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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit acht Jahren ihre Küsten Krimis »Fischland-Mord« (2012), »Fischland-Rache« (2013), »Fischland-Feuer« (2015), »Fischland-Verrat« (2016), »Bodden-Tod« (2017), »Fischland-Angst« (2018) und »Bodden-Nebel« (2019).

www.corinna-kastner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Es tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Corinna Kastner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-651-7

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur. www.ava-international.de

 

Für meine Mutter,
für die es in vierundsechzig Jahren Ehe
immer nur einen Mann gab.

Und zur Erinnerung an meinen Vater.
Danke, dass du da warst –
und für alles, was du mir mitgegeben hast.

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Prolog

In ihr tobte es. Wut, Trauer, Unglauben, Sehnsucht. Liebe. Angst. Nacheinander und alles zugleich und alles seinetwegen. Es schmerzte so sehr.

Viele Meter unter ihr rauschte die See, die Wellen trugen kleine weiße Schaumkronen und rollten an den Strand, unberührt von ihrem Kummer. Sie trat näher an die Abbruchkante, ihren Blick nach unten gerichtet. Da waren Steine. Große Steine. Wenn sie darauffiel … Vielleicht wäre das am einfachsten. Sie machte noch einen Schritt und geriet aus dem Gleichgewicht.

Erschrocken wedelte sie mit den Armen, fing sich, trat wieder zurück. Nein. Deshalb war sie nicht hier. Ihre Hände zitterten. Sie streckte sie aus und betrachtete sie, wollte sie zwingen, damit aufzuhören. Sie musste sich zusammenzureißen, sich konzentrieren, ruhiger werden. Sie hob den Blick, ließ ihn über die See schweifen, und langsam, ganz langsam, spürte sie, wie sie sich ein klein wenig entspannte, wie sie tatsächlich aufnahm, was vor ihr lag.

In der Ferne erkannte sie auf dem tiefblauen Wasser ein Segelboot und weit dahinter einen großen Frachter. Beide bewegten sich entlang des Horizonts auf die Seebrücke zu, und im Stillen schloss sie eine Wette mit sich selbst ab, wer das Rennen gewinnen, wer zuerst auf Höhe des Brückenkopfes ankommen würde. Trotz seiner Wendigkeit und Schnelligkeit wurde das Segelboot von dem großen, schweren Frachter überholt. So war das im Leben. Die Stärkeren gewannen. Immer.

Sie zog die Brauen zusammen, spürte wieder die Wut in sich. Die Stärkeren mussten nicht immer gewinnen. Das Segelboot war bestimmt absichtlich zurückgeblieben, um den schwerfälligen Frachter zu täuschen, ihn in Sicherheit zu wiegen und ihn später umso leichter einzuholen. Ja. So war das. Sie würde das Segelboot sein. Sie würde ihn finden.

Dabei gab es kaum Anhaltspunkte. Nur ein einziges Mal, in einem schwachen Moment, nachdem sie sich geliebt hatten, hatte er seine Familie erwähnt. Dass sie vom Fischland stammte, das er nie gesehen hatte. Sein Lächeln dabei war traurig gewesen. Dann hatte er gesagt, dass er eines Tages hinfahren, seine Wurzeln suchen würde. Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, hatte er ihren Mund mit einem Kuss verschlossen, und sie hatte um die Endgültigkeit dieser Geste gewusst.

Sie hatte nicht viel, aber das Fischland war ein Anfang. Entschlossen kehrte sie dem Steilufer und der See den Rücken, um endlich mit der Suche zu beginnen.

Viele Stunden, viele Fragen, viele ratlose Gesichter und viel Kopfschütteln später drohte die resignierte Stimme wieder die Oberhand zu gewinnen. Sie hatte alle Hotels, Ferienwohnungsvermittlungen, Restaurants, Imbisse und Geschäfte abgeklappert und keinen Blick mehr gehabt für die bunten Kapitänshäuser, die mächtigen Bäume, die Villen, die Gehöfte des Fischlands. All das hatte sie nur am Rande registriert. Vielleicht war er gar nicht hier gewesen. Vielleicht hatte er doch nichts über seine Wurzeln wissen wollen, sondern war in ein Flugzeug gestiegen, das ihn ans andere Ende der Welt brachte, weit weg von ihr. Garantiert konnte er seine Spuren verwischen, falls er nicht wollte, dass sie ihn fand. Das Schreckliche war nur, dass sie nicht wusste, ob es so war.

Müde lehnte sie sich an eine Litfaßsäule, an der mehrere Schichten von Plakaten klebten und die aussah, als hätte sie schon zu Kaisers Zeiten hier gestanden. Vielleicht sollte sie sein Foto dort aufhängen, statt den Leuten ihr Handy unter die Nase zu halten. Vor ihrem inneren Auge entstand ungewollt ein Wanted dead or alive-Plakat aus einem dieser alten Western, die ihr Vater mit Leidenschaft sah. In ihr kämpfte sich ein hysterisches Kichern empor, wurde jedoch erstickt von den ebenfalls aufkommenden Tränen. Sie schluckte sie herunter und stieß sich von der Litfaßsäule ab. Mit den Pensionen und privaten Vermietern war sie nicht mal ansatzweise durch.

Flüchtig sah sie auf das blaue Schild mit dem weißen Schriftzug am Abzweig vor ihr: Lindenstraße. Links und rechts erstreckten sich zwei scheinbar endlose Häuserreihen, und nach wenigen Schritten wusste sie, dass man sich in fast jedem der Häuser mit den grünen, blauen, weißen, gelben, braunen Türen und Fensterläden einmieten konnte. Irgendwann hörte sie auf zu zählen und sagte auf das Kopfschütteln nicht mal mehr Danke und Auf Wiedersehen, sondern drehte sich nur noch um, sodass sie fast nicht gehört hätte, was die letzte Vermieterin hinter ihr herrief.

»Oh, einen Moment! Es kann sein, dass ich …«

Sie fuhr herum. »Was?«

»Ich glaube, ich habe neulich drüben einen Mann gesehen, der dem auf Ihrem Foto zumindest sehr ähnlich sah.« Die ältere Dame deutete auf ein Haus schräg gegenüber, aus dem gerade eine zierliche Frau trat. »Fragen Sie doch mal bei …«

Den Rest bekam sie nicht mehr mit, sie sprintete auf die Frau zu, die dabei war, in ihren Wagen zu steigen. »Warten Sie bitte«, rief sie.

Die Frau drehte sich um und sah ihr entgegen. »Suchen Sie ein Zimmer?«, fragte sie. »Sie haben Glück, ich …«

»Nein, ich suche diesen Mann.« Sie hielt ihr das Telefon hin. »Ihre Nachbarin sagte, es könnte einer Ihrer Gäste sein.«

Die Frau musterte sie mit einem seltsamen Blick – prüfend, als würde sie jede Einzelheit ihres Gegenübers in sich aufnehmen, bevor sie endlich aufs Telefon sah. Anders als die meisten schaute sie nicht sofort wieder hoch und sagte »Nein, tut mir leid«, sondern vertiefte sich in das Foto. Sie war vielleicht Ende dreißig, trug eine hellblaue Sommerbluse zu einer weißen weiten Leinenhose und die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wieso brauchte sie so lange? Konnte das bedeuten, dass …

»Nein, tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Frau Dahm hat sich geirrt, das ist keiner meiner Gäste, und er war auch noch nie vorher bei mir.«

Kurz schien sie den Boden unter ihren Füßen zu verlieren, doch sie erholte sich schnell wieder. Die Frau musterte sie beinah so gründlich wie eben, nur nicht mehr prüfend, eher besorgt. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie ein Glas Wasser?«

»Ich … nein. Danke. Das … Es ist nur, dass ich schon ziemlich lange auf den Beinen bin. Geht gleich wieder.«

»Sind Sie sicher?«

Sie nickte.

