Helga Sadowski
Fantasy
Deutsche Erstausgabe
2020
© Mystic Verlag
Text: Helga Sadowski
Umschlagskonzept/Umschlaggestaltung: Helga Sadowski
unter Verwendung von Fotos
Pixabay
Lektorat: Sven Haupt/ Christine Jurasek
Korrektur: Anke Tholl
Satz: Helga Sadowski
ISBN: 978-3-947721-49-8
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Die Kinder sind verschwunden
Was mit den Kindern geschah
Wo sind wir hier?
Bei Familie Pfefferminz
Der Kreiselpavillon
Der Irrgarten
Durchs Gedankenland
Annas Wut
Die Eiskristallhöhle
Es brennt
Anna auf dem Weg
Pläne
Anna in höchster Gefahr
Der Hochstand
Bei der Kräuterfrau
Anton baut den Hochsitz
Troddeln und ein tiefes Loch
Wo ist das Portal
Abschied
Grete kehrt heim
Anna flieht
Wache halten
Es juckt
Leuchtie
Wiedersehensfreude und Wahrheiten
Ein besonderes Geschenk
Danke
Verzweifelt rannte Frau Grünfutter durch das beschauliche kleine Dorf mit seinen, an der einzigen Straße, gelegenen großen und kleinen Bauernhöfen und rief: »Klaus! Anna! Lotte, wo seid ihr?«
»Was ist los?« Herr Droll lehnte an seinem Gartenzaun im Schatten einiger alter Kastanien.
»Meine Kinder sind verschwunden«, erklärte die gehetzt um sich schauende Frau. »Es wird bald dunkel. Sie sollten auf unserem Grundstück bleiben. Ich hatte ihnen ausdrücklich verboten, weiter wegzugehen.« Sie kämpfte mit den Tränen. »Ihnen ist bestimmt etwas Schreckliches passiert! Sie sind doch noch so jung.«
Der Mann trat zu ihr auf die Straße hinaus und versuchte, sie zu beruhigen.
»Nun nehmen Sie doch nicht gleich das Schlimmste an, Frau Grünfutter. Ihre Anna ist doch schon fast dreizehn und Lotte acht, die werden bestimmt auf den kleinen Klaus aufpassen.«
Durch den ungewohnten Lärm auf der Straße wurden die Dorfbewohner aufmerksam. In Windeseile verbreitete sich die Neuigkeit in ganz Kleinlandfurt. Bis auf wenige, die nicht gut zu Fuß waren, kamen alle zusammen. Frau Droll nahm fürsorglich Frau Grünfutter in den Arm und versuchte, sie ins Haus zu führen.
»Komm, Mona, ich mache dir einen Tee und alle anderen gehen suchen.
»Was ist denn hier los?«, fragte Walter Mitotisch, der Dorfpolizist, der eben gekommen war, und schaute in die Runde. Alle redeten durcheinander.
»Stopp!« Der Mann in Uniform hob beide Hände. »So geht das nicht! Mona, erzähl mir bitte ganz genau, was sich zugetragen hat.« Auffordernd schaute er die weinende Frau an.
»Walter, meine Kinder sind weg«, schluchzte sie, »statt mir unnötige Fragen zu stellen, sollten wir lieber nach ihnen suchen.« Der Unmut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Herr Mitotisch schüttelte den Kopf und versuchte zu erklären. »Aber Mona, ich kann doch nicht das ganze Dorf auf die Suche schicken, ohne zu wissen, was passiert ist.«
Ein Blick in ihr verzweifeltes Gesicht ließ ihn einlenken. Er teilte alle Anwesenden in Gruppen zu fünf Leuten ein und schickte sie in verschiedene Richtungen. Sie holten sich Taschenlampen und Pechfackeln aus ihren Häusern und begaben sich auf die Suche nach den vermissten Kindern.
Der Polizist wandte sich erneut an Frau Grünfutter.
»So, nun suchen alle und du erzählst mir, was geschehen ist.«
»Nein!«, protestierte sie heftig. »Ich werde auch weitersuchen. Du glaubst doch nicht, dass ich untätig bleibe?« Walter Mitotisch schüttelte energisch den Kopf.
»Du wirst mich jetzt zu dir nach Hause begleiten und auf dem Weg berichtest du mir ausführlich. Vielleicht sind deine Kinder inzwischen zurück.«
Frau Droll pflichtete ihm bei: »Ja Mona, der Walter hat recht, geh mit ihm, bitte.« Mutlos senkte Frau Grünfutter den Kopf, ließ ihre Schultern hängen und trottete neben Herrn Mitotisch die Dorfstraße hinunter. Sie hatte keinen Blick für die Reetgedeckten Fachwerkhäuser und ihre schmucken Vorgärten. Überall waren schon Vorboten des nahenden Herbstes zu erkennen. Die Fettehennen verfärbten sich bereits von ihrem einheitsgrün ins Altrosa.
»Nun erzähl schon!«, forderte Walter Mona erneut auf.
