Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Siehe Thomas F. Schneider. »Ein Denkmal. Zu Erich Maria Remarques erstem Roman Die Traumbude«. In Erich Maria Remarque. Die Traumbude. Ein Künstlerroman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2020 (KiWi 1742), S. 295–316.

Der Brief ist abgedruckt in Erich Maria Remarque. Das unbekannte Werk. Frühe Prosa. Werke aus dem Nachlaß. Briefe und Tagebücher. Herausgegeben von Thomas F. Schneider u. Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, Band V: Briefe und Tagebücher, S. 49–50.

Dies ist Remarques Dankesbrief an Stefan Zweig vom 7. Juni 1929 zu entnehmen, abgedruckt ebd., S. 80–81.

Siehe hierzu Peter Struck. Zehn Jahre Zinnober 1919–1928. Das groteske Hannover der zwanziger Jahre. Eine Chronik. Springe: zu Klampen, 2017.

Siehe dazu Susanne Kolhosser. »Der Privatmensch Remarque. Eine Betrachtung der Kosenamen und Rollenspiele in der Korrespondenz mit Marlene Dietrich«. In Thomas F. Schneider (Hg.). 110 Jahre Remarque – 80 Jahre Im Westen nichts Neues. Göttingen: V&R unipress, 2008 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 18), S. 51–72.

Das Rundschreiben ist maschinenschriftlich auf 1921 datiert, im mit »Remarque« signierten Exemplar allerdings handschriftlich auf 1922 korrigiert. Unter Berücksichtigung des Ortswechsels nach Hannover Ende 1921/Anfang 1922 sowie der Namenszeichnung der erhaltenen Veröffentlichungen dieses Zeitraums muss 1921 ausgeschlossen werden. Vgl. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, Sigle 1.230/006.

Erich Maria Remarque. »Das Karussell am Nikolaifriedhof«. In Hannoverscher Kurier, 03.06.1922.

Wilhelm von Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal«. Erich Maria Remarque. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, S. 120.

Erich Maria Remarque. »Vom Stil unserer Zeit«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 9/10 (September/Oktober), S. 128–129.

Erich Maria Remarque. »Reklame und Händler«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 3/4 (März/April), S. 33.

Robert Kuhn. Wenn Dichter texten … Hamburg: Gruner + Jahr, 1996, S. 33.

Sämtliche Episoden der Comics wurden wieder veröffentlicht in Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque und der Comic. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007.

[Erich Maria Remarque]. »Klausenpass-Rennen«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 8 (August), S. 109.

[Erich Maria Remarque]. »Die russische Zuverlässigkeitsfahrt«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 11/12 (November/Dezember), S. 149.

Erich Maria Remarque an Karl Vogt, 07.08.1923. Der Brief ist abgedruckt in Remarque, Das unbekannte Werk, Band V (Anm. 2), S. 52–53.

Erich Maria Remarque. »Über das Mixen kostbarer Schnäpse«. In Störtebeker (Hannover) 1 (1924), 2, S. 128–129.

Erich Maria Remarque. »Leitfaden der Decadence«. In Störtebeker (Hannover) 1 (1924), 5, S. 21–22.

Siehe hierzu ausführlich Lena Kölker. Erich Maria Remarques Veröffentlichungen in der Zeitschrift ›Jugend‹ – Kontextualisierung und Analyse. Osnabrück: Universität Osnabrück, Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft, 2017.

Erstmals bei: G.A.M. »Sport und Wettkampf«. In Echo Continental (Hannover) 11 (1923), 6 (Juni), S. 71.

Siehe dazu Thomas F. Schneider. »Erich Maria Remarque. Briefe an Edith Doerry-Roseveare (1924–1957)«. In Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 2 (1992), S. 79–106.

Gemeint ist eine Sammlung der Gedichte des Abu Nowas (ca. 756–814), dessen Werk als Beginn der arabischen Literatur gilt. Remarque kannte wahrscheinlich die von Alfred von Kremer besorgte Ausgabe (Wien 1855) oder einen Nachdruck.

Erich Maria Remarque in Porto Ronco an Marlene Dietrich in Beverly Hills, 13.02.1939. Zitiert nach »Sag mir, daß Du mich liebst …«. Erich Maria Remarque – Marlene Dietrich. Zeugnisse einer Leidenschaft. Herausgegeben von Werner Fuld und Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001, S. 124.

Siehe dazu Thomas F. Schneider. »›Wer wirklich verloren ist, spricht nicht mehr‹. Zu Erich Maria Remarques Arc de Triomphe«. In Erich Maria Remarque. Arc de Triomphe. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1576), S. 669–692.

Tagebuch Remarques, Eintrag Beverly Hills, 22.03.1942. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, Sigle R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 03.09.1950. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, Sigle R-C 4B.

Erich-Maria Remarque. »Silhouette vom Jang-tse-kiang«. In Jugend (München), Jg. 28 (1923), Nr. 13 (01.07.1923), S. 389.

Beduinen in kaffeefarbenen Mänteln kamen eilig vorüber. Sie rochen nach Kamelmist und Wüste. Hinter den Mamelukengräbern zogen sie sich zu einer langen Linie auseinander und ritten gegen den maßlos hellen Himmel an, als wollten sie ihn stürmen.

Gam sah ihnen nach, bis ihre Silhouetten verschwanden. Nur zögernd löste sie den Blick vom Horizont und wandte sich wieder der Stadt zu. Unruhig ging sie durch die Straßen. Bei einem Händler fand sie eine alte Ausgabe des Divans von Abu Nowás. Der Einband war aus falbem Leder. Jedem der siebzehn Lieder war ein Bild beigegeben. Ein klares Türkisblau kehrte darin immer wieder.

