Umschlag

Marcel Huwyler

Frau Morgenstern
und der Verrat

Kriminalroman

 

 

Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand/Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schreibt er Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus der ganzen Welt. Er lebt in der Zentralschweiz.

www.marcelhuwyler.com

 

Für den Winter und das Kamel

Prolog

Bei einem Nervenzusammenbruch beginnt die betroffene Person zu zittern, wird von Weinkrämpfen geschüttelt, hat Herzrasen, ist desorientiert und muss sich übergeben. Erleidet die Person den psychischen Schock in dünner Bergluft, auf über dreieinhalbtausend Metern Höhe, sind die Symptome noch viel ausgeprägter. Manche beginnen dann zu hyperventilieren oder kollabieren gar.

Cathy Wood würde schreien. Schon bald. Schreien wie von Sinnen.

Der Bergführer ließ das Seil lockerer, verkündete eine Teepause und sein Gast plumpste augenblicklich in den graupeligen Firnschnee. Cathy Wood atmete schwer und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Fleecejacke, die sie gestern zusammen mit der anderen Alpinausrüstung in einem Bergsportshop gemietet hatte, den mit Sonnencreme vermischten Schweiß aus dem Gesicht. Die gebuchte Gletschertour hatte sie sich einfacher vorgestellt. Weniger anstrengend. Less stress, more fun.

Cathy Wood, einunddreißig Jahre alt, aus Baltimore USA, sehr blond, sehr sommersprossig, etwas überspannt und leicht übergewichtig, frisch getrennt, aber noch verheiratet, von Beruf Social-Media-Managerin bei einer US-Großfirma für Autopflegemittel, war vor zwei Tagen in Zermatt eingetroffen und im Hotel Gneisserhof Wellness & Spa abgestiegen. Der Schweizer Nobelbergort war eines der elf Ziele ihrer fünfwöchigen Sommerreise durch Europa, deren Verlauf sie mehrmals täglich auf Instagram dokumentierte. Vier Tage gedachte Cathy in Zermatt zu bleiben. Das mit dem Everest-Filter aufgepeppte Foto ihres gestrigen Hubschrauberfluges um das Matterhorn herum hatte ihr einen neuen Like-Rekord auf Instagram beschert und den Markusplatz Venedig von letzter Woche auf Platz zwei verwiesen. Nebst dem Ausflug mit dem Helikopter hatte Cathy Wood im Zermatt Tourist Office den Besuch einer Schafmilchkäserei gebucht, die Besichtigung des Bergsteigerfriedhofs und einen Raclette-Abend.

Und als Höhepunkt die heutige Tour auf den Nollengletscher.

Ihr Bergführer hieß Fridolin Vögeli – »Salü, call me Fredy« – und er hatte die weißhäutige Augenpartie und den bleichen Nasensteg eines Mannes, der sein Leben lang Sonnenbrillen mit höchstem UV-Schutz trug. Er war ein Einheimischer in den Sechzigern, der nicht mehr die Kraft und den Nerv aufbrachte, überambitionierte Gipfelstürmer zu führen, die alle sowieso nur das Matterhorn besiegen wollten (nicht besteigen, sondern besiegen), egal, ob sie das Zeug dazu hatten oder nicht. Darum bot Fredy lediglich noch Tageswanderungen an – forcierte Spaziergänge, wie seine jüngeren Kollegen spotteten – oder einfache Gletschertouren, die im Touristenprospekt als hochalpines Erlebnis für Flachländler beworben wurden.

Fredy Vögeli und Cathy Wood, sein einziger Gast heute, hatten morgens Punkt sieben Uhr die erste Zahnradbahn auf den Gornergrat genommen und waren dann von der Bergstation aus losmarschiert. Am Neun-Millimeter-Seil gesichert, mit Steigeisen, Pickel und Helm ausgerüstet. Es war ein wolkenloser, windstiller Tag im Juli und selbst in großer Höhe und auf dem kühlen Gletscherfeld angenehm mild. Trotzdem war die Amerikanerin schnell müde geworden, hatte zu keuchen begonnen und war zweimal gestrauchelt, sodass Fredy nach weniger als einer Stunde die erste Pause einlegte.

Er bot seinem Gast Lindenblütentee aus seiner Thermosflasche an und einen Riegel Schokolade, um die abgekämpfte und dampfende Cathy etwas aufzupäppeln und abzukühlen. Im Innern des Gletschers knackte und knarzte es, kleine Bächlein zerklüfteten seinen Eispanzer und an den Seitenmoränen konnte man ablesen, wie hoch und weit das ewige Eis noch vor wenigen Jahren gereicht hatte. Ein paar Bergdohlen kreisten über ihnen und Fredy hob Cathys Moral mit seinem seit vierzig Jahren bewährten Bergführer-Spruch für ausgepowerte Gäste: »Nur ja keine Schwäche zeigen, da oben schnabulieren bereits die Geier.«

Nach zehn Minuten hatte sich die Amerikanerin so weit erholt, um an ihre Instagram-Pflicht zu denken. Sie rappelte sich auf und schaute sich nach einem fotogenen, möglichst Likes generierenden Standort um. Schließlich entdeckte sie den Ast eines Baumes, kaum zwanzig Meter vom Rastplatz entfernt, der schräg aus dem Eis ragte. »Arve oder Föhre«, werweißte Fredy mit halb zugekniffenen Augen. Das sei doch eher erstaunlich in dieser Höhe – und er gab seinem Gast noch mehr Seil, damit die Frau vor dem Ast ihr Selfie schießen konnte.

Cathy zückte ihr Smartphone, kniete sich vor den Ast, posierte, machte Schmollmündchen, wählte den Nordpol-Fotofilter und kontrollierte auf dem Display den Bildausschnitt. Dann stutzte sie, zog ihre gezupften Brauen nach oben, drehte sich um und betrachtete den Ast genauer.

Die kleinen Zweige am Astende entpuppten sich als fünf verschrumpelte, krallenartig gekrümmte Finger, die in Farbe und Aussehen Hundesnacks aus getrockneten Pferdesehnen glichen.

Der vermeintliche Ast, der aus dem Gletscherfirn ragte, war ein mumifizierter menschlicher Arm.

»O my god! O MY GOD!«

Cathy Wood aus Baltimore ließ ihr Smartphone fallen und die Hände flattern, japste nach Sauerstoff und erbrach Pausentee, Fredys Schokoladenriegel und das Siebenkornmüsli vom Frühstücksbuffet des Hotels Gneisserhof Wellness & Spa. Dann schrie sie.

Schrie wie von Sinnen.

1

Sie hatte gerufen und alle waren gekommen.

Felicitas Saminada stieg aus dem Fond der schwarzen Limousine und wurde augenblicklich von Kameras, Mikrofonen und Handys im Diktiermodus belagert. Reflexartig machte sie den Journalisten gegenüber eine anmutige Geste, als würde sie einem heranstürmenden Hund »Platz!« befehlen. Sehr bestimmt, keine Widerrede duldend, aber mit einem warmen Lächeln serviert. Kurzes Geraune der Meute, doch keiner rebellierte.

