GEORG KORF

DIE ANDERE SEITE DER WELT

GEORG KORF

DIE ANDERE SEITE
DER WELT

ROMAN

Aquamarin Verlag

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Nachwort

DIE GEISTERWELT IST NICHT VERSCHLOSSEN;

DEIN SINN IST ZU, DEIN HERZ IST TOT!

AUF, BADE, SCHÜLER, UNVERDROSSEN

DIE IRD’SCHE BRUST IM MORGENROT!

GOETHE, FAUST 1

1

IN EINEM DER GRÖSSTEN PATENTBÜROS BERLINS erschien an einem Vormittag, bald nach Beginn der Geschäftszeit, ein etwas schmächtig aussehender Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte und begehrte, den Chef selbst zu sprechen. Dieser, ein pünktlicher und fleißiger Mensch, war bereits anwesend.

Der Fremde wurde durch zwei geräumige Kontore bis in ein etwas kleineres Zimmer geleitet, das zwar einfach gehalten, doch behaglich ausgestattet war. Dem Kenner zeigte sich mit einem Blick, dass die Einrichtungen in diesem Raum zu einem Apparat gefügt waren, der eine schnelle Abwicklung der Geschäfte und eine genaue Ausführung der Arbeiten ermöglichte, und dass der Beherrscher dieses Apparates, ein intelligent und wohlwollend aussehender Herr in den vierziger Jahren, vorbildlich arbeitete.

Der Patentanwalt war in die Beschreibung einer neu eingereichten Erfindung vertieft. Er empfing den Eingetretenen sehr freundlich, wies ihm einen Platz in einem bequemen Sessel neben seinem Schreibtisch an und fragte verbindlich nach seinem Wunsch.

»Ich habe die Ehre, Herrn Clarus vor mir zu sehen«, sagte der Fremde, »mein Name ist Atlamos. Ich komme aus einer fremden Welt zu Ihnen. Was Sie sehen, bin nicht ich, sondern ich bin nur vorübergehend Gast in diesem Körper, dessen Besitzer ein Schauspieler namens August Fischer ist, der sich mit seiner Tante auf einige Wochen hier in Berlin aufhält. Ich komme zu Ihnen, nicht gerade in Erfindungsangelegenheiten; es handelt sich vielmehr um Entdeckungen von größter Bedeutung für die gesamte Menschheit, zu deren Offenbarung Ihre gütige Mitarbeit wertvoll sein könnte.«

Der Patentanwalt, der während seiner vieljährigen Berufstätigkeit schon Bekanntschaft mit vielen Verfechtern kleiner und großer Wahnideen gemacht hatte, dachte: »Der ist ein ganz Schlimmer. Er wird mich günstigenfalls eine Stunde, unnütz für ihn und für mich, aufhalten.«

Zu dem Fremden sagte er aufspringend: »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, mein Verehrtester – ein dringendes Telegramm.«

Der Fremde aber sagte schnell zu ihm: »Bevor Sie, verehrter Herr Clarus, Ihre wahre Absicht ausführen und, anstatt ein dringendes Telegramm aufzugeben, einen Beamten der Gesundheitspolizei durch Fernspruch herbeirufen lassen, sind Sie wohl so gütig und überzeugen sich davon, dass Sie keinen ›ganz Schlimmen‹, etwa mit einem Mangel an seinen fünf Sinnen, sondern jemand mit sogar mehr als fünf Sinnen vor sich haben, der Sie nicht eine Stunde unnütz, wie Sie befürchten, aufhalten wird, sondern dem heute höchstens zwölf Minuten zu einer kurzen Besprechung mit Ihnen zur Verfügung stehen.«

Aufs Höchste erstaunt über diese unerwartete Äußerung des Fremden ließ der Patentanwalt sofort von seinem Vorhaben ab und fragte fast ängstlich: »Aber, mein Herr, wie – was – wer sind Sie? Sie lesen ja Wort für Wort meine Gedanken – gibt es denn wirkliches Gedankenlesen?«

»Seien Sie nur nicht ängstlich«, erwiderte der Fremde. »Es geht alles natürlich zu, allerdings unter der Voraussetzung, dass man geneigt ist, sich das Prädikat ›natürlich‹ etwas erweiterter vorzustellen, als dies hierzulande allgemein üblich ist. Sie hatten eben den Beweis, dass Sie jemand mit sechs Sinnen vor sich haben; denn keiner der fünf Sinne, auf die Sie sich im Leben verlassen müssen, reagiert auf Schwingungen des Äthers, die durch Gedankentätigkeit hervorgerufen werden. Ich bin bereit, Ihnen einen weiteren Beweis für das Vorhandensein eines sechsten Sinnes zu geben. Setzen Sie sich bitte gleich telefonisch mit Ihrer Zweigstelle in Hamburg in Verbindung und fragen Sie dort an, ob nicht in diesem Augenblick – es ist jetzt genau 9 Uhr und 37 Minuten – sich ein Herr Ihrem Hamburger Geschäftsführer vorstellt, um mit ihm über eine Erfindung zu verhandeln, die den Zweck haben soll, eine bislang ganz unbeachtete Kraftäußerung der Natur dem Menschen durch eine geeignete Anwendung dienstbar zu machen. Er will die Keimkraft der Erde, die beispielsweise aus der unscheinbaren Eichel während eines Menschenalters einen Baumriesen erstehen lässt, durch eine besondere Maßnahme sammeln, so dass gewaltige Kraftmengen, die gewissermaßen über ein Jahrhundert verteilt sind, auf ein Jahr, einen Monat oder wenige Tage zusammengedrängt, dem Menschen nutzbar gemacht werden sollen, um ebenso – als aufgespeicherte Sonnenkräfte – friedlich die verschiedenartigen Arbeitsleistungen zu vollbringen, wie dies der durch menschlichen Einsatz erzeugte künstliche Blitz bereits vermag.«

»Ein verabredeter Trick von den beiden«, dachte der Patentanwalt.

»Verabredet in einem gewissen Sinn, doch ohne Wissen des anderen. Ich nenne es Inspiration, die jedoch nicht mit der Zeit in Zusammenhang steht, die gerade auf 9 Uhr 37 Minuten vorgerückt war, als mein Inspirant von Ihrem Hamburger Vertreter empfangen wurde, nachdem dieser von einem kleinen Geschäftsweg kurz vor dieser Zeit zurückkehrte. Also kein Trick, verehrter Herr Clarus, sondern einfache Telepathie«, ergänzte der Fremde, auf den unausgesprochenen Gedankengang des Patentanwalts antwortend, der mit größtem Erstaunen wiederum seine Gedanken durch den unheimlichen Fremden erkannt und beantwortet fand.

