Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln aus dem Canada Council for the Arts.
Für Mira & Bela
Möget ihr weithin suchen und stets nach Hause finden
Wir Wanderer, die wir immer den einsameren Weg suchen, beginnen keinen Tag dort, wo wir den anderen Tag beendet haben; und kein Sonnenaufgang trifft uns dort an, wo der Sonnenuntergang uns verlassen hat.
Auch während die Erde schläft, reisen wir.
Wir sind die Samen der beständigen Pflanze, und in unserer Reife und Fülle unseres Herzens werden wir dem Wind anvertraut und zerstreut.
Kurz waren meine Tage in eurer Mitte, und noch kürzer waren die Worte, die ich gesagt habe.
Aber sollte meine Stimme in euren Ohren verhallen und meine Liebe in eurem Gedächtnis verblassen, dann werde ich wiederkommen, mit reicherem Herzen, und ich werde mit Lippen sprechen, die dem Geist mehr gehorchen.
Ja, ich werde mit der Flut wiederkommen,
und auch wenn der Tod mich verbergen und die große Stille mich umhüllen mag, so werde ich doch wieder euer Verstehen suchen.
– aus »Der Abschied«, Khalil Gibran
[in: Der Prophet, Diogenes Verlag, Zürich 2005, S. 93-94, Dt. von Ingrid Fischer-Schreiber]
19. Mai 2015, 5.59 Uhr
Eine junge Frau, genau an der Schwelle zwischen Pubertät und Erwachsensein, klettert über einige Felsen, die die Grenze zwischen städtischem Bürgersteig und Meeresstrand markieren. Ihre Kleidung hat die Farbe von Schnee, von Wolken, von nichts. Ihre Füße sind nackt. Ihre Hände sind leer.
Sie geht langsam, aber zielstrebig auf den Pazifik zu, jedoch ohne das übliche Zubehör der Leute, die um diese Uhrzeit herkommen – keine Angel, kein Surfboard, kein Neoprenanzug.
Es ist früher Morgen, kurz vor Sonnenaufgang. Der Horizont färbt sich allmählich orange, aber die Luft ist noch kühl.
In einem der Häuser, die die Klippe über dem Strand säumen, steht ein älterer Mann auf und schaltet das Licht in seiner Küche an. Er denkt darüber nach, ob es eine Gnade oder ein Fluch ist, jeden Morgen zu so unchristlicher Stunde aufzuwachen. Es ist friedlich, keine Frage, aber nichts gibt ihm stärker das Gefühl, allein auf der Welt zu sein.
Während er den Wasserkocher an der Spüle füllt, blickt er wie jeden Morgen aus dem Fenster. Um diese Zeit sind kaum Leute unterwegs, nur manchmal ein unerschrockener Jogger oder jemand, der seinen Hund ausführt. Heute schaut er genauer hin. Er kneift die Augen zusammen und öffnet sie wieder, um sich zu vergewissern, was er da sieht.
Sie ist fast eine Fata Morgana, die junge, weiß gekleidete Frau. So, wie sie das Haar in einem losen Nackenknoten trägt, glaubt er für einen Moment, seine verstorbene Frau sei zurückgekehrt, um ihn zu besuchen. Der Gedanke ist zwar abwegig, entlockt ihm aber dennoch ein Lächeln.
Als das Wasser im Kocher überläuft, kommt er wieder zur Vernunft. Von seinem Blickwinkel aus bemerkt er jetzt ihre olivfarbene Haut, das jugendliche Gesicht. Sie geht unbeirrt auf die tosenden Wellen zu. Irgendetwas stimmt da nicht: eine junge Frau in Straßenkleidung, um diese Uhrzeit allein am Strand. Er stellt den Wasserkocher zurück auf die Bodenplatte, nimmt den Hörer vom Telefon in der Küche und wählt den Notruf.
2007
Karina saß vor dem Büro des Direktors und ließ die Füße gegen die Holzbank baumeln. Sie wusste, dass das Geräusch die Sekretärin nervte, die ihr in regelmäßigen Abständen über die hohe Empfangstheke hinweg böse Blicke zuwarf. Karina war das egal. Was konnte ihr denn noch passieren? Sie wartete doch schon im Vorzimmer des Direktors; ihre Mutter war angerufen worden. Der einzige Lichtblick in dieser Situation war, dass Prem nicht hier mit ihr zusammen warten musste. Er war draußen und spielte hoffentlich mit den anderen Erstklässlern.
Zwanzig Minuten zuvor, zu Beginn der Mittagspause, war sie mit ihrer besten Freundin Izzy am Klettergerüst gewesen und hatte Prem auf der anderen Seite des Schulhofs an einem der Tische sitzen sehen. Ihr kleiner Bruder, der in der Pause sonst immer wild mit seinen Freunden herumtobte, hockte an einer Ecke des Tisches, und ein älterer Junge stand dicht neben ihm. Karina ging hinüber, und als sie näher kam, erkannte sie Jake Potash aus ihrer Klasse.
»Boah, stinkt das!« Jake hielt sich die Nase zu und zeigte auf die mit Reis und Gemüsecurry gefüllte Edelstahllunchbox ihres Bruders. »Tu das Zeug weg!« Er trat so fest gegen den Tisch, dass die Lunchbox schepperte und Prem mit angstverzerrtem Gesicht ein Stück von ihm wegrutschte.
Karina, angetrieben von blanker Wut und Beschützerinstinkt, stiefelte hin und nahm die Lunchbox vom Tisch. »Wenn du meinen Bruder noch ein einziges Mal schikanierst«, fauchte sie, »bist du tot.« Jake grinste bloß, und vor lauter Zorn holte Karina aus und schleuderte die Lunchbox nach ihm. Jake schrie auf, als ihn die harte Stahlkante mitten im Gesicht traf und ihm Curry an die Wange platschte. Karina starrte ihn an, während er sich übers Gesicht wischte. Offenbar sah Jake die Wut in ihren Augen, denn so absurd es auch war, dass eine magere Elfjährige dem größten Rowdy der Schule drohte, spuckte er bloß einmal auf den Boden und stürmte davon.
Noch ehe Karina sich um Prem kümmern konnte, kam eine Lehrerin der Pausenaufsicht ganz außer Atem angetrabt. »Das habe ich gesehen, Miss Olander. Einen Gegenstand nach jemandem werfen? Dafür geht’s jetzt ab zum Direktor.« Bevor Karina irgendetwas erklären konnte, packte die Lehrerin sie am Oberarm und zog sie zum Schuleingang. Prem blickte von seiner Bank zu ihr hoch, mit jetzt tränenüberströmtem Gesicht. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger der freien Hand an die Nase, während sie weggezerrt wurde, und er machte dieselbe Geste, das unsichtbare Band, das sie zusammenhielt.
