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Herman Melville »Weißjacke oder Die Welt auf einem Kriegsschiff«, übersetzt von Barbara Cramer, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1954
Für meine Familie
Und ihr Glückskinder, denen durch irgendeinen seltenen Zufall Kap Horn so sanft wie der Genfer See begegnet – schmeichelt euch nicht, daß dies Glück eurer Weisheit und Umsicht zu danken sei; bei all eurem Grips wäret ihr vielleicht gescheitert und gesunken, wenn der Geist des Kaps sein Machtwort gesprochen hätte.
Herman Melville,
Weißjacke oder
Die Welt auf einem Kriegsschiff[*]
Mein lieber Anton,
ich hoffe, du kannst mittlerweile besser schlafen und hast dich auch mit dem Essen angefreundet, wobei ich sagen muss, dass ich dich um deine Auswahl ganz schön beneide. Maisbrei, Fufu und gebratene Schlange – das ist schon was. Ich stelle mir gern vor, wie du in einer Hütte aus Gras und Bambus unter deinem Moskitonetz liegst und im Schein einer Petroleumlampe liest. Denk immer dran, dass du so eine Erfahrung vielleicht nie wieder machen wirst und dass jeder große Mann irgendwann am Anfang seines großen Lebens seine Komfortzone verlassen muss. Es freut mich, dass dir die Bücher gefallen haben, die ich dir geschickt habe, und ja, es stimmt, was du über das von Alan Moorehead sagst. Es ist ein bisschen antiquiert, aber einige Passagen sind einfach wahnsinnig gut, und es wird dir sicher nicht schaden, es mal gelesen zu haben.
Deinem Bruder geht es gut, auch wenn er dich fürchterlich vermisst. Er steht früh auf und macht Liegestütze und Sit-ups. Diesen Sommer nimmt er an ein paar Turnieren in der Gegend teil, und so langsam hat er es auch mental drauf. Keine durch die Gegend gepfefferten Schläger mehr. Er trainiert mit dem Zen-Tenniscoach, von dem ich erzählt habe, und hat jetzt eine viel positivere Einstellung. Sehr inspirierend zu sehen.
Ich selbst bin immer noch – ja, immer noch – dabei, meine Balance wiederzufinden und zu halten, und das klappt von Tag zu Tag besser. Das Reisen hat meinem Kopf und Gemüt unglaublich gutgetan, ganz zu schweigen von meinem ja auch nicht mehr ganz so jungen Körper. So trainiert war ich nicht mal, als du noch ein kleiner Junge warst. Und trotzdem fühlt es sich manchmal noch so an, als würde ich schwanken. Ich vermisse die Routine der Show, freue mich aber über die vielen Stunden am Tag, die mir jetzt für andere Sachen bleiben. Manchmal stelle ich mir vor, wie wir uns über unsere Erfahrungen und die Leute austauschen, die wir so treffen. Irgendwie haben wir das ja (wenngleich unregelmäßig) die ganze Zeit mit Briefen getan, aber ich kann es kaum abwarten, dich endlich wiederzusehen. Wir alle können es kaum abwarten. Deine Mutter überlegt schon die ganze Zeit, was sie für dich kochen soll und in welche Filme sie mit dir will. Kip hat fest vor, dir auf dem Platz die Hölle heißzumachen, und Rachel will mit dir im Park reiten gehen, so wie früher.
Jeder hat hier so seine eigene Theorie dazu, was mit mir los war. Wie schön, dass es so einen breiten Begriff dafür gibt: Nervenzusammenbruch. Deckt so ziemlich alles ab. Für mich fühlt es sich an wie nach einer überstandenen Fieberattacke, wenn man wieder aufsteht, Salz auf der Haut, den Wind im Haar.
Übrigens habe ich letzten Monat John L. im Aufzug getroffen, mit Sean. Ich hatte ihm davor schon mal von deiner Reise erzählt, garniert mit ein paar intimen Details, und jetzt erkundigt er sich immer nach dir. Könnte sein, dass ich bei deinen Verdauungsproblemen etwas übertrieben habe, jedenfalls hatte er eine ganz ähnliche Geschichte parat. Wir sind zusammen bis zum Zoo gelaufen. Sein Sohn ist wirklich süß.
Was die Arbeit angeht, stehen ein paar Stand-up-Auftritte an, und ehrlich gesagt machen die mir ein bisschen Sorgen. Vielleicht lasse ich mal ein Ferngespräch springen, damit ich mein Material mit dir durchgehen kann, was meinst du?
Mit mehr will ich dich nicht belästigen, und wirklich, Anton, mir geht es prima. Ich bin so gut in Form wie lange nicht mehr. Ich gehe wieder schwimmen. Plus viermal die Woche Tennis, wie du weißt. Arbeitslos sein ist großartig fürs Grundlinienspiel.
Also, sei brav, sei achtsam. Augen, Ohren, Geist, halt alles schön offen. Iss eine gebratene Schlange für deinen alten Herrn. Toll fand ich übrigens die Geschichte von den Dorfkindern, die um dich rumstanden und ein Autogramm wollten, ohne zu wissen, wer du bist, nur, dass du aus Amerika kommst.
Sei dankbar dafür, so weit weg zu sein. Was für ein Abenteuer!
Bis bald.
Alles Liebe
Buddy (alias Dad)
PS: Die Mets verkacken es gerade mächtig, leider.
Alles fing an mit der Malaria.
Ich war als Freiwilliger mit dem Peace Corps in Gabun gewesen, wo ich den Leuten helfen sollte, ihre Ernährung zu verbessern und an Trinkwasser zu kommen. Ich half bei der Planung und Installation eines Filtrierungssystems, dann beim Bau eines Gemeindezentrums mit großer Küche und Krankenstation. Ich schwamm mit Nilpferden, tanzte mich zusammen mit dreißig anderen in Trance, las haufenweise Romane von Ian Fleming und nahm fast zehn Kilo ab. Ich verbrachte zehn Monate, ohne auch nur mit einem Mädchen zu flirten, und erlebte dann ein bewusstseinserweiterndes Wochenende mit der zwanzigjährigen Tochter eines Beamten des US-Außenministeriums in einem Hotel in Libreville.