Nach einer kleinen Pause fragte er: »Ja, was ist denn Telepathie?«

»Dasselbe«, entgegnete Atlamos, »zwischen zwei Bewusstseinsapparaten, ich meine menschlichen Seelen, was zwischen zwei elektrischen Apparaten mit Funkspruch bezeichnet wird. Das Geschehen ist das Gleiche. Nur diese unmittelbare Gedankenübermittlung ist sehr viel einfacher als die Art, mittels fleischlicher Sprechwerkzeuge oder metallener Apparate Lufterschütterungen hervorzubringen. Allerdings ist dies keine Erfindung, sondern es gehört in das Gebiet der Entwicklung.«

»Halten Sie ein«, rief der Patentanwalt, »entweder sind Sie oder ich verr …«

»Wir beide nicht! Wenn Sie erst einmal einen etwas anderen Standpunkt zu den Naturgesetzen eingenommen haben werden, ereifern Sie sich nicht mehr über Dinge, die nicht wunderbarer sind als eine Mondfinsternis oder das Ausschlüpfen eines Kückens aus seiner engen Kalkzelle.«

»Aber nun werde ich mich erst überzeugen, wie es mit den 9 Uhr 37 Minuten in meinem Hamburger Kontor aussieht«, sagte Clarus, zum Telefon schreitend.

»Ich bitte sehr darum, aber bleiben Sie doch unbedenklich an Ihrem Schreibtisch und benutzen Sie die bequemere Sprechanlage; denn Sie müssen nach dem eben Erlebten doch schon bereits überzeugt sein, dass ich Ihre Gedanken durch die abschließenden Polsterwände des Telefonzimmers hindurch ebenso deutlich vernehmen werde wie ich sie bereits wiederholt durch Ihre feste Gehirnhülle hindurch ›hörte‹, bevor Sie sie in akustische Schwingungen der Luft formten. Sprechen Sie bitte ganz zwanglos hier in meiner Gegenwart, so als wäre ich nicht hier. Ich nehme Ihnen keine Äußerung oder Verdächtigung übel; denn selbst wenn Sie mich nicht sehen, oder präziser ausgedrückt, wenn Ihre Augen das Werkzeug, dessen ich mich in Ihrer Welt bediene und das Sie immer noch für den Sprecher halten, nicht mehr sehen, kann ich in der Lage sein, alle Ihre seelischen Strömungen in Form von Gedanken, Wünschen oder Regungen wahrzunehmen.«

»Ja, aber gestatten Sie – Herr – Herr – Atlamos, wer sind Sie denn eigentlich, und was haben Sie mit mir vor?«

»Wer ich bin, werden Sie noch erfahren; den Zweck meines Kommens natürlich auch. Mein Vorhaben mit Ihnen und anderen ist nur Gutes, sogar Großartiges. Legen Sie nur erst die Furcht ab und seien Sie unbesorgt, ich bin kein Mephisto. Wie ich Ihnen schon sagte, geht alles natürlich zu. Nur ist jetzt keine Zeit mehr für die Erklärungen, die ich Ihnen bei meinem zweiten Besuch ausführlich geben werde. Wollen Sie mir schnell Ihr Versprechen geben, dass Sie über das eben Erlebte vorläufig völlig schweigen werden?«

»Ja, aber …«

»Seien Sie versichert, mein lieber Herr Clarus, ich muss eilen, und das nächste Mal bekommen Sie eine befriedigende Aufklärung. In diesem Augenblick brauche ich nur Ihren festen Willensentschluss zum Schweigen – und zum Handeln in den kommenden Minuten. Sind Sie bereit?«

»Sie haben meine Einwilligung und mein Versprechen«, sagte Clarus schnell und entschlossen.

»Danke, merken Sie auf. Dieser Körper wird gleich wie leblos sein. Lassen Sie ihn so lange unberührt, bis dessen Besitzer vom Schlaf erwacht ist, was nach wenigen Minuten geschehen wird. Dann benetzen Sie seine Stirn und Schläfen mit kaltem Wasser und flößen ihm auch einen Schluck davon ein. Nach einer Weile fragen Sie ihn, ob er sich von seiner Ohnmacht erholt habe und bitten ihn, unter Angabe eines Ihnen passend erscheinenden Grundes, am gleichen Tag der nächsten Woche zur Nachmittagszeit wiederzukommen. Sie sprechen dann nicht mehr mit Atlamos, sondern mit einem Herrn Fischer, der – nichts – von – allem – weiß, was – hier – soeben – vorging.«

Während der letzten Worte, die abgebrochen und immer schwächer werdend hervorgebracht wurden, sank der Körper des Sprechenden langsam nach rückwärts an die Lehne des Sessels und blieb wie leblos liegen. –

Einige Augenblicke stand der Patentanwalt verblüfft und entsetzt neben dem Umgesunkenen. Es machte den Eindruck, als ob dieser Mensch soeben zum ewigen Schlaf eingegangen wäre. Nach einigen Sekunden bemerkte er jedoch mit fast ängstlicher Überraschung, dass regelmäßige, wenn auch schwache Atemzüge einsetzten und das Gesicht des rätselhaften Mannes einen schwach lächelnden und Leben zeigenden Ausdruck annahm. Dann schlug er die Augen auf, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend.

Der Patentanwalt tat, wie ihm aufgetragen worden war und wie er versprochen hatte. Er benetzte Stirn und Schläfen des Erwachten und gab ihm einen Schluck Wasser zu trinken.

Erstaunt um sich blickend, fragte der Fremde: »Wo – bin – ich?«

»Sie befinden sich in meinem Kontor, Wilhelmstraße Nr. 49. Clarus ist mein Name. Ein Fremder brachte Sie hier herein – doch haben Sie sich von Ihrer Ohnmacht ganz erholt?«

»Ohnmacht? Ach, ich war ohnmächtig? Wie kam es denn dazu? Ach ja, ich kreuzte die Wilhelmstraße auf dem Weg zur Bibliothek. Da überkam mich plötzlich ein unangenehmes Gefühl, als wenn mich der Tod auf offener Straße ereilen wollte. Ich entsinne mich noch, in ein Haus gegangen zu sein, und muss dann mein Bewusstsein verloren haben; denn wie ich in diesen Raum hier gekommen bin, in dem ich mich in Ihrer freundlichen Obhut wiederfinde, weiß ich nicht. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Mühe, die meine Gegenwart Ihnen verursachte. Von meiner Ohnmacht habe ich mich inzwischen vollkommen erholt.« Mit diesen Worten erhob der Sprecher sich von seinem Sitz. »Sie gestatten, mein Name ist Fischer, ich will nun keine Sekunde länger mehr Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehmen.« Er griff nach seinem Hut und machte eine höfliche Verbeugung.

»Gestatten Sie noch eine Frage«, sagte Clarus.

»Bitte.«

»Haben Sie häufiger solche Ohnmachten?«

»Noch nie in meinem Leben gehabt.«

»Fühlen Sie sich nicht mehr schwach, oder haben Sie noch Ohrensausen?«

»Mir kommt es vor, als wenn ich kräftiger wäre und mich wohler befände als vorher. Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, ich sei ohnmächtig gewesen, müsste ich glauben, aus einem tiefen, erquickenden Schlaf zu erwachen. Mein Kopf ist frisch und unbenommen, von Ohrensausen ist auch nicht die Spur vorhanden. Doch Ihre Zeit, Herr Clarus, ich möchte nicht länger stören, seien Sie meinetwegen unbesorgt. Noch einmal meinen herzlichen Dank für Ihre Güte, und ich bitte um Entschuldigung wegen der unliebsamen Störung.«

»Nicht doch, verehrter Herr Fischer. Sie sind durch Zufall so in den Bereich meines Interesses gerückt, dass ich nicht umhin kann, Sie zu bitten, mir nach etwa einer Woche freundlichst von Ihrem Befinden zu berichten. Da Ihre Zeit, die Ihnen für Ihre Besuchsdauer hier zur Verfügung steht …«