Gam glaubte, dieses Buch gesucht zu haben. Sie nahm es hastig und verließ den Bazar in einer seltsamen Verwirrung, die sie um so stärker empfand, weil sie keine Erklärung dafür wußte.

*

Norman erwartete sie, um ihr den Sohn eines Freundes, Clerfayt, vorzustellen, der sie im Flugzeug nach Luxor bringen sollte. In einer Stunde könne sie starten. Er selbst wolle erst am nächsten Tage mit dem Expreß nachkommen.

In der Nähe von Heluan überholten sie zwei Vergnügungsbarken. Die Insassen standen an Deck und winkten. Gam warf ihre Mütze hinab. Der Wind sauste durch ihr Haar; wie wild und schnell war das Leben!

Sie lehnte sich zurück. Vor ihr saß Clerfayt; über ihm wuchs das Gestänge heraus. Er gehörte dazu und hinein; er war kein Mensch – er war etwas zum Fliegen. –

Hinter dem Propellersturm wurde die Welt golden; der Abend kam. Dorfköter rasten hinter dem großen Vogel her, Esel bockten, einer Fellachin schwamm die Wäsche fort, Dampfer stießen glänzenden Rauch aus: Die Welt sah aus wie das Gemälde eines alten Niederländers.

Bei Assiut drückte Clerfayt die Maschine herunter. Die Granatenhaine des Hafens und die Feigengärten von el Hamra wirbelten hoch, bald rechts, bald links hüpfte die Dampferstation über die Verschalung, leicht setzte das Flugzeug auf, rollte aus und stand.

*

Gam taumelte, als sie ausstieg. Araber schwärmten heran; ein Auto folgte ihnen und hielt knapp vor ihr. Sie sah eine Hand mit einem großen Opal. Aber die Monde der

Der Kreole fuhr sie zum Hotel und neigte sich vor Gam. Clerfayts Hand beachtete er nicht. Der zog die Mundwinkel, daß dem andern das Blut hochschoß. Als er anspringen wollte, wandte Clerfayt ihm den Rücken; er deckte sich aus Verachtung nicht.

Am Abend zeigte er Gam die Grabkammern des Nomarchen Hap Tefa. Auf dem Rückwege fiel ein Schuß. Clerfayt sagte: »Der Kreole«, und hielt den Wagen an. Er stellte sich ins Mondlicht und wartete. Niemand kam, und er stieg wieder ein.

Der Duft der Nacht wurde stärker. Wie aus schwarzem Glas geschnitten standen die Palmen. Verschlafen huschten die Hütten vorüber mit einigen Lichtern und verhaltenem Hundelaut.

Clerfayt warf die Fenster auf, als sie im Hotel ankamen. Ungeheuer stürzte der Nachthimmel in den Raum, überströmte ihn, flutete blau und silbern, Wind flog herein, raunte, sang, atmete schnell, der Himmel war eine schmale, harte Hand, der Wind ein braunes, heißes Flüstern, Gam bog sich hoch – rauschte da nicht der Nil, brauste da nicht der Propellersturm, blitzte nicht Gestänge in Mondkaskaden, schrie nicht ein Falke – mit einem Sprunge war Clerfayt bei ihr.

*

»In zwei Stunden fliegen wir weiter«, sagte er. Nicht eine Bewegung verriet ein Wissen um die Nacht. Gam sprühte plötzlich vor Laune und lief ins Bad.

*

Der Apparat stand in der Nähe des Stauwerkes. Ein Trupp Kopten arbeitete an einem der Bogen. Die Wüste war im Morgenduft ein Traum, unbeschreiblich in den blauen und violenroten Lasuren. Beim Start scheuten die Pferde der Araber und galoppierten, daß die weißen Burnusse wie aufgescheuchte Tauben in der Sonne flatterten.

Vor Abydos setzte der Motor aus. Das Flugzeug wurde von einer Böe gepackt, rutschte schief nach vorn und sank. Wie ein Krater sauste die Erde heran und dröhnte – da knatterten kurze Explosionen, der Motor prasselte eine Garbe, heulte auf, arbeitete, der Apparat fing sich und glitt dann im Gleichgewicht.

Gam fühlte, daß nur das Blut in ihren Ohren so gerauscht hatte, als wolle die Welt bersten. Clerfayt sah sich

Ein Wiegendes, Gleitendes, Fliegendes hatte sich blumenhaft erschlossen, ein erster, klarer Aufblick, eine zarte Begegnung, die unbewußt lange erwartet und dennoch überraschend gekommen und wieder vergangen war, voll Ahnungen um Künftiges.

*

Clerfayt sammelte Bronzen, Norman schlug ihm vor, die Sammlung eines seiner Bekannten zu besichtigen. Er holte ihn abends ab.

In den phantastischen Gassen des Bulakviertels hielt der Wagen vor einem niedrigen Hause. Eine Berberin öffnete und führte über einige Stufen und einen winkligen

Es waren noch einige Menschen da. Sie hockten und lagen im Halbdämmer zwischen Fellen und Teppichen. Die Berberin brachte Sorbet und grünes Eiswasser. Clerfayt bemerkte erst nach einer Weile hinter sich eine Negerin. Ihre Pupillen leuchteten; das Achselhaar duftete scharf, aber nicht unangenehm. »Go – go –« gurrte sie und reckte die blau tätowierten Beine.