Ich hatte das Gefühl, dass ich in Afrika, weit weg von meinen Freunden und Eltern, ein paar Dinge langsam kapierte, aber wäre mein Trip ein Film gewesen, war ich schon im ersten Akt aus ihm herausgerissen worden, während sich alles noch entwickelte und ich keinen Schimmer hatte, wie all die Handlungsstränge zusammenhingen. Ich stand an der Schwelle zu einem bedeutenden Durchbruch, oder jedenfalls in Sichtweite dieser Schwelle, das spürte ich. Ich war nur dreizehn Monate weg gewesen, aber die Stadt schien sich verändert zu haben, als ich zurückkehrte. Sie sah wunderschön aus unter dem Schnee, traumartig, aber vielleicht lag das auch nur an meinem traumartigen Geisteszustand. Ich ging spazieren und stellte mir vor, wie alles hier für mich aussähe, wenn ich aus einem kleinen Dorf Tausende von Meilen entfernt käme.
Ein Großteil meiner Zeit aber ging fürs Kranksein drauf. In der Highschool hatte ich eine Lungenentzündung und ein paar fiese Erkältungen gehabt, aber das war nichts im Vergleich zu dem hier. Ich meine mich noch exakt an den Moment zu erinnern, in dem ich mich angesteckt habe. Ich lag unter dem Moskitonetz und hörte eine Mücke, die es irgendwie unters Netz geschafft hatte, und ich bekam die Lady nicht raus (laut Arzt stachen nur die Weibchen), wollte aber auch nicht das Netz zerreißen, weil dann die restlichen Mücken im Zimmer über mich hergefallen wären, und überhaupt war ich einfach tierisch müde. Ich schlief ein, wachte wieder auf, so ging es die ganze Nacht. Es dauerte eine Weile, bis ich krank wurde, aber dann hatte ich die ganze Palette klassischer Symptome: hohes Fieber mit Schweißausbrüchen, heftigen Schüttelfrost, Halluzinationen, sobald ich auch nur die Augen schloss. Der Arzt, der mich im Bongolo Hospital in Lebamba behandelte, sagte, es sei knapp gewesen. Wenn ich auch nur einen Tag länger gewartet hätte, wäre ich gestorben. Tatsächlich dachte ich in meinem benebelten Fieberzustand an den Tod. Ich stellte mir meinen Trauergottesdienst vor und malte mir aus, wie Leute dort wahnsinnig nette Dinge über mich sagten.
Man schickte mich in einer 707 von Pan Am zurück, die zum Tanken in Paris zwischenlandete. An den Flug über den Atlantik erinnere ich mich kaum. Könnte sein, dass ein Film lief. Ich trank ein halbes Bier. Die Frau neben mir trug ein angenehmes Parfum und las Sophies Entscheidung. Am Flughafen warteten meine Eltern auf mich, und mein Vater hörte gar nicht mehr auf, mich zu umarmen, und schaute mir lange ins Gesicht. »Malaria«, sagte er, als wollte er sich einen neuen Namen einprägen.
Meine Krankheit wurde zu einer von Buddys Lieblingsgeschichten. Er erzählte den Leuten, dass sein Ältester sich in Afrika Malaria geholt habe, und listete dann berühmte Persönlichkeiten auf, die auch an der Krankheit gelitten hatten: Dante, Caravaggio und Lord Byron, die daran gestorben waren, und andere, die die Krankheit überlebt hatten, wie Hemingway, Lincoln (in seiner Kindheit in Kentucky) und John F. Kennedy im Zweiten Weltkrieg auf den Salomonen. In den ersten Tagen nach meiner Heimkehr ließ man mich ziemlich in Ruhe. Ich erinnere mich noch an die NFL-Playoffs und an Zeitungsartikel und Fernsehberichte über die Geiselkrise im Iran und den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan. Einiges von dem, was in der Zeitung stand, ging mir unter die Haut. Zum Beispiel war ich zwei Tage lang am Boden zerstört, als ich las, dass Joy Adamson gestorben sei, die Autorin von Frei geboren – Eine Löwin in zwei Welten. Laut dem Artikel war sie in Kenia von einem Löwen zerrissen worden. Sie hatte einen Spaziergang gemacht und sich anschließend eine BBC-Sendung anhören wollen. Ihre Leiche wurde hundert Meter vom Camp gefunden. Sie war neunundsechzig Jahre alt.
Als Kinder hatten wir fünf- oder sechsmal die Verfilmung gesehen, und jedes Mal musste ich heulen. Außerdem war ich in Virginia McKenna, die Schauspielerin, die Joy Adamson spielte, verschossen gewesen und hatte während meiner Zeit in Afrika wieder an sie gedacht. Wie gern hätte ich eine Frau wie sie kennengelernt – blondes Haar und eine Vorliebe für gestärkte dünne Kakihemden –, um mich in sie zu verlieben und dann dort zu bleiben oder mit ihr zurück nach New York zu gehen.
»Wer das Schwert nimmt, stirbt durch das Schwert«, sagte Buddy, aber die Meldung ließ auch ihn nicht kalt.
Fertig machte mich auch die verzweifelte Lage der Geiseln im Iran. Ein Foto auf der Titelseite der New York Times zeigte zwei von ihnen beim Lesen von Briefen aus den USA, vor ihnen auf dem Boden ein riesiger Haufen Post. Pfarrer hatten die Geiseln mit Weihnachtsplätzchen, Rosenkränzen und Bibeln besucht und anschließend gesagt, alle Geiseln seien gesund, aber anderen Berichten zufolge waren sie mit verbundenen Augen an Heizkörper gefesselt.
Der iranische Schah, dem ich irgendwann mal auf einer von Rowan Roses Partys begegnet war, befand sich im Exil auf einer Insel in Panama, auf der wir früher Urlaub gemacht hatten. Er wohnte in einem Haus, das auch mein Vater damals gemietet hatte. Auf Fotos sah man ihn im Meer waten, vom Strand aus beobachtet von bewaffneten Leibwächtern.
Man hatte das Gefühl, als würde die Welt gerade bis in die Grundfesten erschüttert, und rückblickend war es auch so. In Rhodesien tobte eine Revolution, erst gab es ein Attentat in Südkorea, dann noch eins in Afghanistan, und plötzlich stürmten die Sowjets auf Kabul zu und zeigten unserem wankenden Südstaaten-Präsidenten eine lange Nase, der im Fernsehen mit Drohungen um sich schmiss, um stark und präsidial zu wirken.
»Eine derartige Aggression werden wir nicht tolerieren«, wurde er nicht müde zu wiederholen und klang dabei wie ein strenger Vater, der seinen kleinen Sohn ermahnt, dass er, wenn er die Katze jetzt noch ein Mal am Schwanz zieht, den Nachtisch vergessen kann.
Ich las die Tageszeitung von vorne bis hinten, guckte Nachrichten, und nachts träumte ich von Revolutionen und Krankheiten und menschenfressenden Tieren; einmal sah eins von ihnen meinem Vater verstörend ähnlich.