Stockend berichtete sie: »Anna war heute besonders aufsässig, sie wollte partout noch zur alten Scheune hoch, um dort einige aus ihrer Klasse zu treffen. Ich weiß aber, dass sich da nur eine Handvoll Jungen trifft. Also habe ich es ihr verboten. Sie durfte das Grundstück nicht verlassen. Ich bin erst zur Scheune gelaufen, nachdem ich bemerkt hatte, dass meine Kinder nicht mehr da waren. Aber dort habe ich niemanden angetroffen.« Sie liefen einen schmalen Feldweg entlang, der zwischen golden schimmernden Weizenfeldern hindurchführte und von üppig blühenden Kornblumen und Klatschmohn gesäumt wurde. Walter Mitotisch schwieg eine Weile und wirkte nachdenklich.
»Na gut«, meinte er schließlich, »ich hole jetzt meinen Hund und du gibst mir etwas, was nach deinen Kindern riecht, und bleibst hier, für den Fall, dass sie noch auftauchen, verstanden?« Ein eindringlicher Blick traf Frau Grünfutter.
Sich ihrem Schicksal ergebend holte sie einige Kleidungsstücke aus dem Haus und drückte sie ihm in die Hand.
»Bitteschön. Ich werde warten, auch wenn es mir schwerfällt. Tante Grete macht sich bestimmt schon Sorgen. In ihrem Alter sollte sie sich nicht mehr zu sehr aufregen. Ich werde nach ihr sehen.«
»Das ist eine gute Idee. Solche Aufregungen tun ihr bestimmt nicht gut, Mona. Die Grete ist zwar mit ihren über einhundert Jahren noch rüstiger als so mancher junge Hüpfer hier im Dorf. Trotzdem solltest du sie nicht allein lassen.« Nach diesen Worten eilte er davon.
Frau Grünfutter schaute ihm nach, bis er ihren Blicken entschwunden war, bevor sie ins Haus ging.
Die Tante schlief seelenruhig in ihrer Kammer. Mona deckte die alte Frau sorgsam zu.
Der Mitotisch hat recht, sie sieht ausgezeichnet aus für ihr Alter, dachte Mona und betrachtete die Schlafende kurz. Sie seufzte, verließ leise den Raum und schloss die Tür.
Die nächsten Stunden verbrachte Mona damit, in ihrem Haus von einem Fenster zum anderen zu laufen. Aus jedem starrte sie eine Weile in die Dunkelheit hinaus. Manchmal sah sie die Lampen und Fackeln der Suchenden in der Ferne aufblitzen. Ihre Hoffnung auf ein gutes Ende schwand von Stunde zu Stunde.
Gegen Morgen erwachte Grete und gesellte sich zu ihr. Sie versuchte Mona mit allerlei Erklärungen zu beruhigen. Leider ohne Erfolg.
Die Dorfbewohner hatten alle Orte, die infrage kamen, nach den Kindern abgesucht. Schließlich kam einer der mitsuchenden Dorfbewohner auf die Idee, noch einmal in der abgelegenen Scheune nachzusehen obwohl sie wussten, dass Mona dort bereits ergebnislos gesucht hatte.
Die Taschenlampen des Suchtrupps warfen schmale Lichtkegel auf den Weg, der durch das kleine Waldstück zur Scheune hinaufführte. Nach kurzer Zeit erreichten die Männer um Herrn Mitotisch die baufällig wirkende Scheune des verlassenen Bauernhofes.
»Klaus, Anna, Lotte, seid ihr hier?«, rief Herr Droll in das in der Morgendämmerung dastehende Gebäude. Er wollte sich schon abwenden, als er ein Geräusch wahrnahm. »Psst!« Er legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. Alle hielten den Atem an und lauschten angestrengt. Ein Rascheln drang an ihre Ohren.
»Anna, Klaus, Lotte, seid ihr das?«, rief Herr Droll und trat ein. Er ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch den Innenraum schweifen. Eine Katze fauchte und rannte davon. Herr Droll näherte sich vorsichtig der Leiter, welche zum Heuboden hinaufführte. Stellenweise hingen uralte Spinnweben zwischen ihren Sprossen. Staub lag Fingerdick überall.
»Schaut mal, diese Leiter hat doch kürzlich jemand benutzt. An den Sprossen fehlt teilweise der dicke Staub. Ich klettre hinauf und schau mich dort oben mal um.« Die alten Sprossen ächzten unter seinem Gewicht. Unruhig zitterte der Lichtstrahl seiner Lampe über die Dielenbretter. Die Bodenklappe stand weit offen, davor lag die rote Kappe, welche Klaus immer getragen hatte.
Der Dorfpolizist, welcher mittlerweile ebenfalls hinaufgekommen war, hob sie auf und leuchtete suchend durch das Loch nach unten. Darunter sah er nur einige unberührt wirkende Heuballen. Ihre Begleiter schauten durch die Klappe zu ihnen hinauf. Er zeigte seinen Fund. Ansonsten fehlte von den Kindern jede weitere Spur.
Am frühen Morgen stellte man die Suche zunächst ein. Die Helfer schlurften erschöpft nach Hause, nur wenige standen noch diskutierend zusammen.
Frau Grünfutter machte sich zu dieser Zeit auf den Weg zum Polizeigebäude mitten im Dorf, direkt neben der Feuerwache. Dort wartete sie, ungeduldig auf und ab gehend, auf Herrn Mitotisch, der einige Zeit später mit seinem Hund von der Suchaktion zurückkehrte.