Seit Prem auf Karinas Grundschule ging, erstreckte sich seine Bewunderung für seine große Schwester auch auf ihre Freundinnen. Ihre Eltern waren froh, dass die Kinder dieselbe Schule besuchten und Karina ein Auge auf ihren kleinen Bruder haben konnte. Prem war furchtbar aufgeregt gewesen, als Karina ihn am ersten Tag herumführte und ihm den Pausenhof zeigte, wo sie ihn in der Mittagspause treffen würde. »Guck mal, ein Klettergerüst, die magst du doch so!« Prem lächelte sie an, schlang dann spontan die Arme um sie und drückte sie ganz fest. »Ist ja gut, ist ja gut«, sagte sie und löste sich von ihm, bevor irgendwer das mitbekam. »Du bist jetzt ein großer Junge.« Sie tippte ihm leicht auf die Nase. »Alles wird gut. Versprochen.« Er nickte ernst, berührte erst seine, dann ihre Nase mit dem Zeigefinger.
Karina war es selbst schwergefallen, in der Schule klarzukommen, hauptsächlich, weil es sonst niemanden gab, der so war wie sie. Es gab die weißen Kinder, die chinesischen Kinder, die indischen Kinder und die mit spanischer Muttersprache. Aber die Kombination von Karinas Merkmalen – hellbraune Haut, dunkle Augen, volles welliges Haar, markante Nase – gab ihr das Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören. Die Leute waren nicht unfreundlich, aber manchmal kam sie sich vor, als wäre sie ein Rätsel für sie. Als ihr Vater sie das erste Mal vom Fußballtraining abholte, beobachteten die anderen Eltern irritiert, wie er vom Auto aus winkte, wohl weil sie seinen hellen, sommersprossigen Teint nicht mit ihrem in Einklang bringen konnten. Eine Mutter fing sie auf dem Weg zu ihm ab und ließ sie erst gehen, als Karina bestätigte, dass sie ihn kannte, wodurch ihr erst richtig bewusst wurde, wie verschieden sie aussahen. Ihr Name machte alles nur noch schlimmer. Abgeleitet von carus, dem lateinischen Wort für »lieb« oder »teuer«, war er zudem ein Hindi-Name, der »Blume«, »rein« oder »unschuldig« bedeutete. Ihre Eltern mochten seine Bedeutungen in verschiedenen Kulturen, und er entsprach ihrem Gefühl, dass zwei Ethnien in einem Kind zusammenkamen. Als Karina noch jünger war, akzeptierte sie ihre Erklärung, jetzt jedoch war sie es leid, ihren Namen ständig wiederholen und buchstabieren zu müssen.
Prem bekam eine andere Kombination von Merkmalen mit: Er hatte helle Haut, glattes und feines Haar und lange dunkle Wimpern, die aussahen, als wären sie gebogen und dick mit Mascara bepinselt worden (reine Verschwendung bei einem Jungen, fand Karina). Die Leute waren immer verblüfft, wenn sie mitbekamen, dass sie Geschwister waren, und obwohl es Momente gab, in denen Karina sich wünschte, sie wären nicht Bruder und Schwester, ärgerte es sie doch, wenn jemand ungläubig reagierte. Karina und Prem waren die einzigen beiden Mitglieder in ihrem eigenen Klub, selbst wenn niemand glauben wollte, dass sie zusammengehörten.
Die Schulsekretärin hob jetzt den Kopf und blickte Karina über eine kleine Drahtgestellbrille an, die an einer Kette um ihren Hals befestigt war. »Deine Mutter müsste in zwanzig Minuten hier sein, also hab ein bisschen Geduld«, sagte sie mit einem steifen Lächeln. Karina hörte reflexartig auf, die Beine baumeln zu lassen, während die Frau sie ansprach, dann machte sie ungerührt weiter.
Karina hatte gelernt, sich vor Leuten in Acht zu nehmen, besonders vor solchen, die ihr mit Neugier begegneten. Zum Glück brauchte sie nicht viele Freundinnen; sie hatte ja Izzy. Isabelle Demetri, ein dunkelhaariges, großäugiges Mädchen, hatte sie in der ersten Klasse angesprochen. Sie war zu Karina gegangen, die gerade bei den Wippen stand, und hatte erklärt, sie würden Freundinnen werden, weil sie beide die gleichen lila Lunchboxen hatten. Izzy war furchtlos, lustig und hielt nicht viel von den Jungs, die sich immer in ihrer Nähe herumdrückten. Ihre Leidenschaft waren Pferde. Zweimal die Woche ging sie nach der Schule reiten. Sie teilte sich mit anderen ein Pony namens Mr Chuckles, da ihre Eltern meinten, ein eigenes zu kaufen wäre zu teuer. Karina fand es schön, Izzy zum Stall zu begleiten und zuzusehen, wie ihre Freundin mit dem großen Tier umging, als wären die beiden in einem stummen, sanften Dialog darüber, wie sie ihre gegenseitigen Bedürfnisse erfüllen könnten. Aber besonders gerne mochte Karina Dominick, den Cocker-Pudel-Mischling der Demetris, der zusammengerollt am Fußende von Izzys Bett schlief und ihnen geduldig von Zimmer zu Zimmer folgte, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gab außer dem, in ihrer Nähe sein zu wollen. Dominick wirkte lieb und verlässlich auf eine Art, die im Vergleich zu vielen anderen Menschen in Karinas Leben unkompliziert war. Karina konnte Prem, ihren Eltern, Izzy und Izzys Tieren vertrauen, und das genügte ihr.
Jake Potash war nicht zum Direktor geschleift worden, und Karina hatte gleich gemerkt, wie der Vorfall auf die Aufsichtslehrerin gewirkt hatte, deshalb wusste sie genau, was sie sagen musste, als sie schließlich in das Büro des Direktors gerufen wurde. »Jake hat meinen Bruder geärgert. Prem ist erst sechs, und ich hab ihn in Schutz genommen.«
Der Direktor nahm seine Lesebrille ab. »Andere körperlich anzugreifen ist keine Art, Konflikte zu lösen, Karina. Mrs Kramer war ganz in der Nähe. Sie hätte dir helfen können.«
Karina nickte, den Blick starr nach unten auf ihre Hände gerichtet. Sie wiederholte Jakes Bemerkungen nicht, erwähnte nicht, dass seine Beleidigungen nur unverschämter waren als die anderer Kinder, deren Fragen genauso verletzend sein konnten. In dem Moment ging die Tür auf, und ihre Mutter kam ins Büro. Als Karina sie sah, die Bluse halb aus der Hose hängend und die Stirn sorgenvoll zerfurcht, spürte sie den ersten Anflug von schlechtem Gewissen. Der Direktor bat Karina, den Vorfall zu schildern. Ihre Mutter setzte sich, faltete die Hände im Schoß und hörte zu, während ein Muskel an ihrer Wange zuckte.