Die Medien mochten Felicitas Saminada. Sie wertete den Inlandsteil der Tageszeitungen auf, bereicherte jeden TV-Talk und war auf dem Cover smarter Frauenzeitschriften ein Verkaufsgarant. Von ihr bekam man alleweil ein kurzes, knackiges und dennoch intelligentes Zitat, das schlagzeilentauglich war, in der Politwelt Staub aufwirbelte und sich tagelang medial bewirtschaften ließ. Manch einem Journalisten hatte sie heimlich und exklusiv Storys aus der Parteienlandschaft, dem Parlament oder gar Interna aus Bundesbern zugesteckt und dafür als Gegenleistung mediale Präsenz und wohlwollende Berichterstattung erhalten.

Saminada war eine der populärsten Berufspolitikerinnen des Landes. Beliebt wie umstritten – aber prominent und höchst erfolgreich. Und eine der Jüngsten. Sie war eben vierunddreißig geworden. Sie hatte Schneid, Witz und Verstand und sah auf ihre eigene Weise gut aus. Die kleine, zierliche Statur, die Staunaugen, der gebräunte Teint und ihr wuscheliger pfefferbrauner Bob, der stets hauchfeucht schimmerte, als käme sie direkt von einem Nachmittag am Strand, verliehen ihr etwas Mädchenhaftes. Sie wirkte zerbrechlich. Man wollte sie instinktiv beschützen.

Mann sowieso.

Doch hinter der zarten Fassade verbarg sie ihren furiosen Kampfgeist. So mancher männliche Kollege im nationalen Parlament war schon in ihre Falle getappt, hatte sie unterschätzt, war während einer Debatte zu zaghaft vorgegangen und prompt und gnadenlos von Saminada abgetrocknet worden.

Dank ihrer leutseligen Art und dem kantigen Dialekt aus ihrer Heimat Graubünden, der stets ein wenig Skiferien-Stimmung versprühte, verhielt sich ein Großteil der Journalisten ihr gegenüber nicht ganz so neutral und kritisch, wie es deren Berufsethos eigentlich verlangte.

Saminada schaute in die Runde der Medienschaffenden, ohne dabei den Anschein zu erwecken, als suche sie jemanden. Mehr wie eine Feldherrin. Im Geiste hakte sie ihre Liste der wichtigsten Medien ab, machte Freunde aus, ein paar Feinde auch. Aber alle anwesend, die Relevantesten und die Populärsten waren vor Ort. Auch das jetzt in ihr kurz aufflammende Gefühl von Einfluss und Machtfülle ließ sie sich nicht anmerken.

Sie würde heute Großes verkünden.

Sie war sich sicher, dass ihr Auftritt die Top-Story der TV-Abendnachrichten sein würde. Und ihr Gesicht wäre morgen auf der Titelseite jeder Zeitung. Im Verlaufe der Woche kämen dann vertiefende Interviews in den renommiertesten Blättern dazu, TV-Talkrunden zur besten Sendezeit und erste Porträts in Familienmagazinen. Die Menschen im Land liebten Felicitas Saminada. Bald würden sie sie verehren.

Und sie würde ihre Anführerin sein.

So war der Plan.

Noch immer stand sie vor der hinteren, halb offenen Tür der Limousine. Es war ein heißer, klebriger Julitag. Auf Schweizerdeutsch tüppig. Keine Wolke, keine Brise, kein Schatten. Keine Gnade. Saminada trug einen Hosenanzug aus lindengrünem Leinen, der mit ihrer dezent mediterranen Ausstrahlung, dieser Italianità der Südbündner, hervorragend kontrastierte. Die ersten Fragen prasselten auf sie ein, Kameraleuchten gingen an, das Gerangel begann erneut.

An Saminadas Stelle sprach Benedict Engel, ihr persönlicher Berater und langjähriger Weggefährte. Er war auf der abgewandten Seite der Limousine ausgestiegen und baute sich jetzt vor den Medienmenschen auf. Kinn nach vorn, die Lippen ein dünner Strich, Brust raus, als posiere er für ein Managermagazin oder stehe vor einem Erschießungskommando.

»Später, meine Damen und Herren, später. Sie bekommen Ihre Interviews und Fotos schon noch. Frau Nationalrätin Saminada wird sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht äußern. Warten Sie ihre Rede ab. Und bleiben Sie bis zum Schluss. Es wird sich für Sie lohnen, glauben Sie mir.« Er bedachte die Presse mit einem eigenartigen Grinsen, etwas zwischen gönnerhaft und geringschätzig wie ein Römerkaiser, der den Gladiatoren Glück wünschte. Die Medienleute lachten konditioniert zurück. Wollte man etwas von Saminada, kam man an ihrem Engel nicht vorbei.

Was würde die Politikerin heute verkünden? Es herrschte eine erwartungsfrohe Stimmung wie bei einer Preisverleihung. Natürlich gab es Gerüchte. Eines davon lautete, Saminada gebe heute bekannt, sie wolle das Präsidium ihrer angeschlagenen Partei übernehmen. Ein anderes besagte, sie setze sich für eine Fusion mit den Gründemokraten ein. Oder hatte es am Ende gar – was doch sehr verwegen von ihr wäre – etwas mit dem frei werdenden Ministerposten zu tun? Einer der sieben Bundesräte, ein ergrauter, ernüchterter Parteikollege Saminadas, hatte unlängst bekannt gegeben, er werde sich im Herbst aus der Landesregierung zurückziehen.

Wollte Saminada ihn beerben? Und dies heute verkünden? Besaß sie die Impertinenz, sich selbst für dieses hohe Amt zu empfehlen? Das allerdings käme bei der Schweizer Bevölkerung gar nicht gut an. Zu viel Selbstsicherheit wurde einem hierzulande schnell als Arroganz ausgelegt und mutiges Vorpreschen als Hochmut. Was im Endeffekt politischen Selbstmord bedeutete. Wer seine Wahlchancen steigern wollte, zelebrierte Bescheidenheit, selbst wenn diese geheuchelt war.

Zugegeben, die Frau hatte einen beeindruckenden Lebenslauf und strebte in der Politik stets nach noch Höherem. Was jedoch mit einer Partei im Rücken, die kontinuierlich Wähleranteile verlor und damit auch die Legitimation mitzuregieren, nicht einfach werden dürfte.

Und dann war da noch das größte Hindernis.

Saminadas Alter.

Vierunddreißig. Geradezu respektlos jung für so ein Würdenamt. Wie ein Professor mit Akne. Ein Weihbischof mit Zahnspange. In den späten neunziger Jahren hatte die Schweiz eine Fünfunddreißigjährige als Bundesrätin bekommen, die dann, nach nur vier Jahren, aus ihrem Amt gefegt worden war. Seither ließ man in Bundesbern die Finger von jungen, flotten Ehrgeizlern.

Offiziell ging es beim heutigen Anlass um die Eröffnung einer Straßenbrücke, die zwei Stadtteile miteinander verband. Eines der zahlreichen Projekte, das Saminada als Politikerin vorangetrieben und dessen Finanzierung sie mit Staatsgeldern sowie Sponsoren aus der Privatwirtschaft abgesichert hatte. Einer ihrer vielen Erfolge. Greifbar, bodenständig, nachvollziehbar für den Wähler und Steuerzahler. Solche Politiker wurden geschätzt. Und wiedergewählt.