Trotzdem zögerte die Frau, in ihr Auto zu steigen. »Wenn Sie diesen Mann vermissen – waren Sie schon bei der Polizei?«

»Nein!« Das war lauter und erschrockener herausgekommen, als es sollte. Sie wusste das auch ohne den überraschten Blick der Frau. Liebe Zeit. War sie etwa Polizistin? Hatte sie das Foto – und sie – deshalb so intensiv betrachtet? Was hatte sie bei dem Anblick der Fremden gedacht, die da in zerschlissenen Jeans, mit kurzem rotem Top, verstrubbelten blonden Haaren, einem blassen Gesicht und dunklen Ringen unter den Augen vor ihr stand? »Das ist nur …«, stammelte sie und setzte neu an. »Wir haben gestritten, ich habe eine Dummheit gemacht, und er ist abgehauen. Nichts, weswegen man sich beunruhigen müsste. Ich versuche bloß …«

»… ihn zu finden und es wiedergutzumachen?«

Erleichtert nickte sie. »Genau.«

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück.« Die Frau nickte ihr freundlich zu, bevor sie endgültig in ihren Wagen stieg und davonfuhr.

Sie selbst blieb zurück, das bisschen Hoffnung, das sich noch vor drei Minuten in ihr eingenistet hatte, war verschwunden. Das Segelboot würde den großen Frachter niemals einholen.

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»Glauben Sie mir, Frau Voß, ich sage das nicht nur so: Ihre Fotos sind phantastisch, sie passen wunderbar in meine Galerie.« Nils Brenner unterstrich die Worte mit einer Handbewegung. »Besonders Ihren Blick vom Hohen Ufer auf die blau vereiste Ostsee. Den sehe ich genau dort.« Er neigte sich näher zu ihr und deutete auf eine sogar jetzt am späten Nachmittag noch lichtdurchflutete Wand. Dann richtete er sich plötzlich wieder auf, als sei ihm bewusst geworden, dass er ihr zu nahe gekommen war. Auf seinem Gesicht zeigte sich jedoch nur ein einnehmendes Lächeln. »Sie nicht auch?«

»Unbedingt.« Kassandra war um keinen Millimeter zurückgewichen. Wenn sein aufdringlicher Charme alles blieb, was er sich leistete, damit würde sie fertigwerden. Vor einigen Wochen hatte er sich mit ihr in Verbindung gesetzt und gefragt, ob sie an einer Ausstellung bei ihm interessiert sei, und um eine Auswahl ihrer Fotos per Mail gebeten. Sie hatte viel Mühe und viele Stunden darauf verwendet, einige der schönsten herauszufischen. Brenner gehörte nicht nur diese Galerie in Wieck auf dem Darß, wo er speziell einheimische Künstler ausstellte, er besaß eine weitere in Hamburg und eine in Berlin. Letzteres war ein Ziel, von dem Kassandra sich noch weit entfernt sah, aber es konnte nicht schaden, schon mal einen Fuß in der Tür zu haben. Heute hatte Brenner sie zu sich gebeten, um weitere Einzelheiten zu besprechen, und sie war gespannt gewesen, ihn persönlich zu treffen. Sie wusste schon einiges über ihn, unter anderem, dass ihm ein gewisser Ruf vorauseilte, aber sie hätte nicht erwartet, dass sie noch in das Beuteschema des Endvierzigers mit der hellbraunen Künstlermähne fiel. Eher schon die unglückliche Frau, die sie vorhin in Wustrow angesprochen hatte und die höchstens fünfundzwanzig gewesen war. Auf der Fahrt hierher war sie Kassandra nicht aus dem Kopf gegangen, es tat ihr noch immer leid, dass sie ihr nicht hatte helfen können. Außerdem war da noch etwas gewesen, etwas, das sie irritiert hatte, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was.

»Oder würde es Ihnen dort«, Brenner zeigte auf die gegenüberliegende Wand und brachte sie damit in die Gegenwart zurück, »besser gefallen?«

»Nein, Ihr erster Vorschlag war perfekt. Es wäre ganz großartig, wenn …« Ein dezentes Glöckchen über der Tür veranlasste sie, zum Eingang zu sehen. Ihr Herz machte einen Satz, während sie automatisch weitersprach. »… wenn wir mit meinen Fotos zusammenkämen.«

»Da hege ich überhaupt keinen Zweifel, Frau Voß«, sagte Brenner. Was er sonst noch sagte, ging im Strudel ihrer Gefühle unter.

Kays Blick hatte ihren nur kurz getroffen, bevor er sich abwandte, um ein großes, aus rostigen Metallstücken gefertigtes Zeesboot zu betrachten. Er sah aus wie immer und doch fremd nach der Zeit, in der sie einander nicht gesehen hatten. Ihre letzte Begegnung hatte unter den denkbar schlechtesten Umständen stattgefunden. Beinah schien es, als spüre Kassandra wieder die Träne, die sich damals ihre Wange hinuntergemogelt hatte – und die Berührung seines Daumens, mit dem er sie sanft weggewischt hatte. All dem war ein Streit um die Entführung von Greta Röwer vorausgegangen, bei der sie und ihr Freund Paul gemeinsam mit Kay ermittelt hatten. Pauls eigenmächtiges Handeln und die Konsequenzen daraus waren für Kay untragbar gewesen, sodass er jeglichen Kontakt zum Fischland abgebrochen hatte. Ein Dreivierteljahr lang hatte Kassandra sich bemüht, den Verlust ihrer Freundschaft, die ihr so viel bedeutete, zuerst zu akzeptieren, dann zu verdrängen und schließlich wieder zu akzeptieren. Sie hatte sogar geglaubt, dass ihr das einigermaßen gelungen war, doch der Aufruhr in ihrem Inneren belehrte sie gerade eines Besseren.

Nur mit viel Willenskraft gelang es ihr, zu Brenner zurückzuschauen, aber sie hörte ihm nach wie vor nicht zu.

»Das sehen Sie doch sicher ebenso?«, drang wie aus weiter Ferne seine Stimme zu ihr durch.

Kassandra nickte. »Unbedingt.«

»Sehr gut«, sagte Brenner. »Bitte entschuldigen Sie mich, ich möchte nur eben den Herrn fragen, ob ich behilflich sein kann. Meine Mitarbeiterin hat leider schon Feierabend. Gehen Sie nicht weg, wir reden gleich weiter.« Er zwinkerte ihr zu.