*

Gedämpfte Musik begann. Clerfayt streckte sich auf die Kissen; die Schwarze summte die Melodie mit. Ihm war, als sei er in einem Negerkral, tief im afrikanischen Busch. Der Stamm war von einem Beutezug gegen die Station heimgekehrt, – und man lag jetzt müde und faul in der Hütte, den Magen voll Ochsenfleisch und Pombebier. In der Ecke kauerten die gefangenen weißen Weiber, deren blasse Haut so lockte und die erregender waren als alle Frauen des Stamms. Draußen wurde es Nacht; nur ein paar Schakale bellten. Am nächsten Morgen und alle anderen Tage würde es wieder auf Beute und Kampf gehen. –

Aus der Ecke scholl Gelächter. Eine Frau erhob sich halb und wollte aufstehen. Das Haar saß wie ein Helm über ihrer Stirn. Man sah das glänzende Knie, den offenen,

Er dachte an Gam und betrachtete nachdenklich Norman, dem die Schwarze den Nacken massierte. Die irgendwie immer leiser schwelende Gegnerschaft des Männlichen, dieses unerklärbare Fluidum verborgener Urinstinkte ergriff von ihm Besitz; Haß, Verachtung, Feindseligkeit und ein gewalttätiger Wunsch krochen durch seine Gedanken, er spreizte die Hände und schloß sie fest. Dann wandte er sich ab.

Doch er konnte den Einflüsterungen nicht wehren. Sie schwollen wie lauerndes Gewürm und verstrickten ihn, während er zur Decke starrte.

Ein Zwerg verrenkte die Glieder zum Tanz; schwere Lust glitt von dem buckligen Geschöpf in den Raum. Die Schwarze hörte auf zu summen, sie zischelte über Norman. Die Berberin streifte Clerfayt im Vorübergehen. Aus der Ecke rief man nach Getränken.

In einen Gongschlag klang eine dumpfe Trommel. Hinter einer hohen Negertrommel stand ein Knabe, der nach dem Gesichtsschnitt ein Nubier sein konnte. Die Schlegel wirbelten in seltsam aufreizendem, gleichförmigem Rhythmus. Aber gerade diese Monotonie des dumpfen Geräusches hatte eine eindringliche Kraft, sie wurde vergessen über dem Gefühl, das sie erregte, unter ihrer eintönigen Suggestion lösten sich Gefühlsverknotungen, Unbewußtes dämmerte herauf, Primitives erstand, nicht mehr Wirbel und Takt waren da, nur Nacht und Urtöne, wortlose Trieberschütterungen, Rufe über Wäldern, Leopardenschrei und Büffelbrunstgebrüll; – Name und Menschsein fielen achtlos nieder,

In der Ecke keuchte das Weib, brüllte plötzlich los, sprang auf, stieß die Trommel fort und krallte die Hände um die Knabenschultern. Aber wie ein Tier stürzte die Berberin hinzu, riß sie von ihm los, schlug mit den Fäusten in das blonde Haar, verbiß sich in die glänzende Schulter; – ein röchelnder Knäuel wälzte sich, indes der Knabe bebend flüchtete.

Mit steinernem Gesicht prügelte Ravic die Weiber auseinander. Die Berberin ließ zuerst los. Doch die Blonde wollte nicht aufstehen; sie krümmte sich über den Boden mit zuckenden Hände.

*

Beherrscht stand Norman vor Clerfayt. Der hob die Achseln: »Wozu – am besten sofort –« Norman zögerte, er wollte noch etwas sagen; ging dann und sprach mit Ravic.

Clerfayt ging an seinen Platz. Er sah, daß Norman eine Erklärung von ihm erwartete und noch eine Weile zögerte, ehe er sich ihm gegenüberstellte. Aber die Hand schloß sich um den kühlen Stahl wie um die Rechte eines Freundes.

Da kam das Kommando. Das Licht blitzte auf und schüttete Helligkeit über den Hof. Clerfayt stand unbeweglich, bis der Schuß Normans kam. Dann nahm er langsam die Waffe hoch und schoß mitten in die vor ihm kalkig im fahlen Licht schwimmende Stirn.

*

Als er auf die Straße trat, überlegte er einen Augenblick, ob er zu Gam gehen sollte. Doch sofort prüfte er sich: Rebellierte das Blut? War er schon so weit? Er wußte, daß nur eines notwendig war zur Herrschaft über den andern: Die Herrschaft über sich selbst. Nichts war unbarmherziger als die Liebe; wer die Freiheit seiner Gefühle verlor, verlor auch den, dem er sie opferte. Wer sich hingab, wurde hörig. Alle sanften Wünsche waren Betrug und Falle. Es gab nur dieses: Auf der Hut sein.

Diskret dirigierte der Mixer ein Mädchen zu ihm herüber. Er merkte es und goß dem Manne seinen Absinth ins Gesicht. Als dem andern die Wut aus den Augen spritzte, zerbrach er sie mit einem Blick und fühlte eine kalte Genugtuung, als er sich knurrend wegdrehte. Doch gleich darauf erschrak er: Weshalb empfand er Genugtuung – warum war es nicht mehr selbstverständlich, Macht über andere zu haben – vielleicht, weil ihm die Macht über sich selbst – er rief das Mädchen heran.

Aber der Absinth war schal, die Dirne lüstern – Clerfayt starrte vor sich hin: Warum mied er die Gefahr; – denn er wußte jetzt, er mied sie, und es war eine Gefahr. Da warf er Geld hin, pfiff ein Auto heran und fuhr zu Gam.

