Philippe Sands
Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht
Lügen, Liebe
und die Suche nach der Wahrheit
Aus dem Englischen
von Thomas Bertram
FISCHER E-Books
Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre on International Courts and Tribunals am University College in London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u.a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. Sein Buch »Rückkehr nach Lemberg« wurde ausgezeichnet mit dem renommierten Baillie Gifford Prize 2016 und dem Wingate-Literaturpreis 2016 und war Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de
»Die Philharmonie hat gespielt. Alles ein großer Erfolg. Morgen muss ich 50 Polen erschießen lassen. Alles Liebe, Dein Hümmi!«
So schließt ein Brief Otto Wächters an seine Frau Charlotte im Dezember 1939. Jahrzehnte später begegnet Philippe Sands ihrem Sohn Horst – der Beginn einer komplexen Ermittlung: Horst versucht, seinen Vater zu rehabilitieren, Sands versucht, dessen Schuld zu beweisen.
Ausgehend von den privaten Briefen und Dokumenten der Familie Wächter entspinnt Sands eine meisterhaft erzählte Geschichte über Liebe, Intrigen und Spionage und lässt uns teilhaben an der unwahrscheinlichen Beziehung zweier Männer, die auf unterschiedlichen Seiten der Geschichte stehen.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «The Ratline. Love, Lies and Justice on the Trail of a Nazi Fugitive« bei Weidenfeld & Nicolson, einem Inprint der Orion Publishing Group Ltd., London.
© Philippe Sands, 2020
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt nach einer Idee von Orionbooks
Coverabbildung: Horst Wächter
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491072-7
Schloss Hagenberg liegt in dem 200 Einwohner zählenden Dorf gleichen Namens, das zur Großgemeinde Fallbach im Bezirk Mistelbach, 60 km nördlich von Wien, gehört. Nicht zu verwechseln mit der denkmalgeschützten Schlossanlage Hagenberg im oberösterreichischen Mühlviertel. Zu Schloss Haggenberg (so die barocke Schreibweise) siehe: [Anm. d. Übers.].
Buber-Rosenzweig-Übersetzung (1929);
Ab 22. Oktober 1943: 14. Galizische SS-Freiwilligen-Infanterie-Division; im August 1944 umbenannt in 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (gal. Nr. 1), ab 15. Januar 1945 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (ukrain. Nr. 1). [Anm. d. Übers.]
Seit Oktober 2019 Vatikanisches Apostolisches Archiv (AAV). [Anm. d. Übers.]
Für Allan, Marc und Leo,
Väter und Söhne,
und
in Erinnerung an Lisa Jardine
»Denn siehe, ich will die Meder gegen sie erwecken, die nicht Silber suchen oder nach Gold fragen, sondern die Jünglinge mit Bogen erschießen und sich der Frucht des Leibes nicht erbarmen und die Kinder nicht schonen.«
Jesaja 13:18
»Es ist wichtiger, den Schlächter zu verstehen als das Opfer.«
Javier Cercas
Die in diesem Buch erzählte Geschichte umspannt einen Zeitraum, in dem Grenzverläufe, Herrschaftsverhältnisse und Ortsnamen sich häufig änderten. So war beispielsweise die Stadt, die wir heute als Lwiw kennen, während des 19. Jahrhunderts allgemein als Lemberg bekannt und lag am Rand der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie Teil der soeben ausgerufenen unabhängigen Zweiten Polnischen Republik und hieß fortan Lwów, bis sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von den Sowjets besetzt und in Lwow umbenannt wurde. Im Juli 1941 eroberten überraschend die Deutschen die Stadt, die sie wieder Lemberg nannten und zur Hauptstadt des Distrikts Galizien im Generalgouvernement machten. Nachdem die Rote Armee im Sommer 1944 die Nazis vertrieben hatte, wurde die Stadt Teil der Ukraine und trägt seitdem den Namen Lwiw. Lemberg, Lwiw, Lwow und Lwów sind derselbe Ort.
Wie die Stadt und andere Orte, deren Namen sich im Lauf der Jahre änderten, auf den Seiten dieses Buches genannt werden sollten, war eine schwierige Frage. Ich habe mich weitgehend an die Namen gehalten, die von denjenigen benutzt wurden, die den jeweiligen Ort zu der Zeit beherrschten, über die ich schreibe.
Ottos Familie
Josef Wächter, geb. 29.12.1863, Hawran, Vater
Martha (Pfob) Wächter, geb. 23.9.1874, Wien, Mutter
Hertha (Wächter) Chaterny, geb. 1888, Schwester
Ilse (Wächter) von Böheim-Heldensinn, geb. 1900, Schwester
Otto Gustav, geb. 1901
heiratet Charlotte (Bleckmann) Wächter, geb. 1908
Otto Richard, geb. 1933
Otto, geb. 1961, ein Neffe von Horst
Lieselotte (Liesl), geb. 1934
Dario, geb. 1969, ein Neffe von Horst
Waltraut, geb. 1937
Horst Arthur, geb. 1939
Heidegund (Heide), geb. 1940
Sieglinde (Linde), geb. 1944
Charlottes Familie
August von Scheindler, geb. 1852, Großvater
Henriette (Schwippel) von Scheindler, geb. 1856, Großmutter
Carl Walther Bleckmann, geb. 1868, Vater
Margarete (Meta) (von Scheindler) Bleckmann, geb. 1878, Mutter
Hanne (Sterz) Bleckmann, geb. 1902, Schwester
Helene (Küfferle) Bleckmann, geb. 1903, Schwester
Heinrich Bleckmann, geb. 1904, Bruder
Charlotte (Wächter) Bleckmann, geb. 1908
Wolfgang Bleckmann, geb. 1909, Bruder
Richard Bleckmann, geb. 1914, Bruder
Horsts Familie
H. heiratet Jacqueline (Ollèn) Wächter, geb. 1951
Magdalena Wächter, geb. 1977, Tochter
heiratet Gernot Galib Stanfel, geb. 1968
Otto Bauer, kommissarischer Amtschef im Distrikt Galizien, Lemberg, 1943–44
Hanns Blaschke, Deutscher Klub, Juliputschist, Bürgermeister von Wien, 1943–45
Martin Bormann, Privatsekretär von Adolf Hitler, 1943–45
Josef Bühler, Stellvertreter des Generalgouverneurs Hans Frank, Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete, 1939–45
Josef Bürckel, Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien, 1939–40
Eugen Dollmann, deutscher Diplomat, SS-Angehöriger, Botschafter des Deutschen Reiches beim Heiligen Stuhl, 1939