Sie konnte weder verstehen, was Kay sagte, noch seinen Gesichtsausdruck erkennen, weil er ihr nach wie vor den Rücken zukehrte. Während er redete, veränderte sich Brenners Lächeln von souverän zu leicht angespannt, was den Schluss nahelegte, dass Kay nicht zu seinem Vergnügen hier war, sondern in seiner Eigenschaft als Kriminalhauptkommissar. Schließlich nickte Brenner und kam wieder zu ihr herüber.

»Es tut mir leid, ich fürchte, wir müssen unser Gespräch doch verschieben. Wie wäre es morgen gegen elf?« Er klang gelassen wie immer, aber Kassandra vermochte nicht zu beurteilen, ob das echt oder gespielt war.

»Kein Problem«, sagte sie, »gerne.«

»Wunderbar.« Brenner brachte sie zur Tür.

Die Galerie befand sich neben der Darßer Arche, dem Nationalparkzentrum, mitten in Wieck. Auf diesem Platz liefen einige Straßen zusammen, es gab ein Café, ein Restaurant und Bänke, auf denen man sich niederlassen und das Treiben beobachten konnte. Kassandra ging ein paar Schritte auf die Bänke zu, stockte, ging weiter. Überlegte, was sie tun sollte. Das Zusammentreffen ignorieren und nach Hause fahren? Auf Kay warten? Mit ihm reden? Würde er das wollen? Wieder ging sie ein paar Schritte, noch langsamer als eben. Sie drehte sich um. Von hier hatte sie die Galerie gut im Blick. Gegen einen Baum gelehnt ließ sie die Tür nicht aus den Augen, fragte sich jedoch, was sie tun würde, wenn Kay auf die Straße trat.

Knapp zehn Minuten später bildete Kassandra sich ein, das dezente Glöckchen sogar aus der Entfernung klingeln zu hören. Kay holte sein Handy aus der Jackentasche und telefonierte im Gehen. Nur noch wenige Meter trennten sie. Sie suchte seinen Blick. Er fing ihn nicht auf. Es war unmöglich, sie zu übersehen – aber er übersah sie und ging an ihr vorüber. Auf der anderen Straßenseite piepten die Türen seines Wagens, er entledigte sich seines Jacketts, während er weitertelefonierte, warf es auf die Rückbank, stieg ein und fuhr kurz darauf los.

Kassandra lehnte noch immer an ihrem Baum und sah Kays Lexus hinterher. Das war deutlich gewesen. Es dauerte, bis wieder Leben in sie kam und sie langsam zu ihrem Wagen ging, der nahe der Stelle parkte, an der Kays Auto gestanden hatte. Nach drei Anläufen hatte sie den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt. Sie drehte ihn nicht, erst musste sie sich beruhigen, sonst würde sie einen Unfall bauen.

Als ihr Telefon einen Ton von sich gab, schrak sie zusammen. Sie wühlte danach in ihrer Handtasche, als hinge ihr Leben davon ab. Alles, was Ablenkung versprach, war gut. Als sie es endlich hatte, wischte sie über den Sperrbildschirm und sah, dass jemand ihr eine Nachricht geschickt hatte – über einen Messengerdienst, der sicherer war als viele andere. Kay hatte ihr eine Nachricht geschickt. Sie öffnete sie und las: La Taverna del Mare, Prerow.

Kurz nach sechs betrat sie das italienische Restaurant in der Bergstraße, das früher einmal das heimelige »Klönsnack« gewesen war. Suchend schaute sie über die Tische. Kay saß am Fenster, ein Glas und eine Flasche Wasser vor sich, vertieft in die Speisekarte. Im etwas schummrigen Licht passte er mit seinen dunklen, von Silberstreifen durchzogenen Haaren und dem scharf geschnittenen Gesicht ausgezeichnet in die mediterrane Umgebung.

Ein Kellner fragte, ob sie einen Platz suche, in diesem Moment hob Kay den Kopf. Er nickte ihr zu, und als hätte sie nur auf diese Bestätigung gewartet, setzte sie sich in Bewegung. Sie nahm ihm gegenüber Platz, einen Augenblick lang sahen sie einander wortlos an, ohne dass sie ahnen konnte, was er dachte. Wie so häufig in der Vergangenheit. Schließlich schob Kay ihr die Karte hin.

»Hier ist alles gut, besonders die Pasta.«

Kassandra verspürte nicht den geringsten Hunger, schlug jedoch die Karte auf – etwas Unverfängliches, ganz Normales zu tun, half vielleicht. So weit zum Plan. Der nicht funktionierte. Sie sah die Buchstaben, aber sie ergaben keinen Sinn. Sie legte die Karte zur Seite.

Gerade als sie den Anfang machen wollte, sagte Kay: »Du solltest dich nicht auf Nils Brenner einlassen. Egal, ob er deine Fotos kaufen, in Kommission nehmen oder sie ausstellen will. Lass die Finger von dem.«

Also saßen sie bloß wegen Brenner hier. Kassandra schluckte. »Was hat er getan?«, fragte sie, obwohl es so viel Wichtigeres zu klären gab als Nils Brenner.

»Er benutzt unter anderem seine Galerien als Geldwaschanlagen für Geschäfte, die …« Kay unterbrach sich. »Unwichtig. Hör einfach auf mich und lass die Finger von dem Mann.«

Kassandra legte den Kopf schief. »Ist das eine offizielle oder eine inoffizielle Ermittlung?«

Auf Kays Stirn bildete sich eine steile Falte, aber er kam nicht dazu, etwas zu erwidern, weil der Kellner am Tisch auftauchte und sie auf Italienisch ansprach. Kassandra konnte nur raten, dass er nach ihren Wünschen fragte, und sah ihn etwas hilflos an, während sein Blick lächelnd zwischen ihr und Kay hin- und herpendelte. Da antwortete Kay mit einem Schwall italienischer Worte, von denen das einzige, das sie identifizieren konnte, Signorina war.

Das Lächeln des Kellners wurde breiter. »Lassen Sie sich Zeit, Signorina, ein Mahl muss gut gewählt und anschließend zelebriert werden.« Er verbeugte sich leicht und verschwand wieder.

Irritiert schaute Kassandra ihm hinterher, um dann Kay ebenso irritiert zu mustern, dessen Miene nach wie vor reglos war. »Du sprichst Italienisch? Fließend?«

»Meine Großmutter stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Neapel. Lange Geschichte.« Die er keineswegs vorhatte, jetzt vor ihr auszubreiten. Das teilte ihr sein Gesichtsausdruck mit, und das bewies auch seine eigene Frage: »Wie geht es deinem Onkel?«

Heinz. Er fragte nach Heinz. Nicht nach Paul. Das konnte sie ihm nicht verübeln. Paul hatte damals nicht nur Kays Ideale verraten, sondern ihn gleichzeitig gezwungen, zwischen diesen Idealen und Pauls Zukunft zu entscheiden, und ihn damit zweifellos in eine schwere Zwickmühle gebracht. Kassandra mutmaßte, dass Kay das noch schwerer verzeihen konnte als die Sache mit den Röwers an sich. Nach denen er ebenfalls nicht fragte. Dabei hätte es dazu so viel zu berichten gegeben. Aber wahrscheinlich, dachte sie, weiß er ohnehin über die meisten Entwicklungen Bescheid. Ganz sicher weiß er auch, wie unglaublich dankbar ich ihm bin, dass er geschwiegen und nichts in die Wege geleitet hat. Und ebenso sicher will er das nicht hören.