»Das ist ihr erster Verstoß gegen die Schulordnung«, sagte der Direktor, »sie wird daher einen Vermerk in ihrer Schülerakte bekommen und sich bei dem anderen Schüler entschuldigen müssen, aber dabei können wir es belassen. Und natürlich darf sie heute nicht weiter am Unterricht teilnehmen.«
Ihre Mutter entschuldigte sich höflich und dankte dem Direktor, ohne Karina auch nur einmal anzusehen. Im Auto fuhr sie eine Weile mit fest umklammertem Lenkrad, bevor sie schließlich etwas sagte. »Karina, ich weiß wirklich nicht, was mit dir los ist. Auf andere Schüler losgehen?«
»Er hat sich über Prem lustig gemacht, Mom. Der Junge hat ihn gehänselt, weil er … anders ist.« Noch während sie das aussprach, wusste sie, dass ihre Mutter es nicht verstehen würde. Ihre Eltern gehörten nicht zum selben Klub.
Ihre Mutter warf einen Blick in den Rückspiegel und wechselte die Spur, um abzubiegen. »Du solltest stolz sein auf deine indische Kultur. Belehre diesen Jungen eines Besseren, erzähl ihm, was Inder alles geleistet haben – die Erfindung von Mathematik und Schach, eine jahrhundertealte Tradition, Dichtung, Musik.«
Manchmal, wenn ihr Vater verreist war, drang gespenstische indische Musik aus dem Elternschlafzimmer, das nur von der Nachttischlampe erhellt wurde. Mom saß dann mit geschlossenen Augen da, bewegte den Kopf im Takt und sah friedvoller aus als im normalen Alltag. Das störte Karina, als müsste ihre Mom woandershin, um glücklich zu sein, an irgendeinen Ort, zu dem sie sie nicht mitnehmen konnte.
»Du kapierst das nicht«, murmelte Karina. »Tust du ja nie.«
»Wie bitte?« Ihre Mutter drehte sich um und warf ihr einen stechenden Blick zu. »Was hast du gesagt?« Sie richtete die Augen wieder auf die Straße. »Wie du weißt, verlasse ich mich darauf, dass du für Prem eine gute Schwester bist, ein Vorbild. Du darfst nicht gewalttätig werden. Das müsste dir doch klar sein.«
Karina schwieg, starrte aus dem Fenster auf die Geschäfte und Straßenschilder, die vorbeiglitten. Sie wusste, wenn sie die indische Kultur stolz verteidigt hätte, wie ihre Mutter empfahl, hätte das Jake Potash nur noch mehr angestachelt. Falls die Sache derartige Ausmaße annahm, dass Mom es für nötig hielt, Karinas Vater davon zu erzählen, würde seine Reaktion anders ausfallen. Er würde Jakes Eltern anrufen und seelenruhig ihre Erziehungsmethoden kritisieren und sie warnen, dass ihr Kind mit Konsequenzen zu rechnen habe, falls etwas Derartiges noch einmal passieren sollte. Dann würde er den Schuldirektor aufsuchen und bei der Polizei Anzeige erstatten. Er würde Jake Potash samt seiner Familie das Leben schwer machen, ihm Angst einjagen. Diese Strategie könnte funktionieren, und falls die Dinge noch schlimmer wurden, würde Karina möglicherweise überlegen, Dad einzuweihen.
Aber nach dem Zwischenfall auf dem Schulhof, als Karina fast meinte, irgendeine fremde Macht habe Besitz von ihr ergriffen, als Zorn und Kraft durch ihre Adern strömten, behelligte Jake Potash sie oder Prem nie wieder.
2008
Jaya zog ihre Gartenhandschuhe an und reichte auch Karina ein Paar. Die drehte die Handschuhe um, musterte die aufgestickten Marienkäfer und sagte: »Mom, die sind … die sind doch für kleine Kinder. Kann ich nicht einfach die normalen nehmen?«
»Aber die passen doch noch. Die anderen sind dir zu groß.« Jaya bückte sich, nahm einen großen Sack Blumenerde vom Garagenboden und wuchtete ihn hoch. »Schätzchen, nimm bitte zwei von denen da.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Paletten mit Setzlingen und ging ums Haus herum in den Garten. »Und? Wie war dein Fußballspiel heute Vormittag?«, rief sie über die Schulter.
»Ganz gut.«
»Habt ihr gewonnen? Verloren? Gegen wen habt ihr gespielt?«
»Weiß nicht, irgendeine Schule. Unentschieden.«
Jaya stellte den Sack bei den Blumenbeeten ab und musterte ihre Tochter, sah den gelangweilten Gesichtsausdruck, den sie in letzter Zeit so oft aufsetzte. Mit ihren zwölf Jahren fing Karina bereits an, das Verhalten eines amerikanischen Teenagers anzunehmen – das Desinteresse, den Missmut –, vor dem Jaya gewarnt worden war. Plötzlich lehnte Karina alles Indische ab, das Essen, das Jaya kochte, die Kleidung, die sie kratzig und unbequem fand, sogar die Besuche im Tempel. Die Experten meinten, so etwas sei nichts Persönliches, aber was konnte Karinas Ablehnung von Jayas ureigener Kultur denn sonst sein? Es war fast unmöglich, sich nicht nach dem quirligen kleinen Mädchen zurückzusehnen, das so viel Leben in ihre Familie gebracht hatte. Zum Glück war der siebenjährige Prem noch durch und durch Kind und voller Neugier auf die Welt. Jaya würde seine kindliche Zuneigung noch ein paar weitere Jahre genießen können. Es hatte auch was Gutes, wenn die Kinder altersmäßig so weit auseinander waren, obwohl das für einigen Kummer gesorgt hatte. Jaya nahm die große Schere aus dem Eimer mit Gartengeräten und schlitzte den Sack auf. »Ist bestimmt schwer, wo Isabelle diese Saison nicht in der Mannschaft ist.« Das war jetzt ihre Strategie, Themen behutsam anschneiden, weil sie nie genau wusste, was ihrer Tochter gerade zu schaffen machte.
Karina zuckte mit den Achseln. »Geht schon. Schließlich kenn ich ja auch die anderen im Team. Wir sind seit der ersten Klasse zusammen.« Sie sank im Schneidersitz auf den Rasen, stützte die Hände hinter sich auf.
»Ja, stimmt.« Jaya lächelte und dachte daran, wie sehr sich die stabilen Verhältnisse, in denen Karina aufwuchs, von denen ihrer eigenen Kindheit unterschieden. Jayas Vater, ein Diplomat, war alle paar Jahre in ein anderes Land versetzt worden, wo Jaya englische Eliteschulen besuchte und sie häufig irgendwelche Würdenträger zu Gast hatten. Das kosmopolitische Leben ihrer Familie änderte aber nichts daran, dass sie von Grund auf indisch waren, sondern betonte es vielmehr. Jayas Mutter konnte Delikatessen aus ganz Indien zubereiten: dünne, knusprige Dosas aus dem Süden und sämige Lammcurrys aus dem Norden. Sie wohnten stets in geschmackvoll mit handgeschnitzten Möbeln und kostbaren Seidenteppichen eingerichteten Häusern. Sie hatten indische Zeitschriften abonniert, und ihre Gespräche beim Abendessen kreisten um aktuelle Ereignisse in der Heimat. Jaya und ihr Bruder Dev wurden in dem stillschweigenden Verständnis erzogen, dass Indien mit all seiner Größe und den vielen kulturellen Leistungen, die es der Welt geschenkt hatte – Raga-Musik, große Dichtkunst und exquisite Küche, um nur einige zu nennen –, jedem der Länder, in denen sie gerade lebten, überlegen war.