In der Einladung zum Brückenfest wurde kryptisch angedeutet, Frau Nationalrätin Saminada werde zudem eine wichtige Ankündigung in einer persönlichen Angelegenheit machen. Also waren sie alle gekommen. Um ihre Schlagzeilen abzuholen. Und ein erstes Appetithäppchen wurde dem Medientross schon mal zugeworfen.

Felicitas Saminada hatte ihre Tochter mitgebracht.

Das hatte sie noch nie zuvor getan. Zwar war bekannt, dass die Politikerin alleinerziehend war, ihr Kind hatte sie bisher aber stets vor der Öffentlichkeit abgeschirmt.

»Komm, mein Schatz, steig aus. Und keine Angst vor all diesen reizenden Menschen, die machen nur Fotos von uns beiden.«

Die Kleine – in einem knöchellangen blauen Kleidchen mit Schmetterlingsmuster und mit einem grünen Seidenband im langen pechschwarzen Wuschelhaar – schien einer Jane-Austen-Verfilmung zu entstammen oder tatsächlich der viktorianischen Zeit. Etwas tapsig kletterte sie aus dem Fond des Wagens.

Saminada nahm sie an der Hand und augenblicklich ging ein Blitzlichtgewitter los. Das Kind machte doch tatsächlich andeutungsweise einen Knicks und senkte schamhaft den Kopf. Es hatte die exotische Bündner-Erscheinung seiner Mutter geerbt. Und deren Talent, die ganze Welt zu bezirzen. Die Medienleute waren hingerissen.

»Darf ich vorstellen: Das ist meine Tochter Zalina. Sie wird bald neun.« Augenblicklich wurde es still, als Saminada zu sprechen begann, sogar die Fotografen hielten inne, nur die TV-Kameras drehten weiter.

»Wenn Sie mich kennen, wissen Sie, dass es nicht meine Art ist, Politik und Privatleben zu vermischen. Aber was ich heute bekannt geben werde, betrifft auch meine Familie, mein Kind ganz besonders. Darum ist es nur richtig, wenn Zalina jetzt an meiner Seite ist. Ich danke Ihnen.«

Die Augenbrauen der Journalisten schossen hoch. Also doch die Kandidatur zur Bundesrätin? Die anwesenden Onlinemedien tickerten schon mal los. Vage andeutend. Hinter jede Schlagzeile ein Fragezeichen setzend. Hauptsache, die Ersten sein.

Online first.

Später würde man die News immer noch korrigieren können. Oder relativieren. Oder löschen.

Online worst.

Saminada schritt mit ihrer Tochter davon. Die Kleine an ihrer Hand machte übermütige Hüpfer, als spiele sie auf dem Schulhof Himmel und Hölle. Mutter und Kind in ihren luftigen Roben schienen über das heiße Straßenpflaster zu schweben, erhaben und gelassen wie Elfen. Weder Gluthitze noch Schwüle noch der penetrant stechende Bitumengeruch der erst vor Kurzem fertig asphaltierten Brückenstraße schienen ihnen etwas anhaben zu können. Der Pressetross trottete schwitzend hinterher. Benedict Engel diktierte einigen Reportern, wie man den Namen Zalina richtig buchstabierte. Sie löcherten ihn, was das denn für ein fremdländisch klingender Mädchenname sei! Woher er stamme. Was er bedeute. Engel reagierte unerwartet aggressiv und stauchte die Fragesteller zusammen. »Wer ist hier der Journalist? Sie oder ich? Recherchieren Sie gefälligst! Machen Sie Ihren Job.«

Die neue Straßenbrücke war eineinhalb Kilometer lang und stand in dreißig Metern Höhe. Darunter lagen Grünflächen, Häuserzeilen und ein renaturierter Fluss. Das Bauwerk aus Spannbeton und Stahlseilen verband zwei Stadtteile miteinander, brachte sieben Quartiere und dreißigtausend Menschen näher zusammen.

In der Mitte der Brücke war eine große, flache Bühne aufgebaut mit einem Rednerpult und mehreren Stuhlreihen dahinter für die Ehrengäste. Im Halbkreis darum herum stand eine Tribüne, auf der dreihundert Zuschauer Platz fanden. Diese begannen jetzt, beim Eintreffen der Ehrengäste, zu applaudieren. Eine Blaskapelle in Uniform spielte einen Marsch. Die Stadtpräsidentin begrüßte Saminada mit einer herzlichen Umarmung und drei Wangenküsschen. Weitere Offizielle der Stadt und ein paar den Event schmückende Promis – eine Ex-Miss Sowieso, ein Ex-Skirennfahrer und Olympiasieger und ein national bekannter Musical-Star mit neuer Kurzhaarfrisur – wurden einander vorgestellt. Händeschütteln, Nettigkeiten, wolkige Konversation, gehobenes Geschwafel, Small Talk. Alles routiniert, bewährt, aber steif und bemüht festlich. Eine Brückeneinweihung halt. Wenig Spektakel. Die Journalisten warteten auf Saminadas Knalleffekt.

Der sollte kommen.

Aber anders.

***

»Ich halte dieses Herumhocken nicht länger aus. Der Kerl soll endlich kommen, damit wir ihn erledigen können.«

Violetta Morgenstern rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her. Das beige Kunstleder knarzte unter ihren Bewegungen und der Wagen schaukelte leicht. Sie entlastete ihre linke Hüfte, dann die rechte, machte Dehnübungen mit den Armen, spielte Luftklavier mit den Fingern und ließ den Kopf kreisen, bis die Halswirbel knackten.

»Jetzt zappel doch nicht so herum, Morgenstern. Ihr Greise seid es doch gewohnt, stundenlang bewegungslos in der Altersheim-Cafeteria zu hocken und auf euer Ende zu warten.« Eine steile Ironiefurche erschien über Miguel Schluneggers Nasenwurzel, während er den Bildschirm des Notebooks, das er auf seinen Knien balancierte, keine Sekunde aus den Augen ließ.

Violetta war zu sehr in andere Gedanken versunken, um sich einen schnellen Frotzelkonter für ihr Gegenüber auszudenken. Das Warten unmittelbar vor einer Vollstreckung war am schlimmsten. Minuten-, manchmal stundenlanges Verharren unter größter Anspannung. Der Adrenalinspiegel konstant auf Hochwasserlevel, galoppierender Herzschlag, pulsierende Fingerkuppen, ameiselnder Magen, zuckende Augenwinkel.

Als fahre man nonstop Achterbahn.

Morgenstern und Schlunegger hatten einen Auftrag. Eine staatlich verfügte Tötung. Angeordnet von ihrem Arbeitgeber, dem geheimen Schweizer Killer-Ministerium namens Tell.

Ihre Zielperson hieß Oliver Seltenhammer, einundfünfzig Jahre alt, gebürtiger Liechtensteiner, seit achtzehn Jahren wohnhaft in der Schweiz. Das Tell-Einsatzdossier ging nicht explizit auf die Gründe der Vollstreckung ein, Seltenhammers beruflicher Hintergrund machte jedoch klar, dass sein Todesurteil mit großer Wahrscheinlichkeit etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte. Besser gesagt: mit deren Missbrauch. Er war Ingenieur im Kernkraftwerk Kolbenstadt und verantwortete dort die Abteilung für Urananreicherung.

Sein Schwachpunkt war sein Privatleben.

Seltenhammer hatte eine teure Scheidung hinter sich, den Buckel voller Schulden und verheimlichte dem Arbeitgeber sein zunehmend größer werdendes Alkoholproblem.