Er sprach von gleichgültigen Dingen und empfand sogleich das Gewollte dabei. Gam stand vor ihm, schlank, mit schmalen Gelenken. Sie sah ihn aufmerksam an und klingelte dann dem Diener nach Sodawasser und Eis. Clerfayt grübelte: Weshalb war er dem ersten Impuls, herzufahren, nicht gefolgt? Und jetzt doch gekommen – ? Warum nahm er Gam nicht, sondern grübelte und wartete? Lag unsichtbar irgendwo eine Schlinge? Ließ er nicht schon sein Blut hinter seiner Überlegung herlaufen?

Er fing wieder an zu plaudern, fühlte aber bald, daß er nervös wurde. Nicht der Sache wegen, die hinter ihm lag; daran dachte er nicht mehr. Sondern hier war etwas

Es hatte keinen Zweck, weiterzudenken. Am besten war es wohl, fortzugehen, um Abstand zu bekommen und Sicherheit zu gewinnen. Zwar wußte er, daß Gam noch nichts von dem erfaßte, was in ihm vorging und ihn unschlüssig und mißtrauisch gegen sich selbst machte; aber er erkannte, daß es für ihn hier um Entscheidendes ging, das überlegende Meisterung verlangte und nicht durch sekundäre Gefühlseinbrüche gestört werden durfte. Es würde sich sonst später rächen und sich gegen ihn wenden. Er wollte behalten, gewinnen, besitzen – deshalb mußte er erst die Gefahr erkennen und sehen, wie weit er von sich selbst schon angegriffen war – denn Angriff und Verteidigung waren nur in ihm.

Er verabschiedete sich deshalb überraschend. Äußerlich unbewegt. »Ich werde wiederkommen – bald –« Er sagte es etwas eindringlich. Merkte es. Setzte darum hinzu: »Vielleicht –« Empfand wieder das Verpatzte, Unsichere. Ging und sagte unmutig im Hinausgehen: »Ich habe deinen Mann heute erschossen –«

Doch es blieb still hinter ihm.

Gam empfand dies schön: Die Hände um einen Kristall legen und seine Kühle fühlen. Die Haut an Bronzen lehnen; in klares Wasser hinabsehen. Eine seltsame Lockung war immer die glatte Schuppenhaut der Fische. Oder aber eine Taube halten und unter dem Gefieder spüren: Dieses lebt und ist warm unter deinen Händen.

Sie reiste. Es war ihrer schwebenden Stimmung am meisten angepaßt. Nirgendwo blieb sie lange; denn sie liebte es nicht, vertraut zu werden. Es verpflichtete und band an Einzelnes; darunter aber litt das Ganze. Und sie wollte zum Ganzen.

An einem Abend lag sie auf der Couch ihres Hotelzimmers. Neben ihr stand ein Lehnstuhl, auf dem einige Kleinigkeiten lagen, die sie zur Hand haben wollte.

Der Tag war ohne Wolken gewesen, aber schon sehr herbstlich. Im Fensterausschnitt standen dunkel und scharf die Bäume des Parks. Dahinter hing der Himmel, der vom oberen Fensterrand aus pastellblauen und apfelgrünen Tönen in sanftes Orange und Rosa-Krapp hinschmolz. Er wirkte mit dem überdeutlich bis in die feinsten Spitzen gezeichneten Astgewirr wie ein japanischer Holzschnitt.

Gam lag still und atmete. Vor dem Fenster, das war die Welt. Sonst war nichts da; nur die Stunde. Gleichmäßig

Wie geheimnisvoll das war: Zu atmen – und seinen Atem zu fühlen, wie er langsam den Körper durchdrang und wieder zurückschwang im ruhigen Rhythmus, eine rätselhafte Welle, die kam und Leben an die Küste der Lungen spülte und wieder verebbte, die schwoll und verging nach einem Gesetze, das ein Wunder war und alles Leben trug. Wer sich ihr überließ, war immer gerettet und geborgen. Atem und Warten vollendete jedes Geschick. Der tiefe Atem barg den Sinn des Seins.

Langsam wurden die vagen Umrisse des Fensterholzes deutlicher, die Kanten schoben sich massiger vor das Licht. Ohne den Blick zu ändern, sah Gam sie schärfer und klarer.

Plötzlich bemerkte sie: Das Licht lag in breitem Saum auf den Kanten, wo sie es vorher nicht gesehen hatte. Sie erschrak: Es lag auch auf der Fensterlehne, auf einem Sesselrücken – es hing an der Stuhlecke, funkelte im Glasschliff, säumte den Teppich: Das Licht war im Zimmer, der Raum war Himmel, das Zimmer Licht, – schmolz nicht Kontur –– o Atem der Welt – o Glück der Dinge –

Zum Atem fügte sich das Licht und schloß den Kreis. Beide waren überall, und ihre Gegensätze waren nur durch sie da; darum waren sie auch in ihnen, und es war nichts außer ihnen.

In einer kleinen Schale fing sich der Glanz. Gam nahm sie in behutsame Hände. Richtete sich langsam auf und trug das Funkeln zum Fenster. Die Bewegung füllte sie

Nichts war mehr mechanisch. Wer wagte, etwas noch tot zu nennen, weil es still war, wer wagte, zu sagen, nur Bewegung sei Leben? War Bewegung nicht Mittleres und vergänglich? Äußerung mäßiger Gefühle? War tiefstes Empfinden nicht stumm, schwoll höchstes Gefühl nicht zu gerecktem Krampf, wurde Verzückung nicht hochgesteigert zur Starrheit, war stärkste Bewegung nicht – Ruhe? Lebendigstes Leben vielleicht – Tod? O Ekstatik der Dinge!