»Okay, du weißt ja, wie’s geht«, sagte Jaya zu Karina und deutete auf das leere Blumenbeet. »Grab erst mal die Löcher.« Karina rührte sich nicht vom Fleck, blieb zurückgelehnt auf dem Rasen sitzen und schüttelte schwach den Kopf.
»Wo soll ich die hinmachen?«
»Komm schon, Schätzchen. Genau wie immer. Die vordere Reihe mit etwa vierzig Zentimeter Abstand, die Reihe dahinter weiter auseinander. Ich denke, insgesamt brauchen wir drei Reihen – glattblättriger und krausblättriger Zierkohl, Ringelblumen«, sagte Jaya und zeigte auf die verschiedenen Setzlinge. »Was sind das da für welche?« Karina berührte eine Pflanze mit grauen samtigen Blättern, die gegliedert waren wie Tiefseekorallen.
»Sind die nicht faszinierend? Fühl nur mal die Blätter. Sie heißen Staubiger Müller«, sagte Jaya. »Du darfst entscheiden, wo sie hinkommen.« Jaya machte Markierungen für die einzelnen Reihen im Blumenbeet und ging dann den Gartenschlauch holen. Es erfüllte sie mit tiefer Befriedigung, Blumen in die Erde zu pflanzen und ihr Wachstum zu beobachten. Ihre Mutter hatte immer wunderschöne Blumenarrangements in ihren Häusern gehabt, weil sie oft unerwartet Besuch bekamen. Aber diese Schnittblumen machten Jaya unweigerlich traurig, weil sie schon nach wenigen Tagen zu welken begannen und unangenehm rochen. Es ergab sich nie die Gelegenheit, einen richtigen Blumengarten anzulegen, weil sie immer nur ein oder zwei Jahre an einem Ort blieben. Zudem zogen sie oft im Winter um, wenn der Boden ohnehin gefroren war. Deshalb lernte Jaya, ihr Seelenleben zu kultivieren, indem sie klassischen indischen Tanz lernte, der ihr ein eigenes Gefühl von Erdung gab, das sie in sich trug, ganz gleich, wo sie lebten. Sie hatte gelernt, sich überall wohlzufühlen, weil sie nirgendwo zu Hause war.
Hier jedoch konnte Jaya endlich ihre Blumen in die Erde pflanzen und sich so in diesem Land verwurzeln, auf das sie für sich und ihre Familie Anspruch erhob. Sie und Keith hatten sich auf den ersten Blick in dieses Haus verliebt, einen zweigeschossigen Backsteinbau an einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße. Beide waren sie von dem großen Garten begeistert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Für Keith war der Swimmingpool ein Erfolgssymbol. Er stellte sich vor, wie er im Sommer Partys gab und am Grill stand, während die Kinder im Pool planschten. Jaya sah in dem Garten eine riesige Leinwand, die sie nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten konnte, mit Blumenbeeten, Rosensträuchern, Kräutern und Gemüse und sogar mit einem Zwergzitronenbaum, der gelegentlich Früchte trug. Karina war noch ganz klein, als sie das Haus kauften, und Jaya hatte eine tiefe Energie empfunden, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einen bestimmten Ort band, ein Gefühl, das in den letzten zehn Jahren noch stärker geworden war. Sie konnten sich jetzt ein größeres Haus in einer besseren Gegend leisten, wie Keith ihr immer wieder versicherte, wenn sie an Häusern vorbeikamen, die zum Verkauf standen, aber Jaya wollte aus diesem nicht ausziehen.
Jetzt gab sie in jedes der kleinen Löcher, die Karina gegraben hatte, eine Schaufel Blumenerde, gefolgt von einem Löffel Knochenmehl. »Hast du dich jetzt entschieden, wo du zur Feier deines Geburtstags essen gehen willst? Wir könnten ins Benihana oder ins Spaghetti House«, schlug Jaya vor. »Und vielleicht probieren wir hinterher noch die neue Eisdiele aus. Oder möchtest du lieber Kuchen?«
»Mom, ich versteh nicht, warum ich heute Abend nicht bei den Crandalls babysitten darf. Ich hab doch erst morgen Geburtstag. Wieso können wir nicht dann essen gehen?«
»Weil dein Vater morgen verreist. Sein Flug geht um drei«, erklärte Jaya. »Außerdem ist es sowieso besser, samstags auszugehen. Am nächsten Morgen muss ja keiner früh raus.«
Karina verdrehte die Augen und stieß ihre Schaufel in die Erde, um ein neues Loch zu graben. »Das ist gemein. Wieso kann ich am Wochenende in meiner Freizeit nicht machen, was ich will? Izzy ist den ganzen Tag bei den Pferden. Wieso darf ich nicht ein paar Stunden babysitten, wenn ich das möchte?«
Jaya sah zu ihrer Tochter hoch und seufzte. Es war immer derselbe Streit. Karina hatte begonnen, an den Wochenenden den Hund eines Nachbarn auszuführen, und dann noch den eines anderen. Jetzt wollte sie anscheinend jeden Freitag und Samstag babysitten, sodass sie immer weniger Zeit als Familie gemeinsam verbrachten.
»Was soll ich denn sonst mit meiner Zeit anfangen?«, sagte Karina. »Ich hab gute Noten, mit dem Vorwand könnt ihr mir also nicht kommen.«
»Karina.« Jaya legte den Kopf schief und lächelte, hoffte, so die Entrüstung zu beschwichtigen, die sich in ihrer Tochter zusammenbraute. »Warum willst du das unbedingt machen? Geht’s dir um das Geld?« Sie versuchte, das Wort nicht so auszusprechen, als wäre es ein schmutziges. Die Werte, die Jaya von ihren Eltern eingeimpft bekommen hatte, waren kristallklar: Das Wichtigste war die Schule gewesen; das Zweitwichtigste der Tanz. Für ein Kind sollte nichts anderes eine Rolle spielen. In ihrer Kultur arbeiteten nur Erwachsene und Bettelkinder.
»Alle anderen in meiner Klasse machen am Wochenende, wozu sie Lust haben. Ich will doch bloß mit meiner Zeit anfangen, was ich will«, sagte Karina. »Und, ja, ein bisschen Geld verdienen –«
»Du weißt, wenn du irgendwas brauchst, geben wir dir das Geld dafür.«
»Darum geht’s nicht!« Karina schmiss ihre Schaufel mit solcher Wucht auf den Boden, dass sie wieder hochprallte und ein Stück entfernt in einem Strauch landete.
