Angelos Chaniotis
DAS ANTIKE KRETA
C.H.Beck
Der Gründungsmythos unseres Kontinents ist unauflöslich mit der sagenumwobenen griechischen Insel Kreta verbunden: In Gestalt eines weißen Stiers entführt der verliebte Göttervater Zeus die phönizische Königstochter Europa über das Meer und setzt sie erst wieder an der Küste Kretas ab. Sie gebiert ihm drei Söhne – Minos, Rhadamanthys und Sarpedon –, die ihrerseits als bedeutende Gestalten der griechischen Mythologie auftreten. Vom Namen des Minos, der als König auf Kreta herrscht, leitet sich jener der minoischen Hochkultur ab (3000–1450 v. Chr.), deren reiches archäologisches Erbe noch heute auf Kreta zu bewundern ist. Die Paläste der Minoer werden schließlich von mykenischen Griechen eingenommen. Doch auch ihre Herrschaft versinkt gegen Ende des 2. Jt. v. Chr. in schriftloses Dunkel, ehe sich seit dem 8. Jh. v. Chr. eine neue Kultur in einer Vielzahl von Gemeinden mit differenzierter Gesellschaftsstruktur und bald auch einem entwickelten Rechtswesen herausbildet. Auch wenn die Vorherrschaft einzelner Städte auf Kreta in den folgenden Jahrhunderten mehrfach wechselt und schließlich die Insel unter den Römern – nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal – zum Objekt einer Fremdherrschaft wird, so bleibt sie doch stets ein bedeutender Faktor der antiken Welt. Kretas wechselvolle Ereignisgeschichte und seine kulturgeschichtliche Vielfalt lässt Angelos Chaniotis in diesem Buch wieder lebendig werden.
Angelos Chaniotis ist Professor für Alte Geschichte am Institute for Advanced Study in Princeton. Bis 2006 lehrte er Alte Geschichte an der Universität Heidelberg.
Einleitung
1. «Ein Berg im Meer»:
Die geographischen Grundlagen der Geschichte Kretas
Das Land
Das Meer
Die Kreter
2. Im Morgenlicht der Geschichte:
Die minoische Hochkultur (ca. 3000–ca. 1450 v. Chr.)
2.1 Das minoische Kreta:
Entdeckung, Erfindung, Erschließung
2.2 Von den ersten Gemeinwesen zur zentralen Verwaltung:
der Weg zu den «Palästen»
2.3 Das palastzeitliche Kreta:
Verwaltung – Gesellschaft – Kultur – Religion
3. Die Einwanderung der griechischen Stämme
(ca. 1450–900 v. Chr.)
3.1 Die ersten (mykenischen) Griechen im Palast von Knossos und die Linear-B-Texte (ca. 1450–1200 v. Chr.)
3.2 Das schriftlose Nachspiel und die Einwanderung
neuer Stämme (ca. 1200–900 v. Chr.)
3.3 Das Leben in den Zufluchtsorten
4. Brücke zwischen Orient und Hellas:
Die kretische Renaissance (ca. 900–630 v. Chr.)
4.1 Die Orientalisierung und das Alphabet
4.2 Neue politische Strukturen, soziale Institutionen
und gesellschaftliche Gruppen
5. Die erstarrte Insel:
Staat und Gesellschaft in Kreta zwischen Utopie
und Wirklichkeit (ca. 630–300 v. Chr.)
5.1 Die archaische Zäsur und das normative Zeitalter
5.2 Staat und Verfassung
Staatsform
Bürgerrecht
Politische Institutionen
5.3 Gesellschaftsordnung und soziale Institutionen
Erziehung
Männerhäuser und gemeinsame Mahlzeiten
Landbesitz und Erbschaft
Fremde und Apetairoi
Frauen
5.4 Die unfreie und abhängige Bevölkerung
5.5 Grundzüge und Wirkung des kretischen Rechts
6. Die Pirateninsel: Kreta in der hellenistischen Welt
(ca. 300–67 v. Chr.)
6.1 Der Krieg als Alltag
6.2 Die Ursachen der kretischen Kriege:
Gesellschaftsordnung und Agrarverfassung
6.3 Auswanderung: Reaktion auf eine Krise
6.4 Die kretischen Seeräuber
6.5 Innenpolitische Konflikte und die abhängige Bevölkerung
6.6 Gesellschaft, Kultur, Religion, Mentalität
7. Kreta in der römischen Welt
(ca. 67 v. Chr.–ca. 640 n. Chr.)
