Alexandra Bleyer ist (natürlich mit einem Jäger) verheiratet und lebt mit ihrer Familie am Millstätter See in Kärnten. Die promovierte Historikerin ist Autorin mehrerer populärer Sachbücher. In ihren in Kärnten angesiedelten Jägerkrimis geht es mit viel schwarzem Humor nicht nur Vierbeinern an den Kragen.
Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden und keinesfalls als Abbild der im Mölltal lebenden »echten« Menschen zu verstehen. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind zufällig und unbeabsichtigt; ebenso spiegeln die aus der Perspektive der Romanfiguren geäußerten Vorurteile beispielsweise gegenüber deutschen Nachbarn weder reale Verhältnisse noch die persönliche Meinung der Autorin wider.
Im Anhang findet sich ein Glossar zu Dialektausdrücken und Begriffen aus der Jägersprache.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Maria Heyens/Arcangel.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christine Derrer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-645-6
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur für Autoren und Verlage, Aenne Glienke, Massow.
Nit gschimpft is globt gnua.
Kärntner Sprichwort
Es war nicht die erste Leiche, mit der Martin Schober es zu tun hatte. Es war auch nicht sein erster Tatort. Denn dass es ein Tatort war, davon war er überzeugt, auch wenn so ziemlich alles für einen unglücklichen Unfall sprach.
Er schluckte und nahm, einem Impuls folgend, seine Dienstkappe ab. Die letzte Ehrerbietung für den Toten.
Der Anblick machte ihm zu schaffen. Die Trophäenwand des stolzen Schützen mit all den präparierten Tieren und den gebleichten Geweihen; und darunter der Jäger, dahingestreckt und irgendwie im Tod mit seinen Opfern vereint. Was für ein makabres Stillleben. Ein Bild, das er wohl nie loswerden würde.
»Flattacher«, seufzte Martin.
Sein Kollege Gerhard Koller war ihm gefolgt und hielt sich am Treppengeländer fest. Vermutlich war ihm ebenso flau im Magen wie Martin. Leider verschlug es ihm nicht die Sprache.
»Ein passendes Ende für einen Jäger, findest nicht auch?«, stieß er aus und grunzte. »Das war wohl die Rache vom Hirsch.«
»Gerhard!«
»Ist doch wahr. Der hat ausgejagert.«
Es war saukalt! Vinzenz Hinteregger rieb sich mit den Fingerrücken unter der Nase, die er bei den winterlichen Temperaturen kaum noch spürte. Als er die Hand senkte, fielen ihm im dämmrigen Morgenlicht die nass glitzernden Schlieren auf dem dunklen Wollhandschuh auf. Blöde Schnupfennase.
Auf die Uhr schauen wollte er gar nicht erst, denn dazu hätte er ein Stückerl Handgelenk freilegen müssen. Aber er saß gefühlte Stunden auf dem Hochsitz heroben, den er noch vor Tagesanbruch erklommen hatte.
Was gäbe er jetzt für die beheizbare Fleeceweste, die er sich als Weihnachtsgeschenk von Vinzenz für Vinzenz im »Haus der Jäger« in Spittal geleistet hatte. Allein die Vorstellung, dass er die ärmellose Weste – billig war sie ja nicht gewesen – unter seiner wasserfesten Winterjacke tragen könnte, löste in ihm ein wohlig warmes Gefühl aus.
»Mir ist nicht kalt«, murmelte er beschwörend vor sich hin.
Die ausgestoßene Atemluft bildete weiße Wölkchen vor seinem Gesicht, bevor sie von einem eisigen Windstoß hinweggefegt wurden. Weg waren auch die wärmenden Gedanken. Er bedauerte zutiefst, dass er die Weste heute Morgen nicht angezogen hatte. Dabei hatte er das Ding schon in der Hand gehabt, als er vor Verlassen des Hauses auf das Außenthermometer geschaut hatte. Doch im letzten Moment hatte ihn etwas davon abgehalten, in die Heizweste zu schlüpfen.
Nein, nicht etwas.
Jemand.
Ein kalter Schauer kroch über seinen Rücken, und er war nicht sicher, ob das allein an den tiefwinterlichen Temperaturen lag. Auch die Erinnerung an den gestrigen Tag ließ ihn erzittern. Ihm wurde regelrecht schlecht, als er daran dachte. Die traditionelle Treibjagd am Stefanitag war ein Höhepunkt im Jagdjahr, und alle Jäger der Hubertusrunde waren aufmarschiert, ohne Ausnahme. Im Kreis seiner Waidkameraden hatte Vinzenz voller Stolz seine Winterjacke geöffnet und den anderen das darunterliegende, nagelneue Hightech-Gwandl präsentiert. Reini Hader war ganz begeistert gewesen und wollte gar nicht mehr aufhören, am Heizstufenregler herumzudrücken. »Fühl mal, Sepp, des is klass.«
Doch was hatte der Herr Aufsichtsjäger geantwortet? Vor allen anderen. Laut und deutlich.
»So a Schas!« Das hatte Sepp Flattacher gesagt. Dabei hatte er die Weste gar nicht richtig angesehen; und den Vinzenz auch nicht. »Wer braucht denn so was? Lei a Prinzessin, aber sicha ka gštåndner Jaga!«
Mehr war nicht nötig gewesen, um Freude und Stolz über die neue Weste in Beschämung zu verwandeln. Statt dass die anderen Vinzenz um seine Wärmequelle beneideten, hatten sie ihn ausgelacht und sich gegenseitig versichert, dass sie so etwas nie anziehen würden. Echte Männer und Heizjacken! Pah! Dabei war Vinzenz überzeugt, dass sogar Karl Hartmann heimlich fußwärmende Einlagesohlen in seinen Jagastiefeln trug! Warum auch nicht?
Das leidvolle Thema war erst abgehakt, als Obfrau Irmi Leitner darauf hinwies, dass der Einserhirsch im Abschussplan noch frei war; dann vergaßen die anderen Vinzenz und seine Heizweste, und es drehte sich alles nur noch um das Rotwild und wo der beste Abschnitt im Jagdgebiet wäre, um den Einserhirsch zu erlegen. Zur Strecke gebracht wurde der Einserhirsch gestern jedoch nicht.
Was bedeutete, dass Vinzenz heute eine Chance auf ihn hatte. Irgendwie musste er die gestrige Blamage ausradieren, und was wäre besser geeignet, als den begehrten Hirsch zu erlegen? Wenn es eine höhere Macht gab, so musste sie doch Mitleid haben und ihm einmal, nur einmal im Leben ein bisserl Glück schicken!
Er schniefte und wischte sich nun mit der anderen Hand den tropfenden Rotz von den Nasenflügeln. Hätte er doch allen anderen zum Trotz die Weste angezogen! Hätte! Hätti-Täti-Wari. Aber nein, er hatte zu viel Schiss gehabt, einem Waidkameraden oder dem Teufel – also Flattacher – persönlich zu begegnen, wusste er doch, dass es in den letzten Jagdtagen im Revier nur so vor Jägern wimmelte.