*

Gam fuhr nach Davos. Der Chefarzt stellte ihr einige Leute vor. Zwei belanglose Diplomaten, einen mäßigen Italiener, die Braminta-Sola, die Rakolowna, Kinsley, Vandervelde, Kai, einige Frauen – man vergaß die Namen ja doch.

Die Braminta sprach von Purischkoff. Er sei seit einigen Tagen verschwunden. Vermutlich mit einer Frau; jedoch wisse man nichts Genaues. Es könne auch sein, daß er melancholisch sei; man wäre Exzesse bei ihm gewöhnt.

Nach einer Stunde ging der Arzt. Kai begann Karten zu mischen; man pokerte. Gam ging mit der Braminta in ein Nebenzimmer, von dessen Fenstern man den Schnee

Aus einem Raum nebenan kam die Stimme der Rakolowna. Weich und bittend. Ein Bariton antwortete. Man verstand keine Worte. Eine Weile ging das Gespräch hin und her, bis die Frauenstimme ängstlich wie ein gefangener Vogel allein im Raum irrte.

Die Rakolowna kam rasch heraus. Ihre Augen waren rot, der Mund welk. Sie sah die Braminta, stutzte und wollte weinen; aber ein Blick auf Gam straffte sie. Müde hob sie die Hand: »Ich wußte nicht –«

Gam hörte sie nicht; sie saß versunken in ihrem Lehnstuhl. Sehr blaß hatte die Braminta-Sola sich erhoben. »Vandervelde will Geld –« fragte sie.

Die Rakolowna nickte.

»Sie gaben es ihm?«

Die Fürstin schüttelte den Kopf –

»Er ging?«

»Ja«, weinte sie. Wie ein geschlagenes Tier hob sie die Augen. »Ich konnte ihm nichts geben; meinen Schmuck habe ich vor einer Woche verkauft.«

»Wieviel forderte er?«

»Das Doppelte.«

»Bis wann?«

»Bis morgen; er hat alles verspielt.«

»Ich werde Ihnen eine Anweisung geben.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich will es Ihnen geben. Unter einer Bedingung: Lassen Sie Purischkoff.«

Die Rakolowna zuckte: »Er ist Russe.«

Die Braminta schwieg. Weshalb durch Worte verlängern, was doch geschah; jeder Eros brach an der Gewalt eines Willens; denn der Wille war kälter und deshalb zuletzt.

Schritte klangen über den Flur. Die Rakolowna erhob sich, – nebenan ging die Tür –, sagte: »Geben Sie«, nahm die Anweisung mit sehr zarter Bewegung, lächelte, nickte und ging hinaus, Vandervelde entgegen.

Scharf begrenzte Flecke brannten auf den Wangen der Braminta. Sie sah Gams fragenden Blick und sagte nachdenklich: »Es ist die Krankheit – man hat wenig Zeit, um etwas erringen zu wollen. Kämpft man um eine goldene Spange? Man kauft sie. Wenn man etwas liebt und kann es nicht anders bekommen: Soll man es nicht nehmen, weil man es kaufen muß? Weshalb Worte darum wickeln, – sie bessern es nicht. – Und es ist doch alles gleich –«

*

Ein schmaler, hoher Hund lief durch den Raum. Kohlschwarz, ohne Haare, wie Samt das Fell: Ein Windhund aus Afghanistan. Die Braminta erbleichte. Purischkoff trat ein, neben sich einen zweiten Hund, der dem andern zum Verwechseln glich.

Er zeigte einige Bücher; einen alten englischen

Die Rakolowna stand einen Augenblick regungslos; dann ging sie rasch an den Spieltisch und plauderte. Die Braminta bekam glänzende Augen. Gam dachte: »Welcher Mann vergißt das –.« Vor den Fenstern glitzerte der Schnee unter dem steigenden Mond.

Purischkoff kehrte heiter zurück. Er sprach mit der Braminta; aber mit den Augen suchte er die Rakolowna. Endlich kam sie und sagte im Vorbeigehen: »Sie sollen mit einer Frau fort gewesen sein, Purischkoff –« Totenblaß starrte er sie an. Sie winkte noch einmal und drohte lächelnd mit dem Finger. Er biß sich auf die Lippen.

Ohne scheinbar auf diese banalen Worte zu achten, begann die Braminta geistvoll zu plaudern. Ihre Nasenflügel bebten, unter den Augen wuchsen violenzarte Schatten. Die Schultern leuchteten stumpf, und rot stand der Mund im bewegten Gesicht.

Der Russe achtete wenig auf das Gespräch. Sie ließ es versickern und änderte es. Weich, herzlich kam sie ihm entgegen. Er fühlte sich sofort gehalten. Der Ton entsprach zu sehr seiner Lage, als daß er ihn nicht gefesselt hätte. Sein Gesicht entspannte sich. Ohne es recht zu wissen, antwortete er, sprach in das Verwandte hinein, das sich neben ihm auftat. Als die Braminta merkte, daß er

Die ließ ihm keine Zeit, sondern machte ihm eine kindische Eifersuchtsszene. Er war fassungslos erstaunt, versuchte, sie zu besänftigen und aufzuklären. Dann glitt er langsam zurück vor diesem Paroxysmus. Sie hatte zu genau seine empfindlichste Stelle als Angriffspunkt genommen. Er wurde kühler – ungeduldig, als sie ihm lächerliche Vorwürfe machte. Verstand sie nicht, war gekränkt, fing an, statt russisch wieder französisch zu sprechen. Am andern Abend hatte ihn die Braminta.