7.1 Die Eroberung Kretas durch die Römer
7.2 Verwaltung und politische Institutionen
7.3 Wirtschaftliche Erneuerung
7.4 Soziale Komplexität
7.5 Kulturelle Komplexität und Kulturbrüche
7.6 Die Spätantike und die Christianisierung
Ausgewählte Literatur
Allgemeine Werke
1. «Ein Berg im Meer»: Die geographischen Grundlagen der Geschichte und Wirtschaft Kretas
2. Im Morgenlicht der Geschichte: Die minoische Hochkultur
3. Die Einwanderung der griechischen Stämme
4. Brücke zwischen Orient und Hellas: Die kretische Renaissance
5. Die erstarrte Insel:
Staat und Gesellschaft in Kreta zwischen Utopie und Wirklichkeit
6. Die Pirateninsel: Kreta in der hellenistischen Welt
7. Kreta in der römischen Welt
Abbildungsnachweise
Register
Verlieren wir uns in einem großen Gebäude, so sprechen wir in allen europäischen Sprachen von einem Labyrinth; will ein Franzose, Deutscher, Italiener oder Grieche seinen Atem für den bevorstehenden oder erhofften Kuss erfrischen und steckt eine Minze, ment oder menta in den Mund, so verwendet er ein Wort, das älter ist als die Ankunft der ersten Indogermanen in Europa; kauft er eine Hyazinthe, so nennt er den Namen einer Blume, die seit mindestens viertausend Jahren so heißt. Die ältesten erkennbaren europäischen Wörter hat uns das minoische Kreta vererbt. In diesem selten wahrgenommenen Tatbestand bewahrheitet sich in indirekter Weise ein Gemeinplatz: Kreta ist die Wiege der europäischen Kultur, seine Geschichte ein kleines Paradigma der komplexen Wege europäischer Geschichte. Schon die alten Griechen waren sich der Bedeutung Kretas für ihre Kultur bewusst – bewusster als der moderne Europäer. Auf Kreta war ihr größter Gott, Zeus, geboren worden und gestorben. Den Kretern schrieben sie die Entdeckung vieler kultureller Errungenschaften zu, von der Viehzucht bis zur Metallbearbeitung. Und wenn sie starben, erwarteten sie, dass ein Kreter in der Unterwelt über sie richten würde: Minos oder sein Bruder Rhadamanthys. Kreta hat Platon als Schauplatz seines Dialogs Nomoi gewählt, um die Gesetze seines Idealstaates darzustellen.
Grundriss des Palastes von Knossos
Den gebildeten Opernfan erinnert Kreta an Mozarts Idomeneo. Dem nüchterneren Historiker bietet sich Kreta als der Ort an, an dem man die Vielfalt der Institutionen der Griechen auf engem Raum studieren kann, der Ort mit den fast hundert unabhängigen Stadtstaaten, der Ort, von dem mehr archaische Gesetze erhalten sind als vom restlichen Griechenland zusammengenommen. Schauplatz der griechischen Geschichte sind immer überschaubare Landschaften gewesen, mit ihren geographischen Besonderheiten, kulturellen Grenzen und spezifischen Eigenschaften, mit ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Die Betrachtung des Mikrokosmos einer Region erlaubt uns, die verschiedenen Phänomene in ihrem wechselseitigen Verhältnis besser zu erfassen. Einige griechische Landschaften bieten sich für derartige Untersuchungen an, aber keine andere lässt sich mit Hilfe schriftlicher Quellen seit dem 3. Jt. v. Chr. fast ohne Unterbrechung studieren. Texte in der ägyptischen Hieroglyphenschrift erwähnen eine Insel im «großen grünen Meer», deren Bevölkerung (in der ägyptischen Sprache Kefti bzw. Keftiu) mit den minoischen Kretern identifiziert wird. Seit dem frühen zweiten Millennium verwenden die Kreter ihre eigene Schrift; die in ihrer letzten Entwicklungsform geschriebenen Dokumente (Linear-B-Schrift) stammen von Sprechern einer frühen Form der griechischen Sprache. Ihre Texte geben uns Informationen über Wirtschaft, Religion, Gesellschaft und Ortsnamen (ca. 1400–1300 v. Chr.). Es folgt eine schriftlose Periode von etwa fünf Jahrhunderten, die aber durch in griechischen Mythen erhaltene Rückerinnerungen und durch schriftliche Quellen aus anderen Gebieten einigermaßen mit Leben gefüllt wird. Die Kreter übernahmen vom Orient die Alphabetschrift um 800 v. Chr., und seither gibt es kontinuierlich schriftliche Zeugnisse. Als Insel im Zentrum des östlichen Mittelmeerraums ist Kreta eine geschlossene geographische Landschaft, von Griechenland, Kleinasien, Zypern und Ägypten aus leicht erreichbar. So ist Kreta bald kosmopolitisch, bald isoliert, mal die größte Macht in der Ägäis, mal vergessen in ihrer Peripherie, bald Initiator großer Innovationen, bald der konservativste Ort, mal als Ort der Gerechtigkeit berühmt, dann wieder als die Insel der Piraten und der Lügner verrufen.