Jaya wandte den Blick ab von ihrer wütenden Tochter, schob die behandschuhten Hände tief in den Sack und schöpfte Blumenerde heraus. Keith war diesbezüglich anderer Meinung als sie. Er fand, dass es gut für Kinder war, einen Job zu haben, Verantwortung zu übernehmen und den Wert eines Dollar schätzen zu lernen. Vielleicht war das ein weiterer Aspekt der amerikanischen Kultur, den sie einfach nicht begriff. »Ich spreche mit deinem Vater darüber, okay?«
Karina trottete zu der Schaufel hinüber, hob sie auf und rammte sie erneut so heftig in den Boden, dass Erde aufspritzte. Jaya nahm einen der Staubigen Müller und löste ihn behutsam aus dem kleinen Plastiktopf. Seit Jahren pflanzten die beiden an Karinas Geburtstag Blumen. Es war ein Ritual, das Jaya die Möglichkeit bot, etwas mit ihrer Tochter zu teilen, so wie sie mit ihrer Mutter den Tanz geteilt hatte. Jaya hatte von ihrem sechsten Lebensjahr bis zum Beginn ihres Studiums die Bharatanatyam-Form des klassischen Tanzes gelernt. Auf diese Weise sorgte ihre Mutter dafür, dass Jaya mit der indischen Kultur tief verwurzelt blieb. Wenn sie in Delhi waren, nahm Jaya bei einer renommierten Lehrerin Tanzstunden, doch im Ausland wurde sie von ihrer Mutter unterrichtet, die selbst Tänzerin war.
In jedem Land, in dem Jayas Familie gelebt hatte, hing in ihrem jeweiligen Haus eine Serie von fünf identisch gerahmten Fotos, auf denen zu sehen war, wie ihre Mutter im klassischen Tanzkostüm verschiedene Posen einnahm: mit den Händen eine Flöte darstellte, mit ihren langen Fingern eine Blüte formte und so weiter. Nach jedem Umzug wurden als Erstes diese Fotos aufgehängt. Die ganze Familie beteiligte sich an dem Ritual, den richtigen Platz dafür auszusuchen, ob sie nun gerade in Irland, Portugal oder Kuwait angekommen waren. Für Jaya wurden die Bilder mit der Zeit zum Symbol für Beständigkeit inmitten der unaufhörlichen Veränderungen, ein Zeichen, dass ihre Mutter über sie wachte. Oft betrachtete Jaya diese Fotos ihrer Mutter mit dramatisch geschminkten Augen und in reich verzierten Seidenkostümen und fragte sich, ob sie je so schön und anmutig sein würde. Sie hatte es geliebt, etwas ganz Besonderes mit ihrer Mutter zu teilen. Anders als Karina jetzt, die sich benahm wie der kleine Hase in dem Kinderbuch und ständig versuchte, von ihr wegzukommen.
»Ich bin kein Baby mehr, Mom. Ich bin kein … Kind wie Prem. Ich komm allein klar. Nie lässt du mich irgendwas machen. Das ist gemein.« Karina richtete sich auf und ließ die Schaufel fallen. »Und das hier macht überhaupt keinen Spaß«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich hasse Gartenarbeit.« Sie schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging ins Haus.
Jaya pflanzte die restlichen Blumen allein ein und musste sich eingestehen, dass sie die Atempause genoss. Danach ging sie ins Haus, wo Keith am Küchentisch saß und auf sein Handy starrte, wie er das in den letzten Wochen schon fast obsessiv tat. Er blickte zu ihr hoch, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. »Die sagen, dieses Jahr gibt’s keinen Bonus. Null, ist das zu fassen? Das ganze Jahr rackere ich mich für die ab, und jetzt streichen sie meinen Bonus.«
»Ist doch bloß für dieses Jahr«, sagte Jaya.
»Und wenn nicht? Erst Bear, dann Lehman. Scheiße!«, sagte Keith. »Was kommt als Nächstes? Ich meine, Brian hatte bis vor zwei Wochen keine Ahnung, was sich bei Lehman anbahnte. Dass die unsere Boni streichen, heißt, dass wir vielleicht als Nächste dran sind. Womöglich habe ich nächstes Jahr keinen Job mehr.«
»Tja, wenn das passiert, fällt uns schon irgendwas ein«, sagte Jaya, die den Stapel mit schmutzigem Frühstücksgeschirr in der Spüle ein Stück beiseiteschob und sich die Erde von den Händen wusch.
»Ich werde mal Robbie anrufen. Vielleicht hat der ja was für mich.«
»Robbie Weiss?«, fragte Jaya über die Schulter. »Der Typ, der jetzt auf eigene Faust Spekulationsgeschäfte macht?« Sie nahm eine Spülbürste und fing an, den eingetrockneten Ahornsirup von den Tellern zu kratzen.
Keith nickte. »Er hat eine kleine Bank mitgegründet, Duncan Weiss. Die konzentrieren sich auf das mittlere Marktsegment. Wir haben ein paar Deals zusammen abgeschlossen. Er hat gesagt, ich solle ihn unbedingt anrufen, wenn ich Lust auf was Neues hätte. Ich könnte ihn vielleicht dazu bringen, mir meinen Bonus zu zahlen, wenn ich vor Jahresende zu ihm rüberwechsle.«
»Aber du hast doch gesagt, es gibt keine Boni«, sagte Jaya laut, um das laufende Wasser und das Besteckgeklapper in der Spüle zu übertönen.
»Verdammt, Jaya, musst du das ausgerechnet jetzt machen?«, blaffte Keith. »Hörst du mir überhaupt zu?«
Jaya drehte das Wasser ab und wirbelte zu ihm herum, die Bürste in der Hand. Wer soll es denn sonst machen und wann?, lag ihr auf der Zunge, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Seit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte vor einigen Wochen war Keith das reinste Nervenbündel. Es war, als hätte jemand den Mann verschwinden lassen, den sie kannte, und ihn durch einen hypernervösen Betrüger ersetzt. »Was soll das heißen, Keith?« Sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall, aber sie klang dennoch vorwurfsvoll. »Du willst deine Firma wegen eines schlechten Jahres verlassen und bei einem … miesen Start-up anfangen? Um für einen Mann zu arbeiten, den du selbst, soweit ich mich erinnere, als skrupellos bezeichnet hast?«
»Ich versuche, Geld zu verdienen und den Lebensunterhalt meiner Familie zu sichern«, schrie Keith. »Die Finanzmärkte sind im Eimer, und ich versuche, für dich zu sorgen.«
»Ich brauche dich aber nicht, um für mich zu sorgen, jedenfalls nicht so«, zischte Jaya.