Der Klassiker. Das perfekte Erpressungsopfer.

Die finsteren Männer aus dem bösen Ausland mit dem vielen Geld und dem großen Interesse an angereichertem Uran hatten relativ schnell bei Seltenhammer angeklopft und ihn mit Geld und Gewalt gefügig gemacht.

Violetta Morgenstern blätterte im Einsatzdossier. Mehr aus Langeweile. Sämtliche Details über Oliver Seltenhammer kannte sie längst auswendig, bereits seit der ersten Durchsicht, vor Wochen schon. Einmal gesehen und gelesen, für immer eingeprägt. Violettas Erinnerungsvermögen arbeitete wie eine Hochleistungssoftware. Schon als sie noch Grundschullehrerin war, hatte sie die Prüfungsnoten sämtlicher Kinder in allen Schulfächern stets präsent gehabt. Rückwirkend auf zehn Unterrichtsjahre.

»Oliver Seltenhammer. Hm, Oliver … ich hatte in meiner Zeit als Lehrerin drei Olivers in der Klasse.«

Miguels Schweigen samt einer hochgezogenen Braue war seine Art, skeptisch nachzufragen.

»Alle drei waren unaufrichtig und pomadig. Olivers sind immer Lügner und haben keinen Biss.«

»Ach komm, das kann man doch nicht so pauschal sagen.«

»Doch. Kann man, ich jedenfalls kann es. Als Lehrerin wusste ich bei neuen Schülern in meiner Klasse allein aufgrund ihres Vornamens, was mit ihnen los war, noch bevor ich sie zum ersten Mal sah. Kinder, die Jérôme, Chantal oder Marlon hießen, meldete ich prophylaktisch beim Schulpsychologischen Dienst an. Bei Uschi, Yannick und Enrico stellte ich beim Rektor im Voraus Antrag auf Nachhilfestunden. Und im Falle von Leroy, Hugo oder Leonie unterschrieb ich das Formular für ›Freiwilliges Wiederholen der Klasse‹, noch bevor das neue Schuljahr überhaupt begonnen hatte.«

Miguel blies geräuschvoll Luft durch die Nase, seinen Blick nach wie vor konzentriert auf das Notebook gerichtet. »Morgenstern, manchmal machst du mir Angst. Das ist doch Namensrassismus.«

»Ist es nicht. Ich hab’s Hunderte Male erlebt. Meine Theorie ist wasserfest und funktioniert übrigens auch mit Erwachsenen. Sage mir deinen Namen, und ich sage dir, was dein Problem ist.«

»Ach so? Ja, dann sag mir … was ist mit den Martins dieser Welt?«

»Intelligent, aber verklemmt.«

»Thomas?«

»Gutmütig im Kern, Hang zur Naivität, letztendlich aber vertrottelt.«

»Tina?«

»Hat ausdrucksstarke Augen, eine schöne Stimme und zerstört Ehen.«

»Nina?«

»Klug, clever, aber schlampig.«

»Peter?«

»Vergessliche Supertypen.«

»Violetta?«

»Netter Versuch, weiter!«

»Ronny?«

»Trägt als Kind Vokuhila-Frisur, dealt als Jugendlicher mit Marihuana, bricht Mädchenherzen und seine Berufslehre ab. Lebt von der Fürsorge.«

»Und was ist mit … Miguel?«

»Nein, den Gefallen tue ich dir nicht.«

»Doch, komm, nicht kneifen. Ich will das jetzt wissen. Miguel?«

»Du bist der erste Miguel in meinem Leben. Und um dich zu schubladisieren, kenne ich dich noch zu wenig gut.«

»Zu wenig gut? Wir haben zusammen gemordet und wurden letzten Herbst auf Gozo beinahe selbst umgebracht. Das sollte doch wohl genügen.«

»Gib uns beiden noch ein paar Morde, Miguel, dann sehen wir weiter.«

Er lachte lautlos und mit bebendem Oberkörper. Violetta wandte sich wieder dem Dossier zu, legte es aufgeschlagen auf ihre Oberschenkel und schaute sich Fotos von Seltenhammer an. Porträt- wie Ganzkörperaufnahmen, das vorteilhafteste stammte aus dem Jahresbericht des Kernkraftwerks. Ein freundlich lächelnder, Kompetenz ausstrahlender Vorzeigemitarbeiter mit Krawatte und weißer Schürze. Die heimlich von einem Tell-Beschatter gemachten Fotos zeigten dann allerdings einen ganz anderen Seltenhammer.

Weniger schöngeföhnt. Mehr Realismus. Ein abgestürzter Mann.

Seltenhammer beim Verlassen des Werkareals, beim Autofahren mit einem Flachmann in der Hand, in einem Billigshop beim Einkaufen von Tiefkühlkost, vor seiner Wohnung beim Heraustragen von Müllsäcken (in denen das Tell-Team elf Wodkaflaschen fand), angetrunken auf einer Parkbank sitzend, stockbesoffen an einen Bartresen gelehnt, in einem Hinterhof im Gespräch mit einem Lederjackentypen, im Gerangel mit ebendiesem Lederjackentypen, am Boden liegend, nachdem ihn der Lederjackentyp zusammengeschlagen hatte.

Violetta kniff die Augen zusammen und berührte mit ihrer Nasenspitze beinahe die Bilder. »Ein schlechter Mensch, unser Seltenhammer. Das sieht man auf den Fotos deutlich. Seine Schuhe verraten ihn.«

Miguel gab einen fragenden Brummton von sich.

»Ist eine alte Weisheit: Schmutzige Schuhe und schmierige Wohnungsfenster zeugen von miesem Charakter.«

»Sagt welcher alte Weise?«

»Sag ich.«

»Du? Alt – ja, auf jeden Fall, bist ja mittlerweile in den greisen Sechzigern. Weise – na, ich weiß nicht.« Miguel widerstand dem Drang, mit einem Blick in den Fußraum des Wagens seine Schuhe zu kontrollieren. Den Triumph wollte er ihr nicht gönnen. Und er dachte für einen kurzen Augenblick an seine Wohnzimmerfenster.

»Noch immer nichts von ihm zu sehen?«, fragte Violetta.

Miguel schüttelte den Kopf. Dann schaute er auf seine Armbanduhr, ein Monstrum aus Edelstahl mit allerhand Rädchen, Zeigern, Skalen und sonstigem Schnickschnack – eine Uhr, für die man sich viel Zeit nehmen musste. »Nur die Ruhe, er wird schon kommen. Sobald Seltenhammer über die Passstraße fährt, registrieren wir das und legen los.«

»So langsam wird mir kalt. Sauwetter. Und das im Juli.« Violetta zog den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis unters Kinn. »Nicht zu glauben, dass zur gleichen Zeit im Mittelland unten eine Gluthitze herrscht. Und wir haben hier in den Bergen nahezu Winter.«

Sie hatten wochenlang auf perfektes Wetter warten müssen. Bis dann vorgestern der telleigene Meteorologe ganz überraschend grünes Licht gegeben hatte.

Sie brauchten Nebel.