Sie rang sich ein kleines Lächeln ab, das echter wurde, als sie mit ihren Gedanken bei Heinz ankam. »Es gab da im Juni eine Verehrerin. Sie wohnte in meiner Pension und muss sofort beschlossen haben, Heinz zu erobern, kaum dass sie einen Blick auf ihn geworfen hatte.«

Kays Brauen rutschten beinah so hoch wie bei Heinz. »Dein Onkel scheint mir nicht der Typ zu sein, der die Frauen scharenweise anzieht.«

»Nein, kaum. Wenn eine Frau allerdings aufmerksam hinsieht, erkennt sie das gewisse Etwas, das Karin vor vierzig Jahren schon in ihm gesehen hat.«

»Das glaube ich sofort. Trotzdem kann ich offenbar nicht zur Hochzeit gratulieren. Hatte dein Onkel kein Interesse? Es wäre doch schön, wenn er wieder jemanden fände.«

»Richtig«, bestätigte Kassandra. »Aber nicht dieses Weib. Großstadtpflanze, hätte eher ins ›The Grand‹ nach Ahrenshoop gepasst, nur konnte sie sich das nicht leisten.«

»Verstehe. Sie hat nicht Heinz Jung gesehen, sondern ein Grundstück und ein Haus auf dem Fischland. Was für ein Pech für sie, dass sie an den Falschen, noch dazu an einen Polizeihauptmeister a. D. mit ausgezeichneter Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis geriet.«

Kassandra griente. »Für Heinz war es ein bisschen nervig. Ich dagegen fand ihre Bemühungen eher amüsant, und ich glaube, obwohl er es nie zugeben würde, ihm hat es zu guter Letzt Spaß gemacht, sie abzuservieren.«

Als hätte er aufs Stichwort gewartet und »servieren« verstanden, erschien der Kellner wieder auf der Bildfläche.

»Entschuldige«, sagte Kay, »ich hatte heute noch nichts Vernünftiges zu essen.«

»Bestell was für mich mit. Gerne Pasta.«

Die darauffolgende Unterhaltung wurde auf Italienisch geführt. Als Kay sich ihr wieder zuwandte, war plötzlich die Spannung zwischen ihnen zurück.

Ich muss was sagen, dachte Kassandra, irgendwas. »Wie dicht seid ihr schon dran an Nils Brenner?«, fragte sie und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, kaum dass die Worte heraus waren. Falsche Frage. Kays Blick verdunkelte sich. Sie konnte nichts zurücknehmen, aber auch nicht übergangslos etwas völlig anderes anschneiden. Sie beschloss, seine Abweisung anders zu auszulegen. »Noch nicht dicht genug also«, sagte sie. »Woran liegt’s?«

Kay starrte sie an. »Könnten wir das Thema wechseln? Alles, was ich zu Nils Brenner zu sagen habe, habe ich gesagt.«

Ungewollt ging Kassandra etwas im Kopf herum, und schon wieder sprach sie es aus, ehe sie sich fragen konnte, ob das klug war. »Man sagt über ihn, er sei gut organisiert, weit vernetzt und ein geschickter Verhandlungspartner – und er wähle überaus sorgsam aus, mit wem er zusammenarbeitet. Nach allem, was du sagst, würde ich es definitiv übervorsichtig nennen.« Sie wartete, doch Kay reagierte nicht, außer dass er nach einem Stück Weißbrot griff, es in zwei Teile zerriss und die Falte auf seiner Stirn noch steiler wurde als vorhin. Es kostete ihn Mühe, sie nicht zum Teufel zu jagen. Was tat sie hier eigentlich?

»Nils Brenner«, fuhr sie dessen ungeachtet fort, »hat auf gewisse Weise Ähnlichkeit mit der Urlauberin, die sich Heinz krallen wollte. Er hält sich für unwiderstehlich, und oft genug hat er Erfolg. Schließlich sieht er nicht schlecht aus. Er flirtet ungeniert, mit Kundinnen, aber genauso mit Künstlerinnen. Versucht er bei mir auch. Erfolglos. Bisher.«

Ganz langsam hob Kay den Kopf, Unglauben im Blick.

Kassandra ignorierte das, während sie weitersprach. »Du brauchst jemanden, bei dem er nicht vorsichtig oder zumindest nicht vorsichtig genug ist. Brenner ist erst seit einem halben Jahr hier, er hat keine Ahnung und vor allem überhaupt keinen Grund zu vermuten, dass ich je mit der Polizei zu tun hatte, er hält mich für eine harmlose Pensionsinhaberin, die ganz passable Fotos macht.« Der Unglauben war aus Kays Blick gewichen, sein Ausdruck wurde undurchdringlich. »Innerhalb der Grenzen – lass es mich versuchen«, bat sie.

Nach wie vor war es ihr unmöglich zu erkennen, was Kay dachte, und sie hatte nur noch eine Karte auszuspielen. Eine sehr gewagte Karte. »Du hattest meine Bewerbung für deine Truppe schon angenommen«, erinnerte sie ihn leise.

Schweigend fixierte er sie, die Geräusche um sie herum verschwammen zu einem undeutlichen Gemurmel. Sie sah ihm an, dass er sich an jenen Augenblick und an seine eigenen Worte erinnerte, nachdem er einen Fehler seiner inoffiziellen privaten – und in Teilen äußerst illegalen – Ermittlertruppe auf seine Kappe genommen hatte.

Ein lautes Klirren und ein italienischer Fluch aus der Küche brachen den Bann.

Kay beugte sich ein Stück vor. »Die Truppe gibt es nicht mehr.«

Kassandra benötigte zwei, drei Wimpernschläge, um die Bedeutung dessen zu erfassen, und noch länger, um darauf zu reagieren. »Warum nicht?«, fragte sie schließlich, obwohl sie sich ganz und gar nicht sicher war, die Antwort hören zu wollen.

»Es gab Differenzen«, sagte Kay neutral.

»Wegen …« Kassandra beugte sich ebenfalls vor und setzte neu an. »Wegen Gretas Entführung?«

»Es spielt keine Rolle, weswegen.«

»Doch, tut es. Waren Pauls Vorschlag und Gretas und Matthias’ Entscheidung der Grund für den Bruch?« Kassandra konnte nicht eindeutig sagen, ob Kays kaum hörbarer Seufzer der Tatsache galt, dass sie nicht aufgeben würde, oder dem Gedanken an die Truppe.

»Nicht der endgültige.«

»Aber das alles hat zu einem Riss geführt, der immer breiter und dann unüberwindbar wurde«, interpretierte sie seine Worte. Traurigkeit erfüllte sie und ein Gefühl von Schuld, was er bemerkte. Er hatte schon immer in ihr lesen können wie in einem Buch.

