Inhaltsverzeichnis

Zeitenwende.
Ein Prolog

Es gibt vielleicht kein aussichtsloseres Unterfangen als den Versuch, seine eigene Gegenwart zu verstehen. Wir sind Teilnehmer eines Geschehens, und Teilnehmer sind schlechte Beobachter. Das gilt umso mehr, als ziemlich viel von dem, was im Jahr 2020 geschieht, nach Erosion aussieht – nicht nur von Erwartbarem und Gewohntem, sondern auch von politischen und sozialen Sicherheiten.

Als wir dieses Buch zu schreiben begannen, im März 2020, befanden wir uns gerade am Anfang der Corona-Krise, die uns da noch kaum einschlägig für unsere Beschreibung einer »Zeitenwende« erschien. Uns ging es um Prozesse der Entdemokratisierung, den Antisemitismus, die Umfiguration der geopolitischen Lage, die Rückkehr der scheinbar Wahnsinnigen in die Weltpolitik – und die alles überwölbende Frage, wie unsere Gesellschaft so zu stärken sei, dass sie den neuen Herausforderungen begegnen kann. Und sich als Demokratie, als Offene Gesellschaft modernisieren kann.

Fragen der Demokratie, ihrer Bewahrung und Modernisierung, der Stärkung der Menschenrechte und des Schutzes der Menschenwürde hatten uns beide auf unterschiedliche Weise und auch aus unterschiedlichen Gründen seit vielen Jahrzehnten beschäftigt. Gerade weil wir, wie wir aus unseren vorherigen Gesprächen wussten, keineswegs in jeder Hinsicht übereinstimmten, schien es uns wichtig, gemeinsam über die Gefährdungen der Demokratie nachzudenken, zu streiten und, wenn es gut liefe, zu Gedanken zu kommen, auf die man allein nicht käme. Dialog und Streit sind der

Knapp zwei Monate später, als wir uns erneut zu Gesprächen trafen, war alles anders. Zu allen Erosionsfaktoren, die wir im Begriff der »Zeitenwende« zusammenzufassen versuchten, kam es mit dem Coronavirus im Frühjahr 2020 zum Ende aller Gewissheiten, die zuvor den selbstverständlichen Hintergrund unserer Existenz bildeten.

Tatsächlich war der ungewöhnlichste Erwartungsbruch für fast alle Menschen, sich plötzlich in einer Situation zu finden, in der man keine Erwartungen ausbilden konnte. Von jetzt auf gleich war komplett unabsehbar geworden, wie nachhaltig sich eine Pandemie ausbreiten würde, wie man sie eindämmen könnte, was die ökonomischen, die sozialen, die psychologischen Folgen sein würden und wie sie sich, je nach Dauer der Krise, ausprägen würden. Die Ereignisse überschlugen sich und verdichteten sich zu einem Nicht-Ereignis, genannt Lockdown. Nicht nur unserer Gesellschaft wurde radikal klar, wie schnell Pläne, die politische Statik, die ökonomische Basis, die alltäglichen Gewohnheiten blitzschnell der Vergangenheit angehören können.

Eine Vollbremsung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten – das kannte man nicht, jedenfalls wenn man das Glück hatte, irgendwann in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein. Eine vollständige Entleerung des öffentlichen Raumes. Eine physische Kontaktsperre. Und das Ganze unter der Dominanz der Wissenschaft, die unmittelbar das politische Entscheidungshandeln zu bestimmen begann, bis hin zu der Konsequenz, Grundrechte auf eine Weise zu beschränken, wie wir das noch bei unserem ersten Treffen im März für unmöglich gehalten hätten.

Die getroffenen Maßnahmen fruchteten erstaunlich gut – ablesbar an Statistiken zu Infektions-, Genesungs- und Sterberaten. Die Bundesrepublik erwies sich einmal mehr als unglaublich gut

Insgesamt lässt sich die Krise als eine gigantische Versuchsanordnung beschreiben. In der Bundesrepublik wurde eine Demokratie im Ausnahmezustand getestet. Für unser Gespräch bedeutete das eine notwendige Erweiterung unserer Fragestellung. Hatten wir uns zunächst auf Fragen von Demokratie und Menschenrechten, von Rechtsextremismus und -terrorismus, auf die Latenz antisemitischer und rassistischer Einstellungen, die Erinnerungskultur und die politische Bildung in Deutschland konzentriert, öffnete sich uns nun ein viel breiteres Spektrum von Phänomenen, in denen sich eine Zeitenwende abspielt.