Und zwar so dicht, dass man keine fünfzehn Meter weit sehen konnte. Ohne Nebel keine Vollstreckung. So eine richtig graue, undurchsichtige Suppe war im Sommer in den Bergen in Lagen über zweitausend Metern zwar eher selten, kam aber doch schon mal vor. War ein Problem für die Bergsteiger und hatte in exponierten Nordhängen schon zum Absturz ganzer Seilschaften geführt.

Und heute voraussichtlich zum Ableben von Oliver Seltenhammer.

Miguel und Violetta saßen bereits seit über drei Stunden in ihrem Einsatzfahrzeug. Einem extra für diesen Job ausgewählten weißen Kombi aus dem Wagenpark von Tell, der buchstäblich mit dem Nebel verschmolz.

Sie hatten Seltenhammer gestern von der Tell-Zentrale aus anonym per Telefon kontaktiert, hatten sich als »besorgte Freunde, die Ihnen helfen wollen« bezeichnet und ihm mit der Nennung einiger brisanter Details zu verstehen gegeben, dass sie über seine Machenschaften Bescheid wussten. Der Deal, den sie ihm vorflunkerten, lautete: ein Teil seines Geldes gegen ihr Schweigen.

Sie hatten sich vorzustellen versucht, wie er reagieren würde. Panisch, verwirrt, ohne sich Zeit zu nehmen, gründlich nachzudenken. Und unterwürfig. Sofort bereit, alles zu tun, um seinen Hintern zu retten.

Kein Arsch in der Hose, kein Mumm in den Knochen, hatte Violetta kommentiert.

Er biss denn auch tatsächlich sofort an. Angst und Verzweiflung waren stärker als Vorsicht und Skepsis. Was typisch war für einen Mann mit null Erfahrung in diesem Drecksgeschäft und frisch gerissenen Nerven.

Sie hatten ihm als Treffpunkt eine einsame und abgelegene Alphütte in den Obwaldner Bergen genannt. Ein Naturweg führte dort hinauf, kaum besser als ein ausgetrocknetes Bachbett, mit einem Wagen mit Allradantrieb aber zu meistern. Seltenhammer wurde angewiesen, aus Sicherheitsgründen sein eigenes Auto in der Garage stehen zu lassen und stattdessen einen Mietwagen zu nehmen. Einen mit Navigationsgerät. Er bekam die Koordinaten der Hütte, geografische Länge und Breite, Winkelminuten, Winkelsekunden und den Befehl, die Daten in sein Navi einzutippen.

Um elf Uhr Mittag hätte Seltenhammer beim Übergabeort eintreffen sollen. Jetzt war es nach zwölf.

»Und wenn er nicht kommt?« Violetta zupfte ein graues Härchen von ihrer Nasenspitze, wobei sie die Nägel von Daumen und Mittelfinger als Pinzette benutzte.

»Er kommt bestimmt.« Miguel stellte den Kragen seiner braunen Bomberjacke hoch und rückte seinen schwarz-weiß karierten Palästinenserschal zurecht.

»Und wenn nicht?«

»Er kommt. Weil er weiß, dass sein Leben sonst vorbei ist.«

»Ist es ja so oder so.«

»Vom zweiten ›So‹ weiß er aber nichts.«

Violetta lachte laut auf, zuckte im nächsten Augenblick zusammen und presste mit schmerzverzerrtem Gesicht die flache Hand auf ihren Bauch.

»Schmerzen? Noch immer … die Narbe?« Miguel schaute besorgt.

Sie nickte kurz. »Es geht schon, geht vorbei. Dauert immer nur wenige Sekunden, ist nicht schlimm.« Sie versuchte zu lächeln, ein kümmerlicher Versuch, Miguel zu beruhigen.

»Du würdest es mir doch augenblicklich sagen, Morgenstern, wenn wir abbrechen müssen. Ich brauche dich hier zu hundert Prozent einsatzfähig. Wenn du schwächelst, gefährdest du unsere Mission.« Er versuchte, wie ein knallharter Vorgesetzter zu klingen, der nur an den Auftrag dachte. Doch ihr war der fürsorgliche Unterton in seiner Stimme nicht entgangen.

»Es geht mir gut, ich bin bereit. Ich leide nicht mehr – und kann den Bösen wieder professionell Leid zufügen.«

Auf ihren Wortspott reagierte Miguel mit höhnischem Schnauben.

Violetta steckte die Hand unter Daunenjacke, Pullover und Unterhemd, bis sie nackte Haut spürte. Und die Narbe. Vorsichtig befühlte sie mit den Fingerkuppen das Wundmal. Das Mahnmal. Wo das Fleischermesser gesteckt hatte. Rechts vom Bauchnabel, ein sieben Zentimeter langer, waagerechter Hautwulst, dünn und geriffelt wie ein vertrockneter Regenwurm. Die Ärzte im Spital hatten Violettas »gutes Heilfleisch« gelobt. Der Faden, mit dem die Schnittränder zusammengenäht worden waren, hatte keinerlei Spuren hinterlassen, keine »Hühnerleitern«, wie der Chefarzt ihr bildhaft erklärt hatte.

Seit dem Mordanschlag auf Violetta Morgenstern waren zehn Monate vergangen. Hätte Miguel sie damals nicht zufällig in ihrem Hausflur gefunden, sie wäre verblutet. Violetta hatte schwere innere Verletzungen erlitten. Bauchorgane und Blutgefäße hatten Schaden genommen. Nach drei Tagen war sie aus dem Koma erwacht, sieben Wochen später hatte sie das Krankenhaus verlassen dürfen. Danach hatte sie vier Monate Reha in einer Bergklinik verbracht und war schließlich für nochmals vier Monate zu Hause geblieben, krankgeschrieben. Wo Körper und Geist langsam wieder gesund wurden. Und sie sich fürchterlich langweilte.

Violetta zog ihre Hand wieder unter der Jacke hervor und schaute Miguel mit einem versöhnlichen Lächeln an. »Doch, glaub mir. Es geht mir gut, ich bin voll einsatzfähig. Etwas nervös vielleicht, aber dies ist ja auch mein erster Einsatz nach der Zwangspause.«

»Die neuen Bewegungssensoren, die IT-Gerry und sein Team überall in deinem Haus montiert haben, sollen ja das Raffinierteste sein, was es auf dem Sicherheitsmarkt derzeit gibt«, sagte Miguel, merklich bemüht um einen Themenwechsel.

»Ach, ich weiß nicht so recht. An manchen Tagen fühle ich mich wie in einer Festung statt wie in meinem Heim. Anderseits gibt es mir ein Gefühl der Sicherheit, wenn Tell mein Haus rund um die Uhr im Auge behält. Obwohl ich mich jeden Morgen frage, ob die Kamera im Badezimmer wirklich nötig ist?«

»Die macht ja nur Schwarz-Weiß-Bilder, zudem haben wir sie aus Rücksicht auf deine Intimsphäre auf grobkörnige Auflösung justiert. Es geht lediglich darum, festzustellen, ob du dich im Bad bewegst oder ein Fremder an deinen Parfüms schnuppert. Und glaub mir: Gerrys IT-Truppe gerät ob einer neuen App mehr in Wallung als beim Anblick einer älteren Dame im Frotteebademantel.« Miguel grinste. Violetta seufzte. Dann fragte er: »Warum schaffst du dir nicht einen Hund an? Ist die beste Alarmanlage, ein prima Aufpasser.«

»Alle Hunde stinken.«

»…«

»Schau mich nicht so an!«

»Stimmt doch gar nicht, das mit dem Stinken.«

»Also gut, nicht alle stinken. Aber alle scheißen. Andauernd. Richtige Scheißautomaten sind das. Ich mit dem Kackbeutel hinterher – ohne mich!«

»Katzen?«

Violettas rechte Hand verscheuchte energisch eine imaginäre Fliege. Miguel verstand. Und hielt sein Maul.