Georg von Ettingshausen, Wiener Anwalt und NSDAP-Mitglied
Helga Ettingshausen, seine Ehefrau
Hans Fischböck, Generalkommissar in den Niederlanden, 1940–45
Trudl Fischböck, seine Ehefrau, Charlottes Freundin
Ludwig Fischer, Gouverneur des Distrikts Warschau, 1941–45
Hans Frank, Generalgouverneur der nicht in das Deutsche Reich eingegliederten polnischen Gebiete (Generalgouvernement), 1939–45
Brigitte Frank, Ehefrau von Hans Frank
Niklas Frank, Sohn von Hans Frank, geb. 1939
Alfred Frauenfeld, Juliputschist, Gauleiter der NSDAP in Wien, 1930
Odilo Globocnik (»Globus«), Gauleiter von Wien, 1938, Höherer SS- und Polizeiführer, 1939–43
Reinhard Heydrich, Chef der Gestapo, 1934–39, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), 1939–42
Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, 1933–45
Wilhelm Höttl, SS-Sturmbannführer und Geheimdienstoffizier, Kollege in Italien
Ernst Kaltenbrunner, Deutscher Klub, Führer der SS in Österreich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), 1943–45
Friedrich (Fritz) Katzmann, SS- und Polizeiführer von Galizien mit Sitz in Lemberg
Albert Kesselring, Generalfeldmarschall, Luftwaffe
Erich Koch, Reichskommissar für die Ukraine, 1941–44
Friedrich-Wilhelm Krüger, Höherer SS- und Polizeiführer, Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete, 1939–43
Karl Lasch, Gouverneur des Distrikts Galizien, 1941–42
Ludwig Losacker, Amtschef von Otto im Distrikt Galizien, Lemberg, 1941–43
Kajetan Mühlmann, Kunsthistoriker und SS-Offizier
Hermann Neubacher, Bürgermeister von Wien, 1938–40
Rudolf Pavlu, Juliputschist, Ottos Freund und Kollege, Bürgermeister von Krakau, 1941–43
Walter Rafelsberger, SS-Führer und Staatskommissar für Privatwirtschaft und Leiter der Vermögensverkehrsstelle, Wien, 1938–40
Burkhard (Buko) Rathmann, 24. Waffen-Gebirgs-(Karstjäger-)Division der SS, 1943–45
Walter Rauff, SS-Standartenführer, Gruppenleiter Amtsgruppe II D (Technik) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), 1941–43, Chef des Sicherheitsdienstes (SD) in Norditalien, 1943–45
Alfred Reinhardt, Ingenieur
Baldur von Schirach, Reichsjugendführer, 1931–40, Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien, 1940–45
Albert Schnez, Wehrmachtsoffizier
Arthur Seyß-Inquart, Bundeskanzler von Österreich, 1938, Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete, 1940–45, Horsts Pate
Karl Wolff, SS-Obergruppenführer, Höchster SS- und Polizeiführer in Italien, 1943–45
Stephan Brassloff, Professor, Universität Wien, Ottos Lehrer, 1925
Emanuel (Manni) Braunegg, enger Freund von Otto, Wien
Engelbert Dollfuß, Bundeskanzler von Österreich, 1932–34
Luise Ebner, Freundin von Otto, Bozen
Reinhard Gehlen, Wehrmacht-Geheimdienstoffizier
Friedensreich Hundertwasser, Künstler, für den Horst arbeitete
Josef Hupka, Professor, Universität Wien, Ottos Lehrer, 1925
Herbert Kappler, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom, 1940–44
Georg Lippert, Architekt, Wien
Eleonore (Nora) von Hößlin, geb. Oberrauch, Freundin von Otto, Bozen
Ferdinand Pawlikowski, Bischof, Freund der Familie Bleckmann
Erich Priebke, SS-Offizier, Rom, entkam über die Rattenlinie nach Argentinien
Dr. Franz Rehrl, Landeshauptmann von Salzburg, Eigentümer eines Hauses in Thumersbach
Franz Hieronymus Riedl, Journalist, Südtirol
Lothar Rübelt, Fotograf, Wien
Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, entkam über die Rattenlinie nach Brasilien
Hansjakob Stehle, Historiker und Autor, Bekannter von Charlotte
Josef Thorak, Bildhauer, Nachbar der Wächters, Thumersbach
Melitta Wiedemann, Journalistin
Simon Wiesenthal, Nazi-Jäger
Karl-Gustav Wollenweber, deutscher Diplomat in Rom, 1940–44
Der Zustand des Mannes in Bett neun war ernst. Gequält von hohem Fieber und einem akuten Leberleiden, konnte er weder essen noch sich auf die Dinge konzentrieren, die ihn in seinem ehrgeizigen Bestreben über weite Strecken seines Lebens angetrieben hatten.
Das Krankenblatt am Fußende des Patientenbettes bot nur spärliche Informationen: »Am 9. Juli 1949 wird der Kranke namens Reinhardt […] eingeliefert.« Das Datum stimmte, der Name nicht. Sein bürgerlicher Name war Wächter, allerdings hätte die Verwendung dieses Namens die Behörden darauf aufmerksam machen können, dass der Patient ein ranghoher Nazi war und wegen Massenmordes gesucht wurde. Er hatte früher als Stellvertreter von Hans Frank fungiert, dem Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, der drei Jahre zuvor wegen der Ermordung von vier Millionen Menschen in Nürnberg gehängt worden war. Auch Wächter war angeklagt, wegen »Massenmords«, der Erschießung und Hinrichtung von mehr als einhunderttausend Menschen. Es war eine niedrige Schätzung.
»Reinhardt« war in Rom, er war auf der Flucht. Wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Genozids« glaubte er sich von Amerikanern, Polen, Sowjets und Juden gejagt. Er hoffte, es nach Südamerika zu schaffen.
Sein Vater war auf dem Krankenblatt als »Josef« benannt, was korrekt war. Der für seinen Taufnamen vorgesehene Platz war leer. »Reinhardt« benutzte den Namen Alfredo, aber sein bürgerlicher Name war Otto.
Als Beruf des Patienten war »Schriftsteller« angegeben, was nicht ganz falsch war. Otto Wächter schrieb Briefe an seine Frau und führte ein Tagebuch, das allerdings nur wenige Einträge enthielt, die, wie ich erfahren sollte, in einer Kurzschrift oder einem Code verfasst waren, was ihre Entzifferung erschwerte. Außerdem schrieb er Gedichte, und kürzlich hatte er sogar, um die tristen Stunden eines ablenkungsbedürftigen Mannes auszufüllen, ein Drehbuch und ein Manifest über die Zukunft Deutschlands verfasst. Letzterem hatte er den Titel Quo Vadis Germania? gegeben.