»Für das, was wir taten, war unbedingter Zusammenhalt erforderlich, auch bei noch so unterschiedlichen Auffassungen.« Er hielt kurz inne. »Wenn uns die auseinandergebracht haben – was war es dann wert?«

Sie starrte in seine dunklen Augen. Was war dann unsere Freundschaft wert?, lag ihr auf der Zunge, doch sie sprach es nicht aus. Wenn Kay bereit gewesen war, seine Truppe aufzugeben, war das seine Angelegenheit. Sie dagegen hatte schon viel zu viel Zeit mit dem Versuch verschwendet, ihre Freundschaft aufzugeben. Schluss damit. Sie würde nicht aufgeben, sie würde dafür kämpfen, auf ihre Weise, ob es ihm gefiel oder nicht. Sie nickte, als respektiere sie seine Worte, und lehnte sich wieder zurück.

»Also ist Brenner eine offizielle Ermittlung«, stellte sie fest, »und wenn es deine Truppe nicht mehr gibt, kann es erst recht nicht schaden, jemanden Inoffizielles im Spiel zu haben. Mich.« Als Kay nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Oder mischt doch noch einer von früher mit?«

»Nein.«

»Dann lass mich das übernehmen. Ich kann mich zwar nicht in virtuelle Welten hacken, aber dafür in reale ganz gut.«

Kay schüttelte den Kopf. »Nach dem Aus der Truppe habe ich einen … nennen wir es: IT-Intensivkurs besucht. Ich komme ganz gut zurecht. Genauso wie in der realen Welt. Du wirst dich nicht einmischen. Klar?«

Das klang endgültig.

Egal.

»Sag mir einen triftigen Grund, warum nicht. Dein Polizeioberrat Geldorf wird nichts erfahren. Das hat früher schon geklappt, noch bevor es deine Truppe gab, es wird wieder funktionieren.«

»Es geht nicht um Geldorf, der ist nicht mehr …« Er unterbrach sich.

»Was ist er nicht mehr?«, hakte sie nach.

»Mein Vorgesetzter.«

Etwas in seinem Tonfall ließ Kassandra aufhorchen. Kay und Geldorf waren nie sonderlich gut miteinander ausgekommen, im Gegenteil. Sie hätte verstanden, wenn Kay froh gewesen wäre, den Mann los zu sein. Aber das war es nicht, was in seiner Stimme gelegen hatte. »Wer ist es dann? Hast du dich versetzen lassen?«

Kay schwieg. Anscheinend hatte er den Kellner kommen sehen, der jetzt zwei Teller mit Pasta vor sie hinstellte und gut gelaunt »Buon appetito« wünschte. Kay hatte für sie beide Ravioli al tartufo bestellt – Trüffel in einer feinen Sahnesoße, wie Kassandra feststellte, als sie auf die Nudeln sah. Sie verspürte immer noch keinen Hunger, doch Kay nahm das Besteck und begann zu essen.

Kassandra geduldete sich eine Weile und aß ebenfalls, doch als Kay nach seinem Glas griff, wiederholte sie ihre Frage. »Wer ist dein neuer Vorgesetzter?«

Kay trank einen Schluck. »Hast du nicht gehört, was Donato vorhin gesagt hat? Ein Mahl soll man zelebrieren.« Er stellte das Glas wieder hin und aß weiter.

»Ich hab nicht den Eindruck, dass du was zelebrierst, sondern dass du mir ausweichst. Hast du die Dienststelle gewechselt?«

Er sah hoch, dann wieder auf seinen Teller. »Nicht direkt.«

»Was meinst du damit – nicht direkt? Was sollte …« Sie unterbrach sich selbst, starrte ihn an wie vorhin. Und als sie endlich begriff, was geschehen sein musste, war der Schock darüber noch größer als über die Auflösung seiner Truppe. »Du hast den Dienst quittiert.«

Wortlos begegnete Kay ihrem Blick.

Weshalb konnte sie nicht in ihm lesen, so wie er in ihr? Das Einzige, was sie aus seinem Blick las, war, dass er darüber nicht reden würde. Auf keinen Fall jetzt. Aber wenn sie den Kampf um ihre Freundschaft gewann, dann vielleicht irgendwann mal.

»Das heißt, du bist ganz auf dich allein gestellt«, sagte sie, um Sachlichkeit bemüht.

»Und das werde ich auch bleiben«, stellte Kay klar. »Versuch es gar nicht erst ein zweites Mal.« Dabei erschien auf seinem Gesicht die winzigste Andeutung eines Lächelns, die jedoch gleich wieder verschwand. »Nils Brenner ist geschickt, aber nicht so geschickt, wie er glaubt. Ihn wegen Gott weiß was zu überführen, ist nicht weiter schwer.«

Verblüfft richtete Kassandra sich auf. »Warum tust du es dann nicht?«

»Weil Brenner der kleine Fisch ist, über den ich hoffe, den großen zu schnappen. Den Mann, für den er das Geld wäscht. Der dir draufkäme, wenn du dich bei Brenner einschleichst, weil er über alles informiert ist, was seine … Mitarbeiter tun oder lassen. Deshalb will ich nicht, dass du in diesem Spiel mitspielst. Dieser Mann ist wirklich gefährlich.«

»Wer ist er?«

Kay gab sich keinerlei Mühe zu verbergen, was er dachte. Die Frage amüsierte ihn. »Du glaubst nicht im Ernst, dass ich dir das sage.«

Natürlich nicht, dachte sie und überlegte trotzdem fieberhaft, ob es ein Argument dafür gab.

Mitten in ihre Grübeleien klingelte Kays Handy. Er sah aufs Display und erhob sich beinah gleichzeitig. »Entschuldige mich, ich muss da rangehen.«

Kassandra sah ihm nach, wie er das Restaurant verließ. Hatte der Anruf mit seinen Ermittlungen zu tun? Telefonierte er gerade mit seinem Auftraggeber? Sie konnte ihn sich zwar nur schwer als Privatdetektiv vorstellen, andererseits musste er ja seinen Lebensunterhalt verdienen, und vielleicht tat er das auf diese Weise. Aber speziell in diesem Fall?

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass der sehr viel besser zu den Maximen seiner einstigen Truppe passte: die drankriegen, die durchs Netz schlüpfen. Es sollte sie nicht wundern, wenn Kay einfach weitermachte wie zuvor, bloß ohne jegliche Unterstützung.

Sie schaute zurück auf ihren Teller, pikte zwei Ravioli auf die Gabel und schob sie in den Mund. Kalt. Seufzend legte sie die Gabel wieder auf die Serviette. Kay würde ihr nichts sagen. Nichts darüber, wie er arbeitete, und erst recht nichts über den großen Fisch, den er zu fangen hoffte. Was sie bisher erfahren hatte, reichte ja auch schon für ein paar schlaflose Nächte. Kays Truppe zerschlagen, und – noch unfassbarer – er war kein Polizist mehr. Obwohl er vor einigen Jahren schon mal darüber nachgedacht hatte, den Dienst zu quittieren, hätte sie nicht für möglich gehalten, dass er es tatsächlich tat. Was mochte der Auslöser dafür gewesen sein?

Sie schreckte hoch, als ihr eigenes Telefon ein Pling von sich gab. Eine Nachricht von Paul: Wo steckst Du? Hat Brenner Dich in sein Schlafzimmer entführt? ;-) Eis Dich los von ihm, damit Du pünktlich bei Bruno bist.