Eine gefühlte Ewigkeit lang sagte keiner ein Wort.

»Er ist da.« Miguel setzte sich ruckartig auf und deutete auf sein Notebook.

Auf dem Display waren die Livebilder einer Mini-Kamera zu sehen, die Miguel drei Stunden zuvor am Straßenrand bei der Passhöhe angebracht hatte. Jeder Wagen wurde gefilmt. Sie wussten, welches Kennzeichen Seltenhammers Mietwagen hatte – er hatte ihren Video-Checkpoint eben passiert.

»Von der Passhöhe bis hierhin zur Alphütte sind es zehn Fahrminuten. Bei dem dicken Nebel braucht er wohl fast doppelt so lange«, rechnete Miguel vor. Er nickte Violetta zu. »Dann wollen wir mal. Und denk daran, wir müssen ihn nahe genug herankommen lassen, dreihundert Meter sind das Minimum, lieber noch näher, hat IT-Gerry geraten, sonst kann ich die Software nicht übermitteln.«

Das Wetter meinte es wirklich gut mit ihnen. Der Nebel war sogar noch dichter geworden. Wie in einem Dampfbad, nur in Kalt.

Miguel setzte eine Wärmebildkamera in Skibrillenform auf und spähte durch die Frontscheibe talwärts. Sicher fünf Minuten verharrte er so, regungslos, hoch konzentriert. Violetta wagte nicht, ihn anzusprechen.

»Da ist er. Ich sehe ihn.« Miguel sprach ruhig und unaufgeregt, analytisch mechanisch, wie immer, wenn er sich im Vollstreckungsmodus befand. »Er fährt wie erwartet sehr langsam. Der Nebel und das unbekannte Gelände verunsichern ihn. Sehr gut. Alles läuft genau nach Plan. Jetzt bist du dran, Morgenstern.«

Sie spürte, wie das Adrenalin ihre Konzentration schärfte. Voll da, hellwach, schier den Atem verschlagend – ein Gefühl wie nach dem Kopfsprung in einen Winterweiher. Als Seltenhammer noch vierhundert Meter von ihnen entfernt war, rief sie ihn auf seinem Smartphone an.

Zusammen mit einem Verhörexperten von Tell hatte Violetta während mehrerer Tage die richtige Gesprächstechnik bei diesem Telefonat trainiert. An den Sätzen gefeilt. Begriffe ausgewählt wie »große Gefahr«, »getötet« und »sterben«. Signalworte, die bei der Zielperson starke Bilder hervorrufen würden. Und Ängste. Und sie dahingehend manipulierte, exakt das zu tun, was für Phase eins der Vollstreckung vonnöten war.

»Ja, hallo, wer ist da?« Seltenhammers Stimme klang heiser und genervt. Ein Mann unter unvorstellbar großem Stress.

»Hören Sie mir gut zu, Herr Seltenhammer. Sie sind in Gefahr.«

»Wer … spricht da?«

»Das tut nichts zur Sache. Jemand, der Sie warnen will. Der Treffpunkt, zu dem Sie unterwegs sind, diese Alphütte – das ist eine Falle.«

»Aber was –«

»Sie werden dort erwartet. Es ist ein Hinterhalt. Die wollen Sie töten. Hören Sie?«

»Ich? Getötet? Von wem?«

»Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist, dass Sie am Leben bleiben. Tun Sie, was ich Ihnen sage, oder Sie sterben.«

Statt einer Antwort erklang ein leiser, weinerlicher Aufschrei.

»Haben Sie verstanden, Seltenhammer? Hauen Sie ganz schnell ab, drehen Sie um, jetzt, sofort. Oder Sie sind tot.« Violetta brach das Gespräch ab.

»Hat er den Köder geschluckt?«, fragte Miguel.

»Unser Mann telefoniert doch tatsächlich am Steuer. Ohne Freisprechanlage. Wo man doch weiß, wie lebensgefährlich das werden kann. Es ist bei Automobilisten die gleiche Problematik wie bei den Vögeln. Eine Studie des World Birds Skynet beweist, dass Vögel, die während des Fliegens zwitschern, öfter mit Hindernissen zusammenstoßen.«

»Hör mir auf mit deinem Lehrerinnenzeugs, Morgenstern. Das war eine einfache Ja-oder-Nein-Frage. Also?«

»Ja! Ja, er hat angebissen.« Sie klang eingeschnappt.

»Hat er sein Navi an?«

»Ja. Im Hintergrund blechelte eine Frauenstimme etwas von ›Sie haben Ihr Ziel erreicht‹.«

Miguel riss sich das Wärmebildgerät vom Kopf, beugte sich wieder über sein Notebook und tippte darauf herum. »Sehr gut, er hat den Wagen angehalten, in … zweihundertelf Metern Entfernung. Jetzt wendet er.«

Dann startete Miguel das Programm.

In weniger als zwei Sekunden überspielte er drahtlos eine hausgemachte Tell-Software auf das Navigationsgerät in Seltenhammers Wagen.

»Das war’s. Dann machen wir unserem Freund jetzt mal ein wenig Dampf. Anschnallen, Morgenstern!« Miguel schob das zugeklappte Notebook in die Rückentasche seines Sitzes, startete den Wagen und ließ die Scheinwerfer aufgleißen. Dann fuhr er zügig los. Schon nach wenigen Sekunden sahen sie vor sich die Rücklichter von Seltenhammers Wagen. Miguel gab Gas, kam näher, immer noch volles Scheinwerferlicht, war schließlich keine zehn Meter mehr vom Verfolgten entfernt, ließ den Motor mehrfach laut aufheulen. Um Seltenhammer Angst zu machen. Ihm zu zeigen, dass er gejagt wurde, dass es um sein Leben ging. Dass er schleunigst flüchten sollte. Und zwar bitte mit Vollgas.

Tells Terminierungs-Idee im vorliegenden Falle basierte auf folgender Frage: Wie flieht man mit einem Wagen im dichten Nebel? Bei null Sicht, auf unbefestigten Straßen, inmitten unbekannten, gefährlichen Terrains?

Es war Miguels Idee gewesen. Vor Wochen schon – bei der zweiten Creative-Kill-Sitzung in der Tell-Zentrale, als sie im Team darüber berieten, welcher »natürliche Tod« Seltenhammer widerfahren könnte – war Miguel plötzlich in den Sinn gekommen, wie er selbst sich als Autofahrer jeweils verhielt, wenn er unsicher war wegen der Route. Wem er in solchen Fällen blind vertraute.

Seinem Navigationsgerät.

Und so drückte Oliver Seltenhammer in seiner ganzen Panik und Verzweiflung, mit einem unbekannten Verfolgerwagen im Rücken, dem Tod im Nacken und einer trüben Nebelsuppe um sich herum, den Home-Knopf seines Navigationsgerätes.

Zeig mir den Weg! Wo geht es zurück zur Passstraße? Leite mich nach Hause!