Als er mächtig und frei gewesen war, hatte der Patient seinen Namen unter Dokumente gesetzt, die Menschen zu Freiwild erklärten. Sein Name erschien am Fuß wichtiger Briefe und Erlasse. In Wien beendete er die Karrieren von zweien seiner Universitätslehrer. In Krakau genehmigte er die Errichtung des dortigen Ghettos. Ein anderes, in Lemberg unterzeichnetes Schriftstück verbot es Juden zu arbeiten. Es wäre daher treffender gewesen, den Patienten hinsichtlich seiner beruflichen Beschäftigung als Anwalt, Gouverneur oder SS-Gruppenführer zu bezeichnen. In den zurückliegenden vier Jahren hatte ihn hauptsächlich der Versuch beschäftigt zu überleben – ein Mann, der sich versteckte und zu entkommen suchte und der glaubte, dass es ihm gelungen sei.
Als Alter nannte das Formular »45 Jahre«. Tatsächlich war er drei Jahre älter und hatte kürzlich seinen Geburtstag gefeiert.
Sein Familienstand wurde mit »ledig« angegeben. In Wirklichkeit war er mit Charlotte Bleckmann verheiratet, die er in seinen Briefen als Lotte oder Lo bezeichnete. Sie nannte ihn »Hümmchen« oder »Hümmi«. Das Paar hatte sechs Kinder, obwohl es mehr hätten sein können.
Auf dem Krankenblatt fand sich keine Adresse in Rom. Tatsächlich führte der Patient ein Leben im Verborgenen, in einer Mönchszelle im Dachgeschoss des Klosters Vigna Pia, das abseits am Stadtrand nahe einer Biegung des Tiber lag. Er schwamm gerne.
Das Krankenblatt ließ unerwähnt, dass der Patient von zwei Mönchen, die in Vigna Pia lebten, in das Hospital gebracht worden war.
Über seinen Gesundheitszustand wurde Folgendes vermerkt:
»Der Kranke gibt an, dass er seit 1.7. nichts mehr essen konnte, am 2.7. hohes Fieber bekam, am 7.7. eine Gelbsucht auftrat. Der Kranke ist Diabetiker; die klinische Analyse ergibt einen positiven Leberbefund: akute gelbe Leberatrophie (icterus gravis).«
Aus anderen Quellen wissen wir, dass »Reinhardt« während seines Aufenthalts im Hospital Santo Spirito drei Besucher empfing. Einer war ein Bischof, der früher Papst Pius XII. nahegestanden hatte. Ein weiterer war ein Arzt, der während des Krieges an der Deutschen Botschaft in Rom tätig gewesen war. Der dritte war eine preußische Dame, die Gattin eines italienischen Wissenschaftlers, mit dem sie zwei Kinder hatte. Sie besuchte den Patienten jeden Tag, einmal am Sonntag, dem Tag nach seiner Aufnahme, zweimal am Montag, einmal am Dienstag.
Am Mittwoch, dem 13. Juli, besuchte sie ihn zum fünften Mal. Bei jedem ihrer Besuche brachte sie ein kleines Geschenk mit, ein Stück Obst oder eine kleine Süßigkeit, wie vom Arzt vorgeschlagen.
Für die preußische Dame war es schwer, Zutritt zur Sala Baglivi zu erlangen, wo »Reinhardt« lag. Bei ihrem ersten Besuch wurde sie von einem Wächter eingehend befragt, doch sie konnte, wie der Mann sagte, »keine genaueren Angaben machen«. Man hatte sie gewarnt, sie solle diskret sein, lediglich sagen, sie gehöre zu den »Freunde[n] von der Kirche«. Sie wiederholte die Worte, am Ende ließ der Bewacher sich erweichen. Mittlerweile, bei ihrem fünften Besuch, erkannte man sie bereits.
Die Dame zeigte sich beeindruckt von der Weitläufigkeit der Sala Baglivi. »Wie eine Kirche«, erzählte sie der Frau des Patienten, die laut Krankenblatt nicht existierte. Sie war dankbar für die Kühle des weiten Raumes, der eine Zuflucht vor der Hitze des Tages bot, wenn sie von ihrer Wohnung zu Fuß herkam, vorbei an der Piazza dei Quiriti und dem Brunnen, der Mussolini zu der Äußerung veranlasst hatte, in einem Park hätten vier nackte Frauen nichts verloren.
Sie ging vorbei an der kleinen Kapelle, wandte sich nach rechts, betrat die Sala Baglivi und näherte sich dem Bett des Patienten, wo sie anhielt. Sie begrüßte ihn, sprach ein paar Worte, verschaffte ihm mit einem feuchten Tuch Kühlung, wechselte sein Hemd. Sie zog den kleinen Hocker unter dem Bett hervor und setzte sich, um Konversation und Trost anzubieten. Ein neuer Patient im Bett nebenan bedeutete weniger Privatsphäre, was sie auf ihre Worte achten ließ.
Der Patient hatte wenig zu sagen. Zur Behandlung der Infektion hing er an einem Penicillin-Tropf, das Medikament senkte zwar das Fieber, schwächte ihn aber auch. Er sollte nur wenig zu sich zu nehmen, Kaffee mit Milch, ein paar Tropfen Orangensaft mit einem Teelöffel Traubenzucker. Die Ärzte ermahnten ihn, seinen Magen zu schonen.
Bei jedem Besuch bemerkte die Dame eine Veränderung. Am Montag war der Patient schwach und sprach wenig. Am Dienstag wirkte er frischer und gesprächiger. Er erkundigte sich nach Briefen, die er erwartete, und äußerte die Hoffnung, dass sein ältestes Kind, das ebenfalls Otto hieß, ihn vielleicht besuchen würde, bevor der Sommer vorbei war.
Seine heutigen Worte waren ermutigend, auch wenn der Körper schwächer wirkte. »Es geht viel, viel besser«, sagte der Patient. Sie flößte ihm einen Teelöffel Orangensaft ein. Einen einzigen. Sein Verstand war klar, seine Augen strahlten.
Der Patient schaffte einen längeren, zusammenhängenden Gedanken: »Wenn Lo jetzt nicht kommen kann, so macht das gar nichts, ich bin ihr in den letzten langen Nächten so unendlich nah gewesen, und ich bin froh, dass wir so stark verbunden sind, sie versteht mich ganz und es ist alles richtig, so wie es war …«
Er loderte innerlich, verspürte aber keinen Schmerz. Er wirkte ruhig, lag still da, hielt die Hand der Dame. Sie erzählte ihm von ihrem Tag, dem Leben in Rom, den Kindern. Bevor sie ging, strich sie ihm sanft über die Stirn.