»Ich will nicht die Pferde scheu machen«, sagte Buddy zu mir, »aber könnte sein, dass der Laden bald wieder brummt.«
Es war Donnerstagabend, und wir saßen im Café Un Deux Trois in Midtown. Meine Mutter war zu Hause geblieben, um zu lesen und meinem Bruder bei den Hausaufgaben zu helfen.
»Wie das?«
»Einer von unseren alten Producern hat bei ein paar Leuten wegen einer neuen Show vorgefühlt, und die waren nicht abgeneigt. Die Leute vergessen schnell, meint er, es hängt vor allem davon ab, ob ich bereit bin.«
»Und bist du bereit?«
»Ich weiß nicht. Könnte sein.«
»Du bist definitiv bereit«, sagte ich.
Reginald »Buddy« Winter, mein überaus charmanter Vater, hatte von 1968 bis 1978 eine landesweite Talkshow moderiert, mit der er sich eine riesige und treue Fangemeinde gesichert und zwei Emmys gewonnen hatte. Auf der Gästeliste standen Leute wie Salvador Dalí, Muhammad Ali, Gore Vidal, Woody Allen, Luciano Pavarotti, Elizabeth Taylor, Paddy Chayefsky und John Lennon, der Mainstream wie die Avantgarde. Dann haute Buddy mitten in der Livesendung ab und hatte einen Nervenzusammenbruch, über den in einem langen und detaillierten, aber weitgehend irreführenden Artikel im Manhattan-Magazin berichtet wurde. Seitdem verfolgte die Öffentlichkeit sein Schicksal mit einer Mischung aus Neugier und Faszination, obwohl viele der Storys über seinen interkontinentalen Genesungstrip frei erfunden waren und darüber hinwegtäuschten, wie sehr es ihn wirklich aus der Bahn geworfen hatte.
Meine Mutter Emily Winter (Em, wie Buddy sie nannte) hatte einen Monat mit ihm auf den griechischen Inseln verbracht, wo sie zusammen Fisch gegessen, Trauben gestampft und versteckt hinter Sonnenbrillen Bücher am Strand gelesen hatten. Es habe sich angefühlt, erzählte sie, als wären sie zehn Jahre in der Zeit zurückgereist, was sowohl eine Bestätigung als auch Erleichterung gewesen sei, denn sie habe schlicht nicht gewusst, wen sie da am Flughafen in Athen eigentlich antreffen werde.
»Na ja, noch nichts Konkretes, aber vielleicht ist es an der Zeit, wieder in Wettkampfform zu kommen.«
»Und ein paar Gräben zuzuschütten«, sagte ich. »Wer war denn der Producer?«
»Elliot«, antwortete er.
Elliot war einer der wenigen, die einen guten Job ergattert hatten, bei ABC Sports. Nach dem Ende der Buddy Winter Show standen nicht nur wir dumm da, sondern auch die Producer, Kameraleute, Beleuchter, Produktionsassistenten und Angestellten im Green Room, von denen die meisten gedacht hatten, für die Laufzeit der Show bei Buddy bleiben zu können. Viele von ihnen wünschten ihm jetzt, und mir gleich mit, die Pest an den Hals, weil er sie im Stich gelassen hatte. So begegnete ich irgendwann in der U-Bahn unserem alten Kameramann Jay Schwabacker, der früher für uns immer ein netter Onkel gewesen war und Geschenke mitgebracht hatte, der jetzt aber, kaum dass er mich sah, den Wagen wechselte. Besonders bitter war das Zerwürfnis zwischen Buddy und Harry Abrams, seinem Agenten und früheren College-Mitbewohner, mit dem er sich heftig gestritten und seitdem kein Wort mehr gewechselt hatte und mit dessen Tochter ich befreundet und vielleicht noch etwas mehr war.
Ein Mann Mitte vierzig mit angegrautem Haar und urlaubsgebräuntem Gesicht beugte sich zu Buddy und sagte: »Ich will Sie nicht beim Essen stören, aber ich habe Ihre Sendung bis zum Schluss jeden Abend eingeschaltet. Mindestens eins meiner Kinder ist während Ihrer Show gezeugt worden.«
»Das tut mir jetzt leid«, gab Buddy zurück, »aber damit bin ich dann wohl der Vater.«
Der Mann lachte laut. »Gut, dass Sie sich nicht unterkriegen lassen.«
Buddy fragte: »Was soll das denn heißen?«
»Ich meine, dass Sie fantastisch aussehen.«
Mein Vater war ein schlanker und athletischer Mann, immer noch ein paar Monate von der Fünfzig entfernt, eins achtundachtzig groß, mit markanten Wangenknochen und Falten um den Mund, wenn er lächelte. Jetzt wirkte sein Lächeln angestrengt.
»Wie sollte ich denn sonst aussehen?«
»Du siehst genau richtig aus«, sagte ich.
Der Mann sah mich an, als wollte er sagen: Den überlasse ich jetzt lieber dir, mein Junge.
»Sie sind einer von den ganz Großen, Buddy«, sagte der Mann, klopfte meinem Vater leicht auf die Schulter und sah ihn dann noch einmal an, bevor er ging.
»Ja, ja. Sie auch.«
Buddy saß eine Weile da und starrte auf seinen Teller, als enthielte das Kartoffelpüree eine geheime Botschaft für ihn.
»Das üben wir noch mal«, sagte ich.
»Ja, du hast recht, du hast absolut recht«, sagte er, und als der Kellner kam, ließ er seinem Bewunderer eine Flasche Wein an den Tisch bringen.
Später gingen wir den Broadway hinauf und kamen an dem alten Theater vorbei, das länger als ein Jahrzehnt die Buddy Winter Show beheimatet hatte. Mein Vater war glänzender Laune und schien den Zwischenfall beim Essen vergessen zu haben. Gerade war eine Vorstellung zu Ende, und das Publikum ging seiner Wege. Die Leute knöpften sich die Mäntel zu, rückten ihre Mützen zurecht und winkten vorbeifahrende Taxis heran.
»Was würdest du sagen, hat es ihnen gefallen?«, fragte mein Vater.
»Begeistert sehen sie nicht aus.«
»Genau das habe ich nämlich auch gedacht«, sagte er. »Sie denken: Na gut, besser als Fernsehen, aber sechzig Piepen, war es die wirklich wert?«
Ich war froh, dass keiner der Theaterbesucher Buddy erkannte, denn ich genoss es, ihn mal nur für mich zu haben. Wir passierten das Stage Deli, wohin wir früher oft nach der Show geflüchtet waren, dann die O’Donnell’s Tavern und andere schummerige Bars, in denen ich unzählige Male mit Buddy oder anderen Teammitgliedern gesessen hatte. Meist wollte Buddy es wegen meiner Mutter nicht zu spät werden lassen, trotzdem kam es nicht selten vor, dass irgendwer mir heimlich Drinks rüberschob und sich alle einen antranken, bis Buddy irgendwann wieder einfiel, dass ich ja erst sechzehn war und am nächsten Morgen in die Schule musste und dass wir jetzt wohl besser mal gingen.
