Jodi Kantor
Megan Twohey
#Me Too
Von der ersten Enthüllung
zur globalen Bewegung
Aus dem Amerikanischen von
Judith Elze und Katrin Harlaß
Tropen Sachbuch
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Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»She Said. Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement« im
Verlag Penguin Press, New York
© 2019 by Jodi Kantor and Megan Twohey
Für die deutsche Ausgabe
© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50471-2
E-Book: ISBN 978-3-608-12011-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
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FÜR UNSERE TÖCHTER:
MIRA, TALIA UND VIOLET
Als wir 2017 begannen, für die New York Times über Harvey Weinstein zu recherchieren, verfügten Frauen über mehr Macht als je zuvor. Die Zahl der Jobs, die einst ausschließlich Männern vorbehalten waren – Polizist, Soldat, Pilot – ging fast gegen Null. Frauen führten nicht nur Staaten, darunter Deutschland und Großbritannien, sondern auch Unternehmen wie General Motors und PepsiCo. Eine Frau in ihren Dreißigern konnte in einem Jahr mehr Geld verdienen als all ihre Vorfahrinnen zusammengenommen in ihrem ganzen Leben.
Dennoch sahen sich Frauen nur allzu oft sexuellen Belästigungen ausgesetzt, die straffrei blieben. Wissenschaftlerinnen und Kellnerinnen, Cheerleader, hochrangige Managerinnen und Fabrikarbeiterinnen waren gezwungen, Grapschereien, Anzüglichkeiten oder unerwünschte Annäherungsversuche mit einem Lächeln zu überspielen, um nicht das nächste Trinkgeld, den nächsten Lohn oder die nächste Beförderung aufs Spiel zu setzen. Sexuelle Belästigung verstieß gegen geltendes Recht, gehörte jedoch in einigen Bereichen der Arbeitswelt zum Alltag. Frauen, die den Mund aufmachten, wurden häufig entlassen oder verunglimpft. Die Opfer litten meist im Verborgenen und waren voneinander isoliert. Das Beste, was sie tun konnten, so war man sich im Allgemeinen einig, sei es, als eine Art Entschädigung Geld anzunehmen, im Austausch gegen ihr Schweigen.
Und die Täter erklommen unterdessen oft eine Karrierestufe nach der anderen und schwammen ungestört von einer Erfolgswelle zur nächsten. Von der Umwelt wurden ihre Belästigungen meist akzeptiert oder sogar verschmitzt kommentiert – als wären sie bloß übermütige kleine Lausbuben, die sich eben mal danebenbenommen haben. Ernsthafte Konsequenzen hatten solche Vorfälle kaum. Megan schrieb einige der ersten Artikel, in denen Frauen Donald J. Trump vorwarfen, ihnen nachgestellt zu haben – und berichtete dann 2016 über seinen Wahlsieg.
Nachdem wir am 5. Oktober 2017 unsere Story über die mutmaßlichen sexuellen Belästigungen und Übergriffe durch Harvey Weinstein erstmals veröffentlicht hatten, sahen wir mit wachsendem Erstaunen zu, wie ein Damm brach. Plötzlich begannen Millionen von Frauen weltweit, ihre Misshandlungsgeschichten zu erzählen. Plötzlich mussten zahllose Männer ihres übergriffigen Verhaltens wegen Rede und Antwort stehen. Es war ein beispielloser Moment der Umkehrung. Wir Journalistinnen und Journalisten hatten daran mitgewirkt, einen Paradigmenwechsel einzuläuten. Unsere Arbeit war allerdings nur eine der Triebkräfte eines Wandels, den Vorkämpferinnen des Feminismus und Rechtsgelehrte über Jahre hinweg vorbereitet hatten. Zu ihnen gehörten, neben vielen anderen, auch Journalistenkolleginnen und -kollegen sowie Anita Hill und die Aktivistin und Begründerin der #MeToo-Bewegung Tarana Burke.
Während wir zusahen, wie unsere hart erarbeiteten investigativen Enthüllungen dazu beitrugen, Grundeinstellungen zu verändern, fragten wir uns allerdings eines: Warum gerade diese Story? Wie einer unserer Redakteure hervorgehoben hatte, war Harvey Weinstein ja nicht mal so berühmt. Wieso löste in einer Welt, in der an so vielen Stellen Stillstand zu herrschen scheint, gerade dieser Artikel ein derartiges Erdbeben aus? Warum brachte ausgerechnet er einen solchen Wandel in Gang? Auf der Suche nach Antworten beschlossen wir, dieses Buch zu schreiben.
Dieser Wandel war weder unvermeidlich noch vorauszusehen. Auf den folgenden Seiten beschreiben wir, was die ersten mutigen Quellen motivierte und wie sie mit sich rangen, das Risiko einzugehen und die Mauer des Schweigens, die Harvey Weinstein umgab, zu durchbrechen. Laura Madden, eine ehemalige Assistentin Weinsteins, inzwischen Hausfrau und Mutter in Wales, hatte gerade ihre Scheidung hinter sich und eine Brustkrebsoperation vor sich, als sie sich offen zu Weinstein äußerte. Ashley Judd setzte ihre Karriere aufs Spiel, bestärkt durch eine wenig bekannte Lebensphase, in der sie sich aus Hollywood zurückgezogen und grundsätzliche Überlegungen zur Geschlechtergerechtigkeit angestellt hatte. Zelda Perkins, eine Londoner Produzentin, die eine zwei Jahrzehnte zuvor unterzeichnete Verschwiegenheitserklärung gehindert hatte, ihre Beschwerden über Weinstein öffentlich zu machen, sprach ungeachtet möglicher rechtlicher und finanzieller Konsequenzen mit uns. Eine Schlüsselrolle spielte auch ein langjähriger Mitarbeiter Weinsteins, der das, was er wusste, immer stärker als Belastung empfand. Die bislang unbekannte Quelle half uns, seinem Boss am Ende die Maske vom Gesicht zu reißen.