»Habt ihr etwas gefunden?«, stürmte sie auf ihn ein.
»Beruhige dich bitte!«, versuchte er, die aufgeregte Frau zu beschwichtigen. »Setz dich.« Sie nahm in der kleinen alten Wache auf einem der wackeligen Stühle Platz. Unruhig zappelte sie mit ihren Beinen und Tränen traten ihr in die Augen.
»Was, wenn meine Kinder nie gefunden werden? Wir müssen doch etwas tun können. Bitte, Walter, hilf mir.« Ihr flehender Blick hing am Gesicht des alten Wachtmeisters. Er schluckte schwer. Ein dicker Kloß saß in seinem Hals.
»Wir haben im weiten Umkreis jeden Stein umgedreht«, erklärte er leise. »Glaube mir, wir sind mit unserem Latein am Ende. Mein Hund bleibt immer vor dieser Klappe auf dem Dachboden des alten Heuschobers stehen. Dort verliert sich die Spur der Drei. Es tut mir leid.« Er senkte betrübt den Kopf und reichte ihr Klaus’ Kappe. »Mehr haben wir bis jetzt leider nicht gefunden. Sie lag in der Scheune, oben auf dem Söller neben der Bodenklappe.«
Mit zitternden Händen ergriff Mona Grünfutter die Kopfbedeckung, drückte sie fest an ihre Brust und schluchzte. Sie nahm eine aufrechte Haltung an und schaute mit leeren Augen durch den Beamten hindurch. Ihr Blick hatte etwas Merkwürdiges. Die hellblaue Iris in ihren Augen hatte sich zu einem tiefen Blau verfärbt, sodass es dem Mann kalt über den Rücken hinunterlief. Tonlos sagte sie: »Tante Grete ist der Meinung, dass die Kinder bestimmt zurückkommen. Ich glaube, sie begreift gar nicht, was passiert ist.« Mona schniefte kurz und putzte ihre Nase. »Sie glaubt, die Kinder sind zu Hause, kannst du dir das vorstellen, Walter?« Er schüttelte nur ratlos den Kopf.
»Das Beste wird sein, du gehst heim und kümmerst dich um sie. Wir tun, was wir können, glaub mir!« Resigniert sackten ihre Schultern nach unten. Nach einem kurzen Abschiedsgruß trat sie ihren Heimweg an und lief die Dorfstraße entlang. Einige Nachbarn standen müde beieinander und warfen ihr verstohlen mitleidige Blicke zu. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten hinter ihrem Rücken.
»Erst der Mann und nun alle drei Kinder.«
»Nein, wie furchtbar.«
»Die arme Frau.« Mona war angestrengt bemüht, es zu überhören. Ihr Haus lag etwas außerhalb des Dorfes und der Weg führte an einer kleinen Kapelle am Wegrand vorbei. Sie lief zunächst achtlos daran vorüber, blieb kurz dahinter abrupt stehen, eilte die paar Schritte zurück und kniete vor dem Bildnis der Mutter Gottes nieder.
Leise kamen bittende, ja flehende Worte über ihre Lippen: »Maria bitte hilf, ich flehe dich an, beschütze meine Kinder und führe sie zurück nach Hause. Du bist auch eine Mutter und weißt, was ich durchmache. Ich flehe dich an, hilf uns!« Hemmungslos schluchzend sackte sie in sich zusammen. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte und imstande war, nach Hause zu gehen.
Die Tante wartete mit dem Frühstück.
»Da bist du ja wieder!« Die alte Frau lächelte freundlich. »Setz dich und frühstücke mit mir. Du musst dich beruhigen, sie kommen zurück, ganz bestimmt.«
»Woher nimmst du bloß deine Weisheiten?«, herrschte Mona Tante Grete an und zeigte ihr die gefundene Kappe von Klaus. »Begreife es endlich, alle Drei sind fort! Das ist alles, was die Männer in der alten Scheune da draußen beim verlassenen Gehöft gefunden haben. Meine Kinder sind wie vom Erdboden verschluckt.« Weinend rannte sie ins Haus.
Tante Grete lächelte kopfschüttelnd und murmelte vor sich hin: »Anna, Lotte und Klaus sind zu Hause, da bin ich mir sicher. Wo denn wohl sonst?«
Spontan stand sie auf, verließ das Grundstück und eilte durch das Wäldchen zur verlassenen Scheune. Wenig später betrat sie das windschiefe Gebäude und ging zur Leiter, die auf den Heuboden führte. Vor Aufregung hatten sich ihre Wangen gerötet.
Sprosse für Sprosse stieg sie hinauf und wendete sich zielstrebig der offenen Bodenklappe zu. Langsam trat sie näher heran, in der Finsternis verschwindende Stufen zauberten ihr ein ver-schmitztes Lächeln ins Gesicht.