Am Columbus Circle merkte ich, wie ich müde wurde. Ich hatte ein paar Gläser Wein getrunken, die im Mix mit den Medikamenten aus dem Krankenhaus dafür sorgten, dass ich mich wieder wie in einem Traum fühlte, als würden die Farben um mich herum ineinanderfließen.
»Ich hätte dich in Afrika besuchen sollen«, sagte Buddy. »Wirklich, ich hatte es vor. Wir hätten bestimmt ein paar tolle Abenteuer zusammen erlebt.«
»Das können wir immer noch, wenn ich zurückgehe«, sagte ich.
»Aber du gehst nicht zurück.«
»Vielleicht ja doch«, sagte ich, weil ich das Recht hatte, das zu sagen.
»Bitte nicht«, sagte er. »Ich brauche dich hier.«
Das Dakota, in das Buddy mit uns zog, als ich vier war, zählt zu den berühmtesten Apartmenthäusern der Welt. Es sieht aus wie ein Schloss der Habsburger, weil es, wie das Eldorado, das Beresford und das San Remo, erbaut wurde, um eins zu sein. Die Idee war, auf der damals noch weit vom Schuss gelegenen Upper West Side Manhattans – die dem Bauherrn Edward Clark zufolge den endlosen Ebenen North und South Dakotas ähnelte – einen Lebensstil zu bieten, der dem eines Luxushotels entsprach. Die Art von Haus, in dem sich Marlene Dietrich wohlgefühlt hätte, wenn sie damals schon gelebt hätte. Die Liste der Leute, die dort gewohnt oder Partys besucht haben, liest sich wie das Who’s who der letzten hundert Jahre amerikanischer Kultur. Auf dem bekannten Cover des New Yorker, das Manhattan als Mittelpunkt der Welt und den Rest des Planeten als unbedeutende Peripherie zeigt, hätte eigentlich das Dakota in der Bildmitte prangen müssen, denn genau so fühlte es sich an, als ich dort aufwuchs.
Was nicht heißen soll, dass es ein versnobter Ort war – dieses Gefühl hatte ich nie. Es wirkte eher wie ein Dorf in Europa, in Luxemburg vielleicht, offen, freundlich, imposant, voller Geschichten und den richtigen Leuten, um diese Geschichten glaubhaft zu erzählen. Nicht, dass mir das als Kind bewusst gewesen wäre – als Kind glaubt man ja, dass alle so leben wie man selbst. Trotzdem hatte ich schon mit fünf oder sechs so eine Ahnung, dass ich großes Glück hatte, womöglich sogar verdammt großes, auch wenn ich sicher bin, dass es noch andere Kinder auf der Welt gibt, die so fühlen, nur wahrscheinlich nicht wegen eines Gebäudes.
Auf dem labyrinthartigen Dach standen früher Zelte, Sonnensegel und Pavillons. Jedes Wochenende verlagerten sich die Partys irgendwann nach dort oben, und man hörte die Musik bis weit in den Central Park.
Wir wohnten in einer Wohnung mit fünf Kaminen und zwei Küchen, die früher einmal Boris Karloff gehört hatte. Natürlich war das völlig dekadent, aber im Dakota waren alle Wohnungen so, mit hohen Decken, Parkettböden und wundersamen alten Apparaturen, kleinen kuriosen Details, die man erst mit der Zeit entdeckte, wie der Bedienstetenglocke in jedem Zimmer, die den Diener – oder in unserem Fall das Hausmädchen – wissen ließ, in welchem Zimmer man sich gerade aufhielt, und den Speisenaufzügen, mit denen das schmutzige Geschirr früher zurück nach unten in die Küche geschafft wurde.
Ziemlich lange war das Wohnen im Dakota sogar recht erschwinglich. Es lag schließlich auf der Upper West Side, einer ursprünglich üblen Gegend, wo Gangster wie Dutch Schultz und Joe »The Boss« Masseria das Sagen hatten, unheimliche Baulücken klafften und es angeblich die landesweit höchste Dichte an Drogenabhängigen und frisch entlassenen Patienten aus der Geschlossenen gab, dazu eine Unzahl von Kinos, Buchläden und Kommunisten.
Am Empfang winkte uns Hattie Beckwith durch. Hattie stammte aus einer kleinen Stadt in Irland und arbeitete seit fünfzig Jahren am Empfang, wo sie die Post der Mieter entgegennahm und sortierte und außerdem Telefonistin spielte, normalerweise nur tagsüber, aber dann und wann auch nachts. Sie hatte graue Locken und trug im Winter, jedenfalls in meiner Erinnerung, immer einen von drei Pullovern mit Zopfmuster, entweder den roten, den grasgrünen oder den marineblauen, den sie jetzt anhatte.
»Ja hallo, wer ist denn der hübsche junge Mann?«, fragte sie meinen Vater und lächelte mir zu.
»Einer Ihrer vielen Bewunderer«, sagte Buddy.
»Ach, Sie Charmeur. Er hat Ihre Augen.«
»Sie brauchen eine neue Brille, Hattie. Seine sind braun.«
»Na ja, kann sein«, sagte sie. »Schön, dass du wieder da bist. Endlich passt wieder jemand auf deinen Vater auf.«
Sie hatte eine Schwäche für meinen Vater, und überhaupt war er im Haus bei den meisten beliebt. Jedes Jahr gaben wir eine Party im Innenhof, rings um den fantastischen Brunnen, für die meine Mutter tagelang in der Küche stand und Buddy irgendwas backte oder einen guten Wein spendierte und bei der er dann mit Rowan Rose, Lauren Bacall, Jason Robards und Ruth Ford an einem der zehn oder zwölf langen Tische saß. In späteren Jahren waren auch John und Yoko mit Sean dabei. Yoko brachte immer Sushi mit, und John schnappte sich einen Stuhl am Tisch meines Vaters, während ich irgendwo anders rumrannte – ich musste nicht ständig da sein, wo die Action spielte, die würde schon nicht einfach abhauen und uns sitzen lassen.
Bis sie es dann natürlich doch tat.
Die Aufzüge im Dakota sind seltsame urtümliche Maschinen, so alt wie die Sterne. Sie sind wasserbetrieben und vielleicht die letzten ihrer Art in der Stadt. Manchmal bekommt man von oben einen Tropfen ab.