*

»Wie süß doch eine Geige ist«, sagte Gam schwärmerisch und lauschte, indes die Kantilene über der Flut der Streicher aufdämmerte und in langgehaltenen Kadenzen immer mehr anschwellend zur hoch gehauchten Fermate anstieg. »Man glaubt, nie sterben zu können, wenn eine Geige klingt. Der Himmel wird höher; mit einem Ton weichen alle Grenzen. Das Gefieder grauer Lachmöwen ist in der Geige. Irgendwo ist man zu Hause und doch schwermütig überall fremd. Man könnte sehr Törichtes tun, wenn eine Geige da ist – –

Die Welt verwandelt sich, so süß ist eine Geige –. Jemand tritt aus einem heraus, sieht sich groß um und ist neben einem. Seine Lippen bewegen sich, seine Hände heben sich, er formt Worte: Und alles scheint recht, was er tut. Doch man weiß nicht: Ist man Ich oder der

Kinsley schwieg. Kantig stand sein Gesicht im Abend; von den Flügeln der Nase zogen sich Furchen wie aufgerissen zu den Winkeln des schmalen Mundes. Gam wußte nicht, daß sie nicht von sich sprach und ihrem Gefühl; daß schattenhaft etwas aus ihr heraustrat und Macht über sie gewann; daß sie den ewigen Kampf der Geschlechter begann, der unter der Maske der Hingebung und Zuneigung versteckt lauert. Sie begriff dunkel, daß es ein Kampf sei, wenn man auch schöne Worte als Namen für ihn gefunden hatte; – und daß er am unerbittlichsten dann sei, wenn man ihn mit den weichsten Namen nannte.

Sie gab sich unbefangen; aber manchmal ließ sie eine Situation ins Schillernd-Undeutbare gleiten, um Kinsley hervorzulocken. An seiner Parade ahnte sie seine Hintergründe. Er legte sich nicht fest, tat ein paar Schritte, wischte aber Spur und Richtung gleich darauf mit einer harmlosen Bemerkung weg, die den Vorstoß als Zufall erscheinen lassen konnte. Lose gab er Wort um Wort, spielerisch und achtlos, ohne jedoch die Führung zu verlieren. Er sammelte sich ruhig an entfernten Punkten; wenn Gam dann folgte, hob er plötzlich mit einer Gebärde, einer unvermuteten Wendung, das Spiel in ein Prospekt parteilosen Menschentums, daß sie verwirrt schwieg. Aber schon begannen Griff und Haltung in ihr aufzuklingen. Leise klirrten Schild und Waffen.

Er machte eine Gebärde. Darin verschwanden Kämpfe, Sehnsüchte, Wünsche und Überwindungen; mit einer Handbewegung wischte er Jahre hinweg. »Vergessen – was ist belangloser als Vergangenheit –«

Plötzlich horchte Gam auf, so geschmeidig bog sich eine Stimme neben ihr. Jemand war an den Tisch getreten und sprach mit Kinsley. Er verbeugte sich vor Gam mit der zerstreuten Höflichkeit eines Menschen, der etwas ganz anderes will, und sagte: »Ich reiste einen Tag um dieses Gespräch von wenigen Minuten. Eine halbe Stunde Aufschub würde es verloren sein lassen. Der Konsequenz der Dinge weicht der Zufall menschlicher Konstellation. Verzeihen Sie darum –«

Er verhandelte kurz mit Kinsley. Dann machte er eine Bewegung des Abschlusses und wandte sich mit einem Lächeln zu Gam: »Nur Zufall ist Gesetz – Gesetz immer Zufall. Das Außergewöhnliche ist zuletzt immer das Einfache – und deshalb das Verletzen einer Form vielleicht nicht so schwerwiegend, um nicht verstanden zu werden – in jedem Falle –«

Erst nach einer Weile fragte Gam: »Wer war –«

»Lavalette.«

*

Die Braminta wirbelte hinzu; sie lachte, aber in ihrer Stimme bröckelte die Angst. Purischkoff sprach gleichmütig höflich mit ihr. Sie bemerkte es sofort, wurde lebhafter, redete auf Gam ein, vernachlässigte den Russen, kehrte, als er eine Bewegung machte, – ein wenig zu früh – strahlender zu ihm zurück, zog den vorübergehenden Kai ins Gespräch, lächelte die Rakolowna heran, schob Vandervelde unmerklich zu Gam hinüber, verstummte langsam, als das Gespräch sich belebte, sah unter gesenkten Lidern nach Purischkoff, bemerkte, wie Vandervelde sich Gam vorführte, und atmete tief auf.

Vandervelde versuchte Gam einzukreisen. Er pointierte bald mit Ironie, bald mit milder Überlegenheit. Sie durchschaute ihn und bluffte amüsiert zurück. Sofort sprang er zu, glitt ab, fing sich, als sei nichts geschehen, und versuchte den Angriff auf der andern Seite. Auf dem dunklen Leder des Sessels bot er eine sehr gepflegte Hand zur Schau, dosierte Weltschmerz, erlauerte melancholisch die Wirkung und fuhr zurück, als Gam naives Mißverständnis zeigte. Ärgerlich, daß sie seinen Truc aufdeckte, ohne darauf einzugehen, wurde er gereizt und gab resigniert vorläufig auf.