»Aber, mein Herr, woher wissen Sie denn, dass sich vorübergehend zu Besuch in Berlin bin; ich habe Ihnen das doch nicht gesagt?«

»Oh, es ist nur eine zufällig zutreffende Annahme. Ich wollte also sagen, die Zeit, die Ihnen zur Verfügung steht, dürfte wohl nicht so knapp bemessen sein, dass Sie mir nicht noch einmal das Vergnügen Ihres Besuches bereiten könnten.«

»Sie sind sehr gütig, Herr Clarus, gerne werde ich noch einmal vorbeischauen.«

»Wenn ich darum bitten darf, Herr Atlamos …«

»Wie?«

»… ach so, Herr Fischer. Entschuldigen Sie, als Geschäftsmann hat man viele Namen im Kopf zu behalten. Wenn ich Sie bitten darf, Herr Fischer, kommen Sie doch heute in einer Woche um die Nachmittagszeit wieder vorbei, dann würde es mir am passendsten sein.«

»Gewiss, ganz wie Sie wünschen, Herr Clarus«, versicherte Herr Fischer, während er fortging.

Clarus fasste sich an die Stirn, als die Tür sich hinter dem sonderbaren Gast geschlossen hatte und er in seinem Zimmer allein war.

»Das verstehe wer kann«, sagte er halblaut für sich, eilte dann ans Fenster und sah den rätselhaften Menschen festen, elastischen Schrittes über den Fahrdamm schreiten, die Richtung zur Bibliothek einschlagend.

»So geht doch keiner, der soeben eine Ohnmacht überstanden hat – und wie rasch erholte er sich. Ach was, das war ein plumper Schwindel. Wer weiß, was für ein Gaunertrick dahinter steckt. Doch das rätselhafte Gedankenlesen – kann auch ein Trick sein. Zufall und Glück können auch einmal Bundesgenossen eines Verbrechers sein. Ich werde mich rechtzeitig schützen.«

Er ging ans Telefon, ließ sich mit einem Detektivbüro verbinden und bat um einen tüchtigen Mitarbeiter. Vier Minuten später war dieser zur Stelle.

»Berthold, vom Detektivbüro Flugs. Sie haben ein eiliges Anliegen?«

»Ich wünsche umgehend die Beobachtung einer bestimmten Person. Schlanke Erscheinung, mittelgroße Figur, dunkles, langes, etwas lockiges Haar, braune Augen. Angeblich ist sie zur Bibliothek gegangen. Sie hat die Richtung dahin, so weit ich vom Fenster aus sehen konnte, auch eingeschlagen. Versuchen Sie vor allen Dingen auch seinen Bekanntenkreis zu erforschen.«

Der Detektiv hatte ebenso schnell, wie der Patentanwalt gesprochen hatte, die Worte stenografisch in sein Notizbuch eingetragen und verschwand mit einem hastigen: »Sehr wohl, Herr Clarus«, aus der Kanzleitür.

Erleichtert atmete Clarus auf. Er hatte das beruhigende Gefühl, als ob er durch einen gut ausgedachten Schachzug eine große Gefahr von sich abgewendet hätte und nun wieder ruhig an seine täglichen Aufgaben gehen könne.

Doch da fiel ihm das Wort Telepathie wieder ein. »Wie war das noch, um 9 Uhr 37 soll sich ein Komplize bei Mehrtens in Hamburg vorgestellt haben; und dieser sogenannte Atlamos drang darauf, dass ich mich hiervon telefonisch überzeuge. Werde es sofort tun, verehrter Herr Atlamos, ha, ha.«

Er rief in Hamburg an.

»Was sagte der Mensch noch für sonderbares Zeug?«, monologisierte Clarus: »Er komme aus einer fremden Welt … was ich sehe, sei nicht er … er hieße Atlamos und der Besitzer des Körpers Fischer. Was für verrückte Äußerungen. Sechs Sinne will er besitzen, Gedanken will er lesen können, und meine Gedanken hat er tatsächlich gelesen. Oder war das alles Wahrscheinlichkeitshypothese, die er trefflich erkannt hat; und ich bin in der Verwirrung, die er geschickt hervorzurufen verstand, darauf hineingefallen und habe mich in dem gegebenen Augenblick von einem ganz raffinierten Schwindler, der jedes Wort mit äußerster Vorsicht und Zweckmäßigkeit und dabei scheinbar gleichgültig anwandte, um in der Gesamtwirkung das Phänomen wirklichen Gedankenlesens vorzugaukeln, täuschen lassen. Dann die Komödie der Ohnmacht, aus der er mit großem Talent erwachte. Aber weiß der Gauner denn gar nicht, dass man nach einer fingierten Ohnmacht auch Ohrensausen, mindestens aber Schwäche heucheln muss? Im Gegenteil, er hat noch die Frechheit, mir weiszumachen, er fühle sich kräftiger als vorher. Hoffentlich wird der Detektiv schnell Licht in das mystische Dunkel dieser absonderlichen Persönlichkeit bringen. Eigentümlich ist allerdings, dass der sogenannte Herr Fischer nach der Ohnmacht einen etwas veränderten Gesichtsausdruck gegenüber demjenigen des sogenannten Atlamos zeigte, dessen Blicke, eigenartig starrend, mehrere Male auf mir ruhten, was nachher nicht mehr der Fall war. Auch ist es auffallend, dass Atlamos die Vokale so schön klangvoll, dagegen einige Konsonanten fremdartig akzentuiert aussprach, was nachher ebenfalls nicht mehr geschah. Das war in der Tat ganz hervorragend geschauspielert!«

So war der Patentanwalt noch eine geraume Zeit mit Betrachtungen über das Erlebte beschäftigt. – Es klingelte. Schnell nahm er den Hörer ans Ohr: »Hier Clarus u. Co., Berlin.«

»Hier Clarus, Hamburg.«

»Ist Herr Mehrtens am Apparat?«

»Ja, bitte.«

»Herr Mehrtens, war heute Morgen schon der Erfinder bei Ihnen, der die Keimkraft der Erde nutzbar machen will?«

»Ja, war er denn vorher bei Ihnen?«

»Nein – das gerade nicht – aber ich bin unterrichtet. Können Sie mir nicht die genaue Zeit sagen, wann der Mann bei Ihnen eintraf?«

»Nein, das kann ich Ihnen leider nicht angeben; denn der Betreffende wartete schon auf mich, als ich von Steffens zurückkehrte, mit dem ich eine kurze Unterredung hatte in der Angelegenheit Bayer in Wien. Ich habe mich nicht erkundigt, wie lange der Fremde gewartet hatte.«

»Wissen Sie denn die genaue Zeit, wann Sie Ihre Kanzlei wieder betraten und der Mann sich Ihnen vorstellte?«

»Ja, das werde ich Ihnen gleich auf die Minute sagen können. Ich stellte nämlich im Vorbeigehen meine Taschenuhr nach der Börsenuhr, die genau 9 Uhr 33 Minuten anzeigte. Ich ging dann ohne den geringsten Aufenthalt in unser Bürohaus, das, wie Sie wissen, höchstens drei Minuten von der Börse entfernt liegt. Das macht also 9 Uhr 36. Nun fuhr ich mit dem Fahrstuhl die zwei Stockwerke hinauf, ging den Korridor gemütlich entlang, was im Ganzen wohl eine Minute in Anspruch genommen haben mag, und gleich nach meinem Eintritt wurde mir der Mann vorgestellt. Nach meiner Rechnung muss es also 9 Uhr 37 bis 37 ½ Minuten gewesen sein.«