Zum Erscheinen des Buches wird längst noch nicht endgültig absehbar sein, wie nachhaltig die Krise die moderne Demokratie verändern wird – dazu ist unser Beobachtungszeitraum zu kurz. Aber immerhin wissen wir, dass Grundrechtseinschränkungen, wenn sie einleuchtend begründet werden, von großen Teilen der Bevölkerung ohne Murren akzeptiert werden. Das Prinzip, dass

Vielleicht muss man darauf hinweisen, dass es ein Glücksfall ist, dass demokratische Parteien dieses Land regieren. Stellen wir uns die Bundesrepublik Deutschland vor, wenn Parteien wie die AfD Exekutivgewalt gehabt hätten und es sich um einen »Zweck« gehandelt hätte, der nicht objektiv die Frage des kurzfristigen Abbaus von Demokratie und Freiheitsrechten ergeben hätte, sondern ein populistisches Thema, das maximal aufgeheizt worden wäre. Deswegen ist die Frage umso dringlicher: Wie steht es um die gesellschaftliche Verankerung der Werte, die dem Grundgesetz zugrunde liegen? Diese Frage ist für uns zentral, geht es doch letztlich um die Stabilität und Verlässlichkeit freiheitlicher und demokratischer Haltungen bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Und wie steht es um die Stabilität und Verlässlichkeit der Errungenschaften des zivilisatorischen Prozesses – von Institutionen wie der EU bis hin zu Standards der Ächtung von Gewalt und Unantastbarkeit der Menschenwürde? Und weiter: Wie rapide verändern sich Standards der politischen Entscheidungsbildung und welche Wissensformen und Technologien gewinnen dynamisch an Bedeutung? Im Fall der Corona-Krise waren es die medizinischen Teildisziplinen Virologie und Epidemiologie – Fächer, die zuvor keinerlei Bedeutung im alltäglichen Leben der Menschen und im Handeln der Politik hatten. Und es war in überragendem Maße die digitale Technologie, die das social distancing zu kompensieren half, Arbeitsprozesse ermöglichte und, nicht zuletzt, neue Standards gesellschaftlich akzeptierter Überwachung setzte.

Gehen wir mit Herfried und Marina Münkler (Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland) davon aus, dass eine funktionierende Demokratie der »komplementären Rationalitätsanforderungen von Faktizität und Narrativität« bedarf. Faktizität ist nötig, um die Machbarkeit, Kosten und Folgen von Plänen und Maßnahmen

Während prä-coronastisch sich die Balance seit der »Flüchtlingskrise« ab 2015 zugunsten der Narrativität verschoben hatte und ungute Folgen für das demokratische Gemeinwesen entfaltete (in den meisten europäischen Gesellschaften noch mehr als in der Bundesrepublik), wirkte die Corona-Krise wie ein Relais, das politische Entscheidungen vom Modus der Aushandlung und Begründung in den Modus der (naturwissenschaftlich legitimierten) Maßnahme schaltete. Das funktionierte erstaunlich reibungslos, obwohl wissenschaftliches Wissen nie als abschließend gesichert gelten kann und sich folgerichtig auch die Angehörigen der neuen Expertokratie gern widersprachen. Unbeschadet dessen erlebte nicht nur die Bundesrepublik, sondern ein Teil der Welt eine Phase der Herrschaft der Faktizität, in der Politik gewissermaßen nur noch ausführend, nicht aber mehr autonom zum Ausdruck kam. Ein anderer Teil der Welt erlebte die gefährliche, zynische Clownerie der Leugnung der Gefährlichkeit von Tatsachen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. An der Spitze die amerikanischen und brasilianischen Präsidenten Donald Trump und Jair Bolsonaro. Bis zu seiner eigenen Infektion setzte der britische Premierminister