*

Purischkoff suchte Gam. Sie erschrak vor dem Ausdruck in seinem Gesicht; so sehr war alles Gefühl geballt hervorgebrochen. Wie Regen fielen seine Worte um sie her; sie hörte sie rauschen, aber sie verstand ihren Sinn nicht. Zu nahe kam ein Dunkles aus ihrer eigenen Tiefe, drängte sich unter ihre Hände und flehte: Öffne mich –

Die Braminta begriff die Situation. Sie deutete Gams Versunkenheit falsch und wollte, plötzlich zänkisch, gerade anfangen zu sprechen, als Purischkoff sich erhob, sie leer ansah und zu den Musikern ging. Er nahm dem Geiger das Instrument, scheuchte die andern mit einer Handbewegung fort und fing an zu spielen.

Da ahnte die Braminta-Sola, daß alles zu spät käme und daß nichts mehr nützen würde. Sie verstand auch, daß Gam nicht schuld sei; daß niemand schuld sei –. Ein Hustenanfall schüttelte ihren Körper. Als sie sich erhob, stand ein Blutstropfen auf ihrer Unterlippe. Sie ging, das Gesicht bis zum letzten Augenblick zur Geige Purischkoffs gewandt.

Das Thema warf Steppe, Wüste und Wind in den Raum. Trüber brannten die Kerzen, braune Weiber klagten vor einem verhängten Zelt, über alle Träume fiel Nacht, fahl glomm der Mond über phosphoreszierenden Ebenen. Nun bäumten sich die Winde, der Orion zog

Gam fröstelte. Gedankenketten rissen, einsam verschwand der Strand der Dinge und Beziehungen. Das Plateau der Begriffe und Worte versank; urtief blieb nur eines: Triebhaftes, pflanzentumes, tiertreues Leben. Es war die hemmungslose Macht der Weltstruktur. Das Letzte war der Schoß – nie die Stirn. Denn der Schoß war fruchtbar; er war Erde und Leben.

Gam erkannte plötzlich das Wort-Lose der Frau. Die Sprache und der Gedanke waren des Mannes. Die Frau aber kam aus dem Schweigen. Sie wohnte in einem fremden Lande und hatte seine Sprache nur erlernt; doch es war nicht ihre eigene. Sie mußte ihr Inneres in Begriffe übersetzen, die ihrem Wesen nicht entsprachen, weil sie des Mannes waren. Sie versuchte, sich zu deuten; es gelang nie. Nie würde ein Mann sie begreifen können.

Schon dämmerte das Schicksal des Weibseins: Die Flucht zum Gestalter; sag Du, was in mir ist, ich kann nicht sprechen. – Die ewige Hörigkeit, der ewige Haß, die ewige Resignation. –

Gam fühlte die Welle in sich hochquellen. Sie wollte sie dennoch meistern und rang nach Begriffen, aber sie paßten nicht; sie suchte nach Ausdruck, aber die Worte zerbrachen wie falsche Schlüssel in geschlossenen Türen, sie quälte sich, es zu sagen, es nur zu denken, doch haltlos entrann Es, lautlos entschlüpfte Es, zwischen den Maschen der Gedanken glitt Es schemenhaft fort, – – betroffen von der stummen Magie ihres Geschlechtes, der sie nicht entrinnen konnte, irrte sie durch die Zimmer und

Schwestergefühl durchbrach den dunklen Ring. Sie umschlang die Schultern der müde Dasitzenden, preßte ihr Gesicht an die kalte Wange der andern, mischte Atem in Atem, Schluchzen in Schluchzen, ohne Maß, ohne Halt und verging in weichem, geborgenem Weinen.

Purischkoff fand sich allein, als er die Geige fortlegte. Mit abwesenden Augen versuchte er, sich zu besinnen; dann zerbrach er langsam das Instrument und ging hinaus in den eisigen Wind, der mit blanken Zähnen in den Telegraphendrähten hing.

*

Zwei Tage später war Clerfayt in Davos. Er kam an einem Abend zu Gam, als auch Purischkoff da war. Sofort begriff er, was zu tun war; bewunderte die Hunde, erledigte den Russen aber von vornherein, indem er nachsichtig, mit einem gewissen Schwung zu ihm sprach, ohne verletzend zu wirken, und ihn so deklassierte.

Gam fragte ihn nach seinem Leben. Er skizzierte einen Abriß, beschrieb knapp und amüsant einige Abenteuer auf dem Balkan, einen Abend in der Normandie, kam auf seine Flüge zu sprechen, wurde sachlich, gab Einzelheiten und erreichte dadurch sein Ziel, an den Flug nach Luxor zu erinnern, ohne davon zu sprechen.

Vor Gam stieg die Wüste wieder auf, goldumflirrt im Sandstaub der Fernen. Propeller surrten, Tragflächen knirschten.

Sofort nach diesem Ausdruck sprang er vom Thema ab, erkundigte sich nach Gams Plänen und besprach sie gelassen. Als sie aufs Geratewohl Rom nannte, schlug er ihr Neapel vor, kritisierte Rom als Stadt langweiliger Schaustücke

Er wartete einige Sekunden auf Antwort. Beugte sich ein wenig vor, um nach Gams Gesicht zu spähen. Stand ruhig auf und ging zur Tür.

Gam rief ihn zurück, als er schon im Vorzimmer war. Sie lächelte: »Warum gehen Sie schon? –«

Clerfayt schnippte mit der Hand eine Volte durch die Luft: »Lieben Sie unerquickliche Situationen?«

Gam wartete mit dem Wort. Er ahnte, daß sie ihn unsicher machen wollte, blieb stehen, fragte nichts, bewegte sich nicht zwecklos, sondern entspannte nur das undurchdringlich beherrschte Gesicht. Sie deutete auf einen Sessel. Er ließ sich hineinfallen: »Warum setzt er sich nicht«, dachte Gam und dankte ihm für seinen Antrag. Vorsichtig schwieg er weiter. Jedes Wort war gefährlich.