Dies ist auch eine Geschichte über investigativen Journalismus. Sie beginnt mit den ersten Tagen unserer Recherchen, die voller Ungewissheit waren, denn wir wussten noch sehr wenig, und kaum jemand wollte mit uns sprechen. Wir beschreiben, wie wir Geheimnissen auf die Spur kamen, Informationen festklopften und die Jagd nach der Wahrheit über einen mächtigen Mann auch dann noch fortsetzten, als dieser sich hinterhältiger Taktiken bediente, um unsere Arbeit zu sabotieren. Ebenso rekonstruieren wir hier zum ersten Mal unseren finalen Showdown mit dem Filmproduzenten – und sein letztes Gefecht – im Büro der New York Times unmittelbar vor Veröffentlichung unseres Artikels, also genau in dem Augenblick, in dem er begriff, dass er verloren hatte.
Unsere Berichterstattung über Harvey Weinstein fand zu einer Zeit statt, in der die Medien wegen der Verbreitung von Fake News allgemein in der Kritik standen und das Einvernehmen darüber, was Wahrheit sei, zu bröckeln begann. Die Enthüllungen über ihn hatten auch deshalb so dramatische Folgen, weil es uns und anderen Kolleginnen und Kollegen gelungen war, unwiderlegbare, erdrückende Beweise für sein Fehlverhalten zu erbringen. Auf den folgenden Seiten erläutern wir, wie wir anhand von Augenzeugenberichten, Finanzunterlagen, juristischen Dokumenten, Firmenmemos und anderen aussagekräftigen Materialien ein Verhaltensmuster freilegen und dokumentieren konnten. Bei der öffentlichen Debatte, die unsere Arbeit auslöste, ging es weniger um das, was Weinstein einzelnen Frauen angetan hatte, als vielmehr darum, wie damit umzugehen sei.
Dieses Buch speist sich aus zweierlei Quellen: dem, was wir im Verlauf unserer ursprünglichen Recherchen zu Weinstein im Jahr 2017 in Erfahrung brachten, und der beachtlichen Menge an Informationen, die wir seither gesammelt haben. Vieles von dem, was wir hier an neuem Material über Weinstein präsentieren, illustriert sehr gut, wie das Rechtssystem und die Unternehmenskultur Opfer zum Schweigen brachten und Veränderungen auch weiterhin blockieren. Firmen werden instrumentalisiert, um übergriffige Männer zu schützen. Anwälte, die Frauen vertreten, profitieren von einem Vergleichssystem, das Fehlverhalten deckt. Viele Menschen bekommen hier und da von dem Problem etwas mit – wie etwa Bob Weinstein, Harveys Bruder und Geschäftspartner, der ausführliche Interviews zu diesem Buch beigesteuert hat –, tun jedoch wenig, um es zu unterbinden.
Wir hoffen, dass dieses Buch ein bleibendes Zeugnis von Weinsteins Vermächtnis sein wird: die Instrumentalisierung des Arbeitsplatzes, um Frauen zu manipulieren, unter Druck zu setzen und zu terrorisieren.
Als sich in den Monaten nach Veröffentlichung unserer Ermittlungsergebnisse im Fall Weinstein die #MeToo-Bewegung Bahn brach wie ein explodierender Vulkan, entstanden auch völlig neue Debatten. Sie bewegten sich in einem breiten Themenfeld, das von Date Rape über Kindesmissbrauch und Geschlechterdiskriminierung bis hin zu unangenehmen Partybegegnungen reichte. Worum ging es denn nun aber eigentlich? Um das Unterbinden sexueller Belästigungen, eine Reform des Justizwesens, den Sturz des Patriarchats oder darum, wie man richtig flirtet, ohne eine strafbare Handlung zu begehen? War die Abrechnung zu weit gegangen, weil aufgrund mehr als zweifelhafter Beweise der Ruf unschuldiger Männer beschädigt wurde, oder nicht weit genug, weil ein frustrierender Mangel an Systemwandel herrschte?
Knapp ein Jahr nach Veröffentlichung unserer Weinstein-Story erschien Dr. Christine Blasey Ford, Psychologieprofessorin aus Kalifornien, vor einem Untersuchungsausschuss des US-Senats und beschuldigte Richter Brett Kavanaugh, der für einen Posten am Obersten Gerichtshof nominiert war, er habe sie während ihrer gemeinsamen Zeit auf der Highschool im betrunkenen Zustand sexuell genötigt. Kavanaugh wies die Beschuldigung wutentbrannt zurück. Manche sahen in Ford die ultimative Heldin der #MeToo-Bewegung. Für andere war sie ein Symbol dafür, dass das Ganze zu weit ging, eine lebende Rechtfertigung für den sich anbahnenden Backlash.
Für uns war sie die Protagonistin einer der komplexesten und aufschlussreichsten »Sie sagte«-Storys, die es bis dato gegeben hat, vor allem, als wir nach und nach erfuhren, wie viel von ihrem Weg, der sie schließlich in diese Senatsanhörung führte, von der Öffentlichkeit nicht verstanden worden war. Jodi erlebte die Sitzung live im Verhandlungssaal mit, begleitete einige Mitarbeiter von Fords Anwaltsteam bei der Arbeit und traf sie persönlich am nächsten Morgen. Im Dezember führte Megan bei einem Frühstück in Palo Alto das erste Interview mit ihr nach Abschluss der Anhörung. In den folgenden Monaten kamen Dutzende Stunden zusätzlicher Interviewaufzeichnungen mit Ford zusammen, in denen sie darüber sprach, wie sie dazu gekommen war, ihre Stimme zu erheben, und welche Konsequenzen das für sie hatte. Wir sprachen auch mit anderen, die ihr damals nahegestanden und mitbekommen hatten, was passiert war. Wir erzählen die Geschichte von Fords Reise nach Washington und beleuchten, unter welch enormem Druck sie stand, weil sie zur Zielscheibe unzähliger Projektionen und Ängste wurde und Institutionen und politische Kräfte sie für ihre Zwecke vereinnahmen wollten.