Aus Sicht der Demokratie und der Menschenwürde ist das nicht nur überraschend, sondern auch fragwürdig und allenfalls nur für kurze Zeiträume akzeptabel. Auch wenn wir die Rationalität der Grundrechtseinschränkungen für den Beginn der manifesten Krise unterstreichen würden, haben wir es doch mit einem Realexperiment darauf zu tun, wie im Prozess eines Krisengeschehens die Komplementarität der beiden Rationalitäten – also Faktizität und Narrativität – erst mal gar nicht so schnell zurückkehrt. Insofern ist die Corona-Krise für uns und für dieses Buch eine Lerngeschichte mit offenem Ausgang, die wir genau betrachten müssen, wenn wir unsere Gegenwart verstehen wollen, und zwar so, dass wir zum Weiterbau am zivilisatorischen Projekt und zur Verteidigung von Demokratie und Menschenwürde beitragen können.

Bildung.
Oder: Wie alles anfängt

MF: Die Bildungsungerechtigkeit ist für mich die ungerechteste aller Ungerechtigkeiten, weil sie Kinder und junge Menschen für etwas bestraft, wofür sie nichts können: ihre Herkunft. Das Bildungsversprechen hat nicht nur eine ethisch-moralische Komponente, sondern auch eine sozial-ökonomische. Gut ausgebildete Menschen sind eher in der Lage, eine berufliche Existenz aufzubauen, vom Staat unabhängig zu sein und für ihr Leben selbst zu sorgen. Gut ausgebildete Menschen können im Rahmen des Demokratiediskurses die Verführung der politischen Rhetorik besser entlarven und die Argumente der unterschiedlichen politischen Konzepte besser bewerten. Das Versprechen eines humanistisch-liberalen Staates ist es, ungleiche Ausgangsbedingungen, erst recht bei Kindern und Jugendlichen, durch formale Bildung zu kompensieren.

Ich konnte meine Bildungsbiografie dank dieses Versprechens verwirklichen. Meine Mutter und mein Vater konnten die Schule nicht beenden – das Ghetto und Hitler hatten ihre letzten Schuljahre zerstört. Die Muttersprachen meiner Eltern waren Polnisch und Jiddisch. Ich bin in Paris geboren, lernte Französisch und hatte mit dem Ende der Grundschule eine bessere Sprachkompetenz als meine Eltern. Wir zogen dann nach Deutschland, wo ich mit zehn Jahren aufs Gymnasium ging. Wieder musste ich eine Sprache von Grund auf erlernen. Meine Eltern konnten Deutsch nur rudimentär, ein paar Worte, die sie im Ghetto von den Nazis gehört hatten. Ich kann mich sehr gut identifizieren, wenn es um die Sprach- und Integrationsförderung von Kindern und Jugendlichen geht. Ich verstehe die Frustration, wenn einem nicht ausreichend beigestanden wird, weil ich selbst erlebt habe, wie notwendig, ja unverzichtbar der

 

HW: Genau. Dabei prägte der Theologe und Pädagoge Georg Picht schon 1964 den Begriff der »Bildungskatastrophe«, Ralf Dahrendorf folgte ein Jahr später mit seinem Buch Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Und in der Ära Brandt wurden die Bildungsreformen umgesetzt. Zum Glück für dich und mich.

 

Dieses Versprechen war für mich die Chance, das war das Fenster, das geöffnet wurde, mein Ausweg in eine andere Zukunft, die Chance, sich zu emanzipieren.

Das Bildungsversprechen muss erfüllt werden, unabhängig davon, ob die Eltern bildungsfördernd wirken oder nicht. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Seit den fünfziger Jahren wandern Millionen als Arbeitnehmer ein. In der Regel beherrschen weder die Eltern noch ihre Kinder die deutsche Sprache. Obwohl es in unserem Interesse wäre, diese Sprachdefizite, besonders bei den jungen Menschen, durch Nach

 