Himmel, sie hätte Paul Bescheid sagen müssen, dass sie sich verspätete. Außerdem hatte sie das Abendessen bei Bruno durch all das, was in der letzten Stunde auf sie eingestürmt war, vollkommen vergessen. Eilig tippte sie: Bin Brenners Schlafzimmer entkommen ;-), aber anderweitig aufgehalten worden. Dabei schoss ihr die Frage durch den Kopf, weshalb sie nicht schrieb, wovon. Sie tippte weiter. Ich weiß nicht, ob ich es pünktlich schaffe – fangt ruhig ohne mich an, bevor’s kalt wird.

Kaum hatte sie die Nachricht abgeschickt, gab ihr Handy erneut einen Ton von sich, diesmal von der »Ostsee-Zeitung«, die sie auf die neuesten Nachrichten aufmerksam machte. Suchend blickte sie zum Restauranteingang, von Kay war noch nichts zu sehen. Sie wandte sich wieder ihrem Telefon zu und überflog die OZ-Nachrichten, obwohl sie ahnte, dass sie sich sowieso nicht darauf konzentrieren konnte. Da stolperte sie über eine Schlagzeile:

Neues Bauprojekt von Falk Clasen in Wustrow? Kassandra las diesen Satz zweimal. Die ehemalige Seefahrtschule war derzeit das einzige größere Bauvorhaben. Sie konnte davon ausgehen, dass sowohl Paul als auch ihr Vater Harald, der in derselben Branche wie Clasen tätig war, gewusst hätten, falls das anders wäre und …

»Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Kay.

Kassandra zuckte zusammen, sie hatte ihn gar nicht zurückkommen hören.

Jetzt setzte er sich und deutete auf ihr Telefon. »Schlechte Nachrichten? Du siehst beunruhigt aus.«

»Eher verwundert«, gab sie zurück. »Hier steht was von einem neuen Bauvorhaben in Wustrow, von dem sich bis zu uns noch nichts rumgesprochen hat.«

»Es dürfte nichts Außergewöhnliches sein, wenn da abseits der Seefahrtschule noch ein, zwei weitere Ferienimmobilien entstehen.«

»Stimmt. Allerdings hat hiermit anscheinend Falk Clasen zu tun. Das wird dir nichts sagen, aber Clasen gibt sich für gewöhnlich nicht mit Kleinig…« Sie stockte mitten im Wort. Kays Gesichtsausdruck hatte sich verändert, nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch das genügte. »Liebe Güte! Du bist hinter Falk Clasen her.«

Kay war offensichtlich bewusst, dass es keinen Sinn hatte, das abzustreiten. Trotzdem zog er es vor, es nicht zu kommentieren, also sprach Kassandra weiter.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Clasen Dreck am Stecken hat, erst recht nicht so viel, wie du sagst. Vor gut anderthalb Jahren bin ich ihm mal begegnet. Mein Vater war damals an einem seiner Projekte beteiligt, in Potsdam, glaub ich, und sie hatten hier ein Arbeitswochenende.« Kassandra machte eine Pause. »Du hast recht«, fuhr sie dann fort. »Du brauchst meine Hilfe nicht. Du brauchst Haralds Hilfe.«

Ohne auch nur den Hauch eines Zögerns schüttelte Kay den Kopf. »Ich kann deinen Vater nicht um Hilfe bitten.«

Sie wusste, was er meinte. Ihr Vater hatte Kays Truppe finanziell unterstützt, und obwohl es zwischen den beiden Männern nie Streit gegeben hatte, hatte Kay nach dem Bruch mit Paul und ihr auch diese Verbindung sofort gekappt. Es war ihm wohl wichtig gewesen, von diesem Zeitpunkt an völlig unabhängig von allen Fischländern zu sein.

»Das ist doch jetzt vollkommen egal«, sagte Kassandra. »Du kannst dir den Umweg über Brenner sparen, wenn Harald seine Fühler ausstreckt. Falls Clasen was in Wustrow plant, umso leichter!« Sie griff nach ihrem Telefon, um endlich den Artikel zu lesen, doch Kay nahm es ihr aus der Hand und legte es zur Seite.

»Selbst wenn die Dinge anders lägen, kann ich das nicht machen.«

»Warum nicht?« Dann ging ihr ein Licht auf. »Du verdächtigst meinen Vater …«

»Selbstverständlich nicht!«, unterbrach er sie ungeduldig. »Harald Barthel ist ein einflussreicher, vermögender Mann mit einer sehr gut gehenden Baufirma. Aber verglichen mit Clasen ist er genauso ein kleiner Fisch wie Brenner. Wenn Clasen herausfände, dass dein Vater daran beteiligt ist, ihm in die Suppe zu spucken, kostet es ihn zwei Anrufe, und Barthel Ostsee Bau kann dichtmachen.«

Kassandra schluckte. Das war hart, aber … »Grund genug, ihm das Handwerk zu legen.«

Sehr leise und sehr eindringlich sagte Kay: »Kassandra. Du bist mir nichts schuldig. Und dein Vater erst recht nicht.«

Seine Worte berührten sie und machten sie gleichzeitig wütend. »Mein Vater nicht. Ich dagegen schulde dir sehr viel, unter anderem verdanke ich dir mein Leben. Aber du weißt hoffentlich, dass das hier nichts damit zu tun hat. Ich bin sicher, Harald sähe das genauso wie ich: Wenn Falk Clasen hinter Gitter gehört, wird es Zeit, dass ihn jemand da hinbringt.«

»Ich bin dabei, das zu tun.«

»Aber du könntest Hilfe brauchen.«

Jetzt wurde auch Kay wütend. »Wir drehen uns im Kreis. Würdest du bitte ein Nein akzeptieren?« Fraglos fing er an, sich selbst zu verwünschen, weil er sich mit ihr getroffen hatte.

Innerlich seufzte Kassandra. Ihre Hartnäckigkeit war eindeutig der falsche Weg, um seine Freundschaft zu kämpfen. Sie hätte das wissen müssen. »Ja. Tut mir leid. Ich …«

Mit einer Handbewegung schnitt Kay ihr das Wort ab. »Schon gut. Vergiss einfach, was du heute gehört hast – abgesehen von meiner Warnung vor Nils Brenner.« Ein kleines Lächeln huschte über seine Züge, er deutete auf ihre Teller. »Die Pasta ist sicher schon kalt. Lass uns zahlen und gehen.«

Das war’s also. Sie hatte ihre Chance verspielt.

Der Kellner namens Donato machte ein ziemliches Gewese um ihre halb vollen Teller, bevor er ins Italienische wechselte. Während Kay zahlte, antwortete er, Donato nickte einigermaßen zufrieden, und kurz darauf standen sie auf der Straße.

»Was hat er gesagt?«, fragte Kassandra.

»Dass wir wiederkommen sollen, wenn wir mehr Appetit haben.«

»Was hast du geantwortet?«

»Was er hören wollte: dass wir das gern tun werden.«

Sie waren auf dem Parkplatz angekommen, ihre Wagen standen nebeneinander.