Gam spielte mit ihren Fingern und schien unschlüssig. Daran aber witterte er die Falle. Sie legte die entscheidende Frage nach dem Warum geschickt und unverfänglich vor ihm hin.

Clerfayt aber hatte sich bereits entschieden. Unbestimmt deutete er eine Vermutung an: Sie verstehe ihn wohl richtig. Sah, daß sie weiter mit den Fingern spielte, und wußte im selben Moment, daß nur rasches Zugreifen retten konnte.

Behutsam zog er sich scheinbar zurück und umging die Frage diskret. Gam kam nach und stellte ihn erneut. Er tat unsicher, als ob er einen Ausweg suche. Wie er erwartet hatte, verlegte sie ihn. Nun gab er, zögernd und sich

Außerdem, und dabei sah er Gam fest an, sei es allerdings nicht nur eine Pflicht; sondern im Gegenteil: Selbst wenn sie nicht bestanden hätte, würde er heute genauso gehandelt haben.

Der Truc verfing. Obschon der Antrag ernst gewesen war, glaubte Gam einen Augenblick, daß keine anderen Bindungen Clerfayts vorgelegen hätten, als die, von denen er gesprochen hatte. Der Schlußsatz bestärkte sie nur.

Dann aber fiel ihr ein, wie weit er ausgeholt hatte, um zu seinem Ziele zu gelangen, und sie wurde wieder heiter. Er scherzte, sicher geworden, mit; es freue ihn, sie so vorurteilsfrei zu sehen, obschon ja seine Ausführungen einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht entbehrten, wie sie zugeben müsse.

Im Weggehen schon, meinte er nebenhin: Eigentlich sei er doch nie so glatt abgelehnt worden. »Abgelehnt?« triumphierte sie spöttisch.

Er parierte noch einmal: »Ich nahm es vielleicht vorweg, da ich das Ergebnis eigentlich erwartete –« konnte es sich aber nicht versagen zu fragen: »Sie waren so heiter; – also ein anderer –?«

Da lächelte sie sehr: »Nie ein anderer – immer Ihr selbst –«

*

Eine kleine Tischlampe warf matte Reflexe auf das Lager, neben dem die Hunde kauerten. Eines der Tiere erhob sich, als Gam eintrat. Der Arzt winkte mit den Lidern und verließ den Raum. Gam beugte sich über den Sterbenden. Der weite Mantel glitt von ihren Schultern über die Hunde. Sie war im großen Abendkleid, als ginge sie zu einem Fest.

Im Zimmer lastete eine unerhörte Stille. Kein Laut drang hinein. Man hatte die Uhr abgestellt. Die Zeit versank. Nur das gelbliche Gesicht in den Kissen war da.

Nur noch dieses Antlitz lebte. Die Schatten, die über die eingefallene Stirn flogen, waren so erschütternd im fahlen Schweigen des Zimmers, daß es Gam schien, als wehten Riesenflügel lautlos durch den Raum, wenn die Stirn zuckte.

Langsam, unsäglich langsam begann die Hand auf der Decke sich zu krümmen. Gam empfand die Bewegung schmerzhaft körperlich mit. Ihr war, als ob alles Sein davon abhinge, daß die Finger zur Handgrube gelangten, und sie atmete erlöst auf, als sie sich endlich geschlossen hatten. Ihre Schläfen pochten, die Schultern hoben sich unter den schmalen Bändern, und plötzlich überströmte eine Welle Zärtlichkeit ihre Augen.

Sie strich über die geballte Hand und glaubte, es hätte sie nie im Leben etwas so beglückt wie dies: Daß sie sich unter dem Streicheln ihrer lebenswarmen Haut wieder öffnete, daß die Finger sich streckten, widerwillig

Gam begegnete dem Blick Purischkoffs. Obwohl sie sich sagte, er sähe sie nicht mehr, fühlte sie doch die Augen drohend auf sich gerichtet. Sie konnte es nicht ertragen. Behutsam schob sie ein schmales Kissen unter seinen Kopf. Fast nahm sie an, ein Lächeln um den Mund gesehen zu haben.

Dieser Mund würde in wenigen Stunden erstarren. Diese Stirn würde kalt werden. Noch pulsierte das Blut hinter ihr, noch arbeiteten die Gedanken und schossen hastig, wie irre Lichtkegel, über die Flut, die, langsam ansteigend, bald über die Dämme des Geistes brechen würde. Die Energie des Körpers sammelte sich kreisend in dem unfaßbaren Chaos des Zerfalls.

Unaufhaltsam stieg und stieg die Flut. Aber über der zerbrechenden Erkenntnisstruktur über den hilfesuchenden Scheinwerfern der Instinkte, über dem letzten Zusammenprall des Lebenswillens mit der gierig zunehmenden Brandung hob sich in purpurnen und blauen Feuern das Nordlicht des Fieberwahns, wehte Gloriolen um pilzhaft hochgeschossene Traumgestalten und warf längst Zerstörtes, längst Vergessenes, längst Gestorbenes als Fata Morgana über das Grauen der vergifteten Blutflut.

Hinter der zuckenden Stirn riß eine letzte Lockerung alle Fesseln nieder. Verwirrt und verknäult flogen bunte Geschehnisse empor, Erlebnis, Wunsch und Ungewisses durcheinanderquirlend – ein Vorfrühling über Birkengeneige, ein Mädchenkopf, ein Ruch Heimat, – ein grell beschienenes Roulette, ein frostiger Morgen auf stählernen