Ich stimme da jedem einzelnen Aspekt zu und kann das durch meine eigene Bildungsbiografie ergänzen, weil ich unter den Bedingungen von heute auch nicht den Weg hätte gehen können, den ich gegangen bin. Ich bin – generationell ist es ja eh dasselbe – ein absoluter Profiteur der Öffnung des Bildungssystems. Zwei Sachen dazu: Das eine ist – das betrifft unser Thema unmittelbar –, dass eine moderne Demokratie, die sich von der Grundierung her als universalistisch versteht, gar nicht anders kann, als ein egalitäres Bildungssystem zu schaffen oder zu gewährleisten. Doch das tut sie seit der ersten rot-grünen Bundesregierung nicht mehr. Wir kennen alle die Daten, die zeigen, wie die Bildungsgerechtigkeit durch die unterschiedlichsten Faktoren angewachsen ist. Aber

Wenn wir die real existierenden Schulen vor Corona betrachteten, dann wussten wir, dass die Ausstattung – sowohl die Gebäude als auch die Lehrmittel – eine Frage des Geldes ist, dass es völlig unterschiedliche Qualitätsstandards gibt.

So ist es nicht überraschend festzustellen, dass, zum Beispiel in weniger privilegierten Wohngegenden, Kinder über ungenügende Ausstattung verfügen oder Lehrer nicht in der Lage sind, Homeschooling adäquat zu begleiten. Und dass die Eltern nicht in der Lage sind, diese Missstände auszugleichen. Manchmal sind sie eben selbst der Missstand.

 

Die Frage, die sich nun stellt, ist: Was bedeutet das soziologisch und gesellschaftspolitisch, wenn bereits mehrere Generationen diese Erfahrung der sozialen Ausgrenzung im Bildungssystem gemacht haben? Wenn Kinder und Jugendliche gelernt haben, dass sie der Gesellschaft nicht so viel bedeuten wie andere Kinder und Jugendliche? Wenn sie gelernt haben, dass der soziale Status ihrer Eltern zu einer Zementierung ihres eigenen sozialen Status werden kann? Dass sie von den Institutionen im Stich gelassen werden? Dass sie aufgrund ihrer Herkunft von anderen Kindern oder auch Lehrern gehänselt und stereotypisiert behandelt werden? Dass sie in ihren Bildungsghettos unweigerlich

 

Jetzt muss ich noch zwei Bemerkungen machen: Die eine Bemerkung ist kurz und bezieht sich auf diesen wirklich infamen Begriff »bildungsferne Schichten«. In dem steckt schon das ganze Problem. Er unterstellt, dass Leute, die kein Abitur haben, vielleicht nicht mal einen Hauptschulabschluss, bildungsfern seien. Die Geschichte deines Vaters erzählt das exakte Gegenteil.

 

»Bildungsferne Schichten« ist eine zynische Metapher.

 

Das ist einfach infam, weil das die Perspektive der »gehobenen Stände« auf »die da unten« ist. In Wirklichkeit sind sie nur arm und legen großen Wert darauf, dass ihre Kinder tatsächlich Bildung bekommen. Jetzt kommt der zweite Teil der Geschichte. Ich komme auch aus so einer ungebildeten, relativ armen Familie. Mein Vater war das, was man heute einen »unbegleiteten

 

Wenn du allerdings in dem kritischen Bereich lebst, den wir gerade diskutieren, dann ist das Zufall, ob du Unterstützung bekommst; so eine Lehrerin ist ein Glücksfall. Ein demokratischer Staat darf aber, was die Bildungsfrage angeht, Kinder nicht dem Glücks- und Zufall überlassen. Es muss eine strukturelle Garantie geben. Wenn das System an dieser Stelle versagt, gefährdet es den Frieden in der Gesellschaft. An diesem Punkt bin ich radikal. Bildung ist ein Menschenrecht. Damit kein Missverständnis entsteht: Mir geht es nicht zwangsläufig um akademische Bildung. Jedes Kind, jeder Jugendliche sollte dort gefördert werden, wo seine Talente liegen. Die entscheidenden Grundlagen, die allen in einer freien Gesellschaft zustehen, müssen aber für jeden zugänglich sein. Im 21. Jahrhundert gehört neben den Grundfächern dazu auch die Vermittlung einer digitalen Kompetenz, ein Verständnis der ökonomischen Welt, das Lernen, was Diktatur und was Demokratie ausmacht, die Fähigkeit, eine Streitkultur zu entwickeln, und die Vermittlung von Menschenrechten. Dieses Mindestmaß an Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass

 

Es zerstört eigentlich die notwendige Beziehung des künftigen Bürgers oder der künftigen Bürgerin zu ihrer Gesellschaft. Ich möchte dazu noch einen Punkt ergänzen. Man muss sich nur die Schulgebäude, die Klassenräume und die Toiletten ansehen. Ingo Schulze hat mal gesagt: Wenn Sie ein verwahrlostes Gebäude in einer Straße sehen, können Sie sicher sein, dass es die Schule ist. Mich als Sozialpsychologe interessiert dabei der Mitteilungscharakter. Ich habe mir damals noch an der Uni in Hannover einen Wolf gearbeitet, um unser Institut renovieren zu lassen. Denn ich fand es infam, dass Erstsemesterstudierende so ein Gebäude betreten und von der ganzen Situation her erst mal die Mitteilung bekommen: Ihr seid uns scheißegal, deshalb können wir euch so eine Schrottbude offerieren, deshalb können wir euch solche Seminarräume offerieren. Das ist die Mitteilung, genauso wie zum Beispiel abgerockte Toilettenanlagen den Schülern sagen: Ihr seid uns egal. Das ist natürlich etwas, was für eine Gesellschaft unseres Anspruches, auch unseres idealen Anspruches, absolut tödlich ist. Gerade den nachkommenden Gesellschaftsmitgliedern darf man nicht die Mitteilung machen, dass es auf sie nicht ankommt. Es muss ja exakt die gegenteilige Mitteilung sein.Gerade den nachkommenden Gesellschaftsmitgliedern darf man nicht die Mitteilung machen, dass es auf sie nicht ankommt.

 

Noch etwas: Bis Anfang dieses Jahrtausends kamen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus vielen sozialen Schichten. Bürgertum, Großbürgertum, aber auch junge Menschen aus der Arbeiterschicht bereiteten sich auf das Abitur vor. In den letzten Jahren ist ein starkes Anwachsen von privaten Gymnasien zu beobachten, was die soziale Vielschichtigkeit der staatlichen Gymnasien verändert. Eltern entscheiden sich, ihre Kinder nicht in die staatlichen Bildungsinstitutionen zu schicken, sondern vermehrt, mit der Grundschule beginnend, in private Bildungseinrich

 

Das Thema »Bildung« ist in einem strikt materiellen Sinne essenziell für die Art von Gesellschaft, wie sie uns vorschwebt und wie wir sie verteidigen wollen. Unbedingt. Ich möchte noch eine Beobachtung ergänzen, die ich oft in öffentlichen Diskussionen mache. Sei es, dass es um das Thema Klimawandel geht, um die Digitalisierung oder andere Themen, es melden sich mit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit Leute, die dann sagen: Ja, das ist aber eine Frage der Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder etwas anderes lernen. Dann antworte ich immer: Nein, mir reicht es schon, wenn Sie jetzt etwas gelernt haben, wir müssen das nicht delegieren. Das ist nämlich noch ein anderes Entwicklungsdefizit unserer Gegenwartsgesellschaft, dass Probleme gerne nicht bearbeitet werden, weil man sie fiktionalerweise delegiert an eine nachrückende Generation und dann entsprechend an die Lehrer. Und man selbst irgendeinen total nebulösen Begriff von Bildung pflegt, mittels dessen dann Probleme gelöst werden sollen, die von den Erwachsenen nicht gelöst werden. Insofern kriege ich eigentlich immer Pickel, wenn ich das Wort »Bildung« höre.

Für uns ist das Thema »Bildung« von Bedeutung, da wir versuchen, zu verstehen, wie Diskriminierungstatbestände in den jeweils nächsten Generationen wirken.