»War das nur, was er hören wollte? Oder werden wir das?«, wagte sich Kassandra vor. »Wiederkommen?«

Kay schaute die Straße hinauf und hinunter, bevor er zurück zu ihr sah. Da war etwas Undefinierbares in seinem Blick, dann lächelte er wieder. »Komm mit Paul her, das wird Donato ebenso recht sein.«

2

Kay Dietrich lenkte den Wagen ganz automatisch an Zingst vorbei, über die Meiningenbrücke, durch Barth und weiter bis Löbnitz, wo er auf die B105 Richtung Stralsund und weiter nach Hause fuhr. Er nahm nichts von dem wahr, was sich links und rechts der Straße abspielte. Stattdessen sah er Kassandra in der Galerie stehen, eine Sekunde lang erschrocken, als sie ihn erkannt hatte. Er hoffte, dass Brenner das nicht aufgefallen war. Dietrich hatte sich dankbar diesem verrosteten Zeesboot zugewandt. Bevor er nach Wieck aufgebrochen war, hatte er an die Möglichkeit gedacht, Kassandra und Paul zu begegnen, es aber dann als höchst unwahrscheinlich abgetan. Er hatte wohl verdrängt, wie klein die Welt auf der Halbinsel war. Wie er überhaupt während des letzten Dreivierteljahres versucht hatte, jegliche Gedanken ans Fischland zu verdrängen.

Unmittelbar nach Greta Röwers Entführung hatte es die erste ernsthafte Auseinandersetzung innerhalb der Truppe gegeben. Dann war Rieka, mittlerweile fast eine Profi-Hackerin, plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Sie hatte einem Kumpel helfen wollen, war dadurch selbst in Gefahr geraten, und Tobias, Bengt und er hatten zwei Monate nach ihr gesucht, bis sie plötzlich ein Lebenszeichen erhielten. Rieka hatte es so aussehen lassen, als käme es vom anderen Ende der Welt, falls jemand es abfing, für den es nicht bestimmt war. Tatsächlich hatte sie die Nachricht aus Hamburg geschickt, und es gelang ihnen, sie aus der Sache herauszuholen. Kurzzeitig hatte es daraufhin so ausgesehen, als würde wieder alles ins Lot kommen. Aber Rieka hatte sich verändert, und Tobias, dem sie viel bedeutete, musste ständig vermitteln, was letztlich zu noch mehr Spannungen führte, bis sie mehr Zeit damit verbracht hatten zu diskutieren, als zu handeln. Das Ende der Truppe war seit Langem wieder eine einstimmige Entscheidung gewesen. Zu Tobias, nach wie vor beim KDD in Stralsund, und zu Bengt, dem pensionierten Kriminalhauptkommissar, war der Kontakt anfangs nicht gänzlich abgebrochen, bis Dietrich selbst einen Schlussstrich gezogen hatte – von Bengt erst spät akzeptiert. Es war besser so.

Genauso wie es besser gewesen wäre, Kassandra nicht nach Prerow zu bestellen. Besser für ihn aus vielerlei Hinsicht. Und besser für sie. Sie hatte zwar sein Nein akzeptiert, und normalerweise tat sie, was sie sagte, und stellte sich dem Unvermeidlichen. Aber seine innere Stimme sagte ihm, dass er sich diesmal nicht uneingeschränkt darauf verlassen konnte.

»Kassandra«, murmelte er, »mach bloß keine Dummheiten.«

3

Es kostete Kassandra viel, Kays Wagen nicht hinterherzusehen, sondern in ihren eigenen zu steigen. Statt gleich loszufahren, holte sie ihr Handy hervor, um zu lesen, was die OZ über das Bauprojekt in Wustrow schrieb. Der Artikel behandelte allerdings vorwiegend Falk Clasens beeindruckenden Werdegang. Anfang der Neunziger hatte er seine Firma Clasen Constructions in Berlin gegründet und sich zunächst auf Eigenheime und Mehrfamilienhäuser spezialisiert. Schließlich wandte er sich größeren, auch internationalen Projekten zu, Hotels, Museen, Konzerngebäuden, expandierte weiter und weiter und verlegte überraschenderweise seinen Hauptfirmensitz von Berlin nach Stralsund. In dem Artikel wurde er mit dem Satz zitiert: »Es reicht mir, wenn meine Projekte groß sind – meine Umgebung habe ich gern weniger überdimensioniert.« Dessen ungeachtet beschäftigte Clasen rund vierhundertfünfzig Mitarbeiter in Deutschland, Italien, den Niederlanden und Südafrika und plante eine weitere Dependance in Polen. Was er in Wustrow vorhatte, blieb trotz der Artikelüberschrift unklar, weil Clasen »schmunzelnd, aber bestimmt« ablehnte, über etwas zu reden, das noch lange nicht spruchreif sei.

Nicht schlauer als vorher fuhr Kassandra endlich los. Während der Fahrt merkte sie, dass Clasens Bauprojekt in ihren Gedanken zunehmend in den Hintergrund geriet und die Gefühle, die das Wiedersehen mit Kay in ihr auslöste, die Oberhand gewannen. Sie zwang sich, sich wieder auf Clasen zu konzentrieren. Egal, was sie vorhin gesagt hatte, sie würde diesen Artikel als Aufhänger nutzen, Harald über den Mann auszufragen. Nicht mehr heute allerdings, nicht bei Bruno, wo sie auch die Begegnung mit Kay unerwähnt lassen würde.

In Wustrow nahm Kassandra sich nicht die Zeit, noch etwas Bequemeres anzuziehen, sie war schon zu spät dran. Stattdessen fuhr sie bis zum Ende der Thälmann-Straße, bog an der Kirche in die Hafenstraße ein und stellte kurz darauf ihren Wagen auf dem Parkplatz ab. Den beiden Zeesbooten, die im Hafenbecken vertäut lagen, wollte sie nur einen Blick gönnen und hinüber zu Brunos Haus im Grünen Weg laufen. Doch dann blieb sie stehen und betrachtete die »Tante Mine«, das Zeesboot ihres Nachbarn Jonas Zepplin, das sachte auf den winzigen Wellen schaukelte. Die rotbraunen Segel waren eingeholt, die Masten ragten in den mittlerweile dämmrigen Abendhimmel. Vor einigen Jahren hatte Jonas auf seinem Boot mitten in der Nacht eine Leiche gefunden. Sie, Paul, ihr Onkel Heinz und Kay hatten das Verbrechen aufgeklärt. Sie waren ein Team gewesen. Trotzdem hatte es eine winzige Unstimmigkeit zwischen Paul und Kay gegeben, kaum der Rede wert. Der Streit hatte beiden leidgetan und war schnell vergessen gewesen. Warum fiel ihr das jetzt wieder ein?

Wie aus dem Nichts schoss ihr mit einem Mal die Frage durch den Kopf, ob sie ihre Begegnung mit Kay überhaupt erwähnen sollte. Sie und Paul hatten seit ewig vermieden, über ihn zu sprechen. Kassandra spürte, dass es Paul lieber so war. Sie verstand ihn, und doch fiel es ihr manchmal schwer zu schweigen. Kurz überlegte sie, wenigstens mit Heinz … Aber das war unmöglich. Sie konnte nicht hinter Pauls Rücken Heinz ins Vertrauen ziehen. Wozu auch? Im Grunde hatte sich ja gar nichts sich verändert, Kays Abschiedsworte hatten das deutlich gemacht. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Ja. Sie würde einfach schweigen.