Meine Kollegen Wolf-Dieter Niemeier und Diamantis Panagiotopoulos berieten mich für die Abschnitte über das bronzezeitliche Kreta. Mein Mitarbeiter Volker Schmidt trug wesentlich zur Verbesserung des Textes bei. Die Unterstützung von Dr. Stefan von der Lahr bei der Gestaltung des Manuskripts war unschätzbar. Allen gilt mein herzlicher Dank. Vor allem danke ich Jannis Sakellarakis, der mein wissenschaftliches Interesse an Kreta wie ein Hierophant geweckt hat.
Gegensätze charakterisieren das geographische Bild Kretas: Auf der einen Seite liegt die Insel an einer strategisch wichtigen Position im östlichen Mittelmeer; Aristoteles betrachtete diese Lage sogar als eine ideale Voraussetzung für die Ausübung der Herrschaft über alle Griechen. Auf der anderen Seite liegt Kreta jedoch am Rande des Ägäisbeckens, 100 km vom europäischen und 180 km vom asiatischen Festland entfernt, von den Hauptsiedlungsplätzen der Griechen isoliert. Die Kreter hielten sich oft von den wichtigsten Ereignissen der griechischen Geschichte – wie den Perserkriegen, dem Peloponnesischen Krieg, den Feldzügen Alexanders – fern. Kretas relative Isolation wird durch den Mangel an natürlichen Häfen verstärkt. Doch nicht die geographische Lage allein bestimmte die kretische Geschichte. Während die zahlreichen archäologischen und schriftlichen Zeugnisse die intensiven Außenbeziehungen der Kreter in minoischer Zeit (im 2. Jt. v. Chr.) und dann wieder zwischen 900 und 600 verraten, zeigt sich in anderen Perioden der introvertierte Charakter der kretischen Politik, vor allem aber in klassischer und hellenistischer Zeit (ca. 500–67 v. Chr.) mit ihren zahllosen lokalen Konflikten.
Ein weiterer, auch geographisch bedingter Gegensatz Kretas liegt einerseits in der Tendenz zur Einheit und andererseits der Zersplitterung in zahlreiche Gemeinden. Die Tendenz zur Einheit ist der Insel immanent und drückt sich heute noch im ausgeprägten gesamtkretischen Patriotismus aus. Doch eine fast durchlaufende Kette von Bergen teilt die Insel vom Westen nach Osten. Das Bild dieser Insel prägen die Gebirge, die 4281 km2 von 8259 km2 Gesamtfläche einnehmen. Die Verbindung zwischen den wenigen großen Ebenen, den kleinen Küstenebenen und den für den Ackerbau sehr wichtigen Hochplateaus ist zwar immer möglich, aber die natürlichen Verkehrswege sind häufig schwer begehbar. Selbst während der venezianischen und türkischen Besatzungszeit gab es Landschaften, die wegen ihres gebirgigen Charakters völlig abgeschlossen waren und zum Zufluchtsort aufständischer Kreter wurden, wie etwa das Plateau von Lassithi. Im äußersten Westen Kretas galt die Region von Sphakia gar als das Königreich der schweigsamen Hirten, der unbeugsamen Krieger, der Banditen. Ausgedehnte Siedlungen mit entsprechend ausgedehntem, für den Ackerbau geeignetem Territorium findet man aufgrund des gebirgigen Charakters der Insel selten. In den meisten Gebieten entstanden daher viele kleine Siedlungsräume. Die große Zahl kretischer Siedlungen – politisch selbständig oder nicht – beeindruckte die anderen Griechen so sehr, dass sie seit Homer Kreta als hekatompolis, die Insel mit den hundert Städten, bezeichneten. Kreta war ein Paradies der Klein- und Kleinststaaten. So ist Kreta, mit den Worten eines modernen Geographen, R. Matton, gesprochen, ein «Berg im Meer», die Fortsetzung einer Gebirgskette, die die Balkanhalbinsel durchzieht. Meer und Berg bedingten in der historischen Zeit die Wirtschaft und die spezifische Kriegsart der Kreter. Sie waren Seeleute und Highlanders.