 

Kinder erleben, dass dieses »Wir«-Versprechen nicht eingelöst wird und dass aufgrund ihrer sozialen Herkunft, auch ihrer Bildungsherkunft, zwischen privilegierten und weniger privilegierten Menschen unterschieden wird. Sie fühlen sich diskriminiert, ausgegrenzt. »Ihr – wir« ist markiert. Aus ihrer Perspektive hatten sie nie wirklich eine Chance. Aus ihrer Perspektive sind sie im Stich gelassen worden. Ihr Bildungsdefizit wird ihnen immer wieder ausgerechnet von denjenigen vorgehalten, die dafür verantwortlich wären, dieses Defizit zu beheben. Segmentierungen

Populistische Parteien missbrauchen das Thema, indem sie Kindern mit Migrationshintergrund und ihren Eltern vorwerfen, dass sie »zu faul« sind oder den Wert von Bildung gar nicht schätzen. Richtig ist, dass es gerade in Großstädten viele Klassen mit Kindern gibt, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Die Lösung heißt aber nicht, rassistische Narrative gegen diese Kinder aufzubauen, sondern aktive Bildungsnetzwerke zu etablieren, um die Defizite zu kompensieren. Unsere Fähigkeit, die entscheidenden Werte – wie Gleichheit, Gerechtigkeit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen – im eigenen Bildungssystem widerzuspiegeln, ist äußerst verbesserungsfähig.

 

Absolut, das ist mehr als ausbaufähig. Aber das, was wir hier sagen, darf nie Gegenstand von Sonntagsreden werden. Dieses Bildungs-Geseiere kann ich nicht ertragen, besonders dann nicht, wenn es gesellschaftlich nicht eingelöst wird, und das wird es eben seit sehr langer Zeit nicht. Das könnte man auch als eine Verwahrlosung politischer Verantwortung bezeichnen, die können wir uns nicht leisten. Und noch mal eine Ergänzung zu dem, was du vorher gesagt hast, zum Rassismus oder zu der Form, wie Ungleichheiten mitgeteilt und gelernt werden. Mir ist die Ebene unterhalb des Kognitiven immer wichtig, wie sich also etwas durch gelebte Praxis mitteilt. Als eigene autobiografische Erfahrung werde ich niemals vergessen, wie furchtbar es gewesen ist, als in der sechsten Klasse Gymnasium der Klassenlehrer reinkommt und sagt: »Es gibt hier die Möglichkeit, Unterstützung zu beantragen für die Leute, deren Eltern nur ein geringes Einkommen haben.« Das war noch nicht BAfög, sondern es gab irgend so eine, wahrscheinlich spezifisch niedersächsische Maßnahme. »Wer braucht so ein

 

… eine stigmatisierte Minderheit bist.

 

Brutal! Ich kann mich nach Jahrzehnten noch genau an dieses Gefühl erinnern: Du bist in einer doppelten Falle. Du kannst dich gegenüber den bessergestellten Mitschülern nicht outen als die arme Sau, die du bist. Du darfst aber auch deine Eltern nicht verraten, weil die das Geld ja brauchen. Da hängst du in diesem Zwiespalt: Welche Schuldgefühle nimmst du auf dich, wenn du das Formular nicht nimmst? Oder wie stehst du vor den anderen da, wenn du das Formular nimmst? Meine Lösung war, nach dem Unterricht ins Lehrerzimmer zu gehen und dem Lehrer zu sagen: »Ich habe vorhin nicht aufgepasst, ich brauche aber dieses Formular.« Solche Erlebnisse hast du in so einer inferioren Position ohne Ende. Das passiert dauernd. Und das ist etwas, wo du ganz praktisch durch die Verhältnisse deine gesellschaftliche Position lernst und mitgeteilt bekommst – immer auch in einer Dialektik, vielleicht entwickelt sich so auch Stärke? So geht es eben an anderer Stelle auch. Hier ging es um soziale Ungleichheit. Aber es geht bei Rassismus ganz genau auf diese Art und Weise.