»Wie denn sonst? Du weißt genau, dass mein Bonus achtzig Prozent meines Einkommens ausmacht. Mit meinem Gehalt können wir nicht mal die Hypothek bedienen. Und mit deinem schon gar nicht.«
»Ich könnte Vollzeit arbeiten«, sagte Jaya, »und wir könnten unsere Ausgaben einschränken, bis du etwas findest, das –«
Keith lachte. »Das wird nicht viel bringen, Jaya, und das weißt du auch.«
»Könntest du mal für einen Moment dein Ego und deinen männlichen Chauvinismus vergessen und –«
»Okay, jetzt reicht’s!« Keith sprang so schnell auf, dass sein Stuhl laut über den Küchenboden schrammte. »Ich muss hier raus und wieder einen klaren Kopf bekommen, ehe ich irgendwas sage, das ich bereuen würde.«
»Schon passiert!«, rief sie ihm nach, als die Haustür zuknallte. Jaya blieb reglos stehen, während sie das Rumpeln des Garagentors und dann das Quietschen von Autoreifen hörte. Als sie sich wieder dem Geschirr in der Spüle zuwandte, meinte sie, oben das leise Schließen einer Zimmertür zu hören.
April 2009
»Pudelrassen sind bekanntermaßen intelligent und leicht erziehbar«, las Karina auf der Rückbank aus dem Buch auf ihrem Schoß vor.
Keith schielte zu Jaya auf dem Beifahrersitz hinüber. Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie geradeaus durch die Windschutzscheibe starrte. Er warf seiner Tochter über die Schulter einen Blick zu. »Tatsächlich?«
»Ja.« Sie sah nicht zu ihm hoch, sondern las weiter. »Sie sind aufgeweckte, lebhafte, unternehmungslustige Familienhunde mit einem Hang zu Albernheiten.« Karina klappte das Buch zu und stieß Prem mit dem Ellbogen an. »Siehst du? Genau wie du.«
Keith lachte unwillkürlich auf, ehe er sich bremsen konnte.
»Hahaha, sehr witzig«, sagte Prem mit seinem typischen Schnauben. »Tja, meinetwegen, so bin ich, vielen Dank.«
»Wir gucken sie uns nur mal an«, sagte Jaya, nahm ihre Sonnenbrille ab und putzte die Gläser. »Keine Versprechungen.«
Es war Samstag, einer der kostbaren Tage, die Keith ganz mit seiner Familie verbringen konnte. Unter der Woche bekam er sie aufgrund von Überstunden, Abendessen mit Kunden und Geschäftsreisen praktisch nur im Vorübergehen zu Gesicht. Nachdem sich die anfänglichen Schockwellen der Finanzkrise gelegt hatten und klar war, dass nicht noch mehr Investmentbanken zusammenbrechen würden, beruhigte sich die Lage allmählich. Keith war froh, dass er sich dafür entschieden hatte, bei Morgan Stanley zu bleiben. Jaya hatte recht: Es war klüger, in schwierigen Zeiten für eine renommierte Großbank zu arbeiten, in der er sich unter seinen Kollegen einen guten Ruf aufgebaut hatte. Der Aktienmarkt erholte sich wieder, und das Unternehmen versprach, dieses Jahr anständige Boni zu zahlen, was die Anspannung bei ihm und zu Hause abmilderte. Außerdem schien Jaya glücklicher zu sein, seit sie wieder Vollzeit arbeitete, und sie sprach begeistert über ihre Projekte. Zu Hause ging es nun etwas chaotischer zu, aber Keith versuchte, sich an den Wochenenden mehr einzubringen, da Jaya während der Woche alles allein regeln musste. Er war froh, dass sie im vergangenen Jahr den Balanceakt zwischen Eheleben und Kindererziehung hinbekommen hatten, ohne dass Jaya oder er abgestürzt waren. Er streckte den Arm aus und nahm die Hand seiner Frau, die verträumt aus dem Fenster schaute. Sie wandte sich ihm zu und lächelte.
Den Hundezüchter in Watsonville hatte ihnen die Frau eines Kollegen von Keith empfohlen, die genügend Zeit zur Verfügung hatte, um sich gründlich zu informieren. Die dort gezüchteten Goldendoodle, eine Kreuzung aus Golden Retriever und Pudel, waren Karinas erste Wahl für den von ihr sehnlichst gewünschten Welpen. In den letzten paar Monaten hatte sie sich alles Mögliche einfallen lassen, um sich für die Anschaffung eines Familienhundes stark zu machen, und der Höhepunkt ihrer Anstrengungen war ein Schulaufsatz, in dem sie, wie Keith zugeben musste, recht überzeugende Argumente anführte.
Als sie in die lange Einfahrt zur Farm bogen, hüpfte Karina vor lauter Vorfreude auf ihrem Sitz auf und ab. Prem stieß ein lang gezogenes Wolfsgeheul aus. Das weitläufige Farmhaus hatte einen eingezäunten Hof. Sobald Keith das Auto gestoppt hatte, sprangen Karina und Prem hinaus und rannten auf die Hundezwinger auf einer Seite des Hofes zu, wo ein Mann in Arbeitskleidung stand.
»Seid vorsichtig, wartet am Tor!«, rief Jaya. Wie viele Menschen, die ohne Haustiere aufgewachsen waren, hatte sie instinktiv Angst vor Hunden. Keith hatte es nicht ganz verstanden, als seine Frau ihm den Grund zu erklären versuchte: In der indischen Kultur galten Hunde und andere Tiere als schmutzig und wurden niemals ins Haus gelassen. Die einzigen Hunde, die sie in Indien gesehen hatte, waren Streuner auf der Straße gewesen, und man hatte ihr beigebracht, ihnen aus dem Weg zu gehen, weil sie Krankheiten übertrugen und oft bissig waren. Keith war mit Hunden aufgewachsen und liebte sie, weshalb er Jayas Sichtweise nur schwer akzeptieren konnte. Die meiste Zeit bewegten er und Jaya sich auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Werte – Fleiß, Zukunftsplanung, ihren Kindern Chancen für ein gutes Leben bieten –, doch dann und wann gab es diese kleinen Erinnerungen an ihre kulturellen Unterschiede.
Jetzt sah Keith, dass Jaya mehrmals tief durchatmete und versuchte, Karina zuliebe ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Er hatte schon immer an seiner Frau bewundert, wie sehr sie sich bemühte, ihre eigenen Ängste zu überwinden. Am 11. September 2001, zwei Tage bevor er nach New York hätte fliegen sollen, war Jaya mit Prem hochschwanger gewesen. Als die furchtbaren Nachrichten kamen, wurde sie schier hysterisch bei dem Gedanken, dass Keith nur rein zufällig an dem Tag nicht in den Türmen gewesen war. Sie wollte auf keinen Fall, dass er flog, nicht nur in dieser Woche oder der Woche danach, sondern noch monatelang. Die wahnsinnige Angst, die sie da plötzlich an den Tag legte, hatte Keith überrascht, der einzige Makel in Jayas ansonsten unerschütterlicher Fassade. Die Selbstbeherrschung seiner Frau war ihr auffälligstes Wesensmerkmal. Den Jahren, in denen sie an vielen Orten der Welt gelebt und sich in Diplomatenkreisen bewegt hatte, verdankte sie das Selbstvertrauen, sich an jede gesellschaftliche Situation anpassen zu können. Er bewunderte diese Eigenschaft, doch gleichzeitig fühlte er sich durch sie ziemlich verunsichert. Keith kam aus einfachen Verhältnissen und hatte sich mühsam Kenntnisse über gutes Essen und Wein angeeignet, hatte eine weltgewandtere Sprache erst lernen müssen. Jayas Angst war eine kleine Schwäche, bei der nun endlich einmal er seiner Frau helfen konnte.