»Danke«, klang es aus Berlin, »vergleichen wir nun noch Ihre Taschenuhr mit meiner Kanzleiuhr, die jetzt gerade 10.30 Uhr schlägt.«

»Meine Uhr zeigt genau eine Viertelminute nach halb an, demnach geht die Ihrige eine Viertelminute nach Hamburger Börsenzeit zu spät, Herr Clarus. Aber was hat es denn auf sich mit Ihrer astronomisch genauen Nachforschung?«

»Davon später; für heute danke ich Ihnen, mein lieber Mehrtens.«

»War das nun echte Telepathie? Fernsehen ohne irgendeinen elektrischen Apparat, Fernhören ohne Telefon? Aber so etwas Ähnliches habe ich während meiner langen Tätigkeit noch nicht erfahren. So etwas gibt es ja überhaupt nicht, das ist ja ganz unmöglich! Halt, ich hab’s:

Die beiden Gauner – denn mit zwei abgefeimten Schurken habe ich es zu tun – bedienen sich einer noch nicht bekannten, verbesserten Radiotelegrafie – ein kleiner Apparat, unauffällig unter der Kleidung verborgen, würde genügen. Ein Fingerdruck – und das verabredete Zeichen ist in einem geeigneten Moment gegeben. Aber das wiederum ist auch unwahrscheinlich. Jemand, der eine Erfindung gemacht hat, um die drahtlose Telegraphie zu vervollkommnen und zu vereinfachen, wird sie nicht in den Dienst des Verbrechens stellen, sondern sich seinen Vorteil auf dem gebräuchlichen Weg durch Patentschutz sichern.«

So kreuzten Idee und Gegenidee das Gehirn des Patentanwalts, ohne dass er auch nur den geringsten Anhalt gefunden hätte, der ihm eine eindeutige Ansicht über den Unbekannten verschaffen konnte.

Am Mittag desselben Tages meldete sich Berthold bereits wieder bei Clarus. Dieser fragte den Detektiv hastig nach dem Ergebnis seiner Nachforschungen.

Der Detektiv begann: »In der Bibliothek sah ich einen Mann, auf den Ihre Beschreibung ganz genau passt. Er las Maeterlink »Das Leben der Bienen«, und ich musste lange warten, bis er fortging, um sich in seine Wohnung zu begeben. Das Ergebnis meiner Nachfragen, Telegrammwechsel mit auswärtigen Detektivbüros usw. ist, kurz gesagt: Der von Ihnen bezeichnete Mensch ist Schauspieler, heißt August Fischer, wohnt mit seiner Tante zusammen seit vier Tagen in der Wilmersdorfer Straße 9 im zweiten Stock. Er beabsichtigt, sich hier einige Wochen aufzuhalten. Sein Wohnsitz ist in Stuttgart, in der Theaterstraße 3. Mit Erfindungen soll er sich nie befasst haben, dagegen hat er eine besondere Vorliebe für das Studium der Tierwelt.«

Der Patentanwalt sah den Sprecher verblüfft an und sagte nach einer kleinen Pause: »Sind Sie ganz sicher, den richtigen verfolgt und beobachtet zu haben?«

»Haargenau denjenigen, den Sie mir in allen Einzelheiten beschrieben haben. Ich halte es für ausgeschlossen, dass sich zwei Menschen mit den von Ihnen aufgezählten Merkmalen gegenwärtig in Berlin befinden.«

»Ich danke Ihnen, Herr Berthold.«

Dieser empfahl sich.

»Nun bin ich gespannt auf heute in acht Tagen«, sprach der Patentanwalt halblaut zu sich selbst.

2

MARTIN HAGEN UND FRITZ GUTENBERG WAREN Spiel- und Schulkameraden in einer Hafenstadt gewesen. Beide verließen im gleichen Jahr die Schule. Martin kam in eine Maschinenfabrik, Fritz ging bei einer Speditionsfirma in die Lehre. Nach beendeter Lehrzeit führte das Schicksal sie weit auseinander. Martin Hagen bekam eine Stellung auf einer großen Schiffswerft in Hamburg, wo er Gelegenheit fand, sich technisch fortzubilden; Fritz Gutenberg ging ins Ausland.

In der ersten Zeit ihrer Trennung wechselten die Freunde häufig Briefe miteinander. Es schien, als wenn mit der Entfernung die Freundschaft gewachsen war, und beide hatten oft Sehnsucht nacheinander. Allein mit der Dauer der Trennung wuchs ein wohltuendes Vergessen empor, wie immer die Zeit eine stets neu bemusterte Decke wohltätig und freundlich über die kleinen und großen Leiden der Menschen ausbreitet. Der Briefwechsel zwischen den beiden Freunden wurde immer seltener, und nach einigen Jahren hörten sie nichts mehr voneinander.

Seit dem letzten Briefaustausch zwischen den beiden waren nun bereits fünfzehn Jahre vergangen.

Der Freund im Ausland hatte nach vielen Mühen, Entbehrungen und Reisen in Nordamerika endlich festen Fuß gefasst und sich in einer großen Fabrik in Chicago eine gute Stellung errungen. Durch Sparsamkeit und einfachen, schlichten Lebenswandel hatte er sich ein schönes Vermögen erspart, das ihn in die Lage versetzte, sich eine längere Zeit beurlauben zu lassen und größere Reisen zu unternehmen.

Nachdem er Amerika durchquert hatte, zog es ihn mit Macht zurück zur heimatlichen Erde, zur heimischen Sprache. Er schiffte sich eines Tages von New York aus nach Deutschland ein. Hamburg, von wo aus sich der Pulsschlag des Handels über sein Heimatland erstreckte, war sein erstes Reiseziel.

Anstelle des gigantischen Gepräges amerikanischer Großstädte zeigte ihm die deutsche Handelsmetropole ein ruhiges, ernstes Gesicht. Alte, ehrwürdige Kirchtürme, die einen großen Abschnitt deutschen Handels und Aufblühens während stürmischer und sonniger Tage erlebten, sahen wie alte Freunde und Beschützer auf das Schaffen und Treiben der Menschen in Straßen und Häfen, weit hinausragend über Rauch, Dunst und – Elend. Das alte Wahrzeichen Hamburgs, der Turm der großen Michaeliskirche, wiedererstanden in alter Form aus neuem Stoff, zeigte sich zuerst dem heimatliebenden Auge, als das Schiff, noch fern von der Stadt, elbaufwärts dampfte.

Fritz Gutenberg setzte nicht ohne innere Erregung, nach langer Abwesenheit auf fremder Erde, seinen Fuß auf heimatlichen Boden. Bevor er weiterreiste, um die Städte seines Heimatlandes kennenzulernen und seiner eigenen Heimatstadt einen Besuch abzustatten, gedachte er, etwa eine Woche in Hamburg zu bleiben. Er nahm Quartier in einem Haus an der Außenalster, in einem Vorort, fern vom Großstadtlärm gelegen.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Fritz war früh aufgestanden und nahm seinen Morgenkaffee im Garten ein.

