wenn die Wetterbedingungen stimmen (es muss klar sein und ein bisschen feucht), dann sieht man das Licht von Helgoland noch in Sankt Peter-Ording oder Harlesiel am Festland. 35 Millionen Candela ist das Licht stark. Die Lichtstärke einer Kerze entspricht einer Candela. Es sind also umgerechnet 35 Millionen Kerzen, die Schiffen auf Helgoland den richtigen Kurs anzeigen.
Eine Schönheit ist der Turm auf dem Oberland nicht. Viereckig, schlicht, aus Stahlbeton, mit rotem Backstein verkleidet, und auf dem Dach keine schöne Haube, sondern eine Menge Antennen für Radar, Seefunk und Flugfunkfeuer. Die Nazis ließen den Turm als Flakleitstand errichten. Seine Mauern sind so stark, dass er die Bombenangriffe während des Krieges und selbst den „Big Bang“, die stärkste nicht-nukleare Sprengung der Geschichte durch die Briten, überstand. 1952 wurde aus dem Kriegsgebäude ein Lebensretter.
Der Sturm wehte in dieser Nacht so stark, dass wir uns daran anlehnen konnten. Ich werde diese Minuten, in denen wir vor dem Turm standen und seinem Feuer hinterhersahen, niemals vergessen.
Zwei Hafenmauern liegen wie schützende Arme vor den Docks von Ramsgate in der Grafschaft Kent, Südengland. Dieser Schutz ist wichtig, wenn die See wütend wird. Auf einer Mauer, ganz vorne an der Einfahrt in den Hafen, steht ein kleiner Leuchtturm mit rotem Dach. Als wir näher kommen, hören wir das „Pingen“ von Morsezeichen.
Jeder Morse-Code, der aus dem Inneren des kleinen Turmes dringt, ist der Name eines Schiffes, das vor der Küste sank.
Mehr als zweitausend Schiffe, so die Schätzungen, liegen hier vor der Küste auf Grund. Mehr als tausend Namen werden zu ihrem Gedenken per Morsezeichen in endloser Schleife von morgens bis abends rausgeschickt auf die See.
Es ist ein Kunstprojekt, das bei mir eine Gänsehaut auslöst. Der Blick auf die See ist danach ein anderer, auch am heutigen Tag, an dem sie ruhig und still ist. Die See wirkt bedrohlich.
Sie wirkt unheimlich.
„Worse things happen at sea“, die schlimmsten Dinge passieren auf See, das war eine Redensart des Vaters von Nick De Carlo, einem in Ramsgate lebenden Künstler, der die Idee zu den Signalen aus dem Leuchtturm hatte. Sein Vater arbeitete als Funkoffizier auf einem Schiff der Marine. Dieser Satz und die Geschichte der Sandbänke vor dem Hafen inspirierten De Carlo zu einer Installation, die so einfach ist und auch deshalb so berührend.
Nicht weit vor der Küste befinden sich die gefürchteten Goodwin Sands, eine Kette von Sandbänken in der Straße von Dover. Insgesamt sind die Sände 19 Kilometer lang und an der breitesten Stelle acht Kilometer weit. Sie sind so berüchtigt, dass sie der Volksmund den „großen Schiffsschlucker“ nennt. Schon in Stücken von William Shakespeare und im „Moby Dick“ von Herman Melville tauchen die Goodwin Sands auf, als ein besonders gefährlicher Ort. Theodor Fontane schrieb über sie im Jahr 1847 ein Gedicht: „Ein Kirchhof ist’s, halb Meer, halb Land.“
Schon immer haben die Goodwin Sands die Fantasie angeregt. Seit dem Mittelalter hielt sich die Legende, dass die Goodwin Sands einst eine niedrig liegende Insel namens Lomea gewesen sein soll, die Godwin gehörte, einem Earl von Wessex. Heute gehen Geologen davon aus, dass keine geheimnisvolle, versunkene Insel der Ursprung der Goodwin Sands ist, sondern schlicht die starke Tide in der Straße von Dover.
In der Nähe der Stadt Dover, direkt an den Rand der weißen Klippe, baute man einen Leuchtturm, um die Kapitäne zu warnen. Bis heute ist die Mechanik des South-Foreland-Leuchtturms erhalten, inklusive einer Handkurbel im oberen Stockwerk. Wer den Turm besucht, taucht ein in die Welt eines viktorianischen Leuchtturmwärters. Der Turm selbst wurde 1898 weltberühmt. Erstmals gelang es von hier aus, eine Morse-Nachricht auf ein Schiff zu übertragen.
Was die Sandbänke so gefährlich macht, ist eine Mischung, die Seeleute fürchten: starke Strömungen, flaches Wasser und eine enorme Brandung bei schlechtem Wetter, das im Süden Englands in den Herbst- und Wintermonaten nicht unüblich ist. Die Strömung sorgt dafür, dass die Sände ständig ihre Lage verändern. Bei Hochwasser sind die vollständig überflutet. Bei Niedrigwasser ragen sie bis zu vier Meter aus dem Wasser hinaus, weshalb auf den Goodwin Sands gelegentlich Cricketspiele ausgetragen werden. Was ein wenig makaber erscheint, denn es ist fast wie ein Spielplatz auf einem großen Friedhof.
Hatte der Sturm ein Schiff auf die Sandbank getrieben, gab es für die Menschen an Bord kein Entkommen. Dann zerschlugen die Brecher das Schiff und alles Leben an Bord. Schiffe aus Holz hatten gar keine Chance, doch auch Rümpfe aus Stahl brachen in der Regel auseinander. Es war nur eine Frage der Zeit. Besonders dann, wenn das Schiff am Rande der Sandbank feststeckte und der Tidenhub von bis zu sechs Metern das Metall bei einer Schräglage schon durch das eigene Gewicht extrem belastete. Manche Havaristen wurden vom Sand, durch die Strömung aufgewirbelt, regelrecht „verschlungen“, wie von einem Monster in der See. Der große Schlucker von Schiffen.
Wie viele Seeleute hier ihr Grab fanden?