Das Navi berechnete augenblicklich die schnellste Strecke, zeigte auf dem Display grün leuchtend den Weg an und ließ eine monotone, aber nicht unfreundliche Frauenstimme den Verlauf erklären. Und Seltenhammer, obwohl er nicht das Geringste sah, vertraute der Navi-Dame und gab Vollgas.

Er raste talwärts, das Geröll auf dem Weg sprengte unter den Reifen weg, als wären es Pfützenspritzer. Seltenhammer biss auf die Zähne, plötzlich spürte er wieder Hoffnung. Er würde es schaffen, seinen Häschern zu entkommen. Weiterleben. Abhauen. Untertauchen. Ein neues Leben beginnen. Irgendwo. Afrika kam ihm in den Sinn. Die Karibik wäre auch schön. Oder Asien. Sein Wagen schlingerte, das Steuer vibrierte, Steine schlugen an den Unterboden. Doch Seltenhammer bremste nicht.

»In einhundert Metern rechts abbiegen!«, befahl die Dame.

Er tat, was das Navi ihm riet. Hatte weder Zeit noch den Nerv, sich zu erinnern, auf welchen Wegen er vorhin hinaufgefahren war.

»Jetzt rechts abbiegen.«

Er schaute kurz in den Rückspiegel, sah schemenhaft durch Nebel und aufgewirbelten Staub, wie seine Verfolger langsamer wurden. Zurückblieben. Schließlich verschwanden.

»Jetzt vier Kilometer geradeaus!«

Anflug.

Seltenhammer bretterte mit nahezu hundert Sachen über den Naturweg.

Blindflug.

Die Straße endete plötzlich. Im Nichts. Eine Kante, eine Felswand und sechzig Meter Abgrund.

Abflug.

Miguel und Violetta kamen langsam angefahren, hielten rumpelnd an, stiegen aus, schritten zur Felskante, schauten in die Tiefe. Sahen nichts, hörten nichts, fühlten nur, wie der Stress von ihnen ließ.

Miguel tat einen Seufzer. »War noch nie eine gute Idee, sich von einer Frau sagen zu lassen, wo’s langgeht.«

***

Die Dame mit den kirschroten Locken und der Brille in Butterflyform schaute verstohlen auf ihre Armbanduhr. Es konnte jede Minute losgehen. Sie erklärte die Sitzung für beendet. Die anderen neunzehn Mitglieder der außenpolitischen Kommission des Nationalrates verließen den Raum. Die Dame blieb am Kopfende des Tisches sitzen. Auf ihrem Tabletcomputer tippte sie auf die App von »Schweizweit«, der größten Boulevardzeitung. Und wählte deren Livestream.

Da war sie. Groß im Bild. Schön und wichtig wie immer. Saminada.

Die Dame mit den kirschroten Locken und der Brille in Butterflyform spitzte die Lippen. Sie wusste, was jetzt kam. Ihr Informant hatte ihr bereits vor zwei Wochen das Manuskript von Saminadas heutiger Rede zugespielt. Ihr Informant hatte noch nie falschgelegen. Er war sein Geld wert.

Saminada würde es heute verkünden. Jetzt dann gleich. Live. Vor aller Welt. Ihre Kandidatur als Bundesrätin. Die Dame mit den kirschroten Locken und der Brille in Butterflyform wusste, wie man Saminada stoppen konnte.

***

»Hiermit eröffne ich feierlich …« Ein Tusch der Blasmusik, Applaus der Gäste, Fotoblitzgewitter. Felicitas Saminada schnitt mit der übergroßen Symbolschere das rote Stoffband durch, das quer über die Brückenstraße gespannt war. Dann schritt sie zurück zum Podium. Begleitet von Benedict Engel. Die beiden steckten beim Gehen die Köpfe zusammen und unterhielten sich aufgeregt. Saminada, die Chefin. Engel, ihr Berater. Ein ungleiches Paar. Aber ein ungemein erfolgreiches.

Benedict Engel, der drahtige Hüne, ein Jahr älter als Saminada, mit argwöhnischen Augen hinter babypoporosa Lidern. Mit dem Sommersprossengesicht, dem spärlichen Bartwuchs und dem blonden, perfekt gezogenen Seitenscheitel wirkte er stets wie das Mitglied eines Sängerknabenchors. Doch sein jungenhaftes Äußeres täuschte. Engel war hochintelligent, und wenn die Situation es erforderte, konnte er knallhart verhandeln und eiskalt agieren. Der politische Erfolg seiner Chefin stand für ihn über allem. Für Saminada tat er alles. Es gab Leute in Engels Umfeld, die ihn noch nie hatten herzlich lachen sehen. In Bundesbern und in der Medienszene nannten sie ihn »Todesengel«.

Saminada trat hinter das Rednerpult.

»Meine Damen und Herren, liebe Gäste. Erlauben Sie mir nun noch ein paar Worte in eigener Sache.« Ein kurzer, von einem Nicken begleiteter Seitenblick zu Engel, eine hochgezogene Braue für die Medien, ein magistraler Rundblick ins Publikum. Und ein Lächeln für Zalina, die links von ihrer Mutter in der vordersten Stuhlreihe saß und ihre zu kurzen Beine über die Stuhlkante schlenkern ließ.

Dann ließ Felicitas Saminada die Katze aus dem Sack. Verkündete, sie wolle anstelle ihres zurücktretenden Parteikollegen in den Bundesrat. »Ich möchte meinem Land dienen. Ich will in die Regierung. Ich kann das.«

Um zwölf Uhr dreiundzwanzig, nur drei Sekunden nach ihren letzten Worten, wurde Felicitas Saminada von einer Gewehrkugel niedergestreckt.

Und das halbe Land schaute dabei zu.

Die Onlinemedien vor Ort übertrugen Saminadas Rede via Livestream auf ihre Websites und auf Facebook, in kürzester Zeit schnellten ihre Klickzahlen auf Rekordhöhe. Und als das Schweizer Fernsehen dreißig Minuten nach dem Attentat mit Breaking News auf Sendung ging, sah ein Millionenpublikum immer und immer wieder dieselbe Szene. Saminada am Rednerpult winkt ins Publikum, wischt sich mit der Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht, wird von einer unsichtbaren Macht nach hinten geschleudert und zu Boden geschmettert.

Das Chaos unmittelbar nach dem Schuss war total.

Als ob man einen Silvesterböller in einen Ameisenhaufen geworfen hätte. Alles geriet durcheinander. Menschen legten sich flach auf den Boden oder gingen hinter dem Bühnenaufbau in Deckung, andere rannten davon, prallten ineinander, stolperten, fielen hin, verletzten sich und versperrten die Fluchtwege.

Angst, Panik und Desinformation.

Wird noch immer geschossen? Wer hat geschossen? Von wo wird geschossen? Wurde jemand erschossen?