Und was hatte er davon? Kalt war ihm! So furchtbar kalt!
Und daran war nur der Flattacher schuld. Der war und blieb ein gemeines, rücksichtsloses, gefühlloses Riesenarschloch. Der würde sich nie ändern! Das wusste jeder im Jagdverein; das raunte man sich auch hinter dessen Rücken zu. Das sollte ihm mal wer knallhart ins Gesicht brüllen. Irgendjemand sollte mutig aufstehen, auf den Tisch hauen und verkünden: »Sepp, du bist ein echter Arsch!«
Genau!
Der Gedanke ließ Vinzenz lächeln. Er malte sich aus, wie er bei einer Jagdvereinsversammlung genau das tun würde. Aufstehen. Die Faust auf den Tisch dreschen. Sepp hart ansehen und sagen: »Sepp, du bist …«
Ihm riss der Faden. Seine Phantasie reichte einfach nicht aus; besser gesagt konnte sich Vinzenz viel zu gut vorstellen, wie Flattacher darauf reagieren würde.
Er schluckte schwer. Lebensmüde war Vinzenz nicht.
Um sich abzulenken, griff er nach seiner Videokamera. Er richtete sie auf die nicht allzu steile Fratn vor sich, die er perfekt überblicken konnte. Dann rieb er sich die Hände, die trotz der dicken Handschuhe klamm zu werden drohten.
Da! War das nicht ein Knacken im dichten Gedaks?
Er beugte sich auf dem Sitzbrett nach vorn und griff gleichzeitig nach dem Fernglas, das am Lederband um seinen Hals hing, um den nahen Waldesrand abzusuchen.
Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen.
Ein verdammt großer Schatten! Sein Herz schlug schneller.
Nur ganz kurz senkte er das Fernglas, um die Videokamera einzustellen.
Ein Hirsch wagte sich zögernd auf die Lichtung heraus; Vinzenz konnte einen frustrierten Seufzer nicht unterdrücken. Von kapital konnte bei dem schmächtigen Sechsender keine Rede sein.
Schon wollte er das Fernglas sinken lassen, als ein zweiter Hirsch auftauchte. Ein Prachthirsch.
Der Hirsch.
Aufgeregt kontrollierte Vinzenz die Videokamera: läuft!
Wertvolle Sekunden, wenn nicht gar Minuten, verbrachte er damit, ganz, ganz sicherzugehen, dass es ein in den Abschussplan passender Einserhirsch war. Seit Flattacher ihn einmal wegen einem zu starken Schmalspießer zåmgschtaucht hatte, schaute er dreimal hin, bevor er abdrückte.
Sein Herz schien ihm bis in die Kehle zu pochen. Was für ein Hirsch! Lebend brachte der locker einhundertfünfzig Kilogramm auf die Waage und erst das Geweih! Eines war klar: Der Hirsch wäre das Aushängestück der kommenden Hegeschau. Alle würden die Trophäe bewundern und den glücklichen Schützen beneiden. Ihn!
Von wegen Prinzessin! Ha, dann würde selbst dem Flattacher nichts anderes übrig bleiben, als ihm Waidmannsheil zu wünschen. Mehr an Lob war von dem alten Grantnzipf allerdings nicht zu erhoffen, denn Sepp war kein Mann vieler Worte – außer er fand etwas zum Motschgan.
Aus der Ferne vernahm Vinzenz Motorengeräusche; ein Auto näherte sich vom Tal herauf. Der Forstweg zog sich unmittelbar unter der Fratn über den Bergrücken und war, da vom Bauern auch zu Waldarbeiten genutzt, mit geländetauglichen Fahrzeugen selbst um diese Jahreszeit zu befahren. So ein Pech! Natürlich hatte auch der Hirsch das herannahende Auto wahrgenommen und verhoffte nun wenige Meter über dem Weg. Wenn er nur nicht absprang …
Jetzt hieß es schnell sein. Vinzenz tastete nach dem Gewehr und legte es an. Auch die Videokamera hatte den Hirsch im Blick und würde den Moment größten Stolzes für alle Ewigkeit festhalten.
Er leckte sich die Lippen. Pfui Teufel, keine gute Idee, wenn die Nase tropfte.
Egal. Der Hirsch stand brettlbreit da; ideal für einen Blattschuss. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.
Ein Schuss knallte.
Wie vom Blitz getroffen, brach der Hirsch zusammen. Durch das Zielfernrohr konnte Vinzenz beobachten, wie er noch kurz schlegelte. Das war ein perfekter Schuss wie aus dem Lehrbuch gewesen. Nicht einmal ein Flattacher würde daran etwas auszusetzen haben.
Der einzige Haken daran? Vinzenz hatte noch gar nicht abgedrückt.
Das Auge weiterhin ans Fernrohr gepresst, schwenkte er langsam die Waffe, bis ein dunkler Land Rover in sein Sichtfeld kam. Aus dem heruntergelassenen Fenster der Fahrertür ragte ein Gewehrlauf heraus.
Gerade noch rechtzeitig konnten Kerstin und Martin der Horde ausweichen, die sie mit seltsam steifem Gang niederzuwalzen drohte. Die Gesichter vermummt, mit Helmen oder flauschigen Hauben auf dem Kopf – und ja, die eine oder andere davon hatte Wickie-Plüschhörner – waren die Personen nahezu unkenntlich. Dazu passte auch das Tschepern der offenen Skischuhschnallen, das durchaus Ähnlichkeit mit den Kuhglocken hatte, die bei Krampusläufen schaurige Stimmung verbreiten sollten. Allerdings waren die Mitglieder der Perchtengruppen weitaus agiler und koordinierter in ihren Bewegungsabläufen als die müden vom Skigebiet am Ankogel ins Hotel zurückkehrenden Wintersportler, die mit den klobigen Skischuhen über den Parkplatz torkelten.
»Wie die Zombies!«, schimpfte Kerstin. »Passts doch auf!«
Sie duckten sich, als sich ein Tourist zu seinem Freund umwandte und sie mit den über der Schulter liegenden Ski beinahe geköpft hätte. Das Risiko, beim Perchtenumzug von einer Rute erwischt zu werden, schätzte Martin geringer ein.
»Oh! I’m sorry!«
»Be careful!«, ermahnte Kerstin ihn. »Sonst Aua!«
Den Dienstwagen hatten sie etwas ungünstig geparkt, und Martin achtete darauf, dass er nicht zu Schaden kam. Während die meisten Mölltaler in der Bergwelt quasi mit den Brettln aufwuchsen und bereits im Alter von drei Jahren nach dem Motto »Wer bremst, verliert« den Steilhang runterrasten, war vielen Touristen der Umgang mit der Skiausrüstung wenig vertraut.