 

Besonders schlimm ist es, wenn beides zusammenfällt, was auf Millionen Biografien in unserem Land zutrifft. Diskriminierung auf sozialer Ebene hat ähnliche Phänomenologien wie auf anderen Ebenen. Zwar wissen wir, dass sich viele dieser Umstände verändert, sich verbessert oder sich angepasst haben. Andererseits wissen wir aber auch, dass dies noch lange nicht ausreichend ist. Wenn junge Menschen markiert werden und sich markiert fühlen, wenn Wir-Identitäten aufgrund von Kränkung entwickelt werden, wenn Minderwertigkeitsgefühle durch »Nicht-Kümmern« entstehen, dann sind die gesellschaftspolitischen Konsequenzen weitreichend, langfristig und schmerzhaft. Zwar stimmt

 

Ich würde es sogar verschärfen. Ich würde sagen, es zählt nicht mehr zu den Kernintentionen der etablierten Parteien, sonst würde es irgendwo vorne auf der Agenda stehen. Da steht es aber nicht, sondern es ist ein irgendwie befriedeter, einverständiger gesellschaftlicher Zustand, dass die Verhältnisse nun mal so sind, wie sie sind, bis hin zu den Toiletten.

 

Allerdings gibt es bei der Bildungspolitik ein Problem, das man nicht unterschätzen darf. Wer ist in bildungspolitischen Fragen als Wähler und Wählerin aktiv? Wer macht Druck auf die Politik? Während die eigenen Kinder in Kita, Kindergarten und Schule sind, interessieren sich die Familien für bildungspolitische Fragen. Kaum verlassen ihre Kinder das System, lässt das Interesse nach. Kinder haben immer noch die schwächste Lobby in Deutschland.

 

Ja, und dann hast du natürlich die Korrelation zur Demografie. Da waren natürlich wir als Babyboomer-Generation unglaublich privilegiert, weil es rein zahlenmäßig ein großes gesellschaftliches Interesse gegeben hat. Als wir Kinder waren, wurden Schule, Bildung, das Bildungssystem an sich zu einem wichtigen Thema. Eine Initialzündung für die Förderung der »bildungsfernen Schichten«

 

Die Pandemie zeigt ein weiteres Mal auf, was schon vorher immer deutlicher sichtbar wurde: Bildung, Wissen und Verstehen sind unverzichtbare Voraussetzungen für gesellschaftliche Diskurse. Die digitale Welt verstärkte in den letzten Jahren den Versuch, Wissen durch Glauben, Fakten durch Fake News, Wissenschaft durch Verachtung zu ersetzen. Demokratischer Diskurs, Streitkultur, Konfliktbewältigung sind aber so nicht umsetzbar. Es braucht die Bildung. Es braucht das Wissen. Ohne diese gemeinsame Basis kann eine kreative, plurale Reflexion nicht stattfinden. Das Netz ist geprägt von anonymisierten Fehlinformationen, emotionalisierter Radikalität, rassistischer, antisemitischer, menschenverachtender geistiger Brandstiftung. Bei den Corona-Demonstrationen erleben wir den Hass-Bürger aus dem Netz zum ersten Mal real und physisch. Seine hässliche digitale Fratze bekommt eine körperliche Wirklichkeit. Es sind also doch Menschen »wie du und ich«, mitten unter uns. Erschreckend ist, wie erfolgreich Verschwörungs-»Theoretiker« sichtbar werden. Sie repräsentieren die ältesten und stereotypisiertesten Formen des Judenhasses. Sichtbar wird aber auch, dass diese physisch gewordenen »Zombie-Wutbürger« aus allen Bildungs- und Einkommensschichten stammen. Die AfD lässt grüßen. Es hat mich immer irritiert, dass gebildete Menschen zu Esoterikern werden, irrationalen und unbegründeten Thesen hinterherlaufen. Auch nach 1945 spiegelte sich dieses Dilemma in der Frage: Wie kommt es, dass das Volk der Dichter und Denker das Volk der Mörder und Henker geworden ist? Kognitive Bildung, so wichtig sie ist, reicht nicht aus. Emotionale Bildung ist genauso unverzichtbar. Davon ist im deutschen Bildungssystem kaum etwas zu finden.

 

Bildung schützt vor gar nichts. Man muss sich nicht versprechen, dass mit ihr automatisch schon eine humanitäre Grundhaltung oder die Menschenrechte verinnerlicht sind. Aber das ist dann tatsächlich eine Frage der Ausgestaltung nicht nur des Bildungssystems, sondern auch der politischen Kultur einer Gesellschaft. Genau deswegen ist mir dieses Bildungsthema, das mir ansonsten nie wichtig ist, weil es überbewertet ist, in unserem Zusammenhang als Anspruch einer Gesellschaft an sich selbst elementar wichtig.