Von diesem Platz aus genießt man einen herrlichen Überblick über die ganze Außenalster, den weit über Hamburgs und Deutschlands Grenzen bekannten, zu einem See erweiterten Nebenfluss der Elbe, auf dem sich viele Hunderte von Ruder- und Segelbooten am Tag und bis in die Nacht hinein tummeln. Kleine zierliche Dampfschiffe passieren hier in Zeitabständen von kaum fünf Minuten nach mehreren Richtungen die Landungsstelle und vermitteln einen fahrplanmäßigen Personenverkehr zwischen dem Herzen der Stadt, dem Jungfernstieg, und den verschiedenen Vororten Hamburgs. Lustige Melodien ertönen abends auf dem großen Konzertplatz, auf dem sich einheimische und fremde Besucher allabendlich zahlreich einfinden. Auf dem Wasser vor dem Konzertplatz liegen viele Gondeln und Boote, deren Insassen Ruder und Steuer aus der Hand gelegt haben, um den Klängen der Musikkapelle, die weit über das Wasser schallen, zu lauschen. Im Sommer leuchten die Umrisse des Uhlenhorster Fährhauses im Glanz tausender elektrischer Glühlampen; und auf dem Wasser strahlen bei feierlichen Anlässen die Boote aus unzähligen Lampions ein vielfarbiges Licht über die dunklen Fluten aus. Über dem bunten Treiben steht in einsamer Höhe der Mond, dessen milder Schein gegen die hier unten auf der Erde hergestellte Lichtfülle verblasst.

Der Pförtner dieses Hauses war mit der Ordnung der Tische und Stühle, die heute Nachmittag die Sonntagsgäste aufnehmen sollten, beschäftigt. Diesen fragte Fritz Gutenberg nach den Sehenswürdigkeiten von Hamburg.

Er fing an aufzuzählen: »Zoologischer Garten, Hafenrundfahrt mit Besichtigung eines Ozeandampfers, Museum, Kunsthalle, Rathaus mit vorzüglichem Weinkeller, Elbtunnel, Hoch- und Untergrundbahn …«

Sicherlich hätte der buntbestresste Hüter des Tores noch sämtliche Sehenswürdigkeiten aufgezählt, die in gedruckten Führern, fein alphabetisch geordnet, für einige Münzen zu haben sind, wenn Fritz ihn nicht unterbrochen hätte: »Aber das Beste sagten Sie mir bis jetzt nicht, von dem man sogar in Amerika spricht!«

»Ach, der Herr meinen wohl den Austernkeller in …«

»Nein, ha, ha, ha. – Wenn Sie wieder nach Hamburger Sehenswürdigkeiten gefragt werden, dann nennen Sie zuerst Hagenbeck; das ist für heute auch mein Ziel.«

»Hagenbeck – na gut. Das liegt aber in Stellingen, und Sie fragten nach Hamburger Sehenswürdigkeiten«, sagte pfiffig der Mann mit den blanken Knöpfen.

Eine Stunde später befand Fritz sich im »Tonparadies«.

So etwas gab es in dem sonst in jeder Beziehung konkurrenzlosen Amerika bisher noch nicht. Nachdem Fritz Gutenberg den Park durchwandert hatte und bereits ans Fortgehen dachte, zog es ihn noch einmal zum Eismeerpanorama, wo Menschenwitz ein reizvolles Stück Nordland mit seinen weißen Bewohnern und den blankhäutigen Seelöwen künstlerisch gruppiert hat, als wäre es aus der kalten Wirklichkeit des hohen Nordens herausgeschnitten und hierher gestellt worden.

Ganz vertieft in die scheinbare Wirklichkeit dieses Fleckchens nachgeahmter Natur vernahm Fritz hinter sich eine wohlklingende Stimme, die zwei Kinder erklärend auf die Einzelheiten der Eisbärengrotte aufmerksam machte, und die ihn, wie aus ferner Zeit, an Heimat und Jugend erinnerte. Er drehte sich um und sah in das ihm völlig fremde Gesicht eines Mannes mit blauen Augen und schönem Vollbart.

Aber die Stimme …

»Könnte es angehen, dass die Stimmen zweier Menschen sich genau gleichen, oder – «, Gutenberg dachte den letzten Satz nicht zu Ende. Er drehte sich schnell herum und wandte sich an den Besitzer der ihm bekannt erscheinenden Stimme: »Verzeihen Sie mein Herr, habe ich vielleicht das Vergnügen, Martin Hagen aus Bremen vor mir zu sehen?«

»Allerdings, mein Name ist Hagen, mit wem habe …«

Fritz ließ ihn nicht ausreden. Ihm beide Hände entgegenstreckend, rief er mit freudiger Überraschung: »Martin, mein guter alter Freund! Dein Gesicht ist mir zwar fremd geworden, doch deine Stimme ließ mich dich finden.«

Nach einigen Augenblicken des Erstaunens erkannte Martin seinen Jugendfreund ebenfalls: »Mein lieber Freund Fritz, woher kommst du denn so unerwartet?«

»Gestern traf ich mit dem Dampfer ›Ocean‹, von New York kommend, hier ein; und einen Tag später schon muss ich dahin gehen, wo ich zufällig deine Stimme zu hören bekomme. Wie sonderbar, dass man nach fünfzehn Jahren die Stimme eines Menschen überhaupt noch wiedererkennt.«

»Ja, die Sprache erkennt man aus Tausenden heraus und nach Jahrzehnten wieder. Sie ist ein wichtiger und leicht erkennbarer Teil der Eigenart eines Menschen.«

»Martin, wie geht es dir? Die zwei sind deine Kinder? Du bist also verheiratet; hast du selbst ein Geschäft?«

»Gut geht es mir. Ich bin Ingenieur auf einer großen Schiffswerft und habe eine liebe Frau.« Damit stellte Martin seinem Freund eine blauäugige Blondine mit freundlichem Gesichtsausdruck vor.

»Mein Mann hat oft von Ihnen aus seinen Kinder- und Jünglingsjahren erzählt, und ich bin hocherfreut, Sie nun auch persönlich kennenzulernen und einen stillen, stets gehegten Wunsch meines Mannes in Erfüllung gehen zu sehen. Und so überraschend, das ist einfach entzückend«, sagte Martins Frau mit vor aufrichtiger Freude strahlendem Antlitz.