»Mich wundert, dass auf den Pisten nicht mehr passiert«, regte sich Kerstin auf. »Wenn sie überhaupt auf den Pisten bleiben! Ich hasse die Idioten, die keine Ahnung vom Berg haben und noch bei Lawinenwarnstufe 4 ins freie Gelände fahren. Als ob die Bergretter nichts Besseres zu tun haben, als sie auszugraben.«
Sie stiegen ins Auto, und Kerstin ließ den Motor an.
»Wer sagt’s dem Chef?«, fragte sie.
Martin zog seinen Notizblock hervor und blätterte darin. Unabhängig von Skifahrern, die auf den Hängen kollidierten, weil die Ski mit ihnen und nicht umgekehrt fuhren: Langeweile würden sie in den nächsten Wochen wohl nicht fürchten müssen.
»Du«, antwortete er, mehr um sie zu ärgern.
»Sicher nicht!«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu und schaltete einen Gang zurück, weil vor ihnen ein Winterdienstfahrzeug dahinzuckelte, der Gegenverkehr jedoch kein Überholen zuließ. Und allzu eilig hatten sie es nicht, in der Polizeiinspektion einzurücken und Postenkommandant Georg Treichel Rede und Antwort zu stehen.
Martin hob den Notizblock und schwenkte ihn neben ihrem Gesicht. »Ich schreib, du redest.«
»Vergiss es! Der Treichel zuckt aus. Das ist nicht gut für seinen Blutdruck, der ist eh schon zu hoch!«
»Dann wirst du es ihm schonend beibringen müssen. Weißt eh, mit viel Einfühlungsvermögen und – Aua!«
Kerstin beherrschte – typisch Frau? – Multitasking: Sie konnte Autofahren und zuschlagen zugleich.
Vielleicht sollte er das mit dem Ärgern noch einmal überdenken. Kerstin war eindeutig nicht in der Stimmung für lockeres Geplänkel, und das hatte weniger mit ihrer Arbeit als Polizistin zu tun als mit ihrem Privatleben. In der Beziehung mit dem Spittaler Kollegen Michl Berger, in die sie sich im Herbst gestürzt hatte, schien jetzt Funkstille zu herrschen. Zuvor Liebesurlaub am Meer, bei dem die beiden kaum aus dem Hotelzimmer gekommen waren, wie Kerstin mit Herzerln in den Augen und ohne Rücksicht auf Martins Schamgrenze berichtet hatte; dann aber war keine Rede mehr von einem gemeinsamen Weihnachtsfest. Was genau los war, wusste Martin nicht. Obwohl Kerstin sonst überaus mitteilsam war, zeigte sie sich gegenwärtig ungewohnt schweigsam. Und mit ihrer Laune konnte sie schon fast dem cholerischen Gerhard Koller Konkurrenz machen.
»Okay, machen wir es gemeinsam«, gab Martin sich daher kompromissbereit und rieb sich verstohlen den Oberschenkel.
»Gute Idee. Du erzählst es ihm, und ich koch ihm einen Kaffee.« Kerstin hatte eine recht eigenwillige Vorstellung von Arbeitsteilung. »Hoffentlich hat Gerhard ein paar Kekse übrig gelassen! Die wird der Chef brauchen.«
Sie waren ein eingespieltes Team. Auf der Polizeiinspektion eingetroffen, eilte sie voraus in den Aufenthaltsraum und aktivierte die Kaffeemaschine. Das stoßweise Knattern des Aufheizvorganges hatte auf der PI Signalwirkung, durchaus vergleichbar mit jener einer Sirene auf Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr.
Gerhard trottete wie ferngesteuert herein und holte sich seine Tasse aus dem Oberschrank, ein Erinnerungsstück an seinen Mallorca-Urlaub. Die Angst, jemand aus der Kollegenschaft könnte diese unerlaubt verwenden, war völlig unbegründet. Eher würde Martin den Kaffee aus einem Glas trinken, bevor er diese Tasse nahm, prangte darauf doch ein Urlaubsfoto von Gerhard mit seiner Holden.
Noch bevor Martin an Treichels geschlossene Kanzleitür klopfen konnte, wurde diese aufgerissen. Wie gesagt: Feuerwehrsirene.
»Gibt’s was Neues?«, fragte Treichel.
»Leider ja.«
Martin folgte dem Chef in den Aufenthaltsraum.
Kerstin schob achtlos den vertrockneten Adventskranz mit den niedergebrannten Kerzen zur Seite, der immer noch auf einer zerknudlten Serviette mit kitschigen Weihnachtsmännern mitten am Tisch stand; noch hatte sich niemand erbarmt und ihn entsorgt. Zwar war Martin heute Morgen geneigt gewesen, ihn in der Biomülltonne zu versenken, aber dann hatte er mit sich selbst gewettet: Würde der Adventskranz noch zu Ostern dastehen? Gut möglich.
Treichel sackte auf seinem Lieblingsplatz auf der Eckbank nieder, Kerstin stellte die Kaffeetasse vor ihm hin, bevor sie ihm auffällig unauffällig den noch immer gut gefüllten Keksteller heranschob. Es war der Letzte seiner Art im ausklingenden Jahr. Seit Mitte November hatten edle Spenderinnen immer wieder Kostproben aus den häuslichen Backstuben vorbeigebracht – sie hatten schon gewitzelt, dass die fleißigen Bäckerinnen die Polizei anfüttern wollte, allerdings waren Hintergedanken bei diesen auszuschließen; in einer gemeinsamen Kraftanstrengung hatte die gesamte Polizeidienststelle dafür gesorgt, dass sie nicht schlecht wurden. Obwohl Martin, wenn er ganz ehrlich war, jetzt nach Weihnachten auf Kekse verzichten konnte. So wie der Reindling mit Schinken und scharfem Kren ausschließlich zu Ostern schmeckte, passten sie für ihn nur in der Adventszeit. Schon am Heiligen Abend wollten sie nicht mehr richtig rutschen.
Der Chef starrte auf Kaffee und Gebäck und hob dann mit einem Seufzer den Kopf. »So schlimm?«
»Nervennahrung«, erwiderte Kerstin. »Kann nicht schaden.«
»Hättets halt die blöden Kaninchen behalten und nicht an den Kindergarten verschenkt. Dann könntets jetzt die Viecherln kraulen als Entspannungstherapie.« Gerhard lachte hämisch und machte mit der begleitenden Scheibenwischergeste klar, was er davon hielt.
Ehrlich gesagt waren Martin die Kaninchen ans Herz gewachsen, sowohl das durch Kerstin mutig gerettete Lenchen wie auch der kleine Willi, den Treichel in der Tierhandlung gekauft hatte, damit Lenchen nicht so allein war. Allerdings hatten sie am Posten dieselbe Erfahrung gemacht wie viele Eltern, die sich von ihren Kindern dazu breitschlagen ließen, ein Haustier anzuschaffen: Niemand wollte den Käfig sauber machen; von Kerstin entworfene Putzpläne waren ebenso nutzlos wie der auf dem Küchenkasten aufgehängte Zettel, der daran erinnerte, doch bitte das gebrauchte Geschirr in den Geschirrspüler zu räumen. Daher: Kindergarten.