Wenn man irgendwo seine Nachbarn trifft, dann meist im Aufzug, und wir begegneten dort Paul Loeb, der für die New York Times über Architektur schrieb.
»Du bist also zurück«, sagte er.
»Seit zwei Wochen schon.«
»Wie war es?«
»Klasse. Aber ich bin krank geworden.«
»Wird das nicht jeder da?«
»Sagen Sie, haben Sie im Blatt nicht gerade eine Stelle frei?«, fragte mein Vater.
»Könnte sein«, sagte Loeb.
»Das ist die Times, Dad«, sagte ich. »Das ist, als würdest du Billy Martin fragen, ob er einen Job bei den Yankees für mich hat.«
»Du warst echt weg. Billy ist schon vor Monaten gefeuert worden«, sagte Buddy.
Wir erreichten Loebs Etage. Beim Aussteigen sagte er: »Ernsthaft, Anton, ruf mich mal an, und ich schaue, was ich machen kann. Ich verspreche nichts, aber man kann nie wissen.«
»Sobald ich einen kompletten Tag durchstehe, ohne umzukippen.«
Er lächelte. Die Tür schloss sich wieder.
Als wir in die Wohnung kamen, sahen sich meine Mutter und mein fünfzehnjähriger Bruder Kip im Fernsehen gerade den Anfang eines Rangers-Spiels an der Westküste an. »Sind deine Hausaufgaben fertig?«, fragte mein Vater.
»Ja«, sagte Kip. »Willst du es lesen?«
»Was lesen?«
»Meinen Aufsatz über Siddhartha.«
»Gib ihn deinem Bruder«, sagte Buddy und ließ sich neben meine Mutter fallen.
»Willst du ihn lesen?«, fragte Kip mich.
»Wann musst du ihn abgeben?«
»Morgen. In dem Buch kommt jede Menge Sex vor.«
»Da kann ich mich gar nicht dran erinnern.«
Er las: »Sie spielten das Spiel der Liebe … Ihr Leib war biegsam wie der eines Jaguars und wie der Bogen eines Jägers; wer von ihr die Liebe gelernt hatte, war vieler Lüste, vieler Geheimnisse kundig.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Was haben ein Jaguar und ein Bogen mit Sex zu tun?«, fragte meine Mutter.
»Vielleicht musst du noch ein bisschen biegsamer werden, um das zu verstehen«, sagte Buddy.
Meine Mutter bedachte ihn mit einem Lächeln, das sagte: Das wollen wir doch mal sehen.
Ich folgte Kip in sein Zimmer, das mit Sportpostern gepflastert war, vor allem Tennis – Connors beim Sprung übers Netz, Borg beim Ausholen für einen Rückhand-Passierball, Vitas Gerulaitis beim Hechtsprung, um den Return noch zu kriegen, dann der hübsche Ron Duguay von den Rangers, wie er den Puck an Bernie Parent von den Flyers vorbeischiebt, und schließlich Dr. J, der sich für einen Dunk in die Luft schraubt.
»Wie war er so beim Essen?«, fragte mein Bruder.
»Normal, wieso?«
»Nur so.«
Ich wartete.
»Glaubst du, ihm geht’s wirklich besser?«, fragte er.
»Ja.«
Ich setzte mich an seinen Schreibtisch, knipste die kleine Schirmlampe an und fing an zu lesen. »Kann ich reinschreiben?«, fragte ich.
»Tob dich aus.«
Und das tat ich.
Der Aufsatz enthielt viele gute Argumente, die aber umgestellt werden mussten.
»Ich finde es schön, dass er jetzt so viel zu Hause ist«, sagte Kip. »Dass er da ist, wenn ich aus der Schule komme, und dass er schon die Zeitung liest, wenn ich aufstehe.«
»Du hast Glück«, sagte ich. »Als wir klein waren, war er nie da.«
»Aber er kriegt vielleicht eine neue Show, stimmt doch, oder?«
»Mal abwarten. Ich hoffe es, aber es wird wohl noch ein Weilchen dauern.«
»Du willst doch, dass er eine neue Show kriegt, oder?«
»Klar, aber das liegt nicht in meiner Hand.«
»Hilfst du ihm denn nicht dabei?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor.«
»Er glaubt das aber.«
»Hast du das von ihm?«
Kip nickte. »Wenn der eigene Vater durchdreht, kann es gut sein, dass es einem selbst auch passiert, hat mir ein Freund erzählt.«
»Dein Freund ist ein Arschloch«, sagte ich. »Und jetzt schreib das hier um und geh ins Bett.«
Ich werde einen Monat bleiben, dachte ich, und dann zurück nach Gabun fahren und das zu Ende bringen, was ich angefangen habe. Ich darf mich nicht wieder reinziehen lassen.
Darf nicht, kann nicht, will nicht, Punkt, dachte ich.
Am Montag ging ich zum Tropenarzt im Bellevue Hospital, um mich nachuntersuchen zu lassen. Ich fuhr mit der U-Bahn nach Downtown und hörte auf dem Walkman, den meine Eltern mir zu Weihnachten geschenkt hatten, die Waitresses und die Au Pairs, zwei Tapes, die Kip für mich aufgenommen hatte. In der Abteilung für Parasitologie standen die Leute bis auf den Flur.
Ich trug mich in eine Liste ein und wartete, dass man mich aufrief. Viele der Patienten waren afrikanische Einwanderer (ein plötzlicher Zustrom sorgte für die langen Schlangen), unter ihnen der Teenager neben mir, der sagte, er komme aus Zaire. Ich fühlte mich wohl in ihrer Mitte, wohler als unter typischen New Yorkern.
Der Arzt war ein gut aussehender Lockenkopf Anfang dreißig und hatte anscheinend schon die ganze Welt bereist. Zweimal habe er Malaria gehabt, erzählte er, dreimal die Ruhr und einmal Denguefieber.
»Das ist das Schlimmste überhaupt«, sagte er. »Was haben Sie da unten gemacht?«
»Peace Corps.«
»Ich wünschte, das hätte ich auch gemacht.«
»Ich fahre in ein paar Wochen zurück.«
»Schauen wir erst mal, wie es Ihnen so geht«, sagte er. »Also, lassen Sie mich raten: Sie haben das Chloroquin abgesetzt?«
»Ja«, sagte ich.
»Das Fieber kommt dann wie aus dem Nichts, stimmt’s?«
»Genau.«
In der Nacht, als das Fieber eingesetzt hatte, war ich schweißgebadet gewesen. Mir war erst heiß, dann eiskalt, dann bekam ich bestialischen Durst. Schließlich wurde mir fürchterlich schwindlig, als würde sich die Hütte um mich drehen.