Kreta galt im Altertum als eine dicht besiedelte Insel. Die wichtigsten Siedlungen mit dem größten Teil der Bevölkerung befanden sich in der Nähe der wenigen größeren Ebenen (Gortyn, Phaistos, Lyttos) oder der kleinen Küstenebenen (Knossos, Kydonia, Lato), etwa in einer Höhe von ca. 200–400 m, häufig nicht unmittelbar am Meer – wohl aus Sicherheitsgründen. Nur in den Dunklen Jahrhunderten (ca. 1200–900 v. Chr.) kennt man eine große Zahl von Zufluchtsorten in den Bergen (§ 3.3), und wieder zur Zeit der arabischen Angriffe (7.–9. Jh.) beobachtet man einen Rückzug der Bevölkerung ins Innere der Insel. Umgekehrt lässt sich seit dem späten 4. Jh. v. Chr. eine zunehmende Bedeutung der am Meer liegenden Städte beobachten, eine Entwicklung, die mit dem berüchtigten Seeraub der Kreter zusammenhängt. Als Teil des Imperium Romanum erlebte Kreta seit dem späten 1. Jh. v. Chr. eine lange Periode des Friedens und der Sicherheit, die den Siedlungen am Meer größere Bedeutung zukommen ließ. Aber auch wenn die meisten städtischen Zentren verständlicherweise nicht auf den Bergen lagen, bestand ihr Territorium hauptsächlich doch aus gebirgigen Gegenden.
Das Land. Die wirtschaftliche Bedeutung der kretischen Berge hängt mit der wichtigsten Aufgabe der zahlreichen Gemeinwesen Kretas – in der Bronzezeit ebenso wie im Hellenismus – zusammen, nämlich der Gewährleistung ihrer Selbstversorgung. Die Autarkie einer Gemeinde setzt nicht so sehr ein ausgedehntes als vielmehr ein für mehrere Zweige der Landwirtschaft geeignetes Umland voraus. Die kretischen Landschaften bieten an sich diese Vielfalt, und so war die Insel trotz ihres gebirgigen Charakters in bestimmten Perioden für Fruchtbarkeit und Menschenreichtum berühmt. Die Milde des Klimas und der Wasserreichtum sicherten trotz der geringen Ausdehnung der Anbauflächen in der Regel gute Ernteerträge.
Kreta besitzt eine einzige ausgedehnte Ebene, die Mesara, einige kleinere Ebenen, z.B. Kastelli, und etliche Küstenebenen. Zumindest in bestimmten Perioden wurde Getreide auch in den fruchtbaren Hochplateaus (Lassithi, Askyphou, Omalos, Nida) angebaut. Der antike Naturkundler Theophrast (um 300 v. Chr.) berichtet, dass die Insel einst regen- und bevölkerungsreicher war; die Winter waren milder, und so konnte man auch auf den Hochplateaus, z.B. in der Ida-Hochebene (heute Nida), Getreide anbauen, was zu seiner Zeit nicht mehr möglich war. Eine kurzfristige Klimaänderung, vielleicht auch die wachsende Unsicherheit infolge der ständigen Kriege, führte zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Aktivität in den Bergen. Mittels Terrassierung konnte man zudem an den Abhängen der Berge und Hügel Anbauflächen gewinnen. Der Ackerbau wurde auf den Bergen als Mischwirtschaft betrieben – zusammen mit dem Olivenbau (bis zu einer Höhe von 800 m), dem Weinbau (bis zu einer Höhe von 1200 m) und der Haltung von Kleinvieh.