Er sprach ein paar letzte Worte zu ihr. »Ich danke Ihnen, ich bin in guten Händen, und auf morgen.«
Um halb sechs Uhr nachmittags verabschiedete sich die preußische Dame von dem Patienten, der als »Reinhardt« bekannt war. Sie wusste, das Ende war nahe.
Noch am selben Abend empfing der Patient den Bischof. Gegen Ende des Besuchs, so die Darstellung des Bischofs, in dessen Armen er angeblich gelegen hatte, sprach der Patient seine letzten Worte. Darin gab er einer vorsätzlichen Handlung die Schuld an seinem Zustand und identifizierte den Giftmörder. Es sollten viele Jahre vergehen, bevor die Worte, die er angeblich zu dem Bischof sprach und bei denen niemand sonst zugegen war, anderen zur Kenntnis gelangten.
Der Patient erlebte den nächsten Tag nicht.
Ein paar Tage später schrieb die Besucherin an Charlotte Wächter, die Witwe. Auf zehn handschriftlichen Seiten schilderte sie, wie sie Wächter ein paar Wochen vorher, kurz nach dessen Ankunft in Rom, kennengelernt hatte. »Ich weiß von ihm von Ihnen, von den Kindern und allem, was ihm das Leben wert machte.« »Reinhardt« hatte der Besucherin von seiner Arbeit vor und während des Krieges und in den folgenden Jahren, die er hoch oben in den Bergen verbrachte, erzählt. Der Brief beschrieb einen Zustand der Ruhelosigkeit und erwähnte einen Wochenendausflug in die Umgebung von Rom, den »Reinhardt« unternommen hatte. Den Namen des Ortes oder der Person, die er besucht hatte, verriet sie nicht.
Der Brief endete mit ein paar Worten über die Diagnose. Der behandelnde Arzt glaubte, dass die Todesursache eine »akute Leberatrophie« sei, eine möglicherweise durch Lebensmittel oder Wasser verursachte »innere Vergiftung«. Die Dame äußerte Gedanken über die Zukunft, wie sehr Charlotte ihren »sonnige[n], freundliche[n] Kamerad[en]« vermissen werde. Sie solle nur an die Kinder denken, fügte sie hinzu, sie bräuchten eine couragierte, glückliche Mutter.
»… gerade Ihren tapferen Frohsinn, Ihr mitten im Leben stehen liebte ja Ihr Mann an Ihnen.« Mit diesen Worten beschloss sie den Brief, der über den wahren Namen des Patienten stillschweigend hinwegging.
Der Brief war auf den 25. Juli 1949 datiert. Er ging von Rom nach Salzburg, wo er an den Wohnsitz von Charlotte Wächter und ihren sechs Kindern zugestellt wurde.
Charlotte bewahrte den Brief 36 Jahre lang auf. Nach ihrem Tod im Jahr 1985 ging er mit anderen persönlichen Unterlagen in den Besitz ihres ältesten Sohnes, Otto junior, über. Nachdem Otto junior 1997 gestorben war, fiel der Brief an Horst, das vierte Kind. Horst bewohnte ein riesiges, verfallenes, leeres, prachtvolles Schloss in dem alten österreichischen Dorf Hagenberg zwischen Wien und Brünn (Brno, Tschechien). Hier geriet der Brief über Jahre in Vergessenheit.[1]
Dann, nachdem zwei Jahrzehnte vergangen waren, besuchte ich an einem ungewöhnlich kalten Tag Horst in dem Schloss. Ich hatte einige Jahre zuvor über eine dritte Person von ihm erfahren und wusste um den Tausende von Seiten umfassenden Nachlass seiner Mutter. Irgendwann im Verlauf unseres Gesprächs fragte er, ob ich gerne das Original des Briefes der preußischen Dame sehen würde. Ja. Er verließ die Küche, stieg die steilen Steinstufen hinauf, betrat sein Zimmer und ging zu einem alten hölzernen Vitrinenschrank, der neben seinem Bett stand, in der Nähe einer Fotografie seines Vaters in SS-Uniform. Er nahm den Brief heraus, legte ihn auf den alten Holztisch und fing an, laut vorzulesen.
Seine Stimme stockte und, nur einen Moment lang, schluchzte er.
»Es ist nicht wahr.«
»Was ist nicht wahr?«
»Dass mein Vater an einer Krankheit starb.«
Die Scheite im Ofen knackten. Ich beobachtete, wie sein Atem kondensierte.
Ich kannte Horst jetzt seit fünf Jahren. Er wählte diesen Moment, um mir ein Geheimnis anzuvertrauen: die Überzeugung, dass sein Vater ermordet worden war.
»Was ist die Wahrheit?«
»Am besten, wir beginnen ganz am Anfang«, sagte Horst.
»Ich kannte das Wien der Zwischenkriegszeit nicht, und ich bin noch zu jung, um mich an das alte Wien mit seiner Musik von Strauß und seinem falschen, leichtlebigen Charme zu erinnern.«
Graham Greene, Der dritte Mann, 1950
Den Anfang markierte mein erster Besuch bei Horst Wächter im Frühjahr 2012, als das vierte Kind von Otto und Charlotte Wächter mich in seinem Haus begrüßte. Ich überquerte einen nicht mehr genutzten Burggraben und passierte die großen hölzernen Tore von Schloss Hagenberg, hinter denen mich ein moderiger Geruch empfing, der Duft von brennendem Holz, der an Horst haftete. Wir tranken Tee, ich lernte seine Frau Jacqueline kennen, er erzählte mir von seiner Tochter Magdalena, seinen fünf Geschwistern. Ich erfuhr damals auch von den Nachlassunterlagen seiner Mutter, obwohl noch viele Jahre vergehen sollten, bevor ich sie alle sehen würde.
Der Besuch war ein Zufall. Achtzehn Monate zuvor war ich in die Stadt Lwiw in der Ukraine gereist, um einen Vortrag über »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Genozid« zu halten. Vordergründig diente die Reise einem Besuch der juristischen Fakultät, doch der wahre Grund war mein Wunsch, das Haus zu finden, in dem mein Großvater geboren worden war. Im Jahr 1904 war die Stadt von Leon Buchholz als Lemberg bekannt, eine regionale Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.