»Wenn man von da kommt, ist es kein großes Ding, aber wenn es einen zum ersten Mal erwischt, ist es heftig. Es gibt viele milde Verlaufsformen, aber Ihre war von der tödlichen Sorte. Es war wirklich knapp, Anton.«
»Ich weiß.«
»Wie geht es Ihnen damit?«
»Wie meinen Sie das?«
»So eine Erfahrung ist nicht ohne. Eine Nahtoderfahrung, meine ich. Sich davon psychisch zu erholen, kann schwierig sein.«
»Ich habe immer mal wieder Albträume.«
»Das überrascht mich nicht. Ähneln sie den Halluzinationen?«
»Ja. Ich habe auch geträumt, dass ich tot bin und auf meiner eigenen Beerdigung stehe. Und alle wollen, dass ich mich da oben hinstelle und was sage.«
Er notierte sich etwas auf seinen Block.
»Vielleicht wäre es gut, sich jemanden zu suchen, mit dem Sie darüber sprechen können.«
»Wie wäre es mit Ihnen?«
»Mit einem Psychologen, meine ich. An Ihrer Stelle würde ich das tun. Ich war auch bei einem.«
Er fuhr fort: »Ich teste Sie sicherheitshalber noch auf ein paar andere Sachen – Denguefieber, Schlafkrankheit.«
Ich erzählte ihm von der Ruhr und wie demütigend es gewesen sei, ständig scheißen zu müssen, und das über einen so langen Zeitraum.
Er sah mich verständnisvoll an.
»Ich weiß noch, wie ich mir auf meiner ersten Afrikareise in die Hose geschissen habe, voll in den Pyjama. Das war mir vorher noch nie passiert, und ich bete inständig, dass ich das nie wieder erleben muss. Ich bin aufgewacht und war überall mit Kacke beschmiert.«
Er untersuchte mein Gehör auf Tinnitus und meine Muskeln auf neurologische Auffälligkeiten. Mein rechter Unterschenkel fühlte sich oft wie eingeschlafen an. Das werde sich mit der Zeit bessern, sagte er, aber ich solle mich bei ihm melden, wenn die Beschwerden nicht weggingen.
Er warnte mich, dass es sechs Monaten lang durchaus noch zu Rückfällen kommen könne.
»Woher weiß ich, dass es ein Rückfall ist?«
»Das wissen Sie nicht. Nicht sofort jedenfalls. Aber wenn Ihr Gesicht gelb und aufgedunsen wird, Sie ständig starken Durst haben und nachts übermäßig schwitzen, dann kommen Sie bitte wieder her.«
»Abgemacht, Doc.«
Er verließ das Zimmer. Kurz überlegte ich, ob ich Parasitologe werden sollte. Ja, ich hatte damals wirklich keinen Plan.
Als er zurückkam, sagte er: »Ich habe in Ihrer Akte gerade Ihre Adresse gesehen. Ihr Vater ist nicht zufällig Buddy Winter, oder?«
»Doch.«
»Würden Sie ihm von mir ausrichten, dass ich seine Show vermisse?«
Draußen war es mittlerweile dunkel. Die Tage waren so kurz. Der Schnee war schmuddelig, und die Vögel sahen aus, als würden sie frieren. Aus dem Eis ragten Zweige hervor. Es roch nach Kälte und Dreck.
Ich fuhr mit der U-Bahn nach Hause, erst mit der R, dann weiter mit der 2 Richtung Uptown. Graffiti bedeckten die Wagen von oben bis unten, die Türen, Fenster und Sitze waren fett mit Edding beschmiert. Die Stationen waren alt und eng und miefig, auf ihren ehemals hellblauen Säulen pappte eine dicke Schicht schmieriger Dreck.
Der Mann neben mir redete mit sich selbst. Er hatte sich offensichtlich eingenässt und fluchte über eine Frau, die angeblich sein Geld gestohlen hatte und es verdammt noch mal zurückgeben müsse, wenn sie ihn wiedersehen wolle.
Zwei Typen etwa in meinem Alter und mit roten Baretts stiegen ein, von denen der eine eine Armeejacke trug und der andere ein weißes Thermounterhemd. Die beiden gehörten zu den Guardian Angels, einer Gruppe, die während meiner Abwesenheit mit der Mission gegründet worden war, Vergewaltigungen, Angriffe und Überfälle in der U-Bahn zu verhindern. Anfangs waren sie zu dreizehnt gewesen (die »Glorreichen 13«, wie sie sich selbst genannt hatten), jetzt waren sie über vierhundert. Sie fuhren in Achterteams in den Zügen mit und verteilten sich über die Wagen.
»Guten Abend«, sagte der Typ mit der Armeejacke zu den Fahrgästen in dem vollen Wagen. »Ich heiße Joseph, das ist Hector, und wir sind hier, damit Sie eine sichere und angenehme Heimfahrt haben.« Jetzt, aus der Nähe, sah ich, dass sie jünger waren, als ich angenommen hatte, so siebzehn oder achtzehn.
Zwei Jahre zuvor hatte mir ein Mann mit verkrüppeltem Ohr in der 2 Richtung Brooklyn damit gedroht, mich umzubringen, weil ich ihn angeschaut hatte. »Scheiße, was glotzt ’n du?«, ranzte er mich an, und als ich sagte: »Nichts«, schob er sein Gesicht so nah vor meins, dass ich jede einzelne Pore sah, und sagte: »Verdammt richtig, nichts, ich mach dich kalt, du Wichser.«
»Weshalb?«, fragte ich allen Ernstes laut.
Er klatschte mir das Buch aus der Hand, das ich gelesen hatte.
»Kalt, Mann«, sagte er, die Augen wild vor Zorn, und nachdem er mich zehn Sekunden mit Killerblick angestarrt hatte, ging er weiter und funkelte andere Fahrgäste an.
In New York herrschte eine gereiztere Atmosphäre als an jedem anderen Ort, an dem ich in Afrika oder sonst wo gewesen war. Aber sobald ich die Stadt auch nur kurz verließ, vergaß ich immer, wie bedrohlich es sich anfühlen konnte, zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Straßen unterwegs zu sein.