Viele Menschen fragen sich, wie es Christine Ford nach ihrer Anhörung ergangen ist. Das letzte Kapitel dieses Buches bildet ein einzigartiges Gruppeninterview, bei dem wir für ein größeres Gesamtbild einige der Frauen, über die wir berichtet hatten, zusammenbrachten, darunter auch Ford. Doch im Zusammenhang mit ihrer Odyssee steht noch etwas Größeres auf dem Spiel: die immerwährende Frage, was Fortschritt antreibt und behindert. Die #MeToo-Bewegung ist ein Beispiel für gesellschaftlichen Wandel in unserer Zeit und zugleich ein Prüfstein für eben diesen: Wird es uns, die wir in dieser fragmentierten Welt leben, gelingen, ein neues, für alle Seiten faires Regelwerk zu entwickeln, das uns gemeinsam schützt?
Dieses Buch ruft noch einmal zwei erstaunliche Jahre ins Gedächtnis, erstaunlich für Frauen in den USA und auf der ganzen Welt. Es ist eine Geschichte, die allen Beteiligten gehört: Im Gegensatz zu manchen journalistischen Ermittlungen, die sich mit gut gehüteten Regierungs- oder Firmengeheimnissen beschäftigen, geht es bei dieser hier um Erfahrungen, die die meisten von uns aus erster Hand kennen, aus der Familie, vom Arbeitsplatz und aus der Schule. Dennoch haben wir dieses Buch verfasst, um Sie, die Leserinnen und Leser, so nah wie möglich ans Epizentrum der Ereignisse zu holen.
Um alles so unverstellt und authentisch wie möglich wiederzugeben, haben wir Transkriptionen von Interviews sowie E-Mails und andere Primärdokumente mit eingeflochten. Es gibt Notizen aus den allerersten Gesprächen, die wir mit Filmstars über Weinstein führten, einen eindringlichen Brief von Bob Weinstein an seinen Bruder, Auszüge aus den Texten von Christine Ford und anderes Originalmaterial. Einiges von dem, was wir hier mit Ihnen teilen, war ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. In diesen Fällen konnten wir dank zusätzlicher Berichterstattung, einschließlich nochmaliger Rückfrage bei den Beteiligten, erreichen, dass es doch aufgenommen werden durfte. Wir bekamen die Möglichkeit, mit Hilfe von Aufzeichnungen und Interviews auch Gespräche wiederzugeben, die wir nicht selbst geführt haben, und Ereignisse zu schildern, bei denen wir nicht persönlich anwesend waren. Insgesamt basiert das Buch auf drei Jahren Berichterstattung und Hunderten von Interviews, die wir von London bis Palo Alto führten. Die Anmerkungen geben einen detaillierten Überblick darüber, welche Informationen aus welchen Quellen und Aufzeichnungen stammen.
Und noch ein Satz zum Schluss: Dieses Buch ist auch eine Chronik der Partnerschaft, die zwischen uns entstand, während wir gemeinsam daran arbeiteten, die Ereignisse zu verstehen. Um Verwirrung zu vermeiden, schreiben wir über uns selbst in der dritten Person. (Hätten wir in der ersten Person über unsere Berichterstattung geschrieben, die auf enger Zusammenarbeit beruhte, häufig jedoch von uns verlangte, unterschiedlichen Fährten zu folgen, dann wäre unklar gewesen, ob ein »ich« Jodi oder Megan meint.) Bevor wir also mit unserer Erzählung beginnen, möchten wir uns noch einmal ganz explizit bedanken: Danke dafür, dass Sie uns ein Stück begleiten, sich mit uns gemeinsam einen Weg durch das Dickicht der Ereignisse und Beweise bahnen, die wir zusammengetragen haben, Zeuginnen und Zeugen dessen werden, was wir bezeugen können, und hören, was wir gehört haben.
Kapitel #1
Die Ermittlungen der New York Times zu Harvey Weinstein(1) begannen damit, dass die vielversprechendste Informationsquelle sich weigerte, überhaupt ans Telefon zu gehen.
»Ehrlich gesagt bin ich von Ihrer Zeitung schon mehrfach ziemlich schlecht behandelt worden. Die Ursache scheint mir Sexismus zu sein«, antwortete die Schauspielerin Rose McGowan(1) am 11. Mai 2017 auf Jodis E-Mail mit der Bitte um ein Gespräch.[1] McGowan zählte die Kritikpunkte auf: eine Rede, die sie auf einem politischen Dinner gehalten hatte, war in der »Style section« behandelt worden und nicht im Nachrichtenteil; ein früheres Gespräch über Weinstein(2) mit einem Times-Reporter war ihr unangenehm in Erinnerung.
»Die NYT sollte sich, was Sexismus angeht, an die eigene Nase fassen«, schrieb sie. »Ich bin nicht besonders geneigt zu helfen.«
Monate davor hatte McGowan(2) einen nicht beim Namen genannten Produzenten – dem Gerücht nach Weinstein(3) – beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. »Weil es in Hollywood und in den Medien ein offenes Geheimnis ist & ich gedemütigt werde, während mein Vergewaltiger beweihräuchert wird«, hatte sie getweetet und den Hashtag #WhyWomenDontReport hinzugefügt.[2] Jetzt hieß es, sie schreibe an einer Autobiografie, die Enthüllungen über die schlechte Behandlung von Frauen in der Unterhaltungsindustrie enthalten solle.[3]
Im Gegensatz zu fast alle anderen in Hollywood hatte McGowan(3) schon mehrfach ihre Karriere riskiert und Sexismus offen angeprangert. Einmal hatte sie per Tweet den beleidigenden Kleidercode publik gemacht, der auf einer Casting-Ankündigung zu einem Film von Adam Sandler gefordert wurde: »Tanktop mit großem Dekolleté (Push-up-BHs erwünscht).«[4] Ihr Ton in den sozialen Medien war generell hart und konfrontativ: »Es ist in Ordnung, wütend zu sein. Habt keine Angst davor«, hatte sie einen Monat davor getweetet und später hinzugefügt: »Reißt das System nieder.«[5] Wenn sich schon McGowan als Aktivistin und Schauspielerin nicht zu einem vertraulichen Gespräch bereiterklärte, wer dann?