Die Viehzucht nimmt im Wirtschaftsleben der Kreter in jeder Epoche zentrale Bedeutung ein. Wir wissen von Pferdezucht, von Rinder- und Schweineherden, von Ziegenhaltung, vor allem aber von großen Schafherden. Aus Kreta stammt auch die früheste Darstellung eines Hirten mit seiner Herde auf europäischem Boden: Ein Gefäß aus Palaikastron (um 2000 v. Chr.) zeigt einen Hirten, der seine mehr als 200 Schafe hütet. Schafe und Ziegen fanden auf den Bergen vom Spätmärz bis Spätdezember günstige Weideplätze.
Viele Quellen dokumentieren die große Bedeutung der Viehzucht. Eine Verwünschung, die man in kretischen Eiden findet, lautet: «Wenn ich meinen Eid breche, sollen meine Schafe und meine Frau nicht nach den Regeln der Natur gebären.» Aristoteles berichtet, dass die Erträge der Viehzucht eine der wichtigsten Finanzquellen für die gemeinsamen Mahlzeiten der Kreter waren, und kretische Rechtsregeln haben häufig Probleme zum Gegenstand, die mit der Viehzucht zusammenhingen, etwa mit von den Tieren verursachten Schäden, den Grenzen von Weideplätzen, der Vererbung von Herden, den Viehdiebstählen (bis in die jüngste Zeit ein Problem auf Kreta) oder dem Verbot, Herden in heiligen Bezirken zur Weide zu führen. Auch die hellenistischen Staatsverträge befassen sich nicht selten mit dem Phänomen der Transhumanz, der periodischen Wanderung von Schaf- und Ziegenherden von und zu den Weideplätzen auf den Bergen.
Besonders wichtig waren die Nebenprodukte der Viehzucht: Käse, Milch, Joghurt, Speck, Wolle, Ziegenhaut – etwa für die Herstellung der kretischen Schuhe (opetia). Vor allem aber war die kretische Webkunst berühmt, die wichtigste Beschäftigung der Frauen und somit ein wichtiger sozialer Faktor. Das Weben war auf Kreta nicht nur wegen des Überflusses an Wolle so bedeutsam, sondern wurde auch vom Vorkommen der Farbstoffe und ihrer natürlichen Grundlagen – vor allem der Purpurschnecken – begünstigt.
Wer heute die kahlen, höchstens mit kargem Gebüsch bedeckten Berge Kretas sieht, dem fällt es schwer, den Angaben der antiken Autoren zu glauben, die, wie etwa der Geograph Strabon, berichten: «Die Insel ist gebirgig und bewaldet.» Und doch, nicht nur die antiken Zeugnisse, sondern auch Quellen und Berichte von Reisenden der frühen Neuzeit lassen keinen Zweifel daran, dass Kretas Waldbestand (Zypressen, Kiefern und Eichen) bis zur venezianischen Zeit (also dem 17. Jh.) reich war. Der Name des höchsten Gebirges, Ida, soll «der bewaldete Berg» bedeuten, und Platon beschreibt in seinem Dialog «Gesetze» (Nomoi) den Weg von Knossos zur Kultgrotte des Zeus auf dem Berg Ida mit folgenden Worten: «Der Weg von Knossos bis zur Grotte und Kultstätte des Zeus ist lang; es gibt aber genügend Orte auf dem Weg, wo man sich von der Hitze im Schatten der hohen Bäume erholen kann. (…) So lange wir gehen, finden wir auf dem Weg Haine von hohen Zypressen von unbeschreiblicher Schönheit und Wiesen, auf denen wir uns erquicken.» Die Inschriften bestätigen dieses Bild. Wir hören vom Verbot, Holz auf heiligem Land zu fällen, ja sogar von ausgedehnten Wäldern (drymos) in einer kaiserzeitlichen Inschrift aus Lyttos. In der Antike war Holz ein lebenswichtiger Rohstoff. Man denke etwa an die hölzernen Säulen öffentlicher Bauten, an Holzbalken in Häusern, an Fenster, Türen, Fußböden und Dächer; das Holz bildete das natürliche Rohmaterial für die Herstellung von Möbeln, Werkzeugen, Waffen, Schreibtafeln und Wagen. Holz war auch der wichtigste Brennstoff zum Heizen und Kochen; und man brauchte Holz für die aufwendigen Scheiterhaufen der adeligen Toten, für die Metallbearbeitung, für die Herstellung von Tongefäßen, für den Schiffbau. Denkt man daran, dass antike Schiffe – bis auf Bronzenägel und Segel – fast ausschließlich aus Holz konstruiert waren, so erkennt man sofort, wie wichtig der Waldbestand für ein Volk von Seefahrern war. Kurz: Die Wälder der kretischen Berge waren eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Autarkie der Insel.