Ich hoffte, Lücken in Leons Lebensgeschichte zu füllen, herauszufinden, was mit seiner Familie geschehen war, über die er diskretes Stillschweigen bewahrt hatte. Ich wollte etwas über seine – und meine – Identität erfahren. Ich fand Leons Haus und stellte fest, dass die Ursprünge der 1945 entwickelten Rechtsbegriffe »Genozid« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« sich bis in seine Geburtsstadt zurückverfolgen ließen. Das literarische Produkt dieser Reise war ein Buch, Rückkehr nach Lemberg, das die Geschichte von vier Männern erzählt: Leon, dessen große Familie aus Lemberg und dessen Umland im Holocaust ausgelöscht wurde; Hersch Lauterpacht und Rafael Lemkin, die ebenfalls aus der Stadt stammten und die Rechtsbegriffe »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Genozid« in die Nürnberger Prozesse und das Völkerrecht einbrachten; und Hans Frank, Generalgouverneur der deutsch besetzten polnischen Gebiete, der im August 1942 in Lemberg eintraf und eine Rede hielt, auf welche die Vernichtung der Juden in der Region, die damals als Galizien bekannt war, folgte. Vier Millionen Menschen wurden Opfer der Maßnahmen Franks, für die er später in Nürnberg verurteilt und gehängt wurde. Unter ihnen waren die Familien von Leon, Lauterpacht und Lemkin.
Im Verlauf meiner Nachforschungen stieß ich auf ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel Der Vater. Eine Abrechnung, das Niklas Frank über seinen Vater, Hans Frank, geschrieben hatte. Ich machte Niklas ausfindig, und eines Tages trafen wir uns auf der Terrasse eines feinen Hotels in der Nähe von Hamburg. Über mein Interesse an Lemberg im Bilde, erwähnte er im Lauf unserer Unterhaltung Otto Wächter. Als einer der Stellvertreter von Hans Frank amtierte Wächter von 1942 bis 1944 als Gouverneur des Distrikts Galizien in Lemberg, und Niklas kannte einen seiner Söhne, Horst. Da ich mich für die Stadt interessierte und da Leons Familie während Wächters Amtszeit dort umgekommen war, bot Niklas mir an, den Kontakt zu ihm herzustellen. Allerdings warnte er mich gleich: Im Gegensatz zu ihm, Niklas, der seinem Vater keinerlei Sympathie entgegenbringe – »Ich bin gegen die Todesstrafe, außer im Falle meines Vaters«, hatte er in der ersten Stunde unserer Begegnung erklärt –, sehe Horst seinen Vater in einem positiveren Licht. »Aber Sie werden ihn mögen«, sagte Niklas mit einem Lächeln.
Horst reagierte positiv auf die Empfehlung. Ich flog von London nach Wien, mietete ein Auto und fuhr nach Norden über die Donau, vorbei an Weinbergen und niedrigen Höhenzügen, zu dem winzigen alten Dorf Hagenberg. »I’ll dance with you in Vienna«, tönte es aus dem Radio, »I’ll bury my soul in a scrapbook.« Während der Fahrt verspürte ich eine gewisse Beklommenheit, da Otto Wächter höchstwahrscheinlich eine Rolle beim Schicksal von Leons Verwandten in und um Lemberg gespielt hatte, von denen bis auf einen alle während seiner Herrschaft umkamen. Sein Name schien aus der Geschichtsschreibung über diesen Zeitraum getilgt worden zu sein. Immerhin bekam ich heraus, dass er Österreicher gewesen war, Ehemann und Vater, Rechtsanwalt und ranghoher Nazi. Im Jahr 1934 war er in die Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß verwickelt. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938 bekleidete er eine hohe Position in der neuen Regierung in Wien, wo meine Großeltern lebten. Im November 1939 wurde er zum Gouverneur des Distrikts Krakau und im Dezember 1942 dann zum Gouverneur des Distrikts Galizien ernannt. Nach dem Krieg war er plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Ich wollte wissen, was ihm widerfahren war, ob Gerechtigkeit geübt worden war. Dafür wollte ich nichts unversucht lassen. Die Reise begann.
Wegen Horst hätte ich mir keine Gedanken zu machen brauchen. Er begrüßte mich überschwänglich, ein großgewachsener, gutaussehender Mann in rosafarbenem Hemd und Birkenstock-Sandalen, der mit seiner einnehmend tiefen, warmen und weichen, dabei stockenden Stimme und dem Augenzwinkern einen leutseligen Eindruck machte. Er war hocherfreut, dass ich die Reise zu dem baufälligen Barockschloss unternommen hatte, das sein Zuhause war. Es war ein stattliches, quadratisches Gemäuer, vier Stockwerke hoch, um einen Innenhof errichtet, mit dicken Steinmauern und einem von wucherndem Gestrüpp bedeckten Schlossgraben.
Ein berühmter Schauspieler sei gerade zu Besuch gewesen, schwärmte er, zusammen mit einem italienischen Regisseur. »Zwei Oscar-Preisträger in meinem Schloss!« Sie drehten The Best Offer – Das höchste Gebot, eine Geschichte von Liebe und Verbrechen, die in ganz Europa spielt, in Wien, Triest, Bozen und Rom. Damals ahnte ich noch nichts von der Bedeutung dieser Orte für die Wächters.
Begleitet von einer Katze, betraten wir das Schloss, einen wuchtigen Bau, der schon bessere Tage gesehen hatte. Wir liefen an einer Werkstatt vorbei, voller Werkzeuge und anderer Arbeitsgeräte, trocknenden Früchten und Kartoffeln und weiterem Gemüse, und begegneten dem Schlosshund. Horst war in den 1960er Jahren auf den Bau gestoßen, als er noch eine Künstlerkolonie beherbergte. Ein Ort »heimlicher Festlichkeiten«, erklärte er. Zwei Jahrzehnte später kaufte er das Schloss mit Hilfe eines bescheidenen Erbes, das Charlotte ihm nach ihrem Tod hinterlassen hatte.
Er erzählte mir die Eckdaten seines Lebens. Geboren am 14. April 1939 in Wien, erhielt er seinen Namen zu Ehren von Horst Wessel, des Verfassers des gleichnamigen Liedes. Als zweiten Vornamen wählten seine Eltern Arthur, zu Ehren von Arthur Seyß-Inquart, Kamerad und Freund seines Vaters und Horsts Pate. Seyß-Inquart war ein Rechtsanwalt mit Schildpattbrille, der mit dem Parteikader des Dritten Reiches an Adolf Hitlers Tisch saß und nach dem »Anschluss« für kurze Zeit als österreichischer Bundeskanzler und als Reichsstatthalter der »Ostmark« amtierte, wie Österreich im Dritten Reich offiziell hieß. Kurz nach Horsts Geburt wurde Seyß-Inquart zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich in Hitlers Kabinett ernannt und wenig später auf den Posten des Chefs der Zivilverwaltung (Reichskommissar) in den besetzten Niederlanden berufen. In Hitlers politischem Testament, geschrieben 1945, wurde Seyß-Inquart zum Außenminister des Reiches ernannt. Der Rechtsanwalt und Pate wurde schon im Mai 1945 in Den Haag von kanadischen Soldaten festgenommen, in Nürnberg verurteilt und für die von ihm begangenen Verbrechen 1946 gehängt.