Jaya brauchte über ein Jahr, bis sie selbst wieder in ein Flugzeug stieg, um ihre Eltern in der Schweiz zu besuchen, denen sie endlich Prem vorstellen wollte. Während des Starts hielt sie Keiths Hand umklammert, aber er sah die Entschlossenheit in ihren Augen, bevor sie sie zumachte und den Kopf nach hinten lehnte. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass sie etwas überwinden konnte, wenn sie es sich fest vorgenommen hatte.
Jetzt nahm Keith erneut Jayas Hand, und sie gingen gemeinsam auf den Mann zu, der ihnen das Tor öffnete. Sie stellten sich vor, und der Züchter wischte seine Hand an der Jeans ab, bevor er sie ihnen zur Begrüßung reichte.
»Wollt ihr beiden euch mal den neuen Wurf ansehen?«, fragte er Karina und Prem. »Fünf Tage alt. Unheimlich süß.«
Sie folgten ihm ins Haus, wo eine große Kiste auf dem Boden im Wohnzimmer einen Wust von lockigem goldgelbem Fell enthielt. Als sie näher herangingen, konnte Keith fünf sehr kleine Welpen erkennen. Sie schliefen an ihre Mutter geschmiegt, die die Menschen argwöhnisch beäugte, als sie an die Kiste herantraten. Der Züchter ging in die Hocke und sagte leise: »Die sind Dienstag zur Welt gekommen. Es ist Daisys erster Wurf, deshalb passt sie besonders gut auf ihre Kleinen auf.« Er griff sachte in die Kiste und hob den Welpen, der ihm am nächsten war, heraus.
»Warum sind sie nicht draußen bei den anderen Hunden?«, fragte Prem.
»Das geht erst, wenn sie geimpft worden sind«, sagte Karina. »Sonst könnten sie sich mit irgendwas anstecken.«
»Ganz genau.« Der Züchter schien beeindruckt und schaute zu Keith und Jaya hoch. »Da hat aber jemand seine Hausaufgaben gemacht.« Er hielt den Welpen an die Brust gedrückt und nickte Karina zu, die sich hinkniete und ihm das winzige Fellbündel abnahm, als wäre sie schon ihr Leben lang mit Welpen umgegangen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war selig. Selbst Prem beobachtete seine Schwester mit staunenden Augen.
»Drei sind schon vergeben, aber ich habe noch ein Weibchen und ein Männchen übrig, falls Sie interessiert sind. Das ist der Junge.« Er zeigte auf den Welpen, den Karina zurück zu seiner Mutter gelegt hatte. »Und das hier«, sagte er, griff mit beiden Händen in die Kiste und zog einen kleinen Fellball heraus, »ist das Mädchen.«
»Der Nachzügler?«, fragte Karina und sah den Züchter an, der ihr zunickte. Karina nahm den winzigen Welpen und schmiegte ihn sich an die Brust. »Sie ist die Kleinste im Wurf, deshalb bekommt sie nicht so viel Milch und Aufmerksamkeit von der Mutter.«
Der Züchter nickte erneut. »Die Kleinsten in einem Wurf sind manchmal ein bisschen schwieriger zu versorgen, und manche entwickeln sich nicht so gut. Aber Daisy hat die Kleine hier nicht abgelehnt, deshalb ist sie gut gewachsen.«
Karina sprach leise mit dem Welpen, drückte die Nase an den Kopf des Hundes, und das Lächeln in ihrem Gesicht kam tief aus ihrem Innersten. Der Anblick dieses glücklichen Kindes in seiner oft mürrischen, pubertierenden Tochter ging Keith ans Herz. Er sah zu Jaya hinüber, deren Augen feucht waren. Sie fing seinen Blick auf und lächelte, und eine Träne lief ihr über die Wange. Er drückte ihre Hand. Der Welpe begann, mit seiner rosa Zunge Karinas Gesicht zu lecken. Sie lachte leise und die anderen ebenso. Prem hatte sich inzwischen auf den Bauch gelegt, um mit den anderen Welpen auf Augenhöhe zu kommen. Sein Gesicht war in Beiß- oder Kratzweite. Keith rechnete damit, dass Jaya ihn zur Vorsicht ermahnen würde, doch sie kniete sich einfach hinter Karina auf den Boden. »Was meinst du, Schätzchen?«, sagte Jaya. »Würdest du gern ein Hündchen nehmen?« Keith ging vor Stolz das Herz auf.
Karina nickte, ohne den Welpen in ihren Händen aus den Augen zu lassen. »Das hier.«
»Die Kleine? Bist du sicher?«, fragte Jaya.
Karina hob den Kopf, und Keith nahm in ihren Augen eine Andeutung der stahlharten Entschlossenheit wahr, die er so oft schon bei Jaya gesehen hatte. »Absolut«, sagte sie.
»Normalerweise geben wir sie mit acht Wochen ab, aber bei der Kleinen hier würde ich zwölf Wochen empfehlen«, sagte der Züchter. »Wär das in Ordnung?«
Jaya erledigte den Papierkram und machte die Anzahlung. Als sie kurz darauf das Haus verließen, schwebte Karina wie auf Wolken, und sie hörte gar nicht mehr auf zu lächeln.
»Wieso heißen die Goldendoodle?«, fragte Prem. »Ich meine, wenn man einen Golden Retriever mit einem Pudel mischt, könnte man doch auch Goldie-Pu sagen.« Er schwieg kurz, überlegte. »Oder Pu-Retriever. Ha!« Er prustete los. »Pu klingt wie Pups!«
Karina verdrehte die Augen und verpasste ihm einen Stoß gegen die Schulter, als sie ins Auto stiegen.