Das kretische Holz von Zypresse und Zeder wurde nachweislich bereits vor der römischen Zeit ins Ausland exportiert: in der minoischen Zeit nach Ägypten und im 5. und 4. Jh. v. Chr. nach Delphi, Athen, Epidauros und Delos für die großen Bauprojekte in den dortigen Heiligtümern. Der attische komische Dichter Hermippos bezeichnete das kretische Zypressenholz als das Baumaterial athenischer Tempel par excellence: Aus Ägypten kommen nach Athen Papyrus und Stoffe, Weihrauch aus Syrien, Elfenbein aus Afrika, Rosinen und Feigen aus Rhodos, Birnen aus Euböa, Sklaven aus Phrygien, Söldner aus Arkadien, «aber das schöne Kreta bringt uns Zypressenholz für die Götter».
Unmittelbar mit den Bergen verbunden ist ein weiterer Zweig der Wirtschaft, die Bienenzucht: Sie war dem Historiker Diodor zufolge eine Erfindung – ebenso wie die Viehzucht – der kretischen Bergdämonen, der Kureten. Die Bienenzucht ist bereits seit der minoischen Zeit gut belegt – so erzählt ein kretischer Mythos, wie Glaukos, der Sohn des mythischen Königs Minos, in einem mit Honig gefüllten Vorratsgefäß ertrank. Der kretische Honig wurde bei der Zubereitung von Speisen verwendet, ferner im Kult und in der Medizin und wurde zumindest in römischer Zeit exportiert, zusammen mit anderen Erzeugnissen der Insel wie etwa Wein und Heilpflanzen.
Das Meer. Die zweite wesentliche naturräumliche Komponente, die das Leben der Kreter bestimmte, war das Meer. Das Meer bedingte die Abgeschlossenheit der Insel und die Entwicklung einer eigenen Kultur, ohne jedoch die Kontakte zum griechischen Festland zu unterbinden. Reisen zu den Inseln der Dodekanes und von dort nach Kleinasien, Zypern, Syrien und Palästina, ferner entlang der syro-palästinischen Küste nach Ägypten, waren seit der frühesten Vorgeschichte möglich, und diese Kontakte verliehen der Kultur und der Bevölkerungsstruktur Kretas ihr internationales Gepräge. Das von Strabon zitierte Sprichwort «der Kreter weiß nichts vom Meer» unterstrich mit Ironie gerade die Tüchtigkeit der Kreter in der Seefahrt. Die minoischen Malereien mit fröhlich springenden Delphinen – vgl. das Umschlagbild dieses Bandes – täuschen manchmal über die Tatsache hinweg, dass das Meer nicht nur der Lebensraum der friedlichen Delphine und der Kommunikationsweg zwischen den Kulturen ist. Ob das Meer Kreta mal isolierte, mal bedrohte und dann wieder mit anderen Regionen verband, hing stets von der allgemeinen politischen Lage im östlichen Mittelmeer ab.
Die Eroberung Kretas durch die Römer (67 v. Chr.) zeigt am deutlichsten die Auswirkung politischer Entwicklungen auf die historische Geographie der Insel. Sie hatte den Zusammenschluss der vielen rivalisierenden und immer in Kriege verwickelten Zwergstaaten zu einer großen politischen Einheit zur Folge: Kreta war jetzt eine Insel im Zentrum des befriedeten östlichen Mittelmeeres. Die Eroberung hatte tief greifende Folgen für die Gesellschaft und Wirtschaft (S. 107–112), die auch in der veränderten Bedeutung der Landschaft zu beobachten sind: etwa in der größeren Bedeutung der Häfen für die Handelsschiffe, in der weiten Streuung von Siedlungen in einer von Kriegen nicht mehr bedrohten Landschaft und in der handelsorientierten Nutzung des Landes.