 

Noch ein anderer Punkt zur Bildung: Wir mussten uns in den letzten Wochen auch mit existenziellen Fragen auseinandersetzen. Es ging um Leben und Tod. Wie viel Wahrheit konnten wir uns zumuten? Wie sehr erschütterte es Menschen, dass sie dem absoluten Kontrollverlust ins Auge schauen mussten? Dass ein unsichtbares Virus die Statik ihres persönlichen wie auch ihres gesellschaftlichen Gemeinwesens gefährdete? Dass ihre Allmachtfantasien, sie seien als Menschen unverwundbar, durch die brutale Wahrheit ihrer Verwundbarkeit und Endlichkeit erschüttert wurden? Autoritäre Politiker in Ungarn, in Amerika, in Brasilien wollten diese Wahrheiten ignorieren und verdrängen. Sie verweigerten das Nachdenken, das Zweifeln, das Sichinfragestellen und gefährdeten damit ihre Be

 

Ja, sicher. Und es würde ja dann in noch größeren Worten bedeuten, Bildung ist nicht das Erlernen instrumentell nutzbaren Wissens oder von Fähigkeiten, sondern es ist letztlich so etwas wie das Einleben in eine bestimmte Form von Kultur. Das ist, glaube ich, der springende Punkt an der Sache. Die Diskussion müssen wir jetzt nicht führen, in welcher Weise es Entwicklungen gegeben hat in den letzten Jahrzehnten, die immer weiter in die instrumentelle Richtung gegangen sind. Auch da möchte ich nicht in dieses Sonntagsgerede kommen mit der humanistischen Bildung, bla, bla, bla. Aber es ist aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive genau der wichtige Punkt, dass eben ein Bildungssystem sich verpflichtet fühlen muss, diesen Zielen, wie sie im Grundgesetz und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert sind, zu folgen. Und nicht zu sagen: »Wir müssen die MINT-Fächer fördern, weil die Industrie das braucht« oder so was in der Art.

Überall ist Digitalien

HW: Wenn es einen Profiteur der Corona-Krise gibt, dann ist es die Digitalwirtschaft und ihre rasant beschleunigte gesellschaftliche Durchdringung im Lockdown. Das, was wir vor Kurzem noch »die große Transformation« genannt hätten, hat innerhalb weniger Wochen stattgefunden – in den Büros, in den Schulen, in den Universitäten. Eigentlich geschieht gerade eine Bildungsreform, eine Universitätsreform, über die niemand befunden hat. Das ganze Semester findet nur noch virtuell statt. Die Vorlesungen sind virtuell, die Prüfungen sind virtuell. Ich habe in zwei Wochen eine Disputation, virtuell. Aber auch die Homeoffice-Geschichten, Zoom-Konferenzen sind Reformen, die wahrscheinlich die ohnehin hauptsächlich in Deutschland intensiv diskutierten kritischen Fragen der Digitalisierung noch mal ganz weit nach hinten schieben. Es gibt zwei Aspekte, die daran sehr interessant sind: Wie funktionieren überhaupt gesellschaftliche Reformen? Was sind denn die Trigger dafür? Ist die Vorstellung womöglich völlig falsch, dass man sie intentional anstoßen und steuern könnte? Und was macht die digitale Technologie mit der Demokratie, wie beeinflusst sie die Offene Gesellschaft?Wie funktionieren überhaupt gesellschaftliche Reformen?

 

MF: Die digitale Revolution ist in ihren tief greifenden Folgen vergleichbar mit der industriellen Revolution. Nur dass die Veränderungen noch viel schneller und noch viel radikaler sind. Innerhalb von nicht einmal 15 Jahren mussten Menschen ihre Beziehung zu Raum und Zeit

 

Eine Demokratie in unserem Sinne ist ohne Privatheit nicht denkbar. Das kannst du auch historisch herleiten. Die Differenzierung zwischen privat und öffentlich geht mit der Entstehung der modernen Marktgesellschaften, insbesondere der bürgerlichen Gesellschaft, einher. Warum es viele Gründe gibt, dass es in dieser