Ich war daher einigermaßen überrascht, in der Nähe von Horsts Bett eine kleine Schwarz-Weiß-Fotografie von Seyß-Inquart zu erblicken. Sie steckte in dem Rahmen eines Fotos von seinem Vater Otto, das wiederum in der Nähe eines Ölgemäldes hing, welches seinen Großvater, General Josef Wächter, zeigte, der während des Ersten Weltkriegs als Soldat in der k.u.k. Armee gedient hatte. An einer anderen Wand des Schlafzimmers hing ein Foto von Charlotte, aufgenommen 1942. Horst schlief im Kreise seiner Familie.
Horst machte mich mit seiner Frau Jacqueline (Ollèn) bekannt, einer Schwedin. Sie bewohnten zwei behagliche Räume im Erdgeschoss des Schlosses, die von einem großen Holzofen beheizt wurden, doch die beiden schienen keine allzu zärtliche Beziehung zu führen. Er bereitete Tee zu und sprach deutlich liebevoller von seinen Eltern, als es Jacqueline tat. Es war unmittelbar ersichtlich, dass sie weiterhin einen besonderen Platz in seinem Herzen einnahmen. Besonders nahe schien er seiner Mutter zu stehen, die er in ihren letzten Lebensjahren gepflegt hatte. Später sollte ich erfahren, dass Horst ihr Lieblingskind gewesen war. Charlottes Verhältnis zu den vier Schwestern von Horst war schwieriger, und als sie erwachsen wurden, zogen drei von ihnen ins Ausland.
Während dieses ersten Besuchs versicherte Horst mir eindringlich, dass er seinen Vater kaum gekannt habe, der während der Kriegsjahre meist weg gewesen sei, an weit entfernten Orten. Während die Familie in Österreich lebte, war er mal in Krakau, mal in Lemberg oder Italien oder auch in Berlin. Ich erfuhr, dass er ein »Frauenheld« war, dass er nach dem Krieg verschwand und schließlich in Rom starb.
Das war alles, was Horst mir bei diesem ersten Besuch erzählte. Irgendwie, indirekt, erklärte er, sei das Schloss ein Geschenk von Otto, ein Ort der Zuflucht und des Trostes. »Ich stieg aus der Normalität aus«, sagte er. Da war er in seinen Dreißigern. Wegen der Geschichte seines Vaters ließ er ein geregeltes Leben hinter sich, in der Hoffnung, einen alternativen Weg für sich zu finden.
Die Normalität endete für Horst 1945. Der Krieg war verloren, da war er gerade mal sechs Jahre alt. »Ich wurde wie ein kleiner Jung-Nazi erzogen, dann, von einem Tag auf den anderen, war plötzlich alles futsch.« Es war ein Trauma, national wie persönlich, als das Regime fiel und das Leben rings um die Familie zusammenbrach, eine glückliche Kindheit zunichtewurde. Er rief eine Erinnerung an seine Geburtstagsfeier im April 1945 wach, wie er vor seinem Elternhaus in Thumersbach saß und über den Zeller See blickte: »Ich war allein und wusste, dass ich mich mein ganzes Leben an diesen Moment erinnern würde.« Er sprach leise, ihm versagte die Stimme, als er sich daran erinnerte, dass britische und amerikanische Flugzeuge unbenutzte Bomben über dem Gewässer abwarfen. »Das Haus fing an zu beben, ja, ich erinnere mich …« Er verstummte, seine Augen wurden feucht, ich spürte das Beben. Er schluchzte, leise, für einen kurzen Moment.
Später führte mich Horst durch das Schloss, einen Ort mit vielen Räumen, großen und kleinen. Wir machten es uns in seinem Schlafzimmer bequem, im ersten Stock, unter den Blicken von Josef, Otto, Charlotte und Pate Arthur. Horst holte Charlottes Fotoalben heraus, wir saßen zusammen, die Bilder auf unseren Knien. Er erwähnte ein umfangreiches Familienarchiv, eine zahlreiche Briefe umfassende Korrespondenz seiner Eltern, die Tagebücher seiner Mutter und ihre Erinnerungen, die sie für die Kinder und die Nachwelt aufgeschrieben hatte. An diesem Tag sah ich diese Materialien nicht, aber sie hinterließen eine Erinnerung und hatten meine Neugier geweckt.
Was ich sah, waren ein paar Seiten aus einem Tagebuch von 1942, ein winziges Büchlein, dessen Seiten in der geschäftigen Handschrift seiner Mutter gefüllt waren. Ich interessierte mich für den 1. August, den Tag, an dem Hans Frank die Wächters in Lemberg besuchte und dort die Durchführung der »Endlösung« im gesamten Distrikt Galizien ankündigte. Franks Rede bedeutete das Todesurteil für Hunderttausende von Menschen. Aus dem Tagebucheintrag für diesen Tag erfuhren wir, dass Frank mit Charlotte Schach spielte.
Wir wendeten uns wieder den Fotografien aus den Alben zu. Sie erzählten vom Familienleben, von Kindern und Großeltern, von Feiern und Urlauben in den Bergen. Die Wächters zusammen, eine glückliche Familie. Die Fotos zeigten Seen und eines davon Otto beim Schwimmen, das einzige, das ich je sehen würde. »Mein Vater schwamm für sein Leben gern«, erklärte Horst. Auf der gegenüberliegenden Seite meißelte ein Mann lächelnd ein Hakenkreuz in eine Mauer, datiert 1931. Ein anderer Mann stand vor einem Gebäude, begrüßt von einer Reihe zum Hitlergruß gereckter Arme. Dr. Goebbels lautete der Text unter der Fotografie. Drei Männer im Gespräch in einem überdachten Hof. Zwei Buchstaben unter dem Foto: A.H. Dies war Ottos eckige Handschrift. Adolf Hitler mit Heinrich Hoffmann, wie ich erfahren sollte, seinem Fotografen, und einem dritten Mann. »Nicht mein Vater«, sagte Horst. »Vielleicht Baldur von Schirach.« Also der Reichsjugendführer und Chef der Hitler-Jugend, der ebenfalls in Nürnberg verurteilt wurde und dessen Enkel Ferdinand Strafverteidiger sowie ein ausgezeichneter Schriftsteller und Dramatiker ist.