»Weißt, was noch a gute Nervennahrung wäre?«, fragte Treichel. »Rumkugeln. Oder meinetwegen auch Linzeraugen. Heute in der Früh waren noch sieben Linzeraugen und acht Rumkugeln da. Und jetzt? Ist nur noch trockenes Grafl da! Irgendwer hier frisst den anderen immer die Besten weg!«
Es war ein offenes Geheimnis, dass sich Gerhard wie ein Geier auf jeden neu eintreffenden Keksteller stürzte und das Unterste nach oben kehrte, um an seine Lieblingssorten zu gelangen – die aber auch den anderen schmeckten.
»Es kann doch wohl jeder nehmen, was er will«, verteidigte er sich.
»Kollegial ist das aber nicht«, polterte Treichel.
»Du pickst dir überall die Rosinen heraus«, legte Kerstin noch einen drauf. »Wie bei der Arbeit!«
Mit knallroten Ohrwaschln fuhr Gerhard vom Stuhl hoch und stützte seine Hände auf den Tisch. »Was soll denn das heißen? Ha?«
»Du drückst dich, wo du nur kannst!«
Normalerweise nahm Kerstin den Kollegen mit Humor oder beschränkte sich aufs Sticheln, aber jetzt traf ihre Liebeskummerlaune auf Gerhards Dauergrant; eine Kombination wie Schießpulver und Flammenwerfer.
Zum Glück war Treichel nicht gewillt, sich das Theater lange anzusehen.
»Schluss damit!«
»Chef, das muss ich mir von der Kerstin nicht bieten lassen! Sie –«
»Schluss, habe ich gesagt!«
Gerhard kniff trotzig die Lippen zusammen, knickte aber unter Treichels hartem Blick ein und sagte – vorläufig – nichts mehr. Martin war aber sicher, dass sich die beiden sofort wieder an die Gurgel gehen würden, sobald der Chef außer Hörweite war. Der heutige Dienst drohte sehr, sehr lang zu werden.
»Also, Martin, was gibt’s Neues?«
Treichel nahm sich gleich zwei Kekse – Hausfreunde, wenn Martin richtig riet – auf einmal. Wie war das mit dem Teufel in der Not? So trocken konnten die als Grafl geschmähten Leckereien also gar nicht sein.
»Es gab einen Einschleichdiebstahl im ›Hotel Bergjuwel‹. Einer Niederösterreicherin wurde neben Geld ein wertvoller Smaragdring gestohlen.«
»Selba schuld. Was nimmt sie denn teuren Schmuck mit in den Urlaub«, gab sich Gerhard unberührt. »Den wird wohl ein Stubenmadl gfladert haben.«
»Vielleicht. Aber der Tathergang …« Martin wechselte einen Blick mit Kerstin und holte tief Luft. »Sie gab an, dass ihr der Ring direkt vom Finger gestohlen wurde, während sie schlief.«
»Wie bitte? Die muss das doch gemerkt haben«, japste Gerhard.
»Die hat bummfest geschlafen«, sagte Kerstin.
»Betäubt?«, fragte Treichel und zog sich den Teller heran.
»Après-Ski.«
»Wir haben die Aussage vom Barkeeper. Die Dame ist am Abend recht lang an der Bar gesessen.« Er hatte ihnen den Beleg des Getränkekonsums gezeigt. Hätte Martin das alles getrunken, hätte man ihn auch aus dem Zimmer tragen können, ohne dass er etwas mitbekommen hätte.
Treichel inhalierte die letzten Kekse und spülte sie mit seinem Kaffee hinunter, bevor er die leere Tasse etwas zu kräftig absetzte. Nur drei steinharte Kokosbusserln blieben einsam und verlassen übrig. Die wurden Vanessa Liebeteggers Mutter zugeschrieben, sodass jeder hier einen weiten Bogen um sie machte. Da ihre Kollegin Vanessa ihre Stunden auf fünfundsiebzig Prozent erhöht hatte, war in Zukunft wohl wieder öfter mit den dubiosen Koch- und Backkünsten ihrer Mutter zu rechnen.
»Diebstähle in Hotels gibt’s ja immer wieder, Gelegenheit macht Diebe«, brummte Treichel.
»Ob’s derselbe Täter war wie im ›Hotel Tauernblick‹?«, überlegte Martin laut.
Dort hatte es in der Woche vor Weihnachten zwei Fälle gegeben: ein Griff in die Kassa der Rezeption und eine Runde durch die Hotelzimmer, wobei aus zweien davon Bargeld und eine Uhr entwendet worden war. Sie hatten, da gleicher Betrieb und nur zwei Tage zwischen den Taten, entweder auf einen Gast oder einen Mitarbeiter getippt. Bei Diebstahlserien an ein und demselben Ort mit eingeschränktem Täterkreis, wie in einer Firma, war es oft zielführend, einen beispielsweise mit Silbernitrat präparierten Köder auszulegen. Schlug der Täter zu, konnte man ihm durch die Rückstände an den Fingern oder an der Kleidung den Diebstahl nachweisen. So waren sie auch im Hotel vorgegangen; leider ohne Erfolg.
»Möglich. Ausschließen können wir nichts. Aber das mit dem Ring vom Finger ist verdammt frech. Was, wenn das Opfer aufwacht?« Man konnte förmlich zusehen, wie Treichels Blutdruck in die Höhe schoss. Sein Gesicht nahm eine dunklere Tönung an. »Was dann? Wird dann aus einem Einschleichdiebstahl ein Überfall?«
»Warum nicht gleich ein Raubmord?« Gerhard schnaubte in seine Tasse, warf aber über deren Rand hinweg Martin einen provokativen Blick zu. »Das wäre was für dich, oder? So als Ausklang vom alten Jahr oder um gut ins neue zu rutschen?«
»Damit macht man keine Witze!«, erwiderte Martin.
Treichel stand auf, zog sich den Hosenbund zurecht und strich sich über das Hemd, das sich mehr als sonst über seinen Wåmpm spannte. Die Feiertage waren am Chef nicht spurlos vorübergegangen und unterwarfen die Knöpfe dem ultimativen Belastungstest.
»Ich mag keine übermütigen Diebe. Das kann zu schnell ins Auge gehen. Da müssen wir wachsam sein! Gut, dass wir mit dem 1. Januar endlich Verstärkung bekommen.«
Treichel hatte sich in den letzten Monaten vehement um den personellen Ausbau seiner Dienststelle bemüht, was mit mehr Bürokratie verbunden gewesen war, als selbst einem eingefleischten Beamten wie ihm lieb sein konnte.