In der Middle School hatten wir Geschichten über Charlie Chop-off gehört, eine jener urbanen Legenden, die auf einer echten Person basieren. Jungen wurden in Gassen oder dunkle Hausflure gezerrt und dort erstochen und in einigen Fällen vergewaltigt, bevor ihnen der Killer die Genitalien mit einem Springmesser abschnitt. Jeder hatte damals Albträume von Charlie Chop-off. Wenn auf dem Spielplatz einer von uns in der Dämmerung nach Hause musste, witzelten wir: »Pass auf, dass Charlie Chop-off dich nicht holt.« Oder man zog, wenn man bei einem Freund zu Hause in der Küche war, plötzlich ein Messer aus der Schublade, starrte ihm auf die Eier und schrie: »Charlie Chop-off ist zurück!«
Mindestens sieben Kinder fielen Charlie zum Opfer, wenn nicht gar zwanzig. Dann gab es noch den Son of Sam, der sein Unwesen in den anderen Stadtteilen trieb, aber überall hätte zuschlagen können, und Calvin Jackson, der in unserer Gegend Frauen tötete und vergewaltigte und ihre Haushaltsgeräte stahl. (Als man ihn schnappte, sagte er: »Ich töte einfach gern.«)
Ich weiß noch, wie ich mal einen Typen die Straße entlangschleichen sah, der aussah wie der Charlie Chop-off aus meinen Albträumen. Als er mich komisch anguckte, rannte ich weg. Wann immer ich irgendwo Gefahr witterte, ging oder lief ich auf der Straße an den parkenden Autos entlang, bis ich mich wieder sicher fühlte. Es war, als würde man Fangen auf Leben und Tod spielen, das sichere »Frei« in weiter Ferne, oder an Haien vorbei zu einem Floß schwimmen. Unser Block war relativ sicher, bis auf einen nahe gelegenen kleinen Park an der Ecke Broadway und 73. Straße, genannt Needle Park, weil dort die Junkies rumhingen. Sie waren schlimm anzusehen – der leere Blick in ihren Augen, die schlaffen Hände, Bewegungen wie in verzerrter Zeitlupe.
Ging man von dort nur eine Minute weiter, kamen Blocks mit gepflegten Brownstones, neuen Restaurants und Bars und sogar ein paar Clubs. Noch etwas weiter den Broadway hinauf fanden sich beliebte Programmkinos – das Thalia, das Regency und das New Yorker –, Buchhandlungen, von klassisch bis esoterisch, Headshops und Eisenwarenläden, Bäckereien und eine Verkehrsinsel mit Bank, auf der sich zwei adrett gekleidete Holocaustüberlebende eine Tüte Maronen teilten, während neben ihnen ein Mann mit fettigen Haaren und Strickpulli Henry Miller las und eine Frau Taschenbücher und LPs verkaufte. Die Dinge, die man von einer Stadt so erwartete. Leben.
Kurz bevor ich ausstieg, flüsterte mir die Frau auf der anderen Seite des bepinkelten Mannes ins Ohr: »Die Welt wimmelt vor grauenhaften Menschen.«
Ich tat mein Bestes, so viel zu essen, wie reinging, um wieder auf Gewicht zu kommen. Obwohl ich eins dreiundachtzig groß bin, wog ich bei meiner Rückkehr aus Afrika nur noch fünfundsechzig Kilo, weshalb meine Klamotten fröhlich an mir rumschlackerten.
Ich ging viel spazieren, durch den Park und runter zur Public Library, und auf dem Rückweg ging ich oft in den Central Park Zoo und sah den Seelöwen bei ihren Saltos und beim Tauchen zu, damals die einzigen Tiere im Zoo, die nicht in bedrückend engen Käfigen eingesperrt waren. Da ich ja nicht arbeitete, ging ich ins Kino, und oft stieß Buddy dazu, und wir holten uns einen Rieseneimer Popcorn, dazu Milk Duds und Cola.
Zweimal war ich in Apocalypse Now, einmal mit Buddy und einmal allein, und beide Male erlebte ich den Film mehr, als dass ich ihn sah. Auch ich litt morgens an Desorientierung, wusste nicht gleich, wo ich war. Ich war Martin Sheen, der in einem Saigoner Hotelzimmer schweißgebadet aus dem Fieberschlaf erwacht. Hundertpro, dass er auch Malaria hatte, so wie er aussah. Seine innere Stimme klang wie meine eigene – oder war das eine akustische Halluzination? »Jedes Mal denke ich, ich wache wieder tief im Dschungel auf.«
Mein Gott, dachte ich. Er ist ich.
»Ich bin jetzt seit einer Woche hier. Warte auf einen Einsatz. Und werde allmählich mürbe.«
Auch ich wartete auf einen Einsatz.
Wurde mürbe.
Als ich Buddy davon erzählte, meinte er, dass alle Filme, die wir gesehen hätten, von uns handelten.
»Zum Beispiel?«, fragte ich.
»Kramer gegen Kramer.«
»Da geht es um eine Mutter, die abhaut.«
»Oder um einen Mann, der seinen Job verliert und eine Beziehung zu seinem Sohn entwickelt, während er sich überlegt, wie es weitergehen soll.«
»Der Junge ist acht, aber okay.«
»Oder Vier irre Typen.«
Regie: Peter Yates, einer unserer Nachbarn im Dakota. Es ging um ein paar Kids in Indiana und Radrennen. Ich kapierte den Zusammenhang nicht.
»Ein schlaksiger, charmant affektierter junger Mann, hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen.«
Neben unseren Kinobesuchen gingen wir auch ins Museum, ins Met, das Whitney oder das Museum of Modern Art. Meist erkannten dort zwei oder drei Leute Buddy und fragten ihn, was er so mache, und manchmal gab er ihnen eine ehrliche Antwort, dass er dabei sei, den Kopf freizubekommen, seiner Seele Urlaub gönne oder so was in der Art, worauf die Leute dankbar nickten, als wäre eine Figur aus einem ihrer Lieblingsbücher den Seiten entsprungen und ihr Freund geworden.