Die Kreter. Zwei antike Redewendungen charakterisieren die Beziehungen der Kreter untereinander. Die Redewendung ho Kres ton Kreta («der Kreter überlistet den Kreter») brachte die Unbeständigkeit ihrer Freundschaften zum Ausdruck (vgl. das moderne Sprichwort Kritikó ki an kámis fílo, kráta ke kommati xílo, «wenn du Freundschaft mit einem Kreter schließt, halte am besten auch eine Rute»). Als synkretismos («Zusammenschluss aller Kreter») bezeichnete man den geschlossenen Auftritt der Kreter gegenüber den Nichtkretern, das trotz aller Streitigkeiten eintretende Zusammenstehen der Kreter gegen Gefahren von außen. Da eine ernsthafte Bedrohung durch die Außenwelt weder für das klassische noch für das hellenistische Kreta bezeugt werden kann, ist dieser Begriff historisch schwer zu fassen; auch sonst gibt es keine sicheren Zeugnisse von innerkretischen Vereinigungsbestrebungen vor der hellenistischen Zeit. Erst dann wurde ein Bündnis der Kreter (Koinon ton Kretaieon, S. 81) gegründet, welches aber nie ein Bündnis aller Kreter war. Nur die fremden politischen Theoretiker Platon und Aristoteles verstanden Kreta als eine Einheit hinsichtlich der vorhandenen Institutionen, und die fremden Dichter charakterisierten die Kreter mit stereotypen Bildern: Hirten und Jäger, Liebhaber der Musik, des Tanzes und der Knaben, Krieger und Seeräuber. In historischer Zeit identifizierte sich ein Kreter an erster Stelle mit seiner Rolle als Bürger seines Gemeinwesens, dann als Angehöriger einer Unterabteilung der Bürgerschaft, eines Männerhauses, einer sozialen Schicht, einer Familie. Lediglich im Ausland, wo Kreter seit dem 5. Jh. v. Chr. oft als Söldner dienten, verwendete er die Bezeichnung «Kreter» oft ohne Angabe seiner spezifischen Herkunft. Seine lokale Identität entwickelte sich eher auf der regionalen Ebene durch Teilnahme am Kult von Heiligtümern (Idäische Grotte, Diktynnaion, Heiligtum des Zeus Diktaios in Palaikastro, Heiligtum des Hermes in Simi Viannou). Interessanterweise befanden sich in der Regel solche Kultorte im Gebirge, dort, wo sich die Grenzen mehrerer Gemeinwesen, aber auch die transhumanten Hirten trafen.
Die Identität der Kreter wurde also stärker vom Gebirge als vom Meer geprägt. Sie wählten zuweilen ihre Namen aus dem onomastischen Material, das mit dem Berg zusammenhängt: Oreias («die Tochter des Berges»), Ide, Diktys und Tallaios (nach den gleichnamigen Bergen), Oreichares («die Freude des Berges» oder «Freude am Berg»). Und als die Städte im Gebiet von Sphakia im späten 4. Jh. v. Chr. einen Bundesstaat gründeten, gaben sie ihm den charakteristischen Namen Oreioi, die «Bergleute». Auch die anderen Griechen kamen, wenn sie nach typischen Bildern suchten, um die Kreter zu charakterisieren, immer wieder auf das Bild des highlander, des Jägers, des Hirten. In der Topik der Literatur verstecken sich oft längst überholte oder nur zum Teil realitätsnahe Zustände. Euripides ruft die Kreter des Chors seiner gleichnamigen Tragödie als «Söhne des Ida» (Kretes, Idas tekna) an, und mit ähnlichen Worten bezeichnet man in Griechenland heute noch die Kreter (paidiá tou Psiloríti). Zwischen diesen gleichlautenden Aussagen liegen Jahrhunderte von Veränderungen. Einige von ihnen werden uns in den nächsten Abschnitten näher beschäftigen.