Harvey Weinstein(4) war nicht der Mann der Stunde. In den letzten Jahren hatten die von ihm produzierten Filme geschwächelt, der Zauber schien gebrochen. Doch sein Name stand für Macht, insbesondere für die Macht, Karrieren zu begründen und anzuschieben. Erst hatte er sich selbst erfunden: Er stammte aus einfachen Verhältnissen und war im New Yorker Stadtteil Queens aufgewachsen. Vom Konzertveranstalter über den Filmverleih hatte er es schließlich in die Filmproduktion geschafft. Er schien ein Händchen dafür zu haben, alles um sich herum größer werden zu lassen – Filme, Partys und vor allem Menschen. Über die Jahre hatte er vielen jungen Schauspielerinnen und Schauspielern, wie zum Beispiel Gwyneth Paltrow(1), Matt Damon, Michelle Williams und Jennifer Lawrence, zu Ruhm verholfen. Er war imstande, winzige Independent-Filme wie Sex, Lügen und Video (OT Sex, Lies, and Videotape, 1989) oder The Crying Game (OT The Crying Game, 1992) zu einem globalen Phänomen zu machen. Er war der Wegbereiter der modernen Oscarverleihung und hatte die Trophäe für den Besten Film fünfmal für sich selbst und haufenweise für andere gewonnen. Er beschaffte schon seit fast zwanzig Jahren Geld für Hillary Clinton(1) und unterstützte sie bei zahllosen Benefizveranstaltungen. Als Malia Obama eine Praktikumsstelle beim Film suchte, arbeitete sie für »Harvey« – der Vorname stand für sich und wurde selbst von vielen Fremden verwendet. Obwohl seine Filme inzwischen weniger erfolgreich waren, genoss er auch 2017 einen hervorragenden Ruf.
Gerüchte über seinen Umgang mit Frauen hatte es schon lange gegeben. In der Öffentlichkeit kursierten entsprechende Witze: »Glückwunsch, ihr fünf Ladys braucht jetzt nicht mehr so zu tun, als fändet ihr Harvey Weinstein(5) attraktiv«, scherzte Comedian Seth MacFarlane bei der Verkündung der Oscarnominierungen 2013. Doch viele hatten sein Verhalten als harmloses Flirten abgetan, und nie war etwas öffentlich dokumentiert worden. Andere Journalisten hatten in der Vergangenheit ihr Glück versucht und waren gescheitert. Eine Ermittlung des City of New York Police Department (NYPD) gegen Weinstein im Zusammenhang mit einer Anschuldigung wegen Grapschens war ohne Strafantrag ausgegangen. »Irgendwann werden sich alle Frauen, die bisher Angst hatten, sich zu Harvey Weinstein zu äußern, bei den Händen fassen und springen müssen«, hatte die Journalistin Jennifer Senior damals getweetet.[6] Das war jetzt zwei Jahre her. Nichts war geschehen. Jodi hatte zwar gehört, dass es zwei weitere Reporter – ein Autor vom New York Magazine und Ronan Farrow(1) von NBC – versucht hätten, aber es waren keine Storys erschienen.
Waren die Gerüchte über Weinsteins Umgang mit Frauen falsch? Hatte sich McGowans Tweet auf jemand anderen bezogen? In der Öffentlichkeit präsentierte sich Weinstein(6) selbstbewusst als Feminist. Gerade erst hatte er eine stolze Summe für die Einrichtung eines Lehrstuhls zu Ehren der Frauenrechtlerin Gloria Steinem gespendet. Sein Unternehmen hatte den Dokumentarfilm Freiwild – Tatort Universität (OT The Hunting Ground, 2015) vertrieben, einen wütenden Aufschrei gegen sexuelle Gewalt an US-amerikanischen Hochschulen. Im Januar 2017 hatte der Filmmogul sogar an den denkwürdigen Women’s Marches teilgenommen und sich während des Sundance Film Festivals den Pink-Pussyhat-Scharen in Park City, Utah, angeschlossen.[7]
Der Investigativabteilung der Times ging es darum, abseits der lauten Hektik der anderen Redaktionen nach dem zu graben, worüber nie berichtet worden war, Personen zur Rechenschaft zu ziehen, deren Übergriffe bewusst gedeckelt wurden, und Institutionen zu entlarven, die das schmutzige Spiel mitspielten. Der erste Schritt bestand meist in einer vorsichtigen Kontaktaufnahme. Wie also konnten wir McGowan(4) motivieren, ans Telefon zu gehen?
Ihre E-Mail bot Ansatzpunkte. Da war zunächst einmal die Tatsache, dass sie überhaupt geantwortet hatte. Viele meldeten sich gar nicht erst zurück. Zweitens hatte sie sich Gedanken gemacht und die Mühe auf sich genommen, eine Kritik zu äußern. Vielleicht wollte sie Jodi mit ihrem Angriff gegen die Times nur testen, um zu sehen, ob die Reporterin ihren Arbeitgeber verteidigen würde.
Doch Jodi hatte nicht die Absicht, sich über ihren Arbeitsplatz der letzten vierzehn Jahre zu streiten. McGowan(5) zu schmeicheln (»Ich bewundere Sie ehrlich für Ihre mutigen Tweets …«) war auch nicht der richtige Weg. Das würde auch noch das bisschen Autorität untergraben, das sie im vorliegenden Fall besaß. Auch über die Ermittlungen, zu denen McGowan etwas beisteuern würde, durfte sie nichts preisgeben. Eine Antwort auf die Frage, mit wie vielen Frauen Jodi sonst noch gesprochen hätte, würde lauten müssen: »Mit keiner«.