Wenn meine Mutter nach Hause kam, gingen wir vier oft essen, und zweimal kam auch meine Schwester Rachel mit. Mal fühlte sich alles an wie früher, mal war es eher angespannt, wie in einem Theaterstück über eine Familie, in der alle irgendwelche Geheimnisse voreinander haben. Früher hatte uns Buddy kaum zu Wort kommen lassen, jetzt aber schwieg er öfter mal und wirkte mitunter völlig abwesend. Wenn meine Mutter ihn dann fragte: »Was ist los, Babe?«, zog er die Brauen hoch und antwortete: »Das wüsstest du wohl gern.«
Meine Mutter war als Teenager und in ihren Zwanzigern eine talentierte Schauspielerin gewesen. Sie wuchs an der West End Avenue auf, und ihr Vater, mein Großvater Will Simmons, besaß ein Musikgeschäft in den Fünfzigerstraßen West. Nach ihrem Theaterstudium an der New York University spielte sie in einem Dutzend Filmen mit, meist als beste Freundin des Stars, von der Kritik gelobt. In drei Filmen besetzte sie eine Hauptrolle, von denen einer, Farce auf hoher See (mit Lee Marvin und George Kennedy), zum Kultfilm avancierte. Viele davon hatte ich mit ihr in einem der kleinen Programmkinos gesehen, wo sie mir Sachen zugeflüstert hatte wie: »Jetzt Achtung, das Mädchen auf dem Rücksitz im Cabrio, das mit der Sonnenbrille.«
Es war seltsam, sie so jung zu sehen, wie sie Van Johnson ohrfeigte oder kreischte, als sie den toten Walter Pidgeon am Fuß der Treppe entdeckte. Auch in Peyton Place spielte sie regelmäßig mit, dazu in mehreren Off-Broadway-Stücken und einer Handvoll Werbespots, darunter einer für Playtex-BHs, in dem sie auf einer Party herumflaniert und ihr schmierige Typen in Rollkragenpullis hinterherstarren und sich fast den Hals verrenken.
Seit zwei Monaten sammelte sie Spenden für Edward »Ted« Kennedy, der sich bei den Vorwahlen der Demokraten um die Präsidentschaftskandidatur bewarb, und hatte sich überreden lassen, Joan Kennedy, seine Frau und eine alte Freundin meiner Mutter, zu Ortsterminen in der Stadt und einer Wahlkampfveranstaltung im Restaurant Park Tavern zu begleiten.
»Manchmal wirkt er so stark und charismatisch«, sagte meine Mutter, als wir in unserer Stammpizzeria Al Buono Gusto an der Columbus Avenue saßen. »Und dann wieder scheint er absolut keine Lust zu haben, als würde es ihn nerven, jedem erklären zu müssen, warum er der nächste Präsident werden sollte.«
In Gabun hatte ich den Wahlkampf sporadisch auf BBC und in Buddys Briefen mitverfolgt, und die Vorstellung eines neuen Kennedy-Präsidenten gefiel mir. Dann aber hatte er Roger Mudd ein katastrophales Interview gegeben, über das Buddy mir ausführlich berichtet hatte.
»Tod durch Drumrumreden«, lautete seine Diagnose.
Das Rennen um die Vorwahlen wurde durch die Geiselkrise getrübt, die es dem amtierenden Präsidenten erlaubte, sich im Rosengarten des Weißen Hauses zu verkriechen, präsidiale Reden zu schwingen und immer mal wieder anzudeuten, dass Wahlkampf in gefährlichen Zeiten wie diesen eigentlich eine Unverschämtheit sei. Erstaunlicherweise kam er damit an, und in den Umfragen schnitt er trotz aller offensichtlichen Versäumnisse weiterhin gut ab.
»Der Fluch der Kennedys«, sagte Buddy.
Ich glaube, meine Mutter sah gewisse Parallelen zwischen Teds und Buddys Bemühungen, ihre nicht ganz einfache Vergangenheit hinter sich zu lassen. Meiner Meinung nach mussten beide ihre alte Strahlkraft zurückgewinnen und wieder die Nähe zu den Wählern und Fans suchen.
Kaum hatte ich ein Stück Pizza aufgegessen, lag dank meiner Mutter schon das nächste auf meinem Teller.
»Das ist jetzt das vierte«, sagte ich.
»Und du könntest noch vier essen und würdest immer noch wie eine UNICEF-Werbung aussehen«, sagte sie.
»Noch eins und ich breche die anderen wieder aus.«
»Dann nehm ich es«, erbot sich Kip.
»Mein Sohn, der menschliche Bandwurm«, sagte Buddy.
Kip war während meines Jahrs in Gabun in die Höhe geschossen. Jetzt war er fast so groß wie ich (bei meiner Abreise war er einen Kopf kleiner gewesen), hatte breitere Schultern und dazu Beine, die vom ständigen Seilspringen im Flur muskulös und sehnig waren.
Er hatte in meiner Abwesenheit Dutzende dreckige Witze für mich gesammelt und gab sie jetzt am Tisch zum Besten, obwohl meine Eltern sie schon kannten.
In seinem Lieblingswitz ging es um eine Spielshow namens Der gesuchte Gegenstand, in der man den Teilnehmern die Augen verbindet und dann einen Gegenstand auf einem Tablett vorsetzt. Durch Fragen müssen sie herausfinden, worum es sich handelt. Der erste Gegenstand ist ein abgetrennter Elchpenis.
»Dann fragt die Kandidatin, eine alte Dame aus Applewood in Wisconsin: ›Ist es was zu essen?‹«, sagte Kip mit perfekter Alte-Lady-Stimme. »Die Jury berät sich und sagt dann: ›Na ja, man kann es zumindest in den Mund nehmen.‹ Und sie gleich so: ›Ist es ein Elchpimmel?‹«
Keine Ahnung, warum der Witz bei mir so einschlug, aber das Bier, das ich gerade trank, spritzte mir aus der Nase.
»Der ist super«, sagte ich.
Beim Rausgehen sagte er: »Kann ich dich was fragen?«
»Klar.«
»Im Krankenhaus, hast du da gedacht, du würdest sterben?«
»Irgendwie schon, ja.«
»Wie war das so?«
»Ich war ziemlich weggetreten. Aber ich weiß noch, dass ich gedacht habe: War’s das jetzt? Sterbe ich jetzt? Und irgendwie hat es sich komisch angefühlt, an einem so wildfremden Ort im Sterben zu liegen, so weit weg von allen, die ich kenne.«
»Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist«, sagte er. »Keiner lacht über meine Witze so wie du.«
»Da haben wir’s, ich tauge also doch zu was.«
Ich fühlte mich als Teil meiner Familie und doch irgendwie allein.
Die meiste Zeit kam ich mir wie abgekoppelt vor, so wie man sich bei einer Zwischenlandung mit längerem Aufenthalt fühlt. Ich hatte mich bisher nur bei wenigen Freunden zurückgemeldet und nichts zugesagt, was weiter als ein oder zwei Wochen in der Zukunft lag. Im Augenblick war es am einfachsten, mich an Buddy ranzuhängen, der gerade auch nicht recht wusste, wie weiter, und meiner Mutter und meinem Bruder wieder näherzukommen.
Es war schön, meine Eltern Hand in Hand wie ein verliebtes Paar gehen zu sehen.
»Du hast ganz schön abgenommen«, sagte Kip.
»Dich mach ich trotzdem noch fertig.«
»Träum weiter.«
Ich boxte ihn auf den Arm, und er schrie und schlug zurück. Es zwiebelte höllisch, aber ich ließ mir nichts anmerken.