Dazu eine Lärmkulisse wie aus einem Katastrophenfilm. Das Kreischen nach Hilfe, O-mein-Gott-Geheul, Wir-werden-alle-sterben-Hysterie. Es wurde geweint, geschrien, gewimmert und die Namen verloren gegangener Begleitpersonen wurden gerufen. Polizisten, Security, Organisatoren und Offizielle brüllten Befehle und Gegenbefehle. Aus Funkgeräten quäkten sich überschlagende Stimmen, in der Ferne war mehrfaches Sirenengeheul zu hören, jammernde Zweiklangtöne, die schnell lauter wurden, und am Himmel rotorte ein gelber Hubschrauber, der eigentlich über die Verkehrssituation der Stadt wachen sollte. Am linken seitlichen Ende der Bühne knieten zwei Sanitäter am Boden, tief über eine Person gebeugt, und machten mit durchgestreckten Armen die typisch rhythmischen Bewegungen einer Herz-Lungen-Reanimation.

2

Margarethe Steinberger schimpfte.

Aber anständig leise. Beim Rückwärtsherausparken hatte sie mit der Frontstoßstange den links neben ihr abgestellten Wagen touchiert. Sie stellte den Motor ab, öffnete die Tür und stemmte sich, so rasch es ihre einundneunzig Jahre zuließen, aus ihrem Auto. »Herrje, das wollte ich nicht, da habe ich wohl nicht richtig aufgepasst.« Sie sprach laut zu sich selbst. Und ärgerte sich. Vor zwei Wochen erst hatte der Arzt sie untersucht und als weiterhin fahrtüchtig eingeschätzt. Stolz und froh war sie gewesen, denn Mobilität im Alter war wichtig, sagte sie sich. Sagten auch ihre Söhne, die Schwiegertöchter und Enkel.

Und jetzt das!

Sie hatte ihren Wagen heute Morgen gegen neun Uhr im achten Stock des Parkhauses beim Stadtparksee im Parkdeck 8 auf Parkfeld 833 abgestellt. Nach dem Besuch beim Friseur und einem anschließenden, eher frühen, Mittagessen samt Kaffee und Erdbeertörtchen im »Chez Charles« war sie vor wenigen Minuten zurückgekehrt. Das Geläut des Münsterturms hatte eben halb eins geschlagen.

Margarethe Steinberger begutachtete den angerichteten Schaden. Der weiße Wagen auf Parkfeld 832 hatte eine gut fünfzig Zentimeter lange Schramme in der rechten Vordertür. Sie sog geräuschvoll die Luft zwischen ihren dritten Zähnen ein. Seit über siebzig Jahren fuhr sie Auto, das hier war ihr erster Unfall.

»Ach, ist ja eigentlich kein richtiger Unfall, mehr nur so ein Kratzer.« Sie murrte laut und suchte fieberhaft nach dem Wort, das den Schaden hier korrekt bezeichnete. »Parkschaden, genau, Margarethe, du hast da einen Parkschaden gemacht.«

Und weil ihr vor dreißig Jahren verstorbener Mann einst Beamter auf dem Grundbuchamt gewesen war und zwei ihrer vier Söhne ebenfalls im Staatsdienst standen und für die Familie Steinberger die Begriffe Recht, Ordnung und Aufrichtigkeit stets Lebensmotto und Richtschnur gewesen waren, sah sich Margarethe Steinberger verpflichtet, ihr Vergehen der Polizei zu melden. Sie beugte sich in den Wagen, hob ihre Handtasche vom Beifahrersitz und wollte eben darin herumkramen, um ihr Handy zu suchen, als dieser Mann erschien.

Wie aus dem Nichts.

Er war jünger als sie, viel jünger, aber das waren mittlerweile eigentlich alle Menschen. Er hatte eine große, bullige Statur, rötliches, kurz geschorenes Haar und in der rechten Hand trug er eine längliche braune Stofftasche, die aussah wie das Keyboard-Futteral, das einer von Margarethes musikalisch talentierten Enkeln besaß.

Der Mann strahlte eine unglaubliche Energie aus, er vibrierte geradezu, das spürte Margarethe Steinberger sofort. Er marschierte zügigen Schrittes an ihr vorbei, sprach kein Wort, blickte sie nicht einmal an, ja drehte den Kopf gar von ihr weg und blieb dann vor Feld 832 stehen. Der Wagen mit dem Parkschaden gehörte ihm. Der Mann öffnete den Kofferraum und hievte das Keyboard-Futteral hinein.

»Entschuldigen Sie, junger Mann. Es tut mir sehr leid. Aber ich habe da vorhin beim Herausparken die rechte Vordertür Ihres Wagens touchiert. Meine Schuld. Ich gestehe alles. Und komme selbstverständlich für den Schaden auf.«

Er schaute sie nur eine Sekunde lang entgeistert an – sie würde später der Polizei zu Protokoll geben, der Mann hätte unfassbar hellblaue Augen gehabt, wie Autoscheibenwischwasser –, dann drehte er sofort wieder den Kopf weg. Margarethe Steinberger hatte den Eindruck, als verstehe er ihre Worte gar nicht.

»Sind Sie ein Ausländer?«

Wortlos stieg er in den Wagen, startete den Motor, parkte zackig rückwärts heraus, drehte seinen Kopf wieder weg, als wolle er der alten Dame unter keinen Umständen ins Gesicht schauen, und schoss mit quietschenden Reifen davon. »Sie da! Etwas gar schnell«, rief sie ihm hinterher. »Wir hier in der Schweiz haben in den Parkhäusern Tempo zwanzig.« Aber dann kam ihr in den Sinn, dass der Ausländermann ja ihre Sprache nicht verstand.

Sie überlegte kurz, was jetzt zu tun war, kramte dann in ihrer Handtasche, zog einen Taschenkalender hervor und notierte mit dem dazugehörenden kleinfingerlangen goldenen Kugelschreiber Ort, Datum und Uhrzeit. Dazu Automarke, Farbe und Kennzeichen des Wagens, den sie beschädigt hatte. »Margarethe, du weißt, was du zu tun hast. Ich begehe doch keine Fahrerflucht. Man weiß schließlich, was sich gehört.« Sie würde schnurstracks zum nächsten Polizeiposten fahren und den Parkschaden melden. Also stieg sie, so rasch es ihre einundneunzig Jahre zuließen, wieder in den Wagen.

Bevor sie die Tür zuzog, stutzte sie. Da draußen irgendwo, gar nicht mal so weit weg, vernahm sie viel Lärm. Sicher wieder so eine Demonstration mit Krawall. Sie hörte heranheulende Polizeiwagen. Oder war das die Feuerwehr? Die Ambulanz? Wer kannte schon den Unterschied? Da knatterte sogar ein Hubschrauber am Himmel. Und Margarethe Steinberger war, als hörte sie Menschen schreien.

***

Zwei Stunden und fünfundfünfzig Minuten nach dem Attentat kamen die Mitglieder der Sonderkommission erstmals zusammen. Soko Saminada. Einundzwanzig Personen. Vertreter von Polizei, Militär, Bundespolizei, Staatsanwaltschaft, Nachrichtendienst und Regierung trafen sich in einem fensterlosen Konferenzraum in der obersten Etage des Hauptgebäudes der Stadtpolizei.

Ein Mitarbeiter des Nachrichtendienstes projizierte mit einem Beamer Listen und Diagramme an die Wand, während seine Kollegin an einer großen Glaswand eine Menge Fotos befestigte, gelbe Post-it-Zettel mit handschriftlichen Infos und DIN-A4-große, dicht beschriebene Dokumente. Mit einem roten Markierstift zog sie lange Linien, die aufzeigten, welche Fakten zusammengehörten. Was passiert, was gesichert, was unklar war.