»Und wie freue ich mich«, sagte Fritz, »so schnell nach meiner Ankunft auf deutschem Boden durch einen glücklichen Zufall meinen einzigen Freund, den ich in Deutschland besitze, wiedergefunden zu haben. Es ist mir eine besonders große Freude, von aufrichtigen Augen und freundlichen Lippen willkommen geheißen zu werden.«

»Wir wollen lieber sagen«, fügte Martin ein, »eine weise Fügung führte uns hier zusammen, weil es in unserem Schicksal so begründet liegt.«

»Ach Junge, du glaubst doch wohl nicht etwa an eine Vorherbestimmung?«, entgegnete Fritz. »Zufall und Glück spielen im Leben eine große Rolle. Ohne Zufall hätten wir uns doch hier in diesem Menschengewühl wohl nicht getroffen, und ohne einen glücklichen Zufall wäre ich schwerlich in die Lage gekommen, mir eine Vergnügungsreise nach Deutschland leisten zu können. Du kennst ja meine Verhältnisse von früher.«

»Gewiss mag man hier und da von Zufall sprechen können«, sagte Martin. »Doch wenn es sich um etwas handelt, das nicht ohne Zweck geschieht, so hatte die Erfüllung des Zwecks eine, oder besser gesagt, ihre Ursache; denn ohne Ursache gibt es doch keine Wirkung. Erkennen wir die Ursachen, deren Gesamtwirkung auf eine Zweckerfüllung hinausläuft, dann können wir die Geschehnisse nicht mehr mit dem Wörtchen Zufall abtun.«

Inzwischen war die kleine Gesellschaft zum Ausgang gelangt und bestieg auf Wunsch des neuen »Onkels« einen Wagen zur großen Freude der beiden Kleinen, die eine Autofahrt wesentlich interessanter fanden als eine Fahrt mit der alltäglichen Straßenbahn.

In der Wohnung Hagens, die sich in einem Haus am Rand der Großstadt befand, angekommen, waren die beiden Freunde ein Stündchen miteinander allein, da Frau Hagen mit den Kindern und der Zubereitung des Abendessens zu tun hatte.

»Um noch einmal auf den Zufall zurückzukommen«, sagte Martin, »möchte ich dir, lieber Fritz, die Frage vorlegen: »Was war das bedeutendste Ereignis in deinem Leben drüben in Amerika?«

»Eben der Zufall, mein Freund, von dem ich schon sagte, der es mir ermöglichte, mir meine Reise nach hier erlauben zu können«, antwortete Fritz prompt. »Das kam so: Eines Tages erkrankte mein Chef und ließ mich telefonisch zu seiner eine halbe Stunde von der Fabrik entfernten Villa rufen, um mir eine wichtige geschäftliche Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete, zur Erledigung zu übertragen. Sofort verließ ich das Büro, und zufällig fuhr vor dem Gebäude ein Zweispänner vorbei, der unbesetzt war. ›Heda‹, rief ich den Kutscher an, ›fahren Sie mich schnell zur Villa ›Port Sunlight‹ im East Park‹.

In kaum zehn Minuten kam ich vor dem Ostpark, wie das große Grundstück meines Chefs heißt, an. Irrtümlicherweise hatte der Kutscher mich aber nicht zum Haupteingang, sondern zu der hinteren Pforte gefahren, so dass ich – einmal ausgestiegen – diesen Eingang benutzte und nun den ziemlich langen Park zu durchschreiten hatte. Ein gelinder Groll, der in mir wegen der Unaufmerksamkeit des Kutschers aufgestiegen war, verflog schnell, als ich den prachtvoll angelegten Park durchkreuzte, mir die herrlichen Düfte aus tausenden der verschiedenartigsten Blüten entgegenfluteten und meine Augen an der Zauberpracht exotischer Gewächse vorbeieilten. Das am Ende eines breiten Seitenweges befindliche Rosen-Rondell verlockte mich, vom geraden Weg abzuweichen. Ich bin ein großer Freund von Rosen, und es ist wohl selten in meinem Leben vorgekommen, so oft ich die Königin der Blumen zu Gesicht bekam, dass ich nicht einige Augenblicke in ihrem Duftkreis verweilte, um der Grüße aus einer stillen, schönen Welt teilhaftig zu werden, die die Natur gerade bei diesen Geschöpfen in verschwenderischer Fülle den Menschen so freundlich spendet. An die entgegengesetzte Seite des Rondells, gegenüber dem Weg, den ich gekommen war, grenzt ein größerer Teich, von dessen Mitte her in dem Augenblick, als ich meine duftenden Lieblinge verlassen wollte, ein starkes Klatschen und Plätschern hörte. Mich umschauend, sah ich ein leeres Boot, daneben ein Ruder treiben, und ringsum sich ausbreitende Wellenringe, in deren Mittelpunkt ich eine Kinderhand verschwinden sah. Als guter Schwimmer sprang ich schnell nach Entledigung meiner Oberkleider ins Wasser, schwamm zu der Unfallstelle und hatte das Glück, gleich beim ersten Tauchen das Kind zu erwischen. Mit einiger Mühe gelang es mir, das Kind und mich ins Boot zu retten. Mit wenigen kräftigen Ruderschlägen gelangte ich ans Ufer, legte den leblosen Körper auf den Rasen, und mit Unterstützung eines inzwischen herbeigeeilten Gärtners gelang es uns, den Knaben wieder ins Leben zurückzurufen. Der Zufall machte mich zum Lebensretter des achtjährigen Söhnchens meines Chefs.

Nachdem ich mit trockenen Kleidern versehen war, erledigte ich die geschäftliche Besprechung mit meinem Chef. Vorher hatte ich bei dem Personal strengstens angeordnet, mit meinem kranken Boss erst nach seiner Wiederherstellung über die Sache zu sprechen. Die Frau meines Chefs war für einige Tage verreist, und der Arzt, der kurz nach dem Vorfall angekommen war, wurde zuerst zu dem Sohn gebracht und auch darin verständigt, dass der Vater noch nichts wisse. Du kannst dir schon denken, lieber Martin – aus Dankbarkeit für die Lebensrettung seines Kindes machte mich mein Chef zum Teilhaber. So machte ich mein Glück durch einen Zufall, oder eigentlich durch eine Kette von Zufällen.

Hätte der Kutscher nicht den Irrtum begangen, mich anstatt vor das Hauptportal zur Hinterpforte zu bringen, wäre ich nicht Zeuge des Unglücksfalles geworden; und wäre der Kutscher nicht gerade in jenem Augenblick vorbeigefahren, als ich aus dem Geschäft eilte, dann wäre ich um Sekunden oder Minuten zu spät dort angelangt, wo ich nun zufällig zum Retter eines Menschenlebens werden konnte. Wäre es zufällig ein Einspänner anstatt eines Zweispänners gewesen, und wären die Pferde nicht so flott gelaufen, sicherlich wären auch dadurch so viele kostbare Sekunden versäumt worden, dass ich erst dann an der Unglücksstätte hätte eintreffen können, als es zum Helfen bereits zu spät war. Wie anders als ›glückliche Zufälle‹ soll man dieses alles bezeichnen. So verdanke ich dem Zufall meine jetzige Anwesenheit in Hamburg und einem anderen Zufall die Begegnung mit dir, und zwar an einer so stark besuchten Stätte, wo das Auffinden einer einzelnen Person gewiss nicht allzu leicht sein dürfte, wenn nicht Treffpunkt und Minute genau vorher verabredet wurden.«

»Sehr schön, mein Freund«, antwortete Martin, »aber die Möglichkeiten, von denen du einige aufzähltest, um den Zufall zu beglaubigen, sind noch lange nicht erschöpft; und wo du Zufall siehst, glaube ich zweckmäßiges Zusammenwirken erkennen zu können, um dich im rechten Augenblick dahin zu bringen, wo auch du einen Zweck erfüllen konntest, erfüllen musstest.