»Ich wusste es, sie sind zu Hause«, murmelte sie. Vorsichtig hob sie ihr linkes Bein und …
»Halt, Ömchen!«
Sie wurde von hinten gepackt, hochgehoben und fortgetragen. »Du willst dir doch nicht den Hals brechen?« Der Dorfpolizist Walter Mitotisch hielt sie fest in seinen Armen. »Deine Nichte, die Mona, hat genug Kummer. Das fehlte gerade noch, dass du hier abstürzt.«
»Lass mich los, du Flegel!«, schimpfte Grete. »Was fällt dir ein mich Ömchen zu nennen?« Sehnsüchtig schaute sie zur Klappe hin. »Ich will doch nur endlich nach Hause!«
»Ich bringe dich ja hin!« Walter Mitotisch schob sie sanft, aber unerbittlich zur Leiter und half ihr hinunter, ob sie wollte oder nicht. Als sie draußen standen, verrammelte er den Eingang zur Scheune. »Nun mal los, ich bring dich nach Hause.« Er hakte sie unter und marschierte mit ihr los. Immer wieder warf sie einen sehnsüchtigen Blick zurück.
»Ich will nach Hause, lass mich los!«
»Was hast du gesagt, Ömchen?«
»Lass mich los, du Flegel!«, schimpfte sie lautstark.
»Ja, ja, ist schon gut«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Gleich sind wir bei euch Zuhause. Schau, deine Nichte sucht dich schon. Sei brav und mach ihr nicht noch mehr Kummer.«
Mona, die im Garten gestanden hatte, nahm sie in Empfang.
»Was machst du nur, Tante Grete, wo warst du?«
Die alte Frau sah sie traurig an und flüsterte: »Na gut, ich bleibe, aber nur bis die Kinder zurück sind, dann gehe ich nach Hause.«
Der Dorfpolizist schenkte Mona einen viel-sagenden Blick und wischte hinter dem Rücken der alten Frau mit der flachen Hand vor seiner Stirn hin und her und machte sich auf den Weg. Mona führte die Tante ins Haus.
»Komm rein Grete, ich mache dir einen Kaffee und dann ruhen wir uns aus. Ich bin so schrecklich müde und kann mich fast nicht mehr auf den Beinen halten. Dr. Mauser war eben hier und hat mir etwas zur Beruhigung gegeben.« Wie zur Bestätigung gähnte sie vernehmlich. Grete sah Mona mitleidig an.
»Ach Kind, da hätte ich ja beinahe was ganz Dummes gemacht. Ich verspreche dir, solange die Kinder nicht zurück sind, bleibe ich bei dir!« Sie führte ihre Nichte ins Wohnzimmer und sorgte dafür, dass diese sich auf das Sofa legte, deckte sie sorgsam mit einer karierten Decke zu und strich ihr sanft über das wirr liegende Haar. Die Ärmste schlief schon, bevor Grete den Raum verlassen hatte.
Anna war schrecklich wütend aus der Schule nach Hause gekommen. Bodo und Peter hatten sich über sie lustig gemacht.
Kann ich was dafür, dachte sie aufgebracht, dass ich so viele Sommersprossen habe? Wenn Papa noch da wäre, dann könnten die schrecklichen Jungs was erleben. Papa hat mir immer geholfen. Er fehlt mir so sehr. Sie erreichte gerade ihr Zuhause, als ihre Schwester Lotte angerannt kam und sie aus ihren grimmigen Gedanken riss. »Hallo Anna«, jubelte sie etwas außer Atem, »wie war es in der Schule? Ich habe in Mathe eine Eins geschrieben!«
Anna maulte ihre Schwester an: »Schön für dich! Wen interessiert das?«
Lotte schaute traurig und murmelte: »Welche Laus ist dir denn schon wieder über die Leber gelaufen? Kannst du dich nicht auch mal mit mir freuen?«
»Nein!«, giftete Anna. »Lass mich einfach in Ruhe.« Sie eilte ins Haus, die Treppe hinauf, verschwand in ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. So ein Mist, dachte sie. Immer ärgern die Typen mich. Ich hasse sie! Seit Papa nicht mehr da ist, hat mich niemand mehr lieb. Wütend schleuderte sie ihre Schultasche in eine Ecke und warf sich weinend bäuchlings auf ihr Bett. Die Mama will immer nur, dass ich mit Lotte und Klaus spiele. Das ist nervtötend. Ich bin doch nicht deren Kindermädchen. Ich wäre viel lieber mit den anderen aus meiner Klasse zusammen. Aber sicher nicht mit den beiden lästigen Anhängseln! Heute treffen die sich wieder auf dem verlassenen Bauernhof in der Scheune.
Sie richtete sich auf, wischte die Tränen fort und betrachtete mit einem kritischen Blick ihr Gesicht in dem Spiegel auf ihrer Kommode. Das Einzige, was an mir hübsch ist, sind meine Haare. Sie sammelte ihren Schopf am Hinterkopf zusammen. »Ob ich mir die einfach abschneiden sollte?«, überlegte sie laut. »Nein! Das löst nicht meine Probleme.« Erschrocken schaute sie sich um. Kommt da jemand? Sie lauschte kurz. Nein doch nicht. Ihr Blick glitt an ihrem Körper hinunter. Was da ihr Shirt nur leicht ausbeulte, gefiel ihr gar nicht. Marie Schulze aus der Parallelklasse hat schon viel mehr als ich, dachte sie betrübt. Der Peter glotzt ihr da dauernd hin. Ein tiefer Seufzer entstieg ihrer Kehle bei dem Gedanken an ihren heimlichen Schwarm. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und schob schmollend ihre Unterlippe nach vorne. Ziehe ich halt weiter Schlabberpullover an. Ihre Gedanken wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.