Wir blätterten weiter. Wien, Herbst 1938, Otto in seinem Büro im Bundeskanzleramt, in SS-Uniform. Polen, Herbst 1939, ein ausgebranntes Gebäude, Flüchtlinge. Eine bevölkerte Straße, Menschen in warmer Kleidung gegen die Kälte, eine alte Dame mit Kopftuch und einer weißen Armbinde. Ein Jude im Warschauer Ghetto, fotografiert von Charlotte. Ein Foto von Horst mit dreien seiner vier Schwestern. »März 1943, Lemberg«, hatte Charlotte daruntergeschrieben. Ein strahlend sonniger Tag, der lange Schatten warf. Eine Nachricht von Horst für Otto: »Lieber Papa! Ich habe dir ein paar Blümchen gepflückt. Bussi. Dein Horsti-Borsti.« Er war fünf damals, 1944.
Behutsam näherten wir uns heikleren Themen. Er fragte nach meinem Großvater, hörte sich schweigend die Details an. Ich erkundigte mich nach seinen Eltern und ihrer Beziehung. »Meine Mutter war überzeugt, dass mein Vater recht hatte, dass er das Richtige tat.« Sie sprach nie ein schlechtes Wort über ihn, nicht in Horsts Gegenwart, aber irgendwann wurde ihm klar, dass es eine dunkle Seite gab. »Natürlich fühlte ich mich schuldig wegen meines Vaters.« Er wusste von den »schrecklichen Dingen«, die das Regime getan hatte, aber in seinen Alltag drangen sie erst später vor. Die Zeit nach dem Krieg war eine Zeit des Schweigens. Niemand in Österreich wollte über die Ereignisse sprechen, damals nicht, heute nicht. Er spielte auf Schwierigkeiten mit der Familie an, mit seinen Neffen und Nichten, nannte aber keine Einzelheiten.
Wir wechselten zu anderen Themen. Charlotte wollte, dass Horst ein erfolgreicher Rechtsanwalt wurde, wie sein Vater, aber er entschied sich für ein anderes Leben. Er wolle nicht mehr studieren, teilte er Charlotte mit. Er würde von der Bildfläche verschwinden, sich ein anderes Leben aufbauen. »Auf Wiedersehen, Mutter.« Sie war zutiefst enttäuscht, dass er seinen eigenen Weg ging. In Wien machte er in den 1970er Jahren die Bekanntschaft eines Malers, Friedensreich Hundertwasser. Die beiden Männer taten sich zusammen. »Ich wusste, Hundertwasser würde mich brauchen, wir würden gut miteinander auskommen, weil er ein schüchterner Mensch war, genau wie ich.« Horst arbeitete als Assistent des Künstlers, fuhr mit seinem Schiff, der Regentag, von Venedig nach Neuseeland, begleitet von seiner Frau Jacqueline, die er kurz zuvor geheiratet hatte. Während dieser Reise wurde ihr einziges Kind geboren, eine Tochter, Magdalena. Das war im Jahr 1977.
»Irgendwie fühlte ich mich wohl damit, dass Hundertwasser Jude war«, fuhr Horst fort. »Vielleicht geht es mir bei Ihnen ähnlich, Philippe, weil Sie Jude sind, irgendwie ist das reizvoll für mich.« Die Mutter des Künstlers hatte Angst vor Horst. »Sie kannte den Namen meines Vaters, wusste, wer er war, sie erinnerte sich an den Krieg und wie es war, mit einem Davidstern herumzulaufen …« Während er sprach, tanzten seine Finger über seinen Arm, dort, wo eine Armbinde hätte sitzen können.
Doch die historische Verantwortung seines Vaters, erklärte er, sei eine komplexe Angelegenheit. Otto sei gegen die Rassentheorien gewesen, habe die Deutschen nicht als »Übermenschen« und alle anderen als »Untermenschen« betrachtet. »Er wollte etwas Gutes tun, etwas bewegen, eine Lösung für die Probleme nach dem ersten Krieg finden.«
Das war Horsts Sichtweise. Sein Vater war ein anständiger Mensch, ein Optimist, der versuchte, Gutes zu tun, aber in Gräuel verwickelt wurde, die auf das Konto anderer gingen.
Ich hörte geduldig zu, weil ich die Atmosphäre unserer ersten Begegnung nicht trüben wollte.
Zurück in London erhielt ich ein paar Tage später eine Nachricht von Horst. »Ihr Besuch in Hagenberg hat mir gutgetan, so habe ich von der tragischen Geschichte der Familie Ihres Großvaters in Lemberg erfahren.« Er nannte mir die Adresse eines Mannes aus Lemberg, eines polnischen Juden, dem sein Vater, wie er sagte, das Leben gerettet hatte. Damals, fügte er hinzu, »wurde die bedauerliche Situation der Juden allgemein als Schicksal hingenommen«.
Was seine eigene Situation betraf, meinte er, habe mein Besuch seine Einsamkeit erträglicher gemacht. Anderen Mitgliedern der Familie widerstrebte es, über die Vergangenheit zu sprechen. Sie stünden seinen Bemühungen kritisch gegenüber und würden nicht wollen, dass das Leben Otto von Wächters in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses rückte.
Ich selbst war nach unserer ersten Begegnung ebenso neugierig wie fasziniert. Ich konnte nicht anders, als Horst zu mögen. Er war liebenswürdig und aufgeschlossen und hatte anscheinend nichts zu verbergen. Gleichzeitig war er nicht bereit, die Vorstellung zu akzeptieren, dass Otto von Wächter irgendeine echte Verantwortung für die schrecklichen Ereignisse tragen könnte, die sich in dem Territorium zugetragen hatten, das er als Gouverneur verwaltet hatte. Ich wollte mehr über seine Eltern erfahren. Es kommt auf die Details an.
Otto Gustav Wächter wurde am 8. Juli 1901 in Wien geboren. Sein Vater, Josef Wächter, war ein glühender Monarchist und Offizier in der österreichisch-ungarischen Armee Kaiser Franz Josephs I. und von Oktober 1921 bis Mai 1922 Minister für Heerwesen in der jungen Republik. Er stammte aus der kleinen sudetischen Gemeinde Hawran, nördlich von Prag am Rand des Reiches, war Nationalist und unversöhnlicher Antisemit. Er heiratete Martha Pfob, Tochter einer wohlhabenden Wiener Familie, und das Paar bekam drei Kinder.