Das vertraute Quietschen von Brunos Vorgartentor zauberte ein Lächeln auf Kassandras Lippen. Die nächsten Stunden konnte sie abschalten und nur das Zusammensein mit Freunden genießen. Gestern hatte Bruno mit seiner Angel an der Seebrücke den Fang seines Lebens gemacht. Trotz seiner Fischverteilaktion quer durch Wustrow war noch eine Menge übrig geblieben und seine Gefriertruhe nicht mehr aufnahmefähig. Also hatten er und Paul den heutigen Tag in der Küche zugebracht und für abends alle eingeladen.

Bruno öffnete ihr gut gelaunt die Tür. »Schön, dass du da bist, Lütting.« Sein zerfurchtes Gesicht hellte sich mit einem kleinen Lachen auf.

Aus dem Wohnzimmer drang nicht nur köstlicher Duft, sondern auch eine äußerst lebhafte, fast hitzige Unterhaltung in die Diele.

»Was ist denn da los?«, fragte Kassandra.

Amüsiert zuckte Bruno mit den Schultern. »Die Diskussion darüber, ob Wustrow einen Golfplatz braucht, schlägt hohe Wellen.«

»Einen Golfplatz? Ist nicht dein Ernst!«

Bruno lachte wieder. »Irgendwas sagt mir, dass du zur Kontra-Fraktion gehörst.«

»Worauf du Gift nehmen kannst. Golf ist bestimmt ein schöner Sport, aber es gibt schon eine Anlage in Neuhof, die reicht ja wohl für die Gegend.« Mit dem letzten Satz betrat sie das Wohnzimmer, wo der Tisch reichlich gedeckt war mit Salaten, Rosmarinkartoffeln, gegrilltem und gedünstetem Fisch. »Entschuldigt meine Verspätung, ich wollte euch nicht unterbrechen. Aber wer kann denn hier einen Golfplatz wollen?«

»Der anspruchsvolle Urlauber, der keine zwanzig Kilometer fahren, sondern bequem vom Bett in Loch 4 fallen möchte«, ließ sich Paul schmunzelnd vernehmen und deutete auf den freien Sofaplatz neben sich. Sein Blick sagte dabei das Gleiche wie Brunos Worte vorhin: Er freute sich, dass sie da war, und für den Moment, in dem sie einander ansehen, vergaß Kassandra alles andere.

»Du brauchst das gar nicht so spöttisch zu sagen, Paul.« Jonas spießte ein Stück Kartoffel auf seine Gabel. »Ich für meinen Teil freu mich über jeden Urlauber, der kommt, auch wenn er wegen des Golfplatzes käme. Er kann ja nicht dauernd auf dem Rasen zugange sein, also wird er möglicherweise eine Fahrt auf meiner ›Tante Mine‹ buchen und anschließend meinen ›Fischländereien‹ einen Besuch abstatten und da auch noch mal Geld für das eine oder andere Souvenir lassen.« Jonas’ Lächeln entschärfte den leicht verärgerten Tonfall. »Ich liebe Sophie und Ben sehr, aber du glaubst gar nicht, wie viele Haare einem zwei Kinder vom Kopf fressen.«

»Vom dritten gar nicht zu reden«, sagte Marlene rechts von ihm.

Jonas fuhr herum. »Was?«

»War ein Scherz, Schatz.« Marlene grinste und wandte sich an Harald. »Was meinen Sie denn dazu, Herr Barthel? Sie haben sich ja bisher rausgehalten.«

Harald wiegte den Kopf. »Kann ich ehrlich erst sagen, nachdem ich die Pläne gesehen habe. Wenn ich richtig verstanden habe, was du vorhin sagtest, Paul, reden wir uns hier ohnehin für nichts die Köpfe heiß, weil es überhaupt noch keine Pläne gibt, sondern allerhöchstens eine Absichtserklärung.«

Paul nickte.

Gleichzeitig stellte Heinz fest: »Dabei bleibt es auch hoffentlich.« Er guckte grimmig und säbelte an seinem Fisch herum.

»Heinz«, sagte Bruno, der auf Pauls anderer Seite Platz genommen und nach einer Flasche Rostocker gegriffen hatte, »die Meerforelle zergeht auf der Zunge. Ich wäre dir dankbar, wenn du mein Porzellan heile ließest.«

Heinz’ meckerndes Lachen erfüllte den Raum, bis er einen Happen von seiner Gabel nahm und genüsslich nickte. »Wirklich hervorragend.«

»Um auf die Frage von Frau Zepplin zurückzukommen«, unterbrach Barbara die kulinarischen Betrachtungen, »du wirst doch wohl eine Meinung haben, Harald, auch ganz ohne Pläne.«

Kassandra fand es nach drei Monaten immer noch ungewohnt, an der Seite ihres Vaters die attraktive honigblonde Frau zu sehen, der er sich jetzt etwas nachsichtig zuwandte.

»Ich bilde mir meine Meinung nicht ohne vernünftige Faktenlage.«

»Die gibt es doch«, widersprach Barbara. »Vielleicht keine, die aus Bauplänen besteht, aber Herr Zepplin hat ganz recht. Wenn so ein Golfplatz mehr Leute herbringt, umso besser. Wustrow lebt schließlich vom Tourismus.«

»Wustrow hat es jetzt schon schwer genug, für die Urlauber, die derzeit kommen, ausreichend Service und Gastronomie zur Verfügung zu stellen«, sagte Paul, gänzlich ohne Spott und Schmunzeln. Das Thema war zu ernst dafür und ein ständiges Problem, von dem er als Gemeindevertreter ein Lied singen konnte. »Das funktioniert nur mit entsprechendem Personal, für das wir wiederum das Umfeld schaffen müssen. Wohnraum vor allem. Ein weiteres Hotel dürfte da kontraproduktiv sein.«

»Wieso Hotel?«, fragte Kassandra, hellhörig geworden. »Könntet ihr mich mal aufklären, worum genau es hier geht?«

Paul vertilgte einen Bissen seines Fischsalats, dann lehnte er sich zurück. »Auf dem Weg hierher bin ich Heiko Jordan am Norderfeld begegnet. Er stand da mitten auf der Straße und guckte über sein Land hin zu seinem Gehöft, als würde er zwischen Himmel und Hölle abwägen. Also blieb ich stehen und fragte ihn, was los sei. Er sagte, er überlege nach dem Tod seines Vaters, ob er die Landwirtschaft wirklich übernehmen oder lieber woanders was Neues aufbauen soll. Er träumt von einem Gut in Südfrankreich, und es gibt offenbar für seinen Grund und Boden einen Kaufinteressenten, der gern ein kleines exklusives Hotel da hinstellen und aus dem Norderfeld einen Golfplatz machen würde. Leider hab ich nicht aus ihm rausgekriegt, wer dieser Interessent sein könnte.«

»Falk Clasen«, sagte Kassandra. Ihre Stimme kam ihr ein wenig zittrig vor, doch niemand sonst schien das zu bemerken.

»Clasen?«, wiederholte Harald überrascht. »Wie kommst du auf den?«

Kassandra holte den OZ-Artikel auf ihr Handy und reichte es ihm. Auf Bitten der anderen las er den Beitrag vor, weil die meisten mit dem Namen Falk Clasen nichts anfangen konnten.