Lotte war inzwischen zu Tante Grete und ihrer Mutter in die Küche geeilt, um ihre gute Note zu präsentieren.
»Lotte, das hast du sehr schön gemacht, ich bin stolz auf dich.« Mona drückte das Mädchen kurz an sich. »Gehst du bitte zum Kindergarten und holst Klaus ab. Ich mache in der Zeit das Mittagessen fertig, es gibt heute dein Leibgericht: Reibekuchen mit Apfelmus. Wie du siehst, reibt Tante Grete schon die Kartoffeln. Trödelt bitte nicht.« Lotte strahlte. So viele gute Sachen an einem Tag passierten nicht oft.
»Mama, bald ist Annas Geburtstag. Weißt du, was ich ihr schenken könnte? Es muss etwas ganz Besonderes sein, damit sie nicht mehr so traurig und böse ist.«
»Ist sie oben?«, fragte die Mutter und richtete ihre Augen kurz zur Decke hinauf. »Ich schaue gleich mal nach ihr, nun lauf, sonst muss Klaus warten. Kleine Jungs mögen das nicht, das weißt du doch.«
»Ich bin schon weg!«, rief Lotte und flitzte los. Mona stieg die Treppe hinauf, klopfte an Annas Tür und fragte: »Darf ich hereinkommen? Ich muss mit dir reden.«
»Lass mich in Ruhe!«, kam es barsch aus dem verschlossenen Raum, »ich will nicht reden, verschwinde!« Mona schluckte und kämpfte ihren Unmut hinunter. »Es gibt Reibekuchen zu Mittag.« Es blieb kurz still hinter der Tür, doch dann schrie Anna: »Ich habe keinen Hunger, Lotte wird die schon essen!« Mona setzte an, etwas zu erwidern, überlegte es sich aber und kehrte in ihre Küche zurück. Sie dachte: Wird das jetzt immer so weitergehen mit ihr? Seit Paul nicht mehr bei uns ist, hat Anna sich sehr verändert. Sie wird von Tag zu Tag schwieriger. Wo ist nur mein fröhliches Mädchen geblieben. Bald komme ich gar nicht mehr an sie heran. Was kann ich nur tun?
In der Küche hatte Tante Grete soeben ange-fangen, die Zwiebeln zu reiben, was ihr Tränen in die Augen trieb. Sie schaute kurz auf und wusste Bescheid.
»Ach Mona, ist sie mal wieder unausstehlich? Hab’ Geduld mit ihr, sie hat den Verlust noch nicht verkraftet.«
Anna starrte grimmig die Tür an. Sollen die doch die blöden Reibekuchen selbst essen! Vernehmlich zog sie den Rotz in ihrer Nase hoch. Gleich muss ich Mama die Fünf im Diktat beichten, das wird ein Theater geben. Am besten zeige ich es erst gar nicht. Anna stand auf und setzte sich an den Schreibtisch unter dem Fenster. Sie nahm sich ein Schmierblatt nebst Stift und übte eifrig die Unterschrift ihrer Mutter.
Am Nachmittag hatte Anna sich wieder beruhigt und die Unterschrift unter das Diktat gesetzt. Das sonnige Herbstwetter lockte Lotte und Klaus nach draußen.
Anna nahm ihren ganzen Mut zusammen, lief die Treppe hinunter in die Küche und fragte: »Mama, darf ich um sechzehn Uhr zur alten Scheune gehen? Welche aus meiner Klasse gehen zum Spielen dorthin.« Mona zog eine Augenbraue hoch, doch bevor sie etwas sagen konnte, warf Lotte ein: »Da will ich dann aber auch mit!«
»Ich auch«, meinte Klaus etwas undeutlich, da er den Mund noch voll Pudding hatte.
Anna lief rot an und keifte: »Auf gar keinen Fall, euch will ich nicht dabeihaben. Ihr seid ja noch Babys!« Mona setzte erneut an, wurde aber vom Protestgeschrei der beiden jüngeren Geschwister übertönt. Sie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Augenblicklich wurde es still in der Küche.
»Anna, du bleibst hier am Haus, genau wie Lotte und Klaus. Keine Widerrede! Ich will nicht, dass einer von euch zu dieser Scheune geht. Die ist baufällig und das Spielen dort viel zu unsicher!« Ein strenger Blick aus ihren hellblauen Augen ließ die Kinder verstummen. An Annas Gesichtsausdruck sah Mona sehr wohl, dass sie gerne widersprechen würde. »Keine Diskussionen jetzt, ab mit euch. Oder muss noch jemand was lernen?« Die Mädchen schüttelten die Köpfe. »Gut, dann hinaus mit euch. Ich habe noch einiges zu nähen. Um sechs gibt es Abendbrot. Zieht euch wärmer an.«
Klaus hatte inzwischen seinen Mund leer und fragte: »Mama, hast du noch Batterien für meine Taschenlampe?« Er zog eine kleine blaue Stablampe aus seiner Hosentasche und betätigte den Schieber daran. »Schau, sie leuchtet nicht mehr.« Liebevoll schaute Mona ihren Jungen an und sagte: »Aber Klaus, da draußen scheint die Sonne, wozu brauchst du da die Lampe?«
Er setzte eine wichtige Miene auf und erklärte: »Mama, wenn ich mal in ein tiefes Loch fallen sollte, muss ich doch Licht dabeihaben.« Mona schmunzelte und sagte: »Geh in den Flur, dort in der obersten Schublade der Kommode sind bestimmt noch welche.«
Diese Taschenlampe hat sein Vater ihm geschenkt, dachte sie wehmütig. Der Junge geht keinen Schritt ohne sie.