Die E-Mail musste ohne all das auskommen, auch ohne Erwähnung von Weinsteins Namen. McGowan(6) hatte eine Vorgeschichte: Sie hatte private Mitteilungen auf Twitter gepostet, wie etwa die Casting-Einladung von Adam Sandler. Es war ganz offensichtlich, dass sie Dinge ans Licht bringen wollte, doch konnte das unter den gegebenen Umständen auch nach hinten losgehen. (»Ihr alle da draußen, schaut euch mal diese Mail von einer Times-Reporterin an.«) Und die Thematik, um die es ging, machte die Antwort nur umso heikler. McGowan hatte gesagt, sie sei Opfer eines Übergriffs geworden. Es wäre falsch gewesen, Druck auf sie auszuüben.
Jodi hatte bereits 2013 begonnen, über die Erfahrungen von Frauen in Unternehmen und anderen Institutionen zu recherchieren. Die Gender-Debatte in den USA schien mittlerweile gefühlsbeladen: Es gab Meinungskolumnen, Autobiografien, Empörungs- und Verschwesterungsbekundungen in den sozialen Medien. Es war dringend nötig, verborgene Tatsachen aufzudecken. Vor allem über den Arbeitsplatz. Angestellte von ganz oben bis hin zum niedrigsten Posten hatten häufig Angst, ihre Arbeitgeber in Frage zu stellen. Reporter nicht. Jodi hatte während ihrer Recherche festgestellt, dass Gender nicht nur ein Thema war, sondern eine Art investigativer Einstiegspunkt. Da Frauen in vielen Organisationen noch immer Außenseiterinnen waren, erlaubte ein Dokumentieren dessen, was sie erlebten, zugleich Einblicke in die Funktionsmechanismen von Macht.
Jodi antwortete Rose McGowan(7), indem sie auf diese Erfahrungen Bezug nahm:
Hier meine eigene Erfolgsbilanz zu diesen Themen: Amazon, Starbucks und die Harvard Business School haben als Reaktion auf die von mir enthüllten geschlechterbezogenen Probleme allesamt ihre Verhaltensregeln geändert. Als ich über den Klassenunterschied in Bezug aufs Stillen schrieb – Büroangestellte dürfen bei der Arbeit abpumpen, Frauen im Niedriglohnsektor nicht –, reagierten die Leserinnen und Leser, indem sie die allerersten mobilen lactation suites zum Stillen/Abpumpen erfanden und bauten, von denen inzwischen mehr als 200 im ganzen Land verfügbar sind.
Falls Sie lieber nicht mit mir sprechen möchten, habe ich vollstes Verständnis. Alles Gute für Ihre Buchveröffentlichung.
Danke, Jodi
McGowan(8) meldete sich innerhalb weniger Stunden zurück. Bis Mittwoch stehe sie jederzeit zu einem Gespräch zur Verfügung.
Es war zu befürchten, dass der Anruf heikel werden würde. McGowan(9) wirkte taff mit ihrem Igel-Haarschnitt und dem Ruf zu den Waffen auf Twitter. Doch die Stimme am Telefon gehörte einer überaus mutigen und leidenschaftlichen Frau, die eine Geschichte zu erzählen hatte und dafür nach dem richtigen Weg suchte. In den Tweets hatte sie nur Andeutungen gemacht und wenige Details preisgegeben. Bei Interviews war es allgemein üblich, dass das Gespräch mitgeschnitten wurde, damit das Material veröffentlicht werden konnte, es sei denn, man traf eine andere Abmachung. Daher würde sich vermutlich jede Frau, die eine Anschuldigung wegen sexueller Übergriffe gegen Weinstein(7) vorzubringen hatte, schon allein gegen ein Anfangsgespräch sträuben. Jodi stimmte also zu, das Telefonat vertraulich zu behandeln, solange sie sich nicht auf etwas anderes einigten, und McGowan legte los.
Damals, 1997, war sie noch blutjung gewesen und hatte beim Sundance Film Festival im Rausch des ersten Ruhms geschwelgt, war von einer Filmpremiere zur nächsten gelaufen, im Schlepptau stets ein Fernsehteam. Sie hatte erst in vier oder fünf Filmen mitgespielt, darunter im Teenie-Horrorfilm Scream – Schrei! (OT Scream, 1996), avancierte aber bereits zum Liebling aller. »Ich war die Königin des Sundance«, sagte sie. Independent-Filme standen im Zentrum des kulturellen Interesses, das Festival war der angesagteste Ort überhaupt, und Harvey Weinstein(8) war der große King. Hier hatte der mächtige Produzent und Verleiher kleine Filme wie Clerks – die Ladenhüter (OT Clerks, 1994) und Reservoir Dogs – Wilde Hunde (OT Reservoir Dogs, 1992) eingekauft und anschließend zu Kultfilmen gemacht. In welchem Jahr passierte, was sie danach erzählte, daran konnte sich McGowan(10) nicht mehr genau erinnern; viele Schauspielerinnen rekonstruierten ihre Vergangenheit nicht anhand genauer Daten, sondern indem sie sich daran erinnerten, wann sie welchen Film gedreht hatten und wann dieser in die Kinos kam. McGowan erinnerte sich jedenfalls an eine Filmvorführung, bei der sie direkt neben Weinstein gesessen hatte. Der Film habe auch noch Going All the Way (»das volle Programm durchziehen«) geheißen, sagte sie und musste wegen des ironischen Umstands lachen. (Der deutsche Filmtitel lautet Der lange Weg der Leidenschaft, 1997.)
Danach habe er sie um ein Treffen gebeten, was ja Sinn ergab: Der Top-Produzent wollte mit dem aufgehenden Stern Kontakt knüpfen. Sie habe ihn im Stein Eriksen Lodge Deer Valley in Park City getroffen, in seinem Zimmer. Außer dem üblichen Gerede über Filme und Filmrollen sei nichts gewesen, sagte sie.
Doch auf dem Weg nach draußen habe Weinstein(9) sie in einen Raum mit Whirlpool gezogen, sie an der Poolkante ausgezogen und sein Gesicht mit Gewalt zwischen ihre Beine gedrückt. Sie sagte, sie erinnere sich daran, das Gefühl gehabt zu haben, den eigenen Körper zu verlassen, an der Decke zu schweben und die Szene von oben zu beobachten. »Ich stand extrem unter Schock und wechselte in den Überlebensmodus«, berichtete sie. Um von ihm wegzukommen, habe sie einen Orgasmus vorgetäuscht und sich selbst Schritt für Schritt stumme Anweisungen gegeben: »Dreh jetzt den Türgriff.«, »Geh jetzt raus hier.«
Ein paar Tage später habe Weinstein(10) auf ihrem Anrufbeantworter zu Hause in Los Angeles ein gruseliges Angebot hinterlassen: Er zähle auch andere weibliche Stars zu seinen speziellen Freundinnen, und sie könne gern zu diesem Club dazustoßen. Schockiert und völlig aufgelöst habe sie sich bei ihren Managern beschwert und einen Anwalt eingeschaltet. Am Ende sei ein Vergleich mit Weinstein dabei herausgekommen, verbunden mit einer Abfindung in Höhe von 100 000 Dollar – im Grunde eine Zahlung dafür, die Sache unter den Tisch fallen zu lassen, ohne irgendein Eingeständnis etwaigen Fehlverhaltens seinerseits. Das Geld habe sie einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer gespendet.
Ob sie ihre Ausfertigung der Vergleichsdokumente noch hätte? »Ich habe nie eine Kopie bekommen«, antwortete sie.
Das Problem gehe weit über Weinstein(11) hinaus, fügte sie hinzu. Hollywood sei ein organisiertes System für den Missbrauch von Frauen. Es locke sie alle mit dem Versprechen von Ruhm, mache höchst profitable Produkte aus ihnen, behandle ihre Körper wie Eigentum, fordere ihnen perfektes Aussehen ab und rangiere sie am Ende aus. Während des gesamten Gesprächs feuerte McGowan(11) ihre Beschuldigungen ab wie Schüsse.
»Weinstein(12) – es geht nicht nur um ihn, es ist eine ganze Maschinerie, eine Lieferkette.«
»Keinerlei Aufsicht, keinerlei Angst.«
»Die Studios diffamieren die Opfer und kaufen sich frei.«
»Fast alle haben eine Vertraulichkeitsvereinbarung.«
»Wenn weiße Männer je eine Spielwiese hatten, dann ist es Hollywood.«
»Die Frauen hier sind genauso schuldig.«
»Tanz bloß nicht aus der Reihe, du bist jederzeit ersetzbar.«
McGowans Worte hatten etwas Faszinierendes. Die Behauptung, Hollywood nutze Frauen aus, zwinge sie in die Konformität und serviere sie ab, sobald sie alterten oder rebellierten, war zwar ein alter Hut. Doch von einem so bekannten Gesicht einen derart direkten, mit verstörenden Details gespickten Bericht über diese Ausbeutung zu hören, noch dazu mit einem der renommiertesten Produzenten als Täter, war völlig anders: schärfer, spezifischer, ekelerregend.
Das Telefonat endete mit der Vereinbarung, bald wieder miteinander zu sprechen. Die Schauspielerin war eine ungewöhnliche Frau, aber die mitunter haarsträubenden Dinge, die sie gesagt oder getan hatte, oder mit wem sie zusammen gewesen war, spielten in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Frage war, ob ihr Bericht den Härten des journalistischen Prozesses und, falls es so weit kommen sollte, dem unvermeidlichen Gegenschlag durch Weinstein(13) und schließlich der öffentlichen Überprüfung standhalten würde. Bevor die Times überhaupt in Betracht ziehen konnte, McGowans Anschuldigungen zu publizieren, mussten sie untermauert und schließlich Weinstein vorgelegt werden. Man musste ihm die Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben.
Die Zeitung hatte die Pflicht, alle Beteiligten fair zu behandeln, vor allem angesichts der Schwere der Vorwürfe. Im Jahr 2014 hatte die Zeitschrift Rolling Stone, ohne auch nur annähernd Beweise dafür liefern zu können, von einem Vorfall an der University of Virginia berichtet, den sie als schreckliche Gruppenvergewaltigung bezeichnete.[8] Die nachfolgende Kontroverse setzte eine Reihe von Gerichtsprozessen in Gang,[9] ruinierte die Reputation der Zeitschrift nahezu vollständig, gab denen Munition in die Hand, die behaupteten, Frauen würden Vergewaltigungen erfinden, und warf den Kampf gegen sexuelle Übergriffe auf dem Universitätscampus um einiges zurück. Die Washington Post berichtete, die Polizei habe die Geschichte als »kompletten Schwachsinn« bezeichnet, die Columbia Journalism Review nannte sie »eine Sauerei«, und der Artikel heimste einen Preis als »Error of the Year« ein.[10]
Auf den ersten Blick wirkte McGowans Bericht für Weinstein(14) leicht anzufechten. Er könnte behaupten, die Sache ganz anders in Erinnerung zu haben, sie hätte den Eindruck erweckt, es würde ihr Spaß machen. Und er hätte sogar den perfekten Beweis dafür gehabt: ihren vorgetäuschten Orgasmus. Die alte Aufnahme auf dem Anrufbeantworter konnte von großer Bedeutung sein, denn damit würde man zeigen können, dass Weinstein seine Macht als Produzent ausnutzte, um sexuelle Gefälligkeiten zu erzwingen. Doch falls McGowan(12) die Aufnahme von vor zwanzig Jahren nicht mehr hatte, wäre es nur die Erinnerung an eine lange zurückliegende Nachricht, die ebenso leicht zu leugnen war.
Als Bericht einer Einzelnen würde McGowans Geschichte aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem klassischen »Er sagte, sie sagte«-Streit verkommen. McGowan(13) würde eine schreckliche Geschichte erzählen. Weinstein(15) würde sie leugnen. Da es keine weiteren Zeugen gab, würden die Leute Partei ergreifen: Team Rose gegen Team Harvey.
Allerdings hatte McGowan(14) erwähnt, sie hätte eine Abfindung erhalten. Es würde zwar schwer sein, Beweise dafür zu finden, doch waren Rechtsanwälte involviert gewesen, eine Vereinbarung war unterzeichnet worden, und Geld hatte den Besitzer gewechselt. Außerdem gab es eine Spende an das Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer. Irgendwo musste die Vereinbarung dokumentiert sein. Sie würde zwar nicht beweisen, was genau sich in dem Hotelzimmer abgespielt hatte, aber die Tatsache, dass Weinstein(16) damals eine beachtliche Summe an McGowan gezahlt hatte, um einen Disput beizulegen, konnte deren Aussage untermauern.
Jodi ging mit allem, was sie bis hierher in Erfahrung gebracht hatte, zu Rebecca Corbett(1), ihrer langjährigen Redakteurin bei der Times und Expertin für komplexe Ermittlungen. Sie besprachen, ob sich McGowans Sicht der Dinge bekräftigen ließe, und erörterten auch die wichtige Frage: Hatten andere Frauen ähnliche Geschichten über Weinstein(17) zu erzählen?
Das herauszufinden, würde enormen Aufwand kosten. Weinstein(18) hatte über die Jahrzehnte Hunderte von Filmen produziert oder verliehen. Zusammen mit seinem Bruder Bob hatte er zwei Unternehmen besessen und geführt: Miramax und The Weinstein Company (TWC); letztere führten sie noch immer. Es gab daher eine Menge von potenziellen Quellen, eine bessere Voraussetzung, als wenn nur ein kleiner Kreis von Menschen über heikle Informationen verfügte. Doch war die Zahl der zu kontaktierenden Leute erdrückend – Schauspielerinnen und ehemalige Angestellte, über verschiedene Kontinente verstreut, von denen die meisten vermutlich nur ungern reden würden.
Mitte Juni schlug Corbett(2) vor, Jodi solle ihre Kollegin Megan Twohey kontaktieren, die noch relativ neu bei der Zeitung war. Megan sei im Mutterschaftsurlaub, aber sie habe ein gutes Händchen für diese Art von Job, sagte die Redakteurin. Jodi konnte sich zwar nicht vorstellen, welche Hilfe genau Megan ihr bieten konnte, schickte ihr aber trotzdem eine E-Mail.
Als Megan Jodis E-Mail erhielt, kümmerte sie sich gerade um ihr Neugeborenes und erholte sich von der schlimmsten Zeit, die sie bis dato in ihrer Karriere als Reporterin erlebt hatte. Sie war im Februar 2016 zur Times gestoßen, um das Politikressort zu verstärken, und hatte über die Präsidentschaftskandidaten recherchiert. Die Stelle hatte sie nur zögerlich angenommen: Politik war bislang weder ihr Ressort noch von besonderem Interesse für sie gewesen.
Doch nur wenige Wochen nach ihrem Einstieg hatte Dean Baquet(1), Chefredakteur der Times, sie auf eine ganz spezielle Frage angesetzt, die genau in ihr Fachgebiet fiel: Hatte Donald J. Trump(1) in seinem Verhalten gegenüber Frauen jemals die Grenzen des Gesetzes und der Ethik übertreten? Megan hatte über mehr als zehn Jahre hinweg Sexualstraftaten und sexuelles Fehlverhalten aufgedeckt. Sie hatte enthüllt, wie in den Chicagoer Randbezirken Polizei und Staatsanwälte »Rape kits« zur Spurensicherung zurückhielten und so den Opfern jede Chance auf Gerechtigkeit nahmen, und wie Ärzte trotz sexueller Übergriffe auf Patientinnen weiter praktizieren konnten.[11] Später hatte sie einen Schwarzmarkt für Adoptivkinder aufgedeckt, über den auch einige an sexuelle Straftäter vermittelt worden waren.
Trump(2) hatte sich lange als Playboy oder zumindest als Karikatur eines solchen aufgeführt. Er war zum dritten Mal verheiratet und mit einer Reihe von Howard-Stern-Interviews ins Rennen um die Präsidentschaft eingestiegen, in denen er mit seinen sexuellen Heldentaten prahlte und Geschmacklosigkeiten über Frauen vom Stapel ließ, auch gegenüber seiner Tochter Ivanka.
Baquet(2) hörte bei diesen Prahlereien gleich die Alarmglocken läuten. War Trump(3) einfach nur promiskuitiv gewesen, dann gab es keine Story – die Zeitung steckte ihre Nase nicht grundlos in das Sexleben anderer Leute, auch dann nicht, wenn es sich um einen Präsidentschaftskandidaten handelte. Doch einige von Trumps Kommentaren waren am Arbeitsplatz gefallen, ein mögliches Zeichen für sexuelle Belästigung. Bei der von ihm mitproduzierten Show The Celebrity Apprentice, bei der er auch selbst auftrat, hatte Trump zu einer Kandidatin gesagt: »Das würde ja ein hübsches Bild abgeben, Sie so auf den Knien.«[12] Jahrzehnte zuvor hatte Ivana Trump, seine erste Ehefrau, ihn Berichten zufolge der Vergewaltigung in der Ehe beschuldigt, den Vorwurf dann aber kleingeredet. Baquet hatte bereits einen anderen Reporter, Michael Barbaro(1), beauftragt, Trumps Verhalten gegenüber Frauen zu untersuchen, und Michael und Megan sollten ihm nun die Frage beantworten, ob Trump nur ein Grobian war oder ob das Problem tiefer lag.
Die Berichterstattung lief zunächst nur schleppend an: Die meisten von Trumps früheren Angestellten waren an Vertraulichkeitsvereinbarungen gebunden,[13] seine bekannte Rachsucht gegenüber allen, die ihn verärgerten, hatte abschreckende Wirkung. Im Laufe der Jahre waren so viele Gerichtsverfahren gegen ihn angestrengt worden, dass es schwerfiel, die richtigen herauszusuchen.
Im Mai 2016 jedoch waren Megan und Barbaro(2) so weit, auf der Grundlage von Hunderten Akten und über fünfzig Interviews mit Menschen, die mit oder für Trump(4) gearbeitet hatten, mit ihm ausgegangen waren oder gesellschaftlich mit ihm verkehrt hatten, einen Artikel zu schreiben. Trump war ein mächtiger Mann, der sich Frauen gegenüber sehr widersprüchlich verhielt. Er konnte zu den Frauen, mit denen er arbeitete, liebenswürdig und ermutigend sein und hatte einige von ihnen in seinem Unternehmen in Spitzenpositionen befördert. Doch gab er ebenso gern endlose Kommentare über Frauenkörper ab und zeigte immer wieder ein verstörendes Verhalten am Arbeitsplatz.
Das Wichtigste aber war, dass Megan zusätzlich zu Ivana Trumps Vergewaltigungsbehauptung zahlreiche Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe zusammengestellt hatte.[14] Eine ehemalige Miss Utah hatte im Detail beschrieben, wie Trump(5) sie 1997 zweimal gewaltsam auf den Mund geküsst hatte: bei einer Gala nach dem Schönheitswettbewerb zur Miss USA und später während einer Besprechung in seinem Büro über ihre mögliche Modelkarriere. In zwei alten Gerichtsverfahren hatte eine ehemalige Geschäftspartnerin, die mit ihm gemeinsam einen Schönheitswettbewerb organisiert hatte, behauptet, Trump habe sie während eines Arbeitsdinners im Plaza Hotel unter dem Tisch begrapscht und sie bei einem anderen Arbeitstreffen in ein Zimmer geführt, wo er sie gewaltsam »geküsst, befummelt und gehindert« habe zu gehen.[15]
Höchste Vorsicht war geboten. Stand auch nur eine einzige Anschuldigung innerhalb einer der Storys auf wackeligen Beinen, konnte das den gesamten Artikel gefährden. Als eine frühere Teilnehmerin eines Schönheitswettbewerbs Megan erzählte, Trump(6) habe sie in seiner Villa in Palm Beach begrapscht, worauf sie panisch in ihr Zimmer geflohen sei und gleich ihren Vater angerufen habe, machte sich ein Kollege auf die Suche nach dem Mann und spürte ihn im Ausland auf. »Hab den Vater«, meldete der Kollege per E-Mail. »Kurz gesagt – er kann sich nicht erinnern, dass so etwas mit Trump passiert wäre.« Das hieß zwar nicht, dass die Frau gelogen hatte. Aber ihre Beschuldigung konnte in der Story nicht verwendet werden.
Der Artikel – in dem viele Frauen selbst zu Wort kamen – erschien am Samstag, dem 14. Mai 2016, im Morgengrauen (Eastern Time) und verbreitete sich in Windeseile. Er wurde schließlich zum bis dahin meistgelesenen politischen Times-Artikel des Jahres. Dass Trump(7), der bekanntlich an ihm geäußerte Kritik unverzüglich und auf bösartigste Weise attackiert, sich das ganze Wochenende über nicht zu der Sache äußerte, wurde als Zeichen der Stärke des Artikels interpretiert. Vor der Veröffentlichung hatten Megan und Barbaro(3) ein langes Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten geführt und seine Antworten, darunter auch sein Leugnen jeglichen sexuellen Fehlverhaltens und sein Beharren darauf, Frauen stets respektvoll behandelt zu haben, mit eingeflochten.[16]
Am Montagmorgen waren sie gerade im Green Room der CBS-Nachrichtensendung This Morning und bereiteten sich auf ein Interview zu dem Artikel vor, als Gayle King hereinkam und auf den Fernseher zeigte: »Habt ihr das gesehen? Rowanne Brewer Lane ist gerade bei Fox and Friends gewesen und hat eure Story kommentiert.«[17]
Brewer Lane war im Artikel als Erste zitiert worden. Das Ex-Model, das Trump(8) 1990 bei einer Poolparty in Mar-a-Lago kennengelernt hatte, beschrieb während eines Interviews, wie Trump sich ganz und gar auf sie konzentriert hätte, sie in ein Zimmer geführt und ermutigt hätte, einen Badeanzug anzuziehen, um sie dann den Gästen vorzuführen. Brewer Lane stellte nicht in Frage, wie sie im Hinblick auf das Geschehene zitiert worden war. Nicht einverstanden war sie mit der Einordnung des Ganzen als »entwürdigender, direkter Begegnung zwischen Trump und einer jungen Frau, die er kaum kannte«.
Die Darstellung machte innerhalb einer aus fünftausend Worten bestehenden Story, in der darauf hingewiesen wurde, dass sie danach auch weiterhin mit Trump(9) ausgegangen war, gerade mal eine Handvoll Absätze aus. Doch Brewer Lanes öffentliche Kritik gab Trump einen Anknüpfungspunkt, um den gesamten Artikel anzugreifen. Er machte sich ihre Kommentare sofort zu eigen und feuerte eine Reihe von Tweets zurück:
Die @nytimes ist so verlogen. Ihr gestriger Drecksartikel über mich ist gerade von Rowanne Brewer gesprengt worden. Sie hat gesagt, es ist alles Lüge!
[18]