»Ah ja. Ein unerfahrener Polizeischüler und ein Grufti aus Villach, oder?«, zeigte sich Gerhard skeptisch. »Der eine wird nicht wissen, wo beim Kuli oben und unten ist, und der andere wird keinen Kuli mehr angreifen wollen!«
»Und eine ganz gewiefte junge Kollegin. Die hat in Graz studiert, bevor sie zur Polizei ging«, ließ sich Treichel seine Freude nicht nehmen.
»Was denn? Psychologie? Oder was Gscheites?«
»Eine Haus- und Hofpsychologin könnten wir für dich eh gut brauchen, Gerhard«, raunzte Kerstin ihn an. »Die könnte deinen Koller austherapieren!«
Während Martin die leeren Kaffeehäferln in den Geschirrspüler räumte, öffnete Kerstin das Fenster und warf die Kokosbusserln in hohem Bogen hinaus.
»Die Vogalan freuen sich darüber!«, erklärte sie achselzuckend.
Nur der Koller war sitzen geblieben und nuckelte an seinem halb vollen Kaffee.
Treichel hieb ihm von hinten seine Pranken auf die Schultern. »Und wir zwei gehen jetzt raus Radarmessen«, befahl er.
»Was?«, brachte Gerhard mühsam heraus; er hustete heftig. »Draußen hat’s gefühlt minus zwanzig Grad!«
Treichels fieses Grinsen hätte jedem Horrorclown zur Ehre gereicht. »Eben.«
»Jetzt werden wir wohl alt, Akko«, brummte Sepp. »Bleiben faul daham und zählen die Tage bis zur Schonzeit, statt dem Einserhirsch hinterherzujagen. So weit ist’s gekommen mit uns, ha?«
Der Wachtel hob nicht einmal die stark ergraute Schnauze von seinen Pfoten. Gerade einmal ein Blinzeln ließ er sich herauslocken. Sepp beugte sich hinunter und tätschelte ihn, bevor er noch ein Buchenscheit im Holzofen nachlegte. In der Küche hielt es wohlig warm.
Dann zog er die auf der Eckbank liegende karierte Wolldecke glatt, die zerschlissene Stellen in der altersschwachen Polsterung verdeckte, und ließ sich mit einem Ächzen nieder; fest entschlossen, so schnell nicht wieder aufzustehen.
Vor ihm lag ein Pack Jagdzeitschriften, die ihm Karl Hartmann gestern überlassen hatte. Die Ausgaben waren zwar nicht mehr topaktuell, die jüngste stammte vom letzten März, aber der nächste Frühling kam bestimmt. Er klaubte sie durch und stieß auf ein Hochglanzmagazin, von dessen Cover ihm eine fesche Frau entgegenlachte. Mit den dunklen Haaren und den rot geschminkten Lippen erinnerte sie ihn verflixt stark an Irmi, nur dass das Fotomodell etliche Jahre jünger war als die Obfrau der Hubertusrunde.
»Die JägerIn«, murmelte Sepp anerkennend, betrachtete das Cover etwas länger als nötig, bevor er die Zeitschrift aufschlug.
Der unerwartete Höllenlärm von draußen vergällte ihm den Beitrag über die Gamsjagd. Akko verkroch sich mit einem Winseln unter der Eckbank, wobei nicht ganz sicher war, ob es das Kreischen von draußen oder Sepps wütendes Fluchen war, das den Fluchtinstinkt des Wachtels ausgelöst hatte.
So tepat konnte nicht einmal der Heinrich Belten sein, dass er im Dezember den Rasenmäher anwarf!
Im Flur stieg Sepp in die Jägerstiefel und machte sich nicht die Mühe, die Schuhbänder zu verknoten, bevor er aus dem Haus stürmte.
»Belten!«
Der Piefke hörte ihn nicht, was Sepp nicht verwunderte, denn er trug einen orangefarbenen Ohrenschützer, wie man ihn von Bauarbeitern kannte, über der dicken Wollhaube mit Bommel. Mit sichtlicher Begeisterung schob er eine Schneefräse vor sich her.
Prüfend schaute Sepp zu Boden. Nein, in der letzten Stunde war kein Meter Neuschnee hinzugekommen. Nicht einmal drei Zentimeter Schnee bedeckten Sepps Einfahrt, und da das Wetter am Nachbargrundstück nicht gar so viel schlechter und der Belten beim Schneeschaufeln keineswegs säumig gewesen war, zahlte sich auch dort keine Schneefräse aus.
Sepp rieb sich fröstelnd die Oberarme. Er hatte vergessen, sich einen Janker überzuwerfen; nur im Hemd war es eindeutig zu kalt, zumal ein eisiger Wind pfiff. Er stapfte durch den Schnee, der den Grünstreifen zwischen regelmäßig geräumter Auffahrt und Gartenzaun bedeckte. Er bückte sich nach einer ordentlichen Handvoll Schnee und presste ihn zu einem kompakten Ball zusammen.
»Belten!«, brüllte er noch einmal.
Teixl eine! Seine Treffsicherheit ließ zu wünschen übrig. Traf er auf der Schießscheibe locker den begehrten Zehner, verfehlte er Belten deutlich. Der weiße Batzen landete auf der seitlichen Abdeckung der Schneefräse. Verärgert runzelte er die Stirn.
Na, vielleicht beim zweiten Mal.
Er nahm sich eine weitere Portion Schnee, aber da war der Nachbar schon auf ihn aufmerksam geworden und hatte die Schneefräse abgestellt. Belten – was waren das für Ungetüme an seinen Füßen, hießen die nicht Moonboots? – stampfte heran. Dick eingepackt war er, wie für eine Expedition zum Nordpol!
Selbstverständlich dachte Sepp keinen Augenblick daran, den bereits geformten Schneeball zu verschwenden. Er wartete, bis der Herr Nachbar den Zaun fast erreichte hatte, und … Na bitte! Ein Zehner! Er hatte es noch drauf!
»Aua!«
»Geh, das hast ja gar nicht gespürt durch die Jacke, du Eskimo, du!«
Nett, wie Sepp war – die Nachwehen der wehmütigen Weihnachtsstimmung? –, hatte er nur auf Beltens Brust gezielt, statt ihm den Schneeball mitten ins Gfris zu knallen, wie er es verdient hätte.
»Inuit. Das heißt Inuit. Ich hab eine Doku im Fernsehen gesehen, zur politisch korrekten Sprache. Die haben Paul Watzlawick zitiert, ›Sprache schafft Wirklichkeit‹. Und Eskimo sagt man nicht mehr.«
Belten putzte sich mit seinen Wurstfingern den Schnee von der Jacke.
»Aber Depp darf ich zu dir noch sagen? Was ist mit Toker? Todl?«
»Ach, hör doch auf«, murrte Belten nur.
Sepp hätte noch genügend treffende Bezeichnungen für Belten auf Lager gehabt, aber wenn der sich nicht darüber ärgerte, hatte das keinen Reiz.