Tante Grete hatte inzwischen warme Pullover für die Kinder aus dem alten Dielenschrank geholt. Anna verzog angewidert ihren Mund und stöhnte laut.
»Muss das sein?«, maulte sie ungehalten. »Ich will den nicht anziehen, der sieht doof aus.«
»Ja, das muss sein!«, sagte die Tante und reichte den Kindern die wärmenden Kleidungsstücke. Missmutig zog Anna den verhassten Ringelpullover an und stopfte ihn in ihre Latzhose. Immer muss ich tun, was die wollen, dachte sie grimmig. Die Klamotte lässt mich fett aussehen. Einige schlimme Worte lagen ihr auf der Zunge, doch sie beherrschte sich. Das Risiko, gar nicht hinaus zu dürfen, war ihr dann doch zu groß. Draußen ziehe ich den eh wieder aus, dachte sie trotzig. Und zur Scheune gehe ich auf jeden Fall. Lotte spielt gerne mit Klaus. Sie verdrehte die Augen. Ich habe keine Lust, auf den Affen aufzupassen. Tante Grete half dem Jungen beim Anziehen. Nicht mal allein in seine Klamotten kommt der und wie der wieder aussieht mit dieser ewigen Rotznase, eklig. Ich gehe jetzt in Mutters Zimmer und hole mir die kleine Kette mit dem goldenen Kreuz daran. Lisa gibt immer mit ihren neuen Ohrringen an. Eilig lief sie nach oben und kam schon bald mit einem listigen Lächeln um die Mundwinkel zurück.
Draußen trat Anna so manchen Stein wütend in die umliegenden Büsche. Es tat gut, Dampf abzulassen. Mürrisch folgte sie ihren Geschwistern. »Du meine Güte, Lotte«, fragte sie mit Spott, »musst du diesen blöden Teddy immer und überall mit hinnehmen? Du bist schon acht und schleppst dich mit einem Stofftier ab.« Die Angesprochene schenkte ihr lediglich einen bitterbösen Blick, mehr nicht.
Anna setzte sich auf eine der beiden Schaukeln, die an der großen Kastanie hingen. Die hat der Papa hier für uns aufgehängt, kurz bevor es passiert ist, dachte sie. Ihr wurde immer traurig zu Mute, wenn sie sich daran erinnerte, dass ihr Papa nie mehr wiederkommen würde. Warum bei diesem Gedanken das Kreuz, welches sie an einer Kette um ihren Hals trug, auf ihrer Haut brannte, konnte sie sich nicht erklären.
Die Zeit wollte gar nicht vergehen. Es war kurz vor sechzehn Uhr, als Lotte zur Toilette ins Haus ging. Klaus spielte in seiner Sandkiste mit dem Rücken zu Anna. Das war die Gelegenheit! Sie rannte los in Richtung Wäldchen, welches ihr Zuhause von der Scheune abgrenzte. Unterwegs legte sie das Kreuz nach außen auf ihren Pullover, damit es deutlich zu erkennen war.
Sie passierte eilig den Weg zwischen den wenigen Bäumen und kam bald bei der alten Scheune des verlassenen Gehöftes an. Von den anderen Kindern war keines zu sehen. Doch eine, ihr wohlbekannte Stimme fragte plötzlich: »Können wir da mal reingehen?« Anna wirbelte erschrocken herum und verbarg hastig das Kreuz unter ihrem Pullover.
»Klaus, was tust du hier?«, schrie sie ihren Bruder an. »Bist du mir nachgelaufen? Mach, dass du nach Hause kommst!« Da kam Lotte mit ihrem Teddy unterm Arm den Weg hinaufgehetzt.
»Gut«, keuchte sie, »gut, dass ich euch gefunden habe. Wir dürfen hier nicht hin, dass wisst ihr genau!« Klaus schaute seine Schwestern bittend an und zeigte auf die baufällige Scheune.
»Ich möchte da mal hineingehen und schauen, bitte!«
»Nein!«, meinte Anna patzig. »Auf keinen Fall darfst du das! Ihr beide geht sofort zurück, ich komme später nach.«
Lottes Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
»Wenn du hierbleibst, bleiben wir auch. Du glaubst wohl, ich weiß nicht, was du hier wirklich willst. Der Peter aus deiner Klasse kommt auch her, und in den bist du verknallt!«
Anna wurde rot.