»Ich heb jedenfalls keine Hundehaufen auf, klar?«, sagte Prem. »Soll Karina dem schlauen Hund doch beibringen, dass er das selbst macht.«
»Dass sie das selbst macht. Sie ist ein Weibchen, du Blödi«, konterte Karina. »Und ich hab ja schon gesagt, dass ich mit ihr Gassi gehe, sie füttere und ihr die Zähne putze. Wie sollen wir sie nennen?«
Auf der anderthalbstündigen Heimfahrt hielten sie an einem Verkaufsstand am Straßenrand und kauften drei Pfund Erdbeeren, für die Watsonville bekannt war, und sie machten spontan noch einen Abstecher nach Gilroy, der Knoblauch-Hauptstadt der Welt. In einem einfachen Lokal futterten sie Knoblauch-Fritten und spielten ihr Malspiel auf der Papiertischdecke: Einer von ihnen fing an, etwas zu malen, und alle anderen fügten abwechselnd ein neues Element hinzu, bis am Ende irgendein Nonsens herauskam, beispielsweise ein Mann, dem ein Baum aus dem Kopf wuchs, oder ein Haus mit einem Katzengesicht als Dach. Dann schlugen sie reihum einen Namen für das Bild vor und stimmten ab, welcher der beste war. Das Bild an jenem Tag ergab einen Hund mit einer Knoblauchknolle als Nase, und sie beschlossen, dass »Gilly« ein guter Name für einen Welpen war.
»Nicht gerade die gesündeste Mahlzeit«, sagte Jaya auf der Weiterfahrt, während sie Erdbeeren aus einem aufgeweichten Pappbehälter klaubte. »Aber immerhin waren Obst und Gemüse dabei, also doch nicht ganz so schlecht.« Als sie schließlich zu Hause ankamen, waren die Erdbeerbehälter leer und fleckig, und Prem war eingeschlafen, den Kopf auf die Rückbank neben Karina gelegt, wo sie ihn ungestört schlummern ließ.
Mai 2009
»Ah, ist das herrlich!«, sagte Jaya, als sie sich rückwärts auf das weiche Himmelbett fallen ließ. Vor dem Panoramafenster des Hotels ragte die Transamerica Pyramid aus der Skyline von San Francisco. »Absolut herrlich. Achtundvierzig Stunden totale Freiheit. Ich weiß ehrlich nicht, was ich mit so viel Zeit machen soll.«
Keith kroch über das Bett zu ihr und kniete sich rittlings über sie. »Oh, ich hätte da ein paar Ideen.« Er küsste die zarte Mulde an ihrem Hals, schob dann seinen Mund bis zu ihrem Ohrläppchen, knabberte sachte daran.
»Mmm.« Sie nahm seinen Kopf in die Hände und küsste ihn innig auf den Mund, schmeckte noch immer das Minzaroma des Bonbons, das er gelutscht hatte. »Und wir müssen nicht mal leise sein«, raunte sie.
»Und wir müssen uns nicht beeilen.« Sie zogen sich langsam gegenseitig aus und erkundeten einander genüsslich. Nach zwanzig gemeinsamen Jahren war der Körper des jeweils anderen vertraut, aber das seltene Gefühl der Ungezwungenheit, das sie in den vier Wänden ihres Hotelzimmers hatten, sorgte für eine frische Sinnlichkeit.
Hinterher lagen sie eng umschlungen da, Jayas Kopf in Keiths Achselhöhle, ein Bein über seine gestreckt. Es war so ein schönes Gefühl, seine nackte Haut an ihrer zu spüren. Zu Hause mussten sie immer genau überlegen, wann und wie lange sie sich lieben konnten – während die Kinder vor dem Fernseher saßen oder nachdem sie eingeschlafen waren. Mit der Zeit fühlte es sich mehr und mehr wie eine Betätigung von vielen an, die zeitlich eingeplant werden musste, ganz anders als die spontanen lustvollen Schäferstündchen zu Beginn ihrer Beziehung.
In diesem Moment fühlte Jaya sich rundum zufrieden, weil sie wusste, dass Keith und sie sich noch immer so lieben konnten wie früher, dass diese Seite von ihnen lediglich unter der Last des häuslichen Alltags begraben gewesen war, aber nicht von ihr erdrückt worden war. Die problematische Phase, die sie nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte im letzten Jahr durchgemacht hatten, war schwierig gewesen, aber sie hatten sie überstanden. Jetzt, wo die Lage sich beruhigt hatte, war Keith entspannter und glücklicher. Jaya malte Kreise auf Keiths nackter Brust. »Wir sollten uns bei deiner Schwester mit einem richtig schönen Geschenk bedanken.«
»Ja, damit sie möglichst bald wieder zu Besuch kommt.« Er küsste sie und sah dann auf die Uhr. »Ich habe für heute Abend einen Tisch reserviert, aber erst für halb acht. Hast du Lust, vorher unten an der Bar was zu trinken?«
»Und wie.« Sie reckte sich und küsste ihn, und er reagierte mit einem Verlangen, das sie überraschte. Sie liebten sich erneut, diesmal wilder und stürmischer, ohne sich um das rhythmische Schlagen des Kopfteils gegen die Wand Gedanken zu machen. Hinterher duschten sie, seiften einander den Rücken ein und lachten darüber, wie dekadent es doch war, ohne Unterbrechungen oder Termine unter dem warmen Wasserstrahl zu stehen.
Jaya hatte Keith an einem warmen Freitagabend im September 1990 in einem Londoner Pub kennengelernt, als sie nach der Arbeit noch mit Kollegen etwas trinken gegangen war. Sie war überrascht, als sich der große rotblonde Mann auf den Stuhl neben ihr setzte und sein Pint-Glas in einem langen Zug fast zur Hälfte leerte, ehe er es auf den Tisch stellte. Er lächelte, als er Jayas verwunderten Blick sah. »Lange Woche«, sagte er mit einem schwachen amerikanischen Akzent.
Jaya erwiderte sein Lächeln und registrierte in seinem Gesicht die Anfänge eines abendlichen Bartschattens. »Was machen Sie denn beruflich?«, fragte sie. Der schicke Anzug, der seine breiten Schultern betonte, hatte sie neugierig gemacht, weil sie so ein Outfit bei den Männern, mit denen sie in dem Thinktank zusammenarbeitete und die immer nur zerknitterte Tweed-Sakkos mit Ellbogenflicken trugen, nicht gewohnt war.
»Ich arbeite im Canary Wharf«, antwortete er.
Jaya sah kurz zur Decke hoch, als würde sie überlegen. »Hmm.« Sie hob den Zeigefinger. »Immobilien?« Als er den Kopf schüttelte, sagte sie: »Finanzdienstleistungen?«
Er grinste. »Kluges Mädchen.« Jaya war irritiert, weil er sie als Mädchen bezeichnet hatte, freute sich aber über das Adjektiv. Sie sah, wie ihre Kollegin Anja auf der anderen Seite des Tisches den Kopf in den Nacken warf und schallend über irgendetwas lachte, das einer von Keiths Bekannten gesagt hatte.
»Kann ich Ihnen noch ein Bier holen?«, fragte Keith, stand auf und leerte das letzte Drittel seines Pints. Er deutete auf Jayas Glas, das noch halb voll war.
»Klar, ein Newcastle bitte.« Sie wartete auf die Reaktion, von der sie wusste, dass sie kommen würde, und tatsächlich breitete sich ein jungenhaftes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
»Eine echte Biertrinkerin«, sagte er. »Ich bin beeindruckt.«