»Seit wann hast du denn eine Schneefräse?«
»Ein Weihnachtsgeschenk von der Carola. Damit ich es leichter habe im Winter. Wir werden ja nicht jünger, gell? Wenn du sie dir ausborgen möchtest –«
»Meinst, ich bin schon so altersschwach wie du, dass ich keine Schneeschaufel mehr halten kann? Und für das Pazl Schnee reicht a Besen a!«
Kopfschüttelnd wandte sich Sepp ab. Er war jedoch keine drei Schritte gegangen, als etwas auf seiner Schulter aufklatschte. Irritiert tastete er danach. Es war etwas … Matschiges. Kaltes. Nasses.
Ungläubig fuhr er herum.
Doch den Belten sah er nur noch von hinten, wie er davonrannte. Na warte!
Seine Rachepläne mussten aber vorerst aufs Abstellgleis, denn als er ins Haus zurückgekehrt sein Handy aus der an der Garderobe aufgehängten Jacke kramte, piepste es. Über das Display zog sich ein gewaltiger Schrick. Das Glump war eindeutig einmal zu viel abgestürzt, aber mit ein bisserl Tixo konnte man fast alles reparieren. Sepp war nicht bereit, sich ein Neues zu kaufen, so lange es noch funktionierte, zumal er sich nach Jahren endlich an das Modell gewöhnt hatte und es so halbwegs bedienen konnte. Das SMS vom Jagdkameraden Walter Liebetegger konnte er auch so zum größten Teil entziffern. »Einserhirsch« und »16 Enden« stand da und was von »Hirsch feiern« beim Walter daheim.
Da musste er wohl oder übel ausrücken, allein schon um zu prüfen, ob das richtige Stück erlegt worden war. Gerade den jüngeren unter den Jagdkameraden traute er so ziemlich alles zu, nur nichts Gutes. Pfeif aufs Vertrauen! Ohne Kontrolle ging gar nichts. Oder wie war das mit dem Jäger, der ganz stolz auf Gas und Kitz geschossen hatte und beim Aufklauben feststellte: Oha, es waren doch Tier und Kalb! Wie man Rehe – selbst auf größere Entfernung – mit Hirschen verwechseln konnte, war Sepp schleierhaft. Aber mit solchen Idioten hatte er es im Verein zu tun, und deshalb war er nun gezwungen, sein gemütliches Haus zu verlassen.
Er füllte noch die Hundeschüssel mit frischem Wasser und zog sich warm an. Dann ging es den Pfaffenberg runter und auf der Bundesstraße nach Rojach. Nur kurz ärgerte er sich über einen jugendlichen Raser, der ihn nach dem westlichen Ortsende von Obervellach mit seinem PS-starken Audi Quattro überholte und dann abrupt in die Eisen stieg. Sepp bremste leicht ab, um erkennen zu können, welcher von den Kieberern so übereifrig war, bei den Temperaturen Radar zu messen. Eh klar! Gerhard Koller, mit dem er schon oft genug zu tun gehabt hatte. Sepp winkte mit dem Mittelfinger und hoffte, dass der Abgezwickte sich die Klåppan abfror!
Vinzenz krallte seine Finger um das Lenkrad. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er Walters Einladung zum Hirschfeiern folgen sollte oder nicht. Er stellte das Auto am Straßenrand ab – Walters Hauseinfahrt war schon von anderen Fahrzeugen zugeparkt – und legte sich die Hand auf den Bauch. Ärger wie dieser schlug ihm immer auf den Magen. Er hatte vermutlich schon ein Geschwür. Oder einen Krebs. Gleich am nächsten Montag würde er zum Arzt und für mindestens eine Woche in den Krankenstand gehen.
Er hasste Konfrontationen und ging einem Streit aus dem Weg, wo er nur konnte. Böse Zungen behaupteten, er ließe sich unterbuttern, so wie im Job, wo er bei Beförderungen regelmäßig übergangen wurde. In diesem Fall war er aber sicher, dass nicht er es war, der den Kampf mit Walter ausfechten musste; oh nein. Es genügte voll und ganz, Sepp über Walters Verstoß gegen das Jagdgesetz zu informieren, und dann würde der dem Hundling den Kopf herunterreißen, während Vinzenz händereibend danebenstand. Ha! Da ging es seinem Magen gleich ein wenig besser.
Walters Haus präsentierte sich strahlend weiß; nur Dach und Fenster waren dunkel, beinahe schwarz. Das Innere des Hauses war nicht weniger nobel, denn Walters bessere Hälfte Manuela hatte einen guten und vor allem teuren Geschmack, zumindest, was Gegenstände betraf. Mit Walter hatte sie seiner Meinung nach keine so gute Wahl getroffen. Allerdings war klar, dass die beiden die mit bunten Glaseinlagen verzierte Haustür nicht für einen Haufen angetrunkener Jäger aufsperren würden, oh nein. Für sie hieß es, den Weg an der Garage vorbei zum Anbau einzuschlagen, wo sich Walter ein kleines Reich eingerichtet hatte, das jedes Jägerherz höherschlagen ließ. Als Geschäftsführer im familieneigenen Baumarkt in Obervellach saß Walter an der Quelle: Der großzügige Raum für die Wildverarbeitung war weiß gefliest, die Edelstahlarbeitstische aufgeräumt. An den Wänden waren die notwendigen Werkzeuge in Reih und Glied aufgehängt. Die Kühlkammer selbst bot reichlich Platz für ein paar Stück Wild; durch ein schmales Sichtfenster konnte man hineinschauen.
Aus einem Radio drangen moderne Schlager, von den Fleischhaken baumelten Girlanden und Luftschlangen. Vermutlich war es Manuela gewesen, die versucht hatte, etwas Partystimmung in den steril und kalt wirkenden Raum zu bringen. Von Kopf bis Fuß in lila gekleidet und mit High Heels an den Füßen, für die man einen Waffenschein bräuchte, stach sie unter all den grün gewandeten Waidmännern und -frauen hervor. Vinzenz konnte seinen Blick kaum von ihr lösen. Das dunkelblonde Haar fiel ihr offen in Wellen auf die Schultern, mit ihrer Figur würde sie in den »Playboy« passen, und ihr Gesicht könnte das eines Engels sein, wenn sie nur etwas lieblicher dreinschauen würde. Nicht so missmutig wie gerade jetzt. Man merkte ihr deutlich an, wie verloren sie sich unter all den Jägern fühlte und dass sie die Minuten zählte, bis die unwillkommenen Gäste wieder gingen.
Sie gesellte sich auch nicht zu den anderen, die mehrheitlich bereits an den Biertischen saßen, sondern stand abseits in der Ecke. Vinzenz hätte sie gern angesprochen, aber er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Außerdem war sie mit Walter verheiratet. Das ernüchterte ihn schlagartig.