»Warum nicht?«, rief Klaus trotzig dazwischen und schaute herausfordernd zwischen den beiden Mädchen hin und her, die aussahen, als wollten sie aufeinander losgehen. Lotte drehte langsam ihren Kopf, sah ihn an und flüsterte geheimnisvoll: »Weil es in der Scheune spukt!« Sie drückte unbewusst ihren Bären fester an sich. »Dort gibt es echte Geister und dicke, fette Ratten.«
In Klaus’ Augen blitzte es verdächtig auf.
»Gespenster? Die will ich sehen!« Wie ein geölter Blitz rannte er los in Richtung Scheune. Lotte rief ihm nach: »Bleib hier, Klaus! Komm zurück, das ist gefährlich!« Doch der Junge verschwand schon im Inneren des Gebäudes. Den Schwestern blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie betraten die Scheune und sahen gerade noch, wie Klaus die Leiter zum Heuboden hinaufkletterte. Anna spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Ihre Nackenhaare richteten sich auf.
»Du kommst sofort da runter!«, schrie sie. »Wenn ich dich holen muss, werde ich dich schrecklich verprügeln!«
Klaus schien das wenig zu beeindrucken. Er betrat den Heuboden und lief auf die offene Bodenklappe zu. Die Mädchen dachten nicht weiter darüber nach, denn unter der Klappe lagen mehrere Schichten zum Teil aufgeplatzte Heuballen. Wenn er da runter plumpsen würde, landete er weich. Er verschwand aus ihrem Blickfeld, doch er fiel nicht.
»Klaus!«, rief Lotte. »Klaus, zeig dich, wo hast du dich versteckt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, kletterte Anna sichtlich genervt die schmutzstarrende Leiter hinauf. Lotte folgte zögerlich mit ihrem Teddy im Arm. Sie suchten in allen Ecken, hinter jedem Heuballen, nichts. Schließlich schaute Lotte die offene Bodenklappe näher an.
»Nanu?«, meinte sie. »Wieso kann man hier nicht hindurchschauen? Da drin ist es dunkel. Nur ein paar Stufen sind zu erkennen.« Anna zog eine Augenbraue hoch und trat näher.
»Was du dir da wieder ausde…«, lamentierte sie ungehalten, um dann festzustellen: »Komisch, man müsste eigentlich die Heuballen da unten liegen sehen.« Sie rubbelte ihre Nase, wie immer, wenn sie angestrengt überlegte. »Ich geh da jetzt runter und suche nach Klaus!«
»Nein!«, rief Lotte. »Tu das nicht. Dann verschwindest du bestimmt auch. Schau, da liegt seine rote Kappe, er ist bestimmt nicht da unten.« Anna schaute sie mit zu Schlitzen verengten Augen an und fauchte: »Die habe ich gesehen. Von mir aus kann der Bengel gerne bleiben, wo immer er ist. Ich wollte euch nicht mitnehmen, aber ihr musstet mir ja unbedingt nachlaufen.«
Lottes Augen wurden feucht. Sie schluckte und zischte: »Das ist gemein! Klaus ist unser Bruder, ich mag ihn.«
»Du magst ja auch deinen blöden Teddy!« Anna schaute suchend umher und fand ein Stück Schnur. »Hör zu Lotte, wir binden uns aneinander. Du bleibst hier stehen und ich klettere da runter. Der Blödmann könnte sich verletzt haben.« Lotte schaute ängstlich.
»Bitte, tu das nicht!« Es traf sie ein strenger Blick von Anna. Dass sie die Schwester nicht aufhalten konnte, wurde ihr schlagartig klar. Anna befestigte das eine Ende der Schnur mit einer Schlinge an ihrem rechten Handgelenk und das andere an Lottes linkem.
»Bitte, Anna lass mich nicht allein!«, flehte die kleine Schwester. »Was soll ich machen, wenn du auch verschwindest?«
»Stell dich nicht so an!«, schimpfte Anna. »Ich komme wieder, sobald ich dieses miese Balg gefunden habe.« Lotte platzte der Kragen.
»Klaus ist gar nicht mies und ein Balg schon überhaupt nicht! Das bist du selber!« Sie hatte einen hochroten Kopf bekommen. »Warum kannst du nicht einmal nett sein? Ich verstehe dich nicht.«
»Wie solltest du auch, du weißt ja gar nicht, was ich weiß und gesehen habe.« Sie wendete sich um und schickte sich an, die erste Treppenstufe zu betreten, doch Lotte riss sie zurück.
»Sofort will ich wissen, was du damit gemeint hast!« Anna machte ein wütendes Gesicht und presste zwischen ihren Zähnen hervor: »So, das willst du also wissen, ja? Na gut, Klaus ist schuld, dass Papa nicht mehr bei uns ist. So, nun weißt …!« Weiter kam sie nicht, denn Lotte versetzte ihr eine schallende Ohrfeige und schrie: »Das lügst du!«
Anna schlug postwendend zurück. Lotte kam ins Straucheln und kippte nach hinten. Sie ließ ihren Teddy fallen, der sogleich spurlos in der Dunkelheit unter ihr verschwand, und ruderte verzweifelt mit ihren Armen, um nicht in das schwarze Loch zu stürzen. Doch es half nicht, sie fiel und verschwand augenblicklich, einfach so, genau wie Leuchtie zuvor. Anna hielt erschrocken den Atem an. Die Schlinge an der Schnur von Lottes Hand lag leer vor ihren Füßen.