Im weiteren Verfolgen der Möglichkeiten müssen wir uns fragen, welche Ursachen vorangingen, dass dein Chef an dem Tag gerade krank sein musste, als sein Sohn ins Wasser fiel. Welche Beweggründe veranlassten den Knaben, ohne Aufsicht das Boot zu besteigen, das ihm doch sehr wahrscheinlich untersagt war. Durch welchen Aufenthalt oder durch welche Person, die eben vorher von deinem Kutscher befördert sein mochte, wurde letzterer veranlasst, im notwendigen Augenblick deinen Weg zu kreuzen? Dann die Ablenkung von dem geraden Parkweg durch deine Vorliebe für Rosen – versuche alle vorangegangenen Möglichkeiten und Ursachen zu ergründen, und du verlierst dich in einem Labyrinth, das unzählige verschlungene Pfade hat, die alle aus der Unendlichkeit von Möglichkeiten, aus der Unergründlichkeit kommen. Mir scheint, bei allem Suchen nach dem Ursprung verwechseln wir nur zu leicht Ursache und Wirkung, Zweck und Wege, oder dem Zweck dienende Wege, die du mit vielen anderen ›Zufälle‹ nennst, und die doch nur die Erfüllung eines Zweckes als Ursache haben. Aber, lieber Freund, ein Weg ist zu ergründen, der diesem Wirrwarr von verknüpften Fäden, die in diesem Fall alle zu dem einen Zweck hinführten, erklärt. Dieser Weg ist sehr kurz und schnurgerade. Der einzige Weg, der alles Nebensächliche, das allerdings als Mittel zum Zweck aufzufassen ist, entwirrt, bist – du selbst.«

»Ich selbst?«, fragte Fritz erstaunt.

»Ja, höre. Warum hat dein Chef gerade dich telefonisch berufen?«

»Weil ich sein Vertrauen genoss.«

»Gut, dieses Vertrauen hast du dir bei deinem Chef doch durch deine Befähigung erworben, und zu deiner Befähigung kamst du sicher nicht durch einen Zufall, sondern durch dein vorheriges Studium und durch deinen unermüdlichen Fleiß.«

»Das muss ich zugeben«, sagte Fritz.

»Also lag in deinem eigenen Wesen, das sich durch Betätigung deines Willens bis zu der Gesamtsumme deiner Befähigung entwickelt hatte, dein damaliges Schicksal begründet; so dass gerade du, und kein anderer, eben durch den Gesamtwert deiner Individualität, zum Mittel, und wenn man will, zur Ursache wurdest. Erscheinen dir in diesem Sinn nicht die unentwirrbaren Nebenursachen als – zwar notwendige – Begleiterscheinungen, die von einem weisen, ineinandergreifenden Gesetz so geleitet wurden, dass daraus ein erkennbarer Zweck hervorging?«

»Ich muss sagen, lieber Martin, deine philosophische Schlussfolgerung klingt mir so sympathisch, dass ich sie glauben möchte; aber wir können doch unmöglich die Schicksale der Menschen auf Gesetze zurückführen.«

»Warum denn nicht? Ist es nicht ein Gesetz, das in jedes Samenkorn von einem unsichtbaren Gesetzgeber hineingeschrieben ist? Gesetzmäßig entwickelt sich die Sonnenblume, wenn du einen ihrer Kerne in die Erde legst. Gesetzmäßig ist alles in der Natur, vom mikroskopischen Bewohner des Wassertropfens bis zu dem Kreisen der Gestirne um Sonnen und Zentralsonnen. Jede Pflanzenart, jede Tiergattung und jedes Einzelwesen entwickelt sich nach Gesetzen, von denen wir nur die Wirkungen sehen. Die Ursachen wurzeln im unendlichen und unergründlichen Wesen der Dinge.

Sollte nun der Mensch, der durch seine Denkkraft und durch sein feiner organisiertes Empfinden weit über die Pflanzen und Tiere gestellt ist, nicht einer gesetzmäßigen Entwicklung, gemäß seines Wertes, unterstehen? Er, der durch seine Vernunft in die Tiefen des Seins einzudringen vermag, der mit bewusstem Willen sich die verschiedenen Naturkräfte dienstbar gemacht hat, der mit seiner Denkkraft den Erdball umspannt; dieser Auserwählte seines Planeten, den er mit Myriaden anderer Lebewesen zugleich bewohnt, sollte in seinem Entwicklungsgang als geistiger Träger von Kultur, Wissenschaft, Ethik und Kunst blindem Zufall unterworfen sein? Nein, mein lieber Freund, nach meiner Lebensauffassung, Lebenserfahrung und Weltanschauung, die ich dem Leben abgerungen habe, kann ich nur überall ein weises Gesetz walten sehen, wo Engherzigkeit und Weltklugheit nur blinden Zufall und Gesetzlosigkeit erblicken.

Ebenso wie die Beschaffenheit des Samenkorns das Wachstum und die Größe der daraus hervorgehenden Pflanze bedingt, so ist die Beschaffenheit der Seele, der Charakter, für ihr weiteres Wachstum maßgebend, womit das Schicksal innig verbunden ist. So ist jeder sich selbst sein ureigenes Gesetz.

»Du redest ja wie ein Buch«, sagte Fritz. »Ich glaube dir gern, aber ich fasse es noch nicht gleich. Wie bist du denn dazu gekommen, dich in eine solche Philosophie hineinzuleben?«

»Durch das bedeutendste Ereignis in meinem Leben, das natürlich kein Zufall war«, sagte Martin lächelnd. »Bei einer anderen Gelegenheit werde ich dir hiervon erzählen.«

»Sag’s mir doch gleich«, drängte Fritz.

»Nun, durch eine spiritistische Sitzung«, antwortete Martin.

»Aber, bester Freund, so etwas ist doch Humbug.«

»Bis auf den kleinen Rest Wahrheit, der genügt, um aus einem Saulus einen Paulus zu machen.«

»Was du nicht sagst! Da bin ich aber begierig, von dir etwas über eine Sache zu erfahren, von der man doch nur mit Achselzucken oder Lächeln gelegentlich sprechen hört.«

»Naturgesetze oder Wirklichkeiten sind nicht beeinflussbar durch die jeweiligen Meinungen der Menschen. Der Hypnotismus zum Beispiel wurde vor kaum vier Jahrzehnten noch am hartnäckigsten von denjenigen Fachleuten bekämpft und als Aberglaube verschrien, die sich seiner heute in vielen Fällen zu Heilzwecken bedienen. Die Worte Hypnose und Suggestion sind längst salonfähig geworden und ihr Dasein und ihre Wirkung selbst von dem kritischsten Forum der Wissenschaft – dem medizinischen – anerkannt worden. Aber hat es die Kraft der Einbildung, die das Wirksame bei der Suggestion ist, nicht etwa schon früher gegeben, bevor der Mensch ihr einen wissenschaftlich wohlklingenden Namen gab?