Otto hatte zwei ältere Schwestern, Hertha, geboren 1898, und Ilse, geboren 1900, doch als einziger Sohn und jüngstes Kind war er der Liebling der Eltern. Ein frühes Familienporträt wurde von einem k.u.k. Hoffotografen aufgenommen, als Otto gerade ein paar Monate alt war. Martha, die Töchter und Josef, in Uniform und mit eindrucksvollem Schnurrbart, der behutsam und voller Stolz Otto hält. Das Porträt hat einen formellen Charakter, spiegelte ein Leben in treuer Ergebenheit gegenüber Monarchie und Reich wider.
Seine Jugendjahre verbrachte Otto in Wien, einer Stadt auf dem Höhepunkt ihrer Strahlkraft. Es war eine Zeit des Wohlstands und der künstlerischen Kreativität. Gustav Mahler war Direktor des K. k. Hof-Operntheaters, Sigmund Freud entwickelte neue Ideen zur Psychoanalyse, Josef Hoffmann und Koloman Moser leiteten die Wiener Werkstätte, eine progressive Gemeinschaft von Künstlern und Designern. Bürgermeister Karl Lueger regierte mit eiserner Faust und antisemitischer Autorität. Otto besuchte die Volksschule in der Albertgasse im 8. Bezirk. Zeugnisse benoteten seinen Lernfortschritt als »sehr gut«.
Als er sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Triest an der adriatischen Küste, wo seine Eltern ihn an der Deutschen Volksschule in der Via della Fontana in der Nähe des Hauptbahnhofs anmeldeten. Er lernte Italienisch, zeigte eine Begabung für Sprachen und machte »löbliche« Fortschritte, außer im Schreiben, wo seine Leistungen nur »befriedigend« waren. Er empfing seine Erste Heilige Kommunion, wechselte auf die höhere Schule und lernte in der Militärschwimmschule Schwimmen. Er war zielstrebig und selbstbewusst und fühlte sich damals schon wohl in seiner Uniform.
Die Familie lebte in Triest, als im Sommer 1914 der Krieg ausbrach. Als Major in der Gemeinsamen Armee (k.u.k. Armee) wurde Josef in Galizien stationiert und später befördert, um das 88. Infanterieregiment in der Nähe von Lemberg zu befehligen. Otto zog mit seiner Mutter und den Schwestern nach Budweis in Südböhmen (heute in der Tschechischen Republik), ein Jahr verbrachte man im nahe gelegenen Krumau. In Ottos Geschichtsunterricht wurden Caesar und die gallischen Kriege kurz gestreift, und die Stunden in Leibeserziehung sollten auf den bewaffneten und unbewaffneten Kampf vorbereiten.
Im Jahr 1916 starb Kaiser Franz Joseph I. nach einer Herrschaft von fast 68 Jahren. Zwei Jahre später war der Krieg vorbei, und vier Jahrhunderte habsburgischer Herrschaft fanden ein Ende. Von Österreichs einstiger Pracht blieb nur ein kümmerlicher Rest. Für die Familie Wächter, die nach Triest zurückkehrte, waren dies magere Zeiten. Josef hatte das Vermögen der Familie in Staatsanleihen investiert, die im Zuge des finanziellen Zusammenbruchs, der auf den Krieg folgte, allen Wert verloren. Indes war ihm der Militär-Maria-Theresien-Orden für Tapferkeit verliehen worden. Die Zeremonie wurde für die Nachwelt gefilmt und der Film aufbewahrt, was bedeutete, dass ich nachträglich Zeuge des Moments werden konnte, als er damit verbunden in den Adelsstand erhoben wurde. Diese Ehrung gestattete es ihm – und später Otto –, den Titel Freiherr zu führen, so dass aus den männlichen Wächters die von Wächters wurden.
Im Sommer 1919 machte Otto seinen höheren Schulabschluss. Das Reifezeugnis ermöglichte ihm, sich an der juristischen Fakultät der Universität Wien einzuschreiben, wo er am 18. Oktober 1919 sein Studium aufnahm. Es war eine Zeit der Unruhen, geschürt durch das Ende des Kaiserreichs und die Russische Revolution. Unter den Flüchtlingen, die aus den östlichen Ländern des früheren Habsburgerreiches nach Wien strömten, war Hersch Lauterpacht aus Lemberg, der sich wie Otto an der juristischen Fakultät einschrieb und ein Vierteljahrhundert später den Rechtsbegriff »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« entwickeln sollte, in die sein Kommilitone verwickelt werden würde.
Ottos Studentenausweis zeigt einen zielstrebigen jungen Mann mit Adlernase, üppigem Haarschopf und einer großen Fliege. Er verbrachte neun Semester an der juristischen Fakultät, wo er bei renommierten Professoren studierte, darunter Hans Kelsen, der Seminare in Verfassungsrecht anbot, und Alexander Hold-Ferneck, ein aggressiver Nationalist, der die Überzeugung vertrat, dass eine Million Jahre vergehen würden, bevor »das eigentliche Völkerrecht« entstünde. Zu seinen jüdischen Lehrern gehörten Stephan Brassloff, Spezialist für römisches Recht, und Josef Hupka, Experte für Handels- und Wechselrecht.
Otto war ein guter Sportler und trat dem Wiener Ruderverein Donauhort bei. Mit dem Achter wurde er österreichischer Meister. Im Jahr 2017 veröffentlichte der Verein zur Feier seines einhundertfünfzigjährigen Bestehens eine Broschüre, in der Otto als besonders erfolgreiches und beliebtes ehemaliges Mitglied vorgestellt wurde. Er war aktiver Bergsportler, kletterte und verbrachte Wochenenden in einem Skiort in der Nähe von Wien. Zu seinem großen Freundeskreis gehörten auch Frauen, die seine Energie ebenso schätzten wie seine Feinfühligkeit bei körperlichen Berührungen.
An der juristischen Fakultät engagierte Otto sich politisch, ermutigt durch die Ansichten seines Vaters, dessen Nationalismus im deutschsprachigen Sudetenland geprägt worden war. Josef gehörte zu den ersten Mitgliedern des Deutschen Klubs, einer konservativen, ausschließlich aus Männern bestehenden Gesellschaft, deren Mitglieder den Pangermanismus befürworteten und dem vermeintlichen Einfluss von Juden und anderen Flüchtlingen aus den Ländern des früheren Habsburgerreiches entgegentraten. Das Mitteilungsblatt des Klubs riet seinen Mitgliedern: »Kauft nur bei arischen Geschäftsleuten«.