Leider war Sepp Flattacher noch nicht da, wie Vinzenz enttäuscht feststellte. Er nahm sich ein Bier aus einer der am Boden stehenden Kisten.
»Vinz«, begrüßte Reini Hader ihn. »Hast den Hirsch schon gesehen?«
»Früher als du«, murrte er und sah sich suchend um.
»Du bist doch gerade erst gekommen«, erwiderte Reini verwirrt.
Er war nicht der Hellste, aber schlau genug, um zu schnallen, was Vinzenz brauchte, denn er drückte ihm einen Bieröffner in die Hand.
Hm. Und der Reini war ganz dick mit dem Sepp Flattacher. Warum sollte er nicht der Erste sein, der von dem Skandal erfuhr?
Vinzenz beugte sich verschwörerisch näher an den Jüngeren heran. »Weißt, Reini, ich hab den Hirsch auch schon vor dem Walter gesehen!«
»Ach, echt?«
»Oh ja! Das war nämlich so, dass –«
Aber Reini sah über Vinzenz’ Schulter hinweg und fing auf einmal an, breit zu grinsen.
»Dani!« Er winkte mit dem Arm über den Kopf, als ob er einen Hubschrauber einweisen wollte. »Herzibinki!«
Reinis Freundin stürmte heran und warf sich in seine Arme. Verlegen nahm Vinzenz einen Schluck, während sich die beiden noch sehr frisch Verliebten abschmusten.
»Also, wegen dem Hirsch«, versuchte Vinzenz es noch einmal, als Reini wieder Luft bekam, aber der hatte nur noch Augen und Ohren für seine Holde.
So leicht gab Vinzenz sich jedoch nicht geschlagen und folgte den beiden in den hinteren Teil des Raumes, wo in einer schweren, eisernen Feuerschale das imposante Hirschhaupt ruhte. Vinzenz bekam kaum Luft, als er die Trophäe aus der Nähe betrachtete. Er hätte weinen können.
»Boah, schau dir den an! Das ist ein Sechzehnender«, erklärte Reini seiner Dani. »Ein Wahnsinn!«
»Das war ein Mordstrum von einem Hirsch«, prahlte Walter, der neben dem Geweih stand und stolz die Hand um eine Sprosse legte. »Der hat ausgeweidet noch hundert Kilo auf die Waage gebracht.«
Damit nickte er zum Kühlhaus hin, und der Reini ging brav weiter und schielte folgsam wie ein Schoßhündchen durchs Fenster hinein. »Schau, Dani! Da hängen die Schnitzel.«
Vinzenz blieb vor dem ausladenden Geweih stehen. So ein Hirsch. So ein Prachtstück! Wenn nur er …
»Solche Hirsche schießt man sonst nur in Ungarn, was? Na ja, die Auhirsche sind schon ganz was anderes als unsere Berghirsche, die sind ja viel schwächer gebaut. Aber der Hirsch da, der bekommt einen Ehrenplatz an meiner Wand.«
Stolz packte Walter das Geweih und drehte es leicht, damit Vinzenz es ausgiebig bewundern konnte.
Vinzenz zuckte nur mit den Schultern und kniff die Lippen zusammen.
Sichtlich verärgert ließ Walter das Geweih los.
»Und?«
»Was und?«, brachte Vinzenz trotzig heraus.
»Willst mir kein Waidmannsheil wünschen?«
Vinzenz schluckte, wich dem Blick des anderen aus und presste das Wort hastig und leise hervor. Er musste gegen Tränen ankämpfen, Tränen der hilflosen Wut. Er ballte seine freie Hand zur Faust. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Wenn es etwas wie Gerechtigkeit gab, dann …
In dem Moment kam Flattacher zur Tür herein.
»Ich … ich habe dich gesehen«, stieß er hervor.
»Was?«
»In der … oben in der Fratn!« Vor lauter Aufregung fing er auch noch zu stottern an. Er hatte das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen. »Wo du den Hirsch geschossen hast! Ich hab … habe alles gesehen! Ich weiß, was du getan hast!«
Walter runzelte die Stirn. »Ach ja? Und wo warst du?«
»Am Hochsitz. Wenn das der Sepp erfährt, dann kannst du zåmpåckn!«
Ha! Jetzt grinste Walter nicht mehr, sondern sah nervös zum Aufsichtsjäger hinüber, der von Toni Brugger aufgehalten worden war.
Wie gut fühlte es sich an, mutig seinen Mann zu stehen! Stolz zog Vinzenz die Schultern zurück. »Sepp! Sepp!«
»Ich mein ja lei. Beim alten Obmann damals war’s beim Hirschtottrinken gmiatlicher«, maulte Toni Brugger mit eindeutig zu viel Bier im Schädel. »Auf dem sein Hof –«
»Wennst den Namen Hannes Guggenberger noch einmal in den Mund nimmst, dann –«
Sepp wurde unterbrochen, da Vinzenz Hinteregger seinen Namen kreischte. Da man mit Toni nicht diskutieren konnte, wenn er angesoffen war – also so gut wie nie, da er mittlerweile schon frühmorgens seinen Pegel erreichte –, ließ Sepp ihn stehen und ging zu Vinzenz, der neben Walter beim Hirschhaupt stand.
»Waidmannsheil«, richtete er sich zuerst an den erfolgreichen Schützen. »A guata Hirsch.«
»Waidmanns–«
»Das wäre mein Hirsch gewesen«, platzte Vinzenz dazwischen. »Sepp, der Walter –«
»Weißt du, was der Vinzenz getan hat?«, unterbrach Walter ihn heftig. »Am Hochsitz ist er gesessen und hat mir zugesehen, wie ich den Hirsch erlegt habe. Aber glaubst, der hätte mir bei der roten Arbeit geholfen? Oder beim Aufladen vom Hirsch?«
Walter wurde immer lauter; die Gespräche der Jagdkameraden verstummten.
»Aber … Du hast –«, stammelte Vinzenz.
»Der gönnt mir nicht, dass ich den Hirsch erlegt hab!«, verkündete Walter und riss seine Arme hoch wie ein in Fahrt kommender Prediger. Vinzenz stolperte zurück und landete fast auf Irmis Schoß, was Sepp nur verhindern konnte, indem er ihn am Arm packte.
»Aber … was der Walter getan hat … das …«, japste Vinzenz mit sich überschlagender Stimme.
»Überleg dir gut, was du sagst« – Walter fuhr Vinzenz mit dem Zeigefinger ins Gesicht – »und ob du deine Anschuldigung auch beweisen kannst. Weil sonst stehst du da wie ein schussneidiger Oberloser, der einen anderen schlechtmachen will!«
Vinzenz presste sich beide Hände auf den Bauch und sah fast so aus, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. Alles, nur das nicht!
Sepp räusperte sich. »Hast was zu sagen?«
»Ich … Walter … er …« Vinzenz brach ab und schüttelte den Kopf. Seine Augen glänzten verdächtig feucht.