Mit dem menschlichen Magnetismus, auch Mesmerismus genannt, stehen wir gerade jetzt am Wendepunkt seiner Existenzberechtigung. Aber ist es etwa ein Fehler des Magnetismus, dass ihn in Deutschland erst wenige Ärzte anerkennen, wohingegen in Amerika schon Lehrstühle zu seiner Erforschung und Anwendung errichtet sind? Klingt es nicht recht einfach und natürlich, dass ein hervorragend gesunder und zugleich auch moralischer Mensch von seiner gesunden Lebenskraft etwas übertragen kann auf einen Menschen mit schwacher Lebenskraft? Krankheit ist eine Eigenschaft; Gesundheit aber ebenfalls. Die Übertragbarkeit von Krankheiten erkennt alle Welt an, warum nicht die Übertragbarkeit der Gesundheit! Ist das nicht logisch?«

»Ja«, sagte Fritz, »in der Art, wie du es zu erklären verstehst, erscheint es mir so. Doch werden die wissenschaftlichen Gegner auch ihre Gründe haben.«

»Gewiss, lieber Freund, es gibt heute sogar noch Gegner der Hypnose in den verschiedensten Gesellschaftsklassen, die ihre Gegengründe gegen ihn ins Feld führen, und doch ist die Wahrheit der Hypnose längst erwiesen. Wie ich schon sagte, sind die Naturgesetze nicht von den Meinungen und Ansichten der Menschen abhängig; sondern die Menschen müssen sich den Neuentdeckungen anpassen, auch denjenigen Naturgesetzen, von deren Vorhandensein wir heute vielleicht noch keine Ahnung haben, die aber dennoch im Dunkel der Zukunft schlummern. So ist es auch mit dem Spiritismus als Experimentalwissenschaft.«

»Nun muss ich eure Betrachtungen wohl endlich unterbrechen«, klang die Stimme von Frau Hagen durch die eben geöffnete Tür, »sonst philosophiert ihr noch bis morgen früh und vergesst Essen und Schlafen. Wenn ich bitten darf, das Abendessen steht schon eine geraume Zeit im Zimmer nebenan. Ich wollte nur nicht mitten im Thema stören.« Zu Gutenberg gewandt, sagte Martins Gattin: »Wenn mein Mann erst in sein Lieblingsthema kommt, dann ist überhaupt kein Ende abzusehen.«

»Es ist aber auch wirklich interessant, liebe Frau Hagen, Ihrem Mann zu lauschen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viel Lehrreiches zu hören bekommen wie heute in kaum einer Stunde.«

Man setzte sich im Nebenzimmer zu Tisch, und plaudernd wurde der weltlichen Nahrung zugesprochen, »die für den Leib ebenso dienlich ist, wie die geistige Nahrung für die Seele«, bemerkte Fritz scherzend.

»Wenn es dich interessiert«, setzte Martin die Unterhaltung fort, »werde ich dich übermorgen in eine spiritistische Sitzung mitnehmen. Ich bin dazu eingeladen und darf wohl einen guten alten Freund mitbringen.«

»Und ob es mich interessiert!«

»Es wirkt in diesem Zirkel ein sogenanntes Sprechmedium. Derartige Medien sind immer besonders interessant, weil die Verständigung durch sie eine ungleich schnellere und zuverlässigere ist, als durch Schreib- oder durch Klopfmedien.«

»Ich muss aufrichtig gestehen«, sagte Fritz, »dass ich keine Ahnung von diesen Fachausdrücken habe: Sprech-, Schreib- oder Tischmedium. Aber ich bin sehr gespannt auf die Sitzung. Du bist wohl so freundlich und klärst mich über die verschiedenen Medien noch auf, damit ich nicht als völlig Unkundiger teilnehme.«

Die beiden Freunde begaben sich auf den Balkon, der in seinem farbigen Blumenschmuck recht einladend aussah, steckten sich eine Zigarre an, und bei dem blauen Rauch, der in seinen lang gestreckten Wolken schwebte und von dem leisen Wind bald zu einem schleierähnlichen Gebilde, bald zu einem Wirbel geformt wurde, nahm die Unterhaltung ihren Fortgang.

»Es wird das Beste sein, ich erzähle dir, wie ich zum Spiritismus kam; dann lernst du ihn ebenso gründlich in dem Anfangsstadium kennen wie ich. Ich will dir den Hergang so anschaulich schildern, dass du meine erste spiritistische Sitzung miterlebst, sofern du meiner getreuen Schilderung Glauben schenken willst.«

»Aber ich bitte dich, lieber Martin, wie könnte ich nur eine Sekunde bezweifeln, dass du wahrheitsgetreu berichtest.«

»Na, abwarten. Ich könnte mich ja getäuscht haben, wie so gern angenommen wird, wenn es sich um Spiritismus handelt.«

»Gut, ich werde dir meine Meinung jedes Mal sagen, wenn ich den Eindruck bekomme, als hättest du dich getäuscht.«

»So ist es recht, alter Freund, dann werden wir klar zueinander stehen, und Missverständnissen wird dadurch am besten vorgebeugt.«

Martins Gattin trat in diesem Augenblick auf den Balkon, mit einer kleinen Stickarbeit bewaffnet.

»Es ist gut, liebe Marga, dass du gerade kommst«, bemerkte ihr Gatte. »Ich wollte soeben damit anfangen, unserem lieben Gast von unserem gemeinschaftlichen Erlebnis auf dem spiritistischen Gebiet zu erzählen.«

»Glaubst du, dass das deinen Freund interessieren wird, es ist doch nichts Besonderes.«

»Es ist sehr geeignet und kann zur Einführung in die Sache dienen …«

»Und interessant wird es schon sein, was Martin zu erzählen hat«, fiel Gutenberg ein, »bis jetzt hat mich alles außerordentlich interessiert.«

Martin begann: »Es war im Sommer vor nunmehr elf Jahren, als mir ein alter, ehrwürdiger Herr ganz merkwürdige Geschichten von spiritistischen Erscheinungen erzählte, die ein Freund von ihm in New York erlebt haben wollte. Dieser alte Herr gab mir ein über fünfhundert Seiten starkes Buch mit der Bitte, ich möchte mich einmal hineinvertiefen, er sei zu alt, um noch ein derartiges Studium zu machen. Er versicherte mir aber, dass sein Freund, der ihm von seinen verstorbenen Angehörigen erzählt habe, ein durchaus ernst zu nehmender Mensch sei, dem er auch in diesen Erzählungen Glauben schenken müsse. Das Buch, das den Titel »Das Buch der Medien« trug, las ich nun sorgfältig durch. In einem Kapitel fand ich eine genaue Anweisung, wie man eine spiritistische Sitzung veranstalten kann, um sich von sonderbaren Phänomenen und Offenbarungen zu überzeugen. Zu der Zeit, als ich das Buch gelesen hatte, war meine Braut, also meine jetzige Frau, bei meinen Eltern zu Besuch. Ich erzählte ihr vom Inhalt dieses eigenartigen Werkes und fragte sie, ob wir beide einmal einen Versuch im Sinne der Anleitung unternehmen wollten. Sie erklärte sich hierzu bereit, und wir setzten uns an einen kleinen dreibeinigen Tisch, legten die Hände darauf und warteten schweigend und ernst auf das, was kommen würde. Wir mochten wohl eine halbe Stunde gesessen haben, da bewegte sich der Tisch mit einem kleinen Ruck. In Zwischenräumen von einigen Sekunden wiederholte sich dieser Ruck, und wir fragten uns gegenseitig: ›Hast du es getan?‹ – ›Nein!‹

»Gestatte mir eine kleine Zwischenbemerkung«, sagte Fritz. »Wenn ihr eine halbe Stunde eure Hände unbeweglich auf dem Tisch liegen hattet, dann ist es doch wohl naheliegend, dass ihr Nerven- und Muskelzuckungen bekommen musstet, ohne euch dessen bewusst zu werden.«