»Lotte!«, rief sie in das dunkle Loch hinunter, »Lotte, es tut mir leid, das wollte ich nicht. Bitte komm zurück!« Doch sie bekam keine Antwort. Der Schweiß brach ihr aus und dicke Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Was soll ich tun?, dachte sie verzweifelt. Nach Hause laufen? Nein. Das glauben mir Mama und Tante Grete nicht. Hinterhergehen? Nein, oder doch? Was tue ich jetzt? Unschlüssig trat sie von einem Bein auf das andere – lief zur Leiter, kletterte einige Stufen hinunter und wieder hinauf. »Was mache ich bloß?«, murmelte Anna vor sich hin. Was soll ich nur tun?, die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Ohne die beiden kann ich mich zu Hause nicht sehen lassen. Bestimmt geben sie mir die Schuld. Sie wischte energisch mit dem Ärmel über ihr Gesicht und schaute suchend umher.
Neben der Bodenklappe war ein Balken eingebaut, an ihm band sie die Schnur mit einem Knoten fest und wickelte das andere Ende ein paar Mal um ihre Taille. Vorsichtig schob sie einen Fuß vor und wieder zurück. Unschlüssig wiederholte sie dies einige Male, bis sie sich endlich durchrang und die erste Stufe berührte. Alles, was auf dem Heuboden zurückblieb, war die Schnur, welche sie an ihrem Körper befestigt hatte und die rote Kappe. Nichts weiter erinnerte mehr an den Jungen und die zwei Mädchen.
Anna fühlte, wie sie ins Rutschen kam und unsanft auf erdigem Boden landete. Angestrengt starrten sie in die Dunkelheit und rief: »Lotte, bist du hier?«
»Hier bin ich, Anna!«, die Stimme ihrer Schwester klang zittrig und nahe. »Es ist so schrecklich dunkel hier. Wo bist du? Ich kann Leuchtie nicht finden, er ist irgendwo hingefallen.« Anna suchte tastend auf dem Boden um sich herum nach dem Teddy. Endlich bekam sie ihn zu fassen und drückte ihm auf seinen dicken Bauch. Das Herz, welches er an einem Band um seinen Hals trug, begann ein sanftes Licht zu verbreiten. Was für ein Glück, dass Lotte früher immer Angst im Dunkeln gehabt hat, dachte Anna. Zum ersten Mal war sie froh, dass ihre Schwester den Teddy stets bei sich trug.
In dieser unbekannten Umgebung spendete er Anna immerhin so viel Licht, dass sie ihre Schwester Lotte sehen konnte. Die hockte nicht weit von ihr entfernt auf dem Boden mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Ihr Gesicht sah verweint aus. Eilig sprang sie auf, fiel ihrer großen Schwester um den Hals und küsste Leuchtie. Anna drückte Lotte den Teddy in die Arme. Sie selbst war immer die Mutigere der Schwestern, doch jetzt fühlte sie sich gar nicht wohl in ihrer Haut.
»Wo sind wir hier?«, flüsterte Lotte und schaute umher. »Und wie kommen wir hier wieder raus?«
Sie befreite sich energisch aus Annas Umarmung und leuchtete mit Teddys Herz die Umgebung ab. Es sah aus wie ein unterirdischer Gang. Dessen Boden, die Wände und die Decke bestanden offenbar aus gestampftem Lehm. Nur direkt über ihnen klaffte ein rechteckiges Loch in der Decke. Es roch feucht und modrig. Die Mädchen fröstelten trotz ihrer warmen Kleidung.
»Komm, Lotte, hier rumstehen bringt bestimmt nichts, lass uns weitergehen«, meinte Anna. »Irgendwo muss Klaus ja sein. Er ist schuld, dass wir in diesen Schlamassel geraten sind. Wir haben ihm gesagt, dass er nicht in die Scheune gehen soll! Also können wir nichts dafür, oder?« Sie fasste ihre Schwester bei der Hand und zog sie energisch hinter sich her. Schritt für Schritt tappten sie in dem spärlichen Licht voran.
Der Gang endete nach wenigen Metern vor einer Wendeltreppe, welche sich hinauf ins Dunkle über ihnen schlängelte. Sie überlegten nicht lange und betraten die ausgetretene Stiege nach oben. Jede Stufe knarzte ein wenig anders unter ihren Füßen. Eine gefühlte Ewigkeit erklommen sie Stufe um Stufe.
»Ob diese Treppe jemals ein Ende hat?«, flüsterte Lotte. »Mir ist schon ganz schwindelig.«
»Was weiß denn ich!«, maulte Anna und zog sie weiter. »Komm und sei endlich still!« Schließlich hatten sie es geschafft. Die Treppe endete vor einer dicken hölzernen Tür. Anna drängte Lotte zur Seite und drückte mit aller Kraft gegen das moderig riechende Holz.
»Wie wäre es«, schimpfte sie, »wenn du mir mal helfen würdest!« Die Angesprochene stemmte sich ebenfalls gegen die Tür. Doch diese gab nicht einen Zentimeter nach.