»Bist du echt am Hochsitz hocken geblieben und hast dem Walter keine Hilfe angeboten?«, wollte nun Irmi wissen, die längst aufgestanden war und sich zwischen Sepp und Vinzenz drängte.
Der nickte schuldbewusst.
»Das ist –«, begann sie – für Sepps Geschmack viel zu ruhig.
»Wo kommen wir denn hin?«, schimpfte Sepp. »Wir sind hier in einem Verein, und da gehört die gelebte Kameradschaft dazu.«
Irmi machte eine seltsame Kopfbewegung in Richtung Sepp, bevor sie sich wieder an Vinzenz wandte. »Also, wir werden das –«
»Das können wir nicht einfach so stehen lassen. Zumindest vereinsintern wird das Konsequenzen haben!«
»Sepp! Jetzt sei einmal still!«, giftete Irmi.
»Was denn? Willst das einfach so tolerieren? Als Obfrau –«
»Genau! Ich bin die Obfrau, und du bist der Aufsichtsjäger im Verein und lässt mich jetzt ausreden!«
»Meinetwegen! Für den Kindergarten da hast du vermutlich eh mehr Geduld, also, ich mein, als Frau, also …«
Zugegeben, Sepp tat sich nicht immer leicht, Irmis Stimmungen zu deuten. Aber in diesem Fall erinnerte sie ihn stark an den Dampfdruckkochtopf seiner Mutter, der einmal etwas zu viel Druck entwickelt hatte und zum Geschoss geworden war. In einem solchen Fall half nur eines: Rückzug und Deckung suchen.
Er marschierte zum Hirschhaupt und blendete aus, wie Irmi kalmierend auf Vinzenz und Walter einwirkte. Nur ein verächtliches Schnauben konnte er nicht ganz unterdrücken, als sie die beiden aufforderte, sich die Hände zu reichen. Kindergarten eben.
Sepp hockte sich hin und musterte die Trophäe. Das Haupt war waidgerecht auf Fichtenästen gebettet, aber es fehlte …
»Wo ist der letzte Bissen?«
»Wird wohl rausgefallen sein«, verteidigte sich Walter lahm.
»Du, das ist eine Frage der Waidgerechtigkeit und des Respekts dem Leben gegenüber!«
»Dem Hirsch ist das doch scheißegal!«
»Aber mir nicht! Das ist Tradition!«
»Die Zeiten ändern sich«, maulte Walter zurück.
Sepp stand auf und baute sich vor Walter auf, der zwar nur halb so alt war wie er und damit voll im Saft stand, aber wenn jemals der Tag kommen sollte, an dem die Jagdvereinsmitglieder keinen Respekt mehr vor ihm hatten, würde er sein Gewehr an den Nagel hängen.
»Aber ich ändere mich nicht«, knurrte er ihn an. »Hast das verstanden?«
Walter zögerte; sein Blick flackerte zu den anderen, aber wenn er von denen Rückenstärkung erwartete, hatte er sich getäuscht. Er nickte knapp.
»Ich hör nichts! Hast du mich verstanden?«
»Ja, Sepp.«
»Dann erweis dem Stück die letzte Ehre. Aber zack, zack!«
Die Hände in die Hüften gestemmt, beobachtete Sepp, wie Walter ein Stück Fichtenast abbrach und es dem Hirsch in den Äser schob. »Zufrieden?«
»Mit dir? Nicht wirklich. Aus dir wird nie ein richtiger Jäger werden! Du bist eine Schande –«
»Sepp, lass es gut sein«, sagte Irmi leise. »Setz dich her und trink was.«
Sie klopfte auf den freien Platz neben sich. Er ließ sich nicht zweimal bitten. Aber ganz vergessen konnte er seinen Groll auch nicht.
»Ist doch wahr!«, schimpfte er. »Schau ihn dir an, den Walter. Der geht mit einer Hauben mit dem Logo von seinem Baumarkt auf die Jagd! Wie schaut denn das aus?«
Irmi antwortete ihm nicht, sondern stellte eine Flasche Radler vor ihn hin. Sie reichte ihm auch einen der Plastikbecher, die noch ineinandergestapelt ihrer Benutzung harrten. Sepp hob ihn an und betrachtete angewidert die bunten Drachenmotive darauf.
»Hat die der Walter noch vom letzten Kindergeburtstag übrig gehabt?« Er warf ihn zurück.
»Vermutlich. Der Valentin ist fünf, oder?«, fragte Irmi Walter, der hinter ihnen eine leere Bierkiste über eine andere stapelte.
»Hm, ja. Der ist schon ein großer Bua.«
Stolz rief Walter Valentin zu sich, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Da brauchte es keinen Vaterschaftstest.
»Wirst du auch amål ein Jäger werden wie der Papa?«, betrieb Irmi kindgerechte Konversation, wobei ihre Stimmlage gleich noch um einiges höher wurde.
Dass die Leute mit kleinen Kindern nicht normal reden konnten.
»Ja«, erklärte Valentin. »Das Christkindl hat mir ein Schießgewehr gebracht. Ein echtes!«
»Das war heuer ein besonders braves Christkind.« Walter zauste Valentins Haare, und das Kind drückte sich an ihn. »Nur die Mama hat ka Freud damit und hat mit dem Christkind geschimpft. Die Mama versteht das eben nicht, Valentin. Die hat keine Ahnung!«
»Er ist doch erst fünf«, wandte Manuela ein.
»A Jaga braucht a Gewehr.«
»Aber nicht schon im Kindergarten!«
Walter äffte sie kindisch nach, wobei er ein paar der anderen zum Lachen brachte. Als er dann jedoch versuchte, seinen Arm um Manuela zu legen, wich sie ihm aus und begann, leere Flaschen und Becher von den Tischen zu räumen.
»Manuela hat recht, Waffen sind kein Spielzeug, und du Nupla bist blöd gnua, dass du vorn in den Lauf hineinschaust, wenn der Valentin damit spielt«, warnte Sepp.
Walter gab sein nervtötendes wieherndes Lachen von sich, als ob er einen Schmäh gemacht hätte. Dabei war mit Waffen in Jägerhaushalten nicht zu spaßen; leider kam es immer wieder zu unglücklichen Unfällen.
Manuela flüsterte Sepp ein rasches Danke zu, bevor sie damit fortfuhr, sauber zu machen.
»Weißt, was a Jaga braucht?«, fragte Sepp den Gschråp. »Einen richtigen Jagahut! Mit dem kannst dir auch nicht weh tun.«
Karl Hartmann lachte, nahm seinen Hut ab und stülpte ihn Valentin über den Kopf; natürlich war er viel zu groß und rutschte ihm gleich einmal über die Augen hinunter. »Jetzt bist a richtiger Jaga!«
»Nit so wie dein Vater«, konnte es sich Sepp nicht verkneifen.
»Schau, Mama, ich bin ein Jaga mit Hut